Effektivitätsgrundsatz: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 14:43 Uhr
von Christian Heinze
1. Gegenstand und Zweck
Unter dem Begriff Effektivitätsgrundsatz werden in Rechtsprechung und Literatur zum Europarecht zuweilen unterschiedliche Dinge verstanden. Der EuGH verwendet den Begriff Effektivitätsgrundsatz (principle of effectiveness, principe d’effectivité) als solchen im Zusammenhang mit der Durchsetzung gemeinschaftsrechtlich gewährleisteter Rechte durch nationale Gerichte und Behörden. Nach seiner Rechtsprechung (EuGH Rs. 33/76 – Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi, Slg. 2006, I-6619, Rn. 62) ist es die Aufgabe der nationalen Gerichte, den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten, wobei die Ausgestaltung der Rechtsbehelfe und gerichtlichen Verfahren bei fehlender gemeinschaftsrechtlicher Regelung Sache des innerstaatlichen Rechts ist. Diese Verfahren dürfen jedoch nicht ungünstiger ausgestaltet sein als bei entsprechenden Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Dieser Effektivitätsgrundsatz „im engeren Sinne“ ist eine Folge der „unvollständigen“ Gesetzgebung der Gemeinschaft, die sich in der Regel auf die Anordnung primärer Verhaltenspflichten beschränkt und die Rechtsdurchsetzung (also die materiellrechtlichen Rechtsbehelfe und das Verfahrensrecht) allein oder weitgehend dem mitgliedstaatlichen Recht überlässt. Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz suchen den Vorrang und die Wirksamkeit des materiellen Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf potentiell beeinträchtigende (allzu laxe) nationale Verfahrensvorschriften zu sichern, indem sie den in Abwesenheit gemeinschaftsrechtlicher Regelung an sich unbegrenzten mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraum im Sanktionenrecht durch eine Minimalverpflichtung auf gleichwertige und effektive (d.h. die Rechtsdurchsetzung nicht übermäßig erschwerende) Rechtsbehelfe begrenzen. Es handelt sich mangels auszulegender Gemeinschaftsregelung nicht um einen Auslegungsgrundsatz, sondern um eine durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffene primärrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur gleichwertigen und effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, die das nach dem Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie anwendbare nationale Sanktionenrecht als gemeinschaftsrechtlicher Mindeststandard überlagert. Mit Art. 19(1)(II) EU (2007) („Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“) wird der bisher aus Art. 10 EG/4(3) EU (2007) hergeleitete Effektivitätsgrundsatz auf der Ebene des Primärrechts erstmals auch ausdrücklich verankert.
Neben diesem Effektivitätsgrundsatz im engeren Sinne kennt das Gemeinschaftsrecht eine Reihe verwandter richterrechtlicher Institute, die ebenso wie der Effektivitätsgrundsatz die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu sichern suchen. Zu diesen verwandten Instituten zählt zunächst der „effet utile“ als Auslegungsregel, also die Verpflichtung zu einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die dessen praktische Wirksamkeit gewährleistet (ersichtlich erstmals EuGH Rs. 24/62 – Kommission/Deutschland, Slg. 1962, 289, 318; Auslegung des Gemeinschaftsrechts). Eine frühe Anwendung dieser Auslegungsregel findet sich in der grundlegenden Entscheidung EuGH Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 3, 26, in welcher u.a. durch Verweis auf die Wahrung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts begründet wurde (ausdrücklich sodann EuGH Rs. 9/70 – Grad, Slg. 1970, 825, Rn. 5). Ebenso lässt sich die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zumindest auch mit dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts begründen (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 114). Den Grundsatz der (praktischen) Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH stets nicht strikt auf die (nach deutschem Verständnis) bloße Auslegung von europäischen und nationalen Normen begrenzt, sondern zuweilen auch als Argument zur Fortbildung des Gemeinschaftsrechts genutzt. So findet sich ein Verweis auf die „Wirksamkeit“ („effets“) des Art. 189 EWGV (Art. 249 EG/288 AEUV) auch als Begründungselement in der frühen Entscheidung EuGH Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1141, 1270, mit welcher der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht begründet wurde. Ebenso nimmt die Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen im Vertikalverhältnis auf die „nützliche Wirkung“ („effet utile“) des Gemeinschaftsrechts ausdrücklich Bezug (EuGH Rs. 41/74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn. 12). Besonders nah und kaum mehr unterscheidbar rückt der Grundsatz der praktischen Wirksamkeit an den (sanktionenrechtlichen) Effektivitätsgrundsatz im engeren Sinne (i.S.d. Rewe-Rechtsprechung), wenn es um die Frage der mitgliedstaatlichen Sanktionen für die Durchsetzung richtlinienrechtlicher Bestimmungen geht. So hat der Gerichtshof bei fehlender Sanktionsregelung in einer europäischen Richtlinie die Mitgliedstaaten über Art. 10 EG/4(3) EU (2007) dazu verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts durch wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen zu gewährleisten (EuGH Rs. 14/83 – Von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; EuGH Rs. 68/88 – Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965, Rn. 23 f.; EuGH Rs. C-213/89 – Factortame, Slg. 1990, I-2433, Rn. 18-20).
Als Ergebnis des Überblicks über die Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich daher festhalten, dass der auf das Sanktionenrecht bezogene Effektivitätsgrundsatz im engeren Sinne eine Unterkategorie eines übergeordneten Grundsatzes der (praktischen) Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts darstellt, den man als Effektivitätsgrundsatz im weiteren Sinne bezeichnen kann. Andere Erscheinungsformen des übergeordneten Grundsatzes der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sind etwa die wirksamkeitsorientierte Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts oder die Direktwirkung von Richtlinien im Vertikalverhältnis. Aufgrund ihres richterrechtlichen Ursprungs ist eine begriffsscharfe Trennung der einzelnen Ausprägungen unmöglich, so dass sie sich am ehesten durch ihre unterschiedlichen Wirkungen unterscheiden lassen. Die folgende Darstellung wird sich auf den Effektivitätsgrundsatz im engeren Sinne und damit auf die Ebene der Rechtsdurchsetzung beschränken (zu den übrigen Ausformungen des übergeordneten Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit Auslegung des Gemeinschaftsrechts, Richtlinie (allgemein), Verordnung, Rechtsakte der EG).
Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass der Effektivitätsgrundsatz oder die Auslegungsmaxime des „effet utile“ keine Neuschöpfungen des Gemeinschaftsrechts sind, sondern sich bereits bis auf römisch-rechtliche und völkerrechtliche Vorläufer zurückführen lassen. So mag man die wirksamkeitsfreundliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts (effet utile) als Fortschreibung des bereits aus römischen Quellen überlieferten Grundsatzes ut res magis valeat quam pereat ansehen (Auslegung von Rechtsnormen; Auslegung von Verträgen). Vor allem aber kennt auch das Völkerrecht den Grundsatz der Effektivität, wobei zwischen der Effektivität im Völkerrecht und der Effektivität des Völkerrechts unterschieden wird. Der Grundsatz der Effektivität im Völkerrecht bezieht sich auf das tatsächliche Vorhandensein rein faktischer Situationen und besagt, dass solche faktische Lagen rechtlich relevant sind (z.B. das tatsächliche Vorhandensein von Staatsgewalt für die Anerkennung eines Staates). Eher passendes völkerrechtliches Gegenstück zum gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ist der Grundsatz der Effektivität des Völkerrechts. Danach ist dem Völkerrecht im Spannungsfeld zwischen Völkerrechtsnormativität und Wirklichkeit mangels hoheitsrechtlicher Durchsetzungsbefugnisse „regelmäßige Wirksamkeit“ oder gar „soviel Wirksamkeit wie möglich“ zu verschaffen. Eine Ableitung des allgemeinen Effektivitätsgrundsatz stellt die auch völkerrechtlich anerkannte Regel der wirksamkeitsorientierten Vertragsauslegung „ut res magis valeat quam pereat“ dar, die der IGH ausdrücklich als „principe de l’effet utile“ oder „rule of effectiveness“ bezeichnet hat (IGH ICJ Rep. 1950, 221, 229 – Interpretation of Peace Treaties [second phase]). Über solche Vorläufer ist der gemeinschaftsrechtliche Effektivitätsgrundsatz durch die Rechtsprechung des EuGH heute weit hinausgewachsen, so dass sich die folgende Darstellung allein auf das Europarecht konzentriert. Allerdings zeigt die Existenz eines ähnlichen Grundsatzes im Völkerrecht, dass der Effektivitätsgrundsatz vor allem ein Strukturprinzip supranationaler Rechtsordnungen darstellt, um trotz der Ebenentrennung von Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung eine wirksame Durchsetzung supranationaler Normen durch primär nationalstaatlich geprägte Vollzugsapparate zu gewährleisten (zum US-Recht etwa der Supreme Court in Davis v. Wechsler, 263 U.S. 22, 24).
2. Tendenzen der Rechtsentwicklung
Bereits mit seiner Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH (Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 3, 26) die Grundlage für die Rechtsdurchsetzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte gelegt. Er ging dabei zunächst davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht (Art. 10 EG/4(3) EU (2007)) die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Interessen der durch eine etwaige Gemeinschaftsrechtsverletzung betroffenen Einzelnen zu wahren, indem sie diesen einen „unmittelbaren und sofortigen Schutz gewähren“, während es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung sei, die zuständigen Gerichte und die Qualität des individuellen Rechtsschutzes zu definieren (EuGH Rs. 13/68 – Salgoil, Slg. 1968, 661, 693). Jedoch birgt die Aufteilung zwischen gemeinschaftsrechtlichen Rechten und nationalen Sanktionen die Gefahr, dass allzu laxe Sanktionen die europäischen Rechte zu bloßem „law on the books“ verkümmern lassen, so dass der Gerichtshof bereits in den siebziger Jahren mit seinen zeitgleichen Entscheidungen Rewe und Comet die nationale Verfahrensautonomie im Hinblick auf die Durchsetzung gemeinschaftsrechtlich gewährleisteter Rechte unter den Vorbehalt des Effektivitäts- und den Äquivalenzgrundsatz stellte (EuGH Rs. 33/76 – Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH Rs. 45/76 – Comet, Slg. 1976, 2043, Rn. 11, 18). Abgesehen von einer Präzisierung des Effektivitätsgrundsatzes (EuGH Rs. 199/82 – San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Rn. 14: „praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig“) hat der EuGH an der Rewe/Comet-Formel bis heute festgehalten (jüngst etwa EuGH Rs. C-268/06 – Impact, Slg. 2008, I-2483, Rn. 44), so dass die Ausgestaltung der Rechtsbehelfe und gerichtlichen Verfahren zur Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Rechte bei fehlender gemeinschaftsrechtlicher Regelung Sache des innerstaatlichen Rechts ist. Diese Verfahren dürfen jedoch nicht ungünstiger ausgestaltet sein als bei entsprechenden Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz, dazu EuGH Rs. C-326/96 – Levez, Slg. 1998, I-7835, Rn. 41 f.), und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Parallel zur Rewe/Comet-Rechtsprechung hat der Gerichtshof Anforderungen an nationale Sanktionen zur Durchsetzung richtlinienrechtlicher Bestimmungen entwickelt, wenn diese (wie regelmäßig) in der Richtlinie nicht ausdrücklich geregelt werden. So hat der Gerichtshof bei fehlender Sanktionsregelung in einer europäischen Richtlinie die Mitgliedstaaten über Art. 10 EG/4(3) EU (2007) dazu verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts durch wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen zu gewährleisten (EuGH Rs. 14/83 – Von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 18, 23, 26; EuGH Rs. 68/88 – Kommission/Griechenland, Slg. 1989, 2965, Rn. 23 f.; EuGH Rs. C-213/89 – Factortame, Slg. 1990, I-2433, Rn. 18-20). Es liegt nahe, den Begriff der wirksamen Sanktion zur Durchsetzung von Richtlinienrechten synonym mit dem Effektivitätsgrundsatz zu verstehen. In jüngerer Zeit überschneidet sich der Effektivitätsgrundsatz auch zunehmend (zumindest im Hinblick auf prozessuale Rechtsbehelfe) mit dem grundrechtlich gewährleisteten Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 47(1) GRCh, Faires Verfahren), das in der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs trotz einer ursprünglich verschiedenen Wurzel, nämlich Art. 6 und 13 EMRK (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) (EuGH Rs. 222/84 – Johnston, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 f.), mit dem Effektivitätsgrundsatz zu einem einheitlichen Institut zu verschmelzen scheint (EuGH Rs. C-432/05 – Unibet, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37 f.). Schließlich enthalten manche (vor allem jüngere) Gemeinschaftsrechtsakte über den allgemeinen Hinweis auf verhältnismäßige, wirksame und abschreckende Sanktionen hinaus zumindest rudimentäre Mindestvorgaben für die Rechtsdurchsetzung, so dass sich auf Rechtsgebieten wie dem Immaterialgüterrecht (Geistiges Eigentum (Durchsetzung)), dem Kartellrecht (Kartellrecht, private Durchsetzung) oder dem Verbraucherrecht (Verbraucher und Verbraucherschutz) Ansätze sekundärrechtlicher Konkretisierungen des primärrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes abzeichnen. Ob solche sekundärrechtlichen Konkretisierungen auch Inspirationsquell für den primärrechtlichen Effektivitätsmaßstab sein können oder ob sich die unterschiedlichen Entscheidungen des Gerichtshofs zur Effektivität auf den verschiedensten Rechtsgebieten zu einem einheitlichen System zusammenfügen lassen, ist bisher ungeklärt.
3. Regelungsstrukturen des Gemeinschaftsrechts
In der Sache verlangt das Effektivitätsgebot zunächst – parallel zum Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Faires Verfahren) – die Eröffnung des Zugangs zu einem Gericht, das den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte in wirksamer Weise gewährleistet (EuGH Rs. C-432/05 – Unibet, Slg. 2007, I-2271, Rn. 61), notfalls auch durch Eröffnung neuer Rechtsbehelfe (EuGH Rs. C-213/89 – Factortame, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19 ff.: einstweiliger Rechtsschutz; EuGH Rs. C-453/99 – Courage, Slg. 2001, I-6297, Rn. 25 ff.: Schadensersatz bei Kartellrechtsverstößen). Zur Überprüfung anhand des Effektivitätsgrundsatzes ist die jeweils maßgebliche nationale Verfahrensvorschrift unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesamtverfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens zu würdigen. Dabei sind auch gegenläufige Grundsätze wie etwa der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens zu berücksichtigen (EuGH Rs. C-312/93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 14). Einschränkungen der Effektivität des Gemeinschaftsrechts sind umso eher gerechtfertigt, als sie sich in möglichst vielen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nachweisen lassen (vgl. EuGH verb. Rs. 205/82 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, Rn. 30 a.E.).
So hat der Gerichtshof ausdrücklich akzeptiert, dass die nationalen Regeln zur Rechtskraft dem Gebot effektiver Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts Grenzen setzen (EuGH Rs. C-234/04 – Kapferer, Slg. 2006, I-2585, Rn. 21, 24; zu möglichen Ausnahmen EuGH Rs. C-119/05 – Lucchini, Slg. 2007, I-6199, Rn. 59-63; zur Staatshaftung EuGH Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239, Rn. 34 ff., 39, 42 f., 50). Auch der Grundsatz der Parteiherrschaft im Zivilverfahren vermag die Wirkkraft des Gemeinschaftsrechts zu begrenzen. So müssen nationale Zivilgerichte (auch zwingendes) Gemeinschaftsrecht von Amts wegen im Zivilprozess nur dann berücksichtigen, wenn sie entweder auch nach nationalem Recht zwingende innerstaatliche Rechtsvorschriften von Amts wegen berücksichtigen müssen (Äquivalenzgrundsatz, vgl. EuGH verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05 – van der Weerd, Slg. 2007, I-4233, Rn. 29 ff.) oder wenn die Parteien tatsächlich nicht die Möglichkeit hatten, sich auf das Gemeinschaftsrecht in geeigneter Weise vor dem nationalen Gericht zu berufen (EuGH verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05 – van der Weerd, Slg. 2007, I-4233, Rn. 40 f.); ferner (möglicherweise) auch dann, wenn der Schutzzweck und die Wirksamkeit der konkreten Gemeinschaftsregelung ihre Anwendung von Amts wegen gebieten (bejaht im Verbraucherrecht, EuGH Rs. C-168/05 – Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421, Rn. 27, 35, 38; ablehnend EuGH verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05 – van der Weerd, Slg. 2007, I-4233, Rn. 41: „unabhängig von der Bedeutung einer Gemeinschaftsvorschrift für die Gemeinschaftsrechtsordnung“; offen bei Art. 81 EG/101 AEUV, EuGH Rs. C-126/97 – Eco Swiss, Slg. 1999, I-3055, Rn. 36 f., 40 gegenüber EuGH verb. Rs. C-430/93 und C-431/93 – van Schijndel, Slg. 1995, I-4705, Rn. 20 ff.). Ebenso respektiert der EuGH die Beschränkung des Tatsachenstoffes auf den Parteivortrag und die Beschränkung der Entscheidungsbefugnis auf den Streitgegenstand (EuGH verb. Rs. C-430/93 und C-431/93 – van Schijndel, Slg. 1995, I-4705, Rn. 20 ff.).
Im Beweisrecht missbilligt der Effektivitätsgrundsatz Beweismittelbeschränkungen oder für den Rechtsinhaber ungünstige Beweisregeln und neigt dem Prinzip freier Beweiswürdigung zu (EuGH Rs. 199/82 – San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Rn. 14; EuGH Rs. C-343/96 – Dilexport, Slg. 1999, I-579, Rn. 48). Auch verlangt der Effektivitätsgrundsatz, dass das nationale Gericht die ihm möglichen Verfahrensmaßnahmen (wie eine Anordnung der Beweismittelvorlage) ausschöpft, wenn die Beweislast für das Eingreifen einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung den durch diese Vorschrift Begünstigten trifft und dieser Umstand geeignet ist, die Beweisführung praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, weil die beweisbelastete Partei über die relevanten Beweismittel nicht verfügt (EuGH Rs. C-526/04 – Laboratoires Boiron, Slg. 2006, I-7529, Rn. 55). Bei rechtswidrig (nämlich unter Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Verfahrensnormen) erlangten Beweismitteln muss das Gericht prüfen, ob die Zulassung des Beweismittels zu einer Missachtung des kontradiktorischen Charakters des Verfahrens und damit zu einer Verletzung des Rechts auf einen fairen Prozess zu führen droht, insbesondere ob der Betroffene trotz der Rechtsverletzung noch über eine echte Möglichkeit verfügt, zu dem Beweismittel wirksam Stellung zu nehmen und seine Überzeugungskraft in Zweifel zu ziehen. Sofern die Zulassung der rechtswidrig erlangten Beweismittel zu einer Missachtung des kontradiktorischen Charakters des Verfahrens und damit zu einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren führen könnte, sind die Beweismittel auszuschließen (EuGH Rs. C-276/01 – Steffensen, Slg. 2003, I-3735, Rn. 78 f.). Während schließlich Regeln des Kostenrechts nur selten mit dem Effektivitätsgrundsatz in Konflikt zu geraten vermögen (EuGH Rs. C-472/99 – Clean Car, Slg. 2001, I-9687, Rn. 27, 29; siehe aber EuGH Rs. C-63/01 – Evans, Slg. 2003, I-14447, Rn. 75 ff.), verpflichtet er die nationalen Gerichte auf der Ebene der Vollstreckung dazu, unter den im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen diejenigen zu treffen, die eine Beachtung des Verbots gemeinschaftsrechtsverletzender Handlungen sicherstellen (EuGH Rs. C-316/05 – Nokia, Slg. 2006, I-12083, Rn. 49, 51, 57 ff.).
Auch auf der Ebene des materiellen Rechts gibt der Effektivitätsgrundsatz einen gewissen Mindeststandard vor. So folgt „aus dem Effektivitätsgrundsatz und dem Recht einer jeden Person auf Ersatz des Schadens, der ihr durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann“ entsteht, dass ein Geschädigter nicht nur Ersatz des Vermögensschadens (damnum emergens), sondern auch des entgangenen Gewinns (lucrum cessans) sowie die Zahlung von Zinsen verlangen kann (EuGH verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi, Slg. 2006, I-6619, Rn. 95, siehe auch EuGH Rs. C-271/91 – Marshall, Slg. 1993, I-4367, Rn. 31; EuGH Rs. C-63/01 – Evans, Slg. 2003, I-14447, Rn. 69 ff.; Schadensersatz, Zinsen). Ebenso können allzu kurze Verjährungsfristen (Verjährung), die am Tag der Verwirklichung des wettbewerbswidrigen Verhaltens zu laufen beginnen und nicht unterbrochen werden können, dem Effektivitätsgrundsatz zuwiderlaufen (EuGH verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi, Slg. 2006, I-6619, Rn. 78); während angemessene materiellrechtliche Ausschlussfristen und prozessuale Präklusionsregelungen im Grundsatz gemeinschaftsrechtlich zulässig sind (EuGH Rs. C-312/93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 16 ff.; EuGH Rs. C-473/00 – Cofidis, Slg. 2002, I-10875, Rn. 35 ff.).
Literatur
Robert Ormand, La notion de „l’effet utile“ des traités communautaires dans la jurisprudence de la Cour de justice des Communautés européennes, 1975; Rudolf Streinz, Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, 1491 ff.; Stefan Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999; Heike Krieger, Das Effektivitätsprinzip im Völkerrecht, 2000; Heinrich Honsell, Der „effet utile“ und der EuGH, in: Festschrift für Heinz Krejci, Zweiter Bd., 2001, 1929 ff.; Peter Rott, Effektivität des Verbraucherrechtsschutzes: Rahmenfestlegungen des Gemeinschaftsrechts, 2006, abrufbar unter <http://download.ble.de/04HS033.pdf> (letzter Zugriff 3.7.2009); Johan Lindholm, State Procedure and Union Rights: A Comparison of the European Union and the United States, 2007; Sibylle Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008; Christian Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, Europarecht 2008, 654 ff.