Auslegung des Gemeinschaftsrechts: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Hannes Rösler

1. Gegenstand und Zweck

Das primäre und sekundäre Unionsrecht enthält keine allgemeinen Bestimmungen zu seiner Auslegung, wie sie sich in Art. 7-9 CISG, Art. 5:101-5:107 PECL und Art. 4.1-4.8 UNIDROIT PICC, aber auch in Art. 31-33 WVK (Auslegung des internationalen Einheitsrechts) finden. Stattdessen wurde der Europäische Gerichtshof (EuGH) als unabhängiges überstaatliches Gericht geschaffen, das ausschließlich zur Auslegung des Gemeinschafts- und Unionsrechts berufen ist (Art. 220 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007)). Das politikferne Organ stellt die Einheit, Kontinuität und Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts sicher. Vor allem auf dem Gebiet des verfassungsgleichen Rechts wurde der EuGH mit seinem Auslegungsmonopol zum „Motor der Integration“, indem er den Vorrang und die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts durch Auslegung der römischen Verträge gewährte und ausbaute.

Von den vier Auslegungsmethoden, die Friedrich Carl von Savigny herausgearbeitet hat, verwendet der EuGH vorrangig die grammatische, die systematische und die teleologische. Dagegen stellt er den historisch-politischen Interpretationsansatz hintan. Gründe dafür sind die häufig schwierigen, teils unveröffentlichten Gesetzgebungsprozesse und kompromisshaften Ergebnisse. Allerdings führt der Gemeinschaftsgesetzgeber seine Erwägungsgründe auf, die der EuGH vor allem zur teleologischen Betrachtung heranzieht. Die Berücksichtigung von Protokollerklärungen von Kommission, Rat oder Parlament, die sich nicht im Rechtsakt niedergeschlagen haben, lehnt der EuGH jedoch ab (EuGH Rs. C-404/06 – Quelle, Slg. 2008, I-2685, Rn. 32).

Zunächst verwendet der Gerichtshof aber die wörtliche Auslegungsmethode. Dies hat er dem französischen Conseil d’Etat ebenso entlehnt wie den bündigen und deduktiven Argumentationsstil, der auch im europäischen Privatrecht nur bedingt Beiträge zur angezeigten Systembildung leistet. Das Apodiktische und Selbstreferenzielle der Urteile ist auch den allgemeinen Umständen eines internationalen Richtergremiums geschuldet, das verschiedene Rechtskulturen und Sprachen versöhnen muss. Allein darum stößt die Auslegung nach dem grammatikalischen Zusammenhang und die Erforschung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs innerhalb des (autonomen) EU-Rechts an seine Grenzen: Die EU verwendet gleichrangige Textfassungen in ihren verschiedenen Amtssprachen.

Entscheidendes Argumentationsmittel des EuGH ist darum – aber nicht nur bei abweichenden Textfassungen – die teleologische Betrachtung. Diese Methode liegt auch deswegen nahe, da die EU einen funktionalen Ansatz gewählt hat, also die im Primärrecht festgelegten Integrationsziele verwirklichen will, zu denen vor allem die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes zählt. Problematisch kann diese Orientierung am Geist und Zweck einer Vorschrift und am Gesamtprogramm der EU werden, wenn innerhalb des Primär- oder und Sekundärrechts verschiedene Teleologien (z.B. wirtschaftsliberale und soziale) zugleich verfolgt werden. Dies gilt vor allem für diejenigen Richtlinien, die sowohl dem Gesamtinteresse der Verwirklichung des Binnenmarktes als auch einem bestimmten Schutz (etwa des Arbeitnehmers oder Verbrauchers) dienen.

In der Summe spiegeln die Entscheidungen regelmäßig das Ziel eines effet utile wider. Die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts scheint häufig das wichtigste Ziel des Gerichtshofs bei seiner Auslegung und Rechtsfortbildung (Effektivitätsgrundsatz). Deutlich wird dies z.B. an der Qualifizierung von Teilzeitarbeitern als Arbeitnehmer. Eine solche Auslegung entspreche „den Zielen des Vertrages“, der die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und damit – als ökonomisches Argument – eine Hebung der Lebenshaltung bezweckt (EuGH Rs. 53/81 – Levin, Slg. 1982, 1035, Rn. 15).

Dagegen tritt die wertende Rechtsvergleichung grundsätzlich nicht klar als fünfte Methode zu Tage. Nur in den Ausführungen des Generalanwaltes finden sich häufiger detaillierte Bezugnahmen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Einmal abgesehen von dem Faktum, dass die Richtlinien regelmäßig auf Rechtsvergleichung beruhen, ist diese Methode dem internationalen Richtergremium mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten gleichsam immanent. Freilich wird die vergleichende Betrachtung nicht explizit miteinbezogen, auch damit die autonomen Gesetzestexte nicht durch fremde Wertungen unterlaufen werden. Bei der Lückenfüllung und Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze gewinnt die Rechtsvergleichung jedoch an Bedeutung. So begründet der EuGH die Staatshaftung ergänzend mit den allgemeinen Haftungsgrundsätzen im mitgliedstaatlichen Recht und nach den Grundsätzen des Völkerrechts (EuGH verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 – Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029, Rn. 29 ff.). Ein verfassungsrechtlicher Vergleich ist zudem in Art. 6(2) EU (1992)/11(3) EU (2007) vorgesehen, denn hiernach sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Quelle für die zu achtenden Grundrechte genannt.

Eine weitere Besonderheit des EU-Rechts besteht in der autonomen Begriffsbildung. Dies hat es mit dem Konventionsrecht gemein, für das der EuGH übrigens ebenfalls zuständig sein kann. So hat er aufgrund von Auslegungsprotokollen die wichtige Jurisdiktionsbefugnis für das EuGVÜ und später auch für das EVÜ erhalten (Verbraucherverträge (IPR und IZPR)). Damit jede Bestimmung und jedes Konzept des Europarechts europaweit einheitlich angewendet wird, haben sich die Rechtsanwender also vom nationalen und sonstigem nicht-gemeinschaftsrechtlichen Begriffsvorverständnis zu lösen. Dazu sind auch Mitgliedstaaten aufgerufen. Doch vorrangig ist es der EuGH, der – abhängig von der Vorlagebereitschaft und ‑verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte nach Art. 234 EG/ 267 AEUV – entsprechende Auslegungsvorgaben mit faktischer Bindungswirkung (Precedent, Rule of) schafft.

2. Auslegung des Primärrechts

Im verfassungsgleichen Recht ist der EuGH gewillt, judicial activism zu betreiben. Gerade hier sind die Richter nicht mehr, wie noch von Montesquieu gefordert, „la bouche de la loi“, sondern sie gehen bei der „Auslegung“ über den möglichen Wortlaut hinaus und überschreiten damit die Grenze zur Rechtsfortbildung (Richterrecht). Sie wird sowohl bei der gemeinschaftsrechtlichen als auch z.B. der französischen interprétation nicht klar gezogen. Diese Abgrenzung wäre aber angezeigt, denn die Rechtsfortbildung erfordert eine planwidrige Lücke und damit einen erheblich höheren Begründungsaufwand. Die Richter des EuGH – und billigend die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte – sehen die Befugnis zur Fortbildung durch ihre Aufgabe gerechtfertigt, nach Art. 220 (1) EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19(1) (I) EU (2007), die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des Vertrags sicherzustellen, wobei das „Recht“ über die in den Verträgen niedergelegten Regelungen hinausgeht.

Wichtigste Rechtsgrundsätze, die vom EuGH dementsprechend zur Ergänzung des geschriebenen Primärrechts entwickelt wurden, sind der Vorrang (EuGH Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 3) und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, das jeden unmittelbar verpflichten oder berechtigen kann (EuGH Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1141). Ebenfalls maßgeblich sind die Geltung der Grundrechte in der Gemeinschaft (EuGH Rs. 29/69 – Stauder/Stadt Ulm, Slg. 1969, 419), die Präzisierung der Grundfreiheiten (EuGH Rs. 120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649), die Staatshaftung (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357) und die Reichweite der Unionsbürgerschaft (EuGH Rs. C-184/99 – Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193).

Damit schafft und präzisiert der Gerichtshof diejenigen rechtsstaatlichen Elemente, die eine vollwertige Rechtsordnung erfordert. Schließlich zählt das Europarecht nach Auffassung des EuGH nicht zum Völkerrecht, das von einer starken Beachtung staatlicher Souveränität gekennzeichnet ist: Der E(W)G-Vertrag sei zwar in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen worden, er stelle aber im Gegensatz zu üblichen völkerrechtlichen Verträgen nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer eigenständigen Rechtsgemeinschaft dar (EuGH Gutachten 1/91 – EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21). Darum hat der EuGH in Francovich ausgeführt, die Staatshaftung für Schäden, die dem Einzelnen infolge von dem Staat zurechenbaren Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, begründe sich aus dem Wesen der mit dem Vertrag von Rom geschaffenen und mit voller Wirksamkeit und Vorrang ausgestatteten Rechtsordnung.

Ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist die Rechtsprechung zur Wirkung des Rechtsinstruments der Richtlinie. Dazu zählt etwa die nach erfolglosem Ablauf der Umsetzungsfrist unter bestimmten Umständen mögliche „vertikale“ Direktwirkung einer Richtlinie, die also nur gegenüber dem Staat gilt. Eine unmittelbare „horizontale“ Direktwirkung von Richtlinien besteht gerade nicht (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 108). Hierzu stützt sich der EuGH auch auf das systematische Argument, eine Horizontalwirkung von Richtlinien würde die im EG-Vertrag vorgegebene Unterscheidung zwischen Richtlinien und Verordnungen aufheben (EuGH Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24).

3. Auslegungsvorgaben für Nationalgerichte

Die Rechtsschöpfungen auf der verfassungsrechtlichen Ebene wirken sich auch auf das europäische Privatrecht aus. Dies gilt nicht nur für die deliktsrechtliche Ausgestaltung der Staatshaftung, sondern auch für die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Als eine Art Meta-Regel stellt sich dies aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts steuernd über die vier besagten Auslegungsmethoden und ähnelt darum der verfassungskonformen Auslegung, wie sie das deutsche Recht kennt. Darüber hinaus umfasst die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur europarechtskonformen Auslegung neben der vorrangigen Vereinbarkeit mit dem Primärrecht auch die Konformität mit dem Sekundärrecht. Diese wird durch die Pflicht der Nationalgerichtsbarkeit zur richtlinienkonformen Auslegung gesichert. Sie erfolgt durch die Anwendung der nationalstaatlichen Auslegungsmethoden (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 116).

Danach ist das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der fraglichen Richtlinie auszulegen (EuGH Rs. C-106/89 – Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8; auch EuGH Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 28). Da das nationale Recht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch Private benachteiligen kann, entsteht erst hierdurch eine Horizontalwirkung, die ansonsten – wie erwähnt – grundsätzlich ausgeschlossen ist. Je großzügiger man zudem die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung erlaubt, desto mehr verringert sich der Anwendungsbereich der Staatshaftung für legislatives Unrecht (s. jedoch für judikatives Unrecht EuGH Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239; EuGH Rs. C-173/03 – Traghetti del Mediterraneo, Slg. 2006, I-5177).

Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist einsetzt (EuGH Rs. C-456/98 – Centrosteel, Slg. 2000, I-6007, Rn. 17), ist Folge der Verpflichtung zur allgemeinen Loyalität nach Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007), Art. 4(3) EU (1992)/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 15(6) (I)(d) EU (2007) und zur konkreten Richtlinienumsetzung gemäß Art. 249(3) EG/288 AEUV. Sie ist auch dem EG-Vertrag „immanent“, denn durch sie kann das nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Europarechts gewährleisten (so EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 114).

Der Vorrang der europarechtsfreundlichen Auslegung und Rechtsfortbildung, die sich auf das gesamte nationale Recht erstreckt, findet seine Grenze in der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit. Darum darf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch nicht zu einer contra legem-Auslegung einer nationalen Vorschrift führen (EuGH Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057, Rn. 110). In einem solchen Fall haben die nationalen Gerichte die Vorschrift vorzulegen oder für unanwendbar zu erklären. (Der dahinter stehende Gewaltenteilungsgrundsatz gilt auch auf der europäischen Ebene: Der EuGH kann primärrechtswidriges Gemeinschaftsrecht nicht durch Auslegung „heilen“, sondern muss es im Wege einer Nichtigkeitsklage oder eines Vorabentscheidungsverfahrens für nichtig erklären; EuGH Rs. 314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, 4230 ff.) Das nationale Gericht hat aber zur Ermittlung eines zutreffenden Verständnisses einer Richtlinienvorschrift nicht nur die Rechtsprechung des EuGH zu beachten, sondern soweit möglich auch die in den anderen Mitgliedstaaten praktizierte Auslegung.

4. Auslegungsreichweite beim Sekundärrecht

a) Allgemein

Während der EuGH mit den erwähnten Entscheidungen zum Primärrecht häufig einen constitutional activism betreibt, schwankt er ansonsten zwischen effet utile-Orientierung und Zurückhaltung. Das ist einer der Gründe, warum die Entscheidungen in der Praxis häufig schwer vorhersehbar sind. Beispiele für judicial activism im Privatrecht sind die Entscheidungen EuGH Rs. C-168/00 – Leitner, Slg. 2002, I-2631, wonach Art. 5 Pauschalreise-RL (RL 90/314) auch einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens verleiht, sowie EuGH Rs. C-350/03 – Schulte, Slg. 2005, I-9215 und EuGH Rs. C-229/04 – Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 über die Rechte eines Verbrauchers bei kreditfinanzierten Immobilienkaufverträgen nach der Haustürgeschäfte-RL (RL 85/577). Doch mehrheitlich muss sich der EuGH, der vorrangig ein Verfassungs- und Verwaltungsgericht darstellt, in Zivilsachen eher im self restraint üben. Die Ursachen liegen in den Akzeptanz- und Kapazitätsgründen, denn die steigende Vorlageflut im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EG/267 AEUV wird dadurch etwas eingedämmt.

b) Generalklauseln

Hieraus erklärt sich auch EuGH Rs. C-237/02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403. Danach ist das nationale Gericht für die Beurteilung zuständig, ob eine vorformulierte Vertragsklausel missbräuchlich im Sinne von Art. 3(1) RL 93/13 ist. Dahingegen ließen noch EuGH verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 – Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 sowie EuGH Rs. C-473/00 – Cofidis, Slg. 2002, I-10875 eine großzügigere eigene Klauselkontrolle vermuten. In Océano Grupo ging es freilich um eine Klausel, die die Wirksamkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes unabhängig vom Vertragstyp in Frage stellte. Der EuGH bejahte darum die Missbräuchlichkeit. In Cofidis hat der EuGH dann aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes eine Ausschlussfrist des Verbraucherkreditrechts im französischen Code de la consommation für unvereinbar mit der RL 93/13 erklärt, und zwar obschon die Richtlinie keine Verjährungs- und Ausschlussfristen vorsieht.

In Freiburger Kommunalbauten unterscheidet der EuGH danach, ob die Missbräuchlichkeit einer Klausel festgestellt werden kann, ohne dass alle Vertragsumstände geprüft und die verbundenen Vor- und Nachteile der Klausel anhand des nationalen Rechts gewürdigt werden müssen. Nach Freiburger Kommunalbauten ist es Aufgabe des EuGH, die in der Richtlinie zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen. Die eigentliche Überprüfung von Klauseln obliegt aber den nationalen Gerichten. Wie diese Konkretisierungskompetenz genau abzugrenzen ist, bleibt ebenso fraglich wie die allgemeinen Kriterien der Missbrauchskontrolle. Außer Betracht lässt der EuGH ohnehin die sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen, da deren Betrachtung eine Auseinandersetzung mit den nationalen Besonderheiten erfordern würde.

c) Überschießende Umsetzung

Überschießende Umsetzungen von Richtlinien entstehen, wenn das Schutzniveau infolge des Vorliegens einer Mindestharmonisierung (Verbraucher und Verbraucherschutz) angehoben oder der Anwendungsbereich im Zuge der nationalen Umsetzung ausgedehnt wird. Da Deutschland im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung gerade im Verbraucherrecht zahlreiche überschießende Umsetzungen vorgenommen hat, stellte sich hier die Frage einer gespaltenen oder einheitlichen Auslegung.

Der BGH hat sich bei den Haustürgeschäften für Letzteres entschieden (BGH 9.4. 2002, BGHZ 150, 248). Im Unterschied zur Richtlinie besteht ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB nicht nur, wenn der Vertrag in einer entsprechenden Situation abgeschlossen wurde. Vielmehr genügt es gemäß § 312 Abs. 1 S. 1 BGB, dass der Vertrag in einer Haustürsituation angebahnt und dann später außerhalb derselben regulär abgeschlossen wurde. Als Argumente gegen eine gespaltene Auslegung und damit für eine freiwillige Auslegung im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht führte der BGH die Kohärenz und die Verhinderungen von Wertungswidersprüchen an.

Eine andere Sache ist jedoch, inwieweit eine Vorlage an den EuGH erfolgen kann. Der Gerichtshof hat dies in EuGH Rs. C-3/04 – Poseidon Chartering, Slg. 2006, I-2505 zur überschießenden Umsetzung der Handelsvertreter-RL (RL 86/ 653; Handelsvertreter) im Burgerlijk Wetboek bejaht. Es bestehe ein Gemeinschaftsinteresse daran, Auslegungsdivergenzen zu verhindern und damit die Begriffe einheitlich auszulegen. Zudem überprüft der EuGH Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nur eingeschränkt. Der Gerichtshof wird eine Vorlage nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder die Frage allgemeiner oder hypothetischer Natur ist. Damit hat der EuGH einen weitreichenden Einfluss auf das z.B. im BGB ebenfalls überschießend umgesetzte Kaufrecht (Verbrauchsgüterkauf) und eröffnet einen Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten zur Auslegung auch des nationalen Rechts.

Literatur

Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice: Towards a European Jurisprudence, 1993; Reiner Schulze (Hg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999; Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten: Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, Neue Juristische Wochenschrift 2000, 1889 ff.; Claus-Wilhelm Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, 47 ff.; Jürgen Basedow, Nationale Justiz und Europäisches Privat- recht: Eine Vernetzungsaufgabe, 2003; Mariele Dederichs, Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 2004, 345 ff.; Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 309 ff.; Martin Gebauer, Europäische Auslegung des Zivilrechts, in: idem, Thomas Wiedmann (Hg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap. 3; Hannes Rösler, Auslegungsgrundsätze des Europäischen Verbraucherprivatrechts in Theorie und Praxis, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 71 (2007) 495 ff.; Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: eadem (Hg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, 1 ff.

Abgerufen von Auslegung des Gemeinschaftsrechts – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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