Vertikalvereinbarungen im EG‑Kartellrecht: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 29. September 2021, 14:34 Uhr
von Reinhard Ellger
1. Begriff und Funktion von Vertikalvereinbarungen
Die in Art. 81 ff. EG/101 ff. AEUV enthaltenen Wettbewerbsregeln, die den Kern des europäischen Wettbewerbsrechts bilden, haben den umfassenden Schutz des Wettbewerbs als einer der wesentlichen Grundbedingungen einer freien Marktwirtschaft im europäischen Binnenmarkt zum Ziel. Dabei wendet sich Art. 81 EG/101 AEUV gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch die Bildung von Kartellen (Kartellverbot und Freistellung), die im Wege von Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen zwischen Unternehmen bzw. durch Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen bewirkt werden. Naturgemäß stehen dabei wettbewerbsbeschränkende Abreden zwischen Wettbewerbern im Vordergrund der kartellrechtlichen Betrachtung, weil durch sie in unmittelbarer und schwerwiegender Weise die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs auf dem relevanten Markt beeinträchtigt oder beseitigt werden kann. Wettbewerbsbeschränkende Zwecke und Wirkungen können daneben aber auch mit Vereinbarungen verbunden sein, die nicht zwischen Wettbewerbern, sondern zwischen Angehörigen unterschiedlicher Produktions- oder Handelsstufen abgeschlossen werden. Dementsprechend definiert Art. 2(1) der VO 2790/1999 für Vertikalvereinbarungen dieselben als „Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zwischen zwei oder mehr Unternehmen, von denen jedes zwecks Durchführung der Vereinbarung auf einer unterschiedlichen Produktions- und Vertriebsstufe tätig ist, und welche die Bedingungen betreffen, zu denen die Parteien bestimmte Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen können.“
Vertikale Vereinbarungen in diesem Sinne sind vor allem Vertriebsvereinbarungen (Vertrieb), die Hersteller mit Unternehmen der Vertriebsstufe wie Groß- oder Einzelhändlern abschließen, die dann die Vermarktung der Produkte bis hin zum Endverbraucher übernehmen. Als vertikale Vereinbarungen sind aber auch Verträge zu qualifizieren, die der Hersteller eines Produktes mit einem Lieferanten über den Verkauf einer Ware abschließt, die der Käufer als Einsatzstoff für sein eigenes Produkt verwendet (industrial supply). Vertriebsvereinbarungen sind für die Versorgung der Bevölkerung im europäischen Binnenmarkt von außerordentlicher Bedeutung, weil sich die Hersteller von Waren in großem Umfang des Handels bedienen, um Vertriebskanäle zu den Endverbrauchern zu schaffen. Nach Angaben der Europäischen Kommission waren im Jahr 2003 ca. 15 % aller Erwerbstätigen in der Gemeinschaft im Handel tätig. Im Groß- und Einzelhandelsbereich betätigten sich 5,5 Mio. Unternehmen, deren Wertschöpfung sich auf EUR 880 Mrd. und damit immerhin 13 % der Gesamtwertschöpfung der Gemeinschaft belief. Daher überrascht es nicht, wenn die Kommission den Handel als „einen Schlüssel für das Funktionieren des Binnenmarktes“ bezeichnet, wobei die Händler nicht nur den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen an die Endverbraucher kanalisieren, sondern auch Informationen über Änderungen von Nachfragestruktur und Geschmackstrends an die Hersteller weiterleiten (Europäische Kommission, http://ec.europa.eu/internal_market/services/brs/distri-trades_de.htm [letzter Zugriff am 15.7.2009] ). Soweit die vertraglichen Vereinbarungen zwischen Herstellern und Händlern lediglich Preis und Menge der abzusetzenden Waren oder Dienstleistungen festlegen, weisen die Vertikalvereinbarungen in aller Regel keine wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen auf. Solche Wirkungen können jedoch dann auftreten, wenn durch die Vereinbarung dem Lieferanten oder dem Abnehmer Beschränkungen auferlegt werden, die über die genannten Abreden hinausgehen. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Lieferant einem Händler einräumt, für ein bestimmtes Gebiet die Waren des Lieferanten allein zu vertreiben (Alleinvertriebsvereinbarung). Dadurch werden andere Händler daran gehindert, Waren des Herstellers in dem Gebiet des Alleinhändlers zu vertreiben. Wettbewerbsbeschränkend wirken auch Vereinbarungen, durch die sich ein Händler verpflichtet, bestimmte Waren ausschließlich bei einem einzigen Lieferanten zu beziehen (Alleinbezugsverpflichtung). Dadurch wird der Händler gehindert, die Waren aus anderen, möglicherweise preiswerteren Bezugsquellen zu beziehen. Andererseits können vertikale Beschränkungen nicht nur negative, sondern durchaus auch positive Auswirkungen mit sich bringen. So kann eine Alleinvertriebsvereinbarung dazu dienen, dass konkurrierende dritte Händler sich nicht an die Werbeinvestitionen des Alleinhändlers anhängen (free-rider-Problem) oder das Erpressungspontial vermindert wird, das sich aus kundenspezifischen Investitionen einer Partei ergibt (hold-up-Problem). Auch kann die Alleinstellung den Händler veranlassen, sich intensiver auf die Vertriebsanstrengungen und die Marktbearbeitung zu konzentrieren, als dies der Fall wäre, wenn er mehrere Hersteller mit gleichen oder ähnlichen Produkten zu vertreten hätte.
Demgemäß ist eine Vertikalvereinbarung nach Art. 81(1) EG/101(1) AEUV verboten, wenn sie eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des gemeinsamen Markes bezweckt oder bewirkt und dazu geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. In der Anfangszeit der Anwendung der Wettbewerbsregeln des (damaligen) EWG-Vertrages war es zunächst umstritten gewesen, ob der wortgleiche Vorgänger des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV Vertikalvereinbarungen überhaupt erfasst. Dies hat der EuGH in einer seiner ersten Entscheidungen zu den Wettbewerbsregeln des Vertrages eindeutig festgestellt: Da der Vertrag ganz allgemein von der Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs spreche, sei es nicht angängig hinsichtlich der Anwendbarkeit des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV auf horizontale und vertikale Vereinbarungen Unterscheidungen zu treffen, wo der Vertrag dies nicht tue (EuGH verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig, Slg. 1966, 322, 387). Diese Auffassung ist später in mehreren Entscheidungen des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz bestätigt und nicht mehr in Zweifel gezogen worden.
Wettbewerbspolitisch wird die Gefährlichkeit vertikaler Beschränkungen für den Wettbewerb geringer eingeschätzt als das Risiko, das durch horizontale Wettbewerbsbeschränkungen verursacht wird. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Konkurrenten behindern den Markenwettbewerb (d.h., den Wettbewerb zwischen Produkten verschiedener Hersteller, sog. inter-brand competition), führen tendenziell zu höheren Preisen und reduzieren die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher. Demgegenüber engen Vertikalbeschränkungen den Wettbewerb zwischen den Händlern derselben Marke ein (markeninterner Wettbewerb, intra-brand competition). Bei Vertikalvereinbarungen ist das Produkt der einen Seite das Einsatzgut der anderen Partei. Dies führt dazu, dass die Ausübung von Marktmacht (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) auf dem vorgelagerten oder dem nachgelagerten Markt, die in der Vertikalbeschränkung zum Ausdruck kommt, die Nachfrage des auf dem jeweils anderen Markt tätigen Unternehmens beeinträchtigt. Daher hat dieses Unternehmen regelmäßig einen Anreiz, solche Vertikalbeschränkungen soweit wie möglich zu verhindern. Allerdings darf dieser Anreiz auch nicht überschätzt werden. Unternehmen, die nicht über Marktmacht verfügen, können ihre Herstellungs- und Vertriebsmethoden unter Einsatz vertikaler Beschränkungen verbessern; Unternehmen mit Marktmacht können darüber hinaus ihre Gewinne zu Lasten ihrer Mitbewerber steigern indem sie deren Kosten auf dem vor- oder nachgelagerten Markt in die Höhe treiben und so Kunden auf sich ziehen (Europäische Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, Rn. 100 f.). Die negativen Wirkungen vertikaler Beschränkungen auf den Wettbewerb lassen sich wie folgt zusammenfassen: sie können zur Errichtung von Marktzutrittsschranken verwendet werden, die zum Ausschluss anderer Lieferanten bzw. Erwerber von Produkten führen. Weiterhin können Vertikalbeschränkungen zur Verringerung des Markenwettbewerbs und zur Kollusion zwischen Lieferanten und zwischen Käufern beitragen. Eine zentrale negative Wirkung vertikaler Beschränkungen besteht in der Verringerung des intra-brand-Wettbewerbs. Schließlich können vertikale Beschränkungen, etwa in der Form von Alleinvertriebsvereinbarungen oder von Alleinbezugsverpflichtungen, zur territorialen Segmentierung von Märkten führen und die Verbraucher daran hindern, von den Vorteilen des Binnenmarktes Gebrauch zu machen.
Andererseits sind bei der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung vertikaler Beschränkungen aber auch deren positive Wirkungen zu bedenken, die – bei Vorliegen der entsprechenden Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 81(3) EG/ 101(3) AEUV oder der einschlägigen Gruppenfreistellungsverordnungen – eine Freistellung vom Verbot des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV rechtfertigen können. So können vertikale Beschränkungen zu einer Förderung anderer Formen der Konkurrenz als des Preiswettbewerbs führen, etwa zu einer Verbesserung von Kundendienst-, Service- und Beratungsleistungen bei technisch anspruchsvollen Waren wie der Unterhaltungselektronik. Auch können Vertikalvereinbarungen mit wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen zur Erschließung neuer Märkte beitragen, wie z.B. Alleinvertriebsverträge und Franchise-Vereinbarungen (Franchising).
Art. 81(1) EG/101(1) AEUV differenziert zwischen Vereinbarungen, die Wettbewerbsbeschränkungen bezwecken und solchen, die Wettbewerbsbeschränkungen bewirken. Wird durch eine Vereinbarung eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt, ist sie nach Art. 81(1) EG/101(1) AEUV verboten, ohne dass es auf die tatsächliche Auswirkung auf den Wettbewerb auf dem relevanten Markt ankäme. Dabei ist auf den (objektiven) Zweck der Maßnahme selbst abzustellen, nicht auf die (subjektiven) Absichten und Motive der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen; erforderlich ist allerdings noch, dass die Wettbewerbsbeschränkung spürbar ist. Sie muss folglich geeignet sein, den Wettbewerb zu beschränken. Vereinbarungen, die Wettbewerbsbeschränkungen bezwecken, sind vor allem die sogenannten Kern- oder hard-core-Beschränkungen, im Bereich der Vertikalvereinbarungen etwa die Preisbindung der zweiten Hand oder die Einräumung absoluten Gebietsschutzes für die Abnehmer von Waren, weil dadurch der markeninterne Wettbewerb beschränkt wird. Ebenso wie Maßnahmen, die eine Beschränkung des Wettbewerbs bezwecken, untersagt Art. 81(1) EG/101(1) AEUV Vereinbarungen, die wettbewerbsbeschränkende Wirkungen aufweisen. Bei ihnen ist die Auswirkung der Maßnahme auf die Verhältnisse auf dem relevanten Produktmarkt gesondert zu untersuchen. In diesem Zusammenhang kommt es insbesondere auf das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Spürbarkeit an: eine Vereinbarung unterfällt nur dann dem Verbotstatbestand des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV, wenn sie spürbare Auswirkungen auf den relevanten Markt aufweist. In ihrer De Minimis-Bekanntmachung hat die Kommission festgelegt, dass vertikale Vereinbarungen den Wettbewerb nicht spürbar beschränken, wenn der von jedem beteiligten Unternehmen gehaltene Marktanteil auf keinem der betroffenen relevanten Märkte mehr als 15 % beträgt. Bei der kartellrechtlichen Beurteilung vertikaler Vereinbarungen reicht es nicht immer aus, nur die Wirkungen einer einzelnen, isolierten Vereinbarung zu erfassen, sondern auch die Auswirkungen ganzer Vertragsnetze sind zu berücksichtigen. So mag eine einzelne Vereinbarung, z.B. ein Bierlieferungsvertrag zwischen einer Brauerei und einem Gastwirt, für sich genommen ohne nennenswerte Auswirkungen auf den relevanten Markt sein; ist die Vereinbarung jedoch Teil eines den gesamten Markt kennzeichnenden Gesamtsystems gleichartiger Vertragsbindungen, die z.B. eine Vielzahl von Brauereien mit einer Vielzahl von Wirten abgeschlossen hat, so kann nur die Beurteilung des Gesamtsystems eine angemessene kartellrechtliche Erfassung der von ihm möglicherweise ausgehenden Marktausschlusswirkungen für Brauereien, die noch nicht auf den betreffenden Markt vertreten sind, gewährleisten. Eine Berücksichtigung gleichartiger Vereinbarungen zwischen den beteiligten Unternehmen sowie Vereinbarungen Dritter ermöglicht die vom EuGH entwickelte Bündeltheorie, nach der bei der Beurteilung einzelner Vertikalvereinbarungen diese nicht aus dem wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhang gelöst werden können und im Rahmen der kumulativen Auswirkungen des gesamten Vertragsnetzes zu bewerten sind (EuGH Rs. C-234/89 – Delimitis/Henninger Bräu, Slg. 1991, I-977, 983 ff.; EuGH Rs. 23/67 – Brasserie de Haecht, Slg. 1967, 544, 555 f.).
Die Rechtsprechung des EuGH und die Verwaltungspraxis der Kommission haben für gewisse Arten von Vertikalvereinbarungen Tatbestandsrestriktionen herausgearbeitet. So fallen etwa die sog. echten Handelsvertreterverträge, bei denen der Handelsvertreter Waren oder Dienstleistungen für den Prinzipal vertreibt oder erwirbt, ohne ein eigenes über seinen Provisionsanspruch hinausgehendes wirtschaftliches Risiko (wie z.B. geschäftsspezifische Investitionen oder die Übernahme von Lagerkosten etc.) trägt, nicht in den Tatbestand des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV. Der EuGH hat darüber hinaus selektive Vertriebssysteme in der Form der einfachen Fachhandelsbindung vom Tatbestand des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV ausgenommen. Voraussetzung ist dabei, dass das betreffende selektive Vertriebssystem nach der Beschaffenheit des Produkts erforderlich ist und die Auswahl der Wiederverkäufer allein nach qualitativen Kriterien und diskriminierungsfrei erfolgt, das System zur Stärkung des Wettbewerbs beiträgt und insoweit im Interesse der Verbraucher liegt und schließlich nicht über das zur Erreichung dieser Ziele erforderliche Maß an Wettbewerbsbeschränkung hinausgeht (EuGH Rs. 26/76 – Metro/Kommission I, Slg. 1977, 1875, 1907 ff.).
2. Erscheinungsformen vertikaler Vereinbarungen
Die Erscheinungsformen der Vertikalvereinbarungen spiegeln die vielfältigen wirtschaftlichen und rechtlichen Bedürfnisse wider, die die beteiligten Unternehmen bei der Ausgestaltung der Vertriebswege vom Hersteller zum Endkunden zu befriedigen suchen. In der mehr als 50jährigen Anwendungspraxis des Art. 81(1) EG/ 101 (1) AEUV (ex 85 EWGV) haben sich bestimmte Arten von Vereinbarungen als besonders bedeutsam und häufig vorkommend erwiesen.
a) Alleinvertriebsverträge
Es handelt sich dabei um Vereinbarungen, in denen sich ein Hersteller einem Händler gegenüber verpflichtet, zum Zweck des Wiederverkaufs bestimmte Waren in einem abgegrenzten Gebiet nur an ihn zu liefern. Üblicherweise darf der Händler auch keine aktiven Verkäufe an Kunden in Gebieten vornehmen, die der Lieferant einem anderen Händler vorbehalten hat. Häufig darf auch der Hersteller selbst keine Waren an Kunden im Gebiet des Händlers veräußern. Gefahren für den Wettbewerb liegen vor allem darin, dass der markeninterne Wettbewerb beschränkt wird und eine Marktaufteilung stattfindet. Es kann zu Preisdiskriminierung kommen. Bei flächendeckender Anwendung von Alleinvertriebssystemen besteht die Gefahr der Kollusion zwischen Herstellern und Händlern. Allerdings können Alleinvertriebsvereinbarungen mit wettbewerbsbeschränkenden Abreden auch positive Wirkungen aufweisen. So kann durch den Alleinvertrieb eine Verminderung der Transaktionskosten erreicht werden, indem der Lieferant seine Absatztätigkeit auf wenige Händler beschränken kann. Darüber hinaus wird sich der Alleinhändler in besonders intensiver Weise um den Absatz in dem ihm zugewiesenen Gebiet bemühen.
b) Alleinbezugsverpflichtungen
Bei Alleinbezugsverträgen verpflichtet sich ein Abnehmer, ein Erzeugnis allein oder zu einem weit überwiegenden Teil von einem Lieferanten zu beziehen. Damit wird der Marktzutritt für konkurrierende Lieferanten erschwert; zudem kann es zu Kollusionen zwischen verschiedenen Lieferanten kommen. Auch kann der Markenwettbewerb in den Verkaufsstätten des Beziehers eingeschränkt werden, wenn der Lieferant nur bestimmte, aber nicht alle Marken eines Produkts liefert. Als positive Wirkungen können sich eine Verminderung der Vertriebskosten durch längerfristige Planung des Absatzes, die nachhaltige Sicherung des Absatzes, die Begrenzung von Risiken bei Marktschwankungen sowie ein Anreiz für den Bezieher, sich intensiv für den Absatz der betreffenden Waren einzusetzen, ergeben.
c) Selektiver Vertrieb
Charakteristisch für ein selektives Vertriebssystem ist, dass ein Hersteller seine Vertriebsorganisation von vornherein auf bestimmte Händler beschränkt und es durch entsprechende vertragliche Klauseln diesen Händlern untersagt, die Vertragswaren an andere Händler zu liefern. Generell gilt, dass selektive Vertriebssysteme nicht für die Vermarktung aller Produkte zulässig sind, sondern nur für Waren, bei denen ein solches System – etwa zur Wahrung der Qualität oder zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs – erforderlich ist. Dies ist beispielsweise der Fall bei langlebigen, hochwertigen und technisch komplizierten Erzeugnissen oder bestimmten Luxusgütern, bei denen ein Bedarf des Verbrauchers nach Beratung, Information und Service besteht. In der Rechtspraxis haben sich verschiedene Formen des selektiven Vertriebs entwickelt, die sich unterschiedlich stark auf den Wettbewerb auswirken und die daher kartellrechtlich differenziert zu beurteilen sind (qualitativer selektiver Vertrieb in den Formen der einfachen und der qualifizierten Fachhandelsbindung und quantitativer selektiver Vertrieb). Selektive Vertriebssysteme können zu einer Verminderung des markeninternen Wettbewerbs und – bei Verwendung solcher Systeme durch alle wichtigen Hersteller – zum Marktausschluss von bestimmten Kategorien von Händlern führen. Auch erleichtern solche Systeme die Kollusion zwischen Händlern und zwischen Herstellern. Diese Systeme können sich allerdings auch positiv auswirken, indem sie etwa die Erbringung bestimmter Dienstleistungen, wie Kundendienst an den Endverbraucher, sicherstellen, Trittbrettfahrerprobleme zwischen Händlern vermindern (z.B. im Bereich von Werbung und Beratung), ein Markenimage sichern und vertragsspezifische Investitionen der Vertragshändler schützen.
d) Franchising
Unter dem Begriff des (Waren- oder Dienstleistungs‑)Franchising ist eine Vertriebsform zu verstehen, bei der der Franchisegeber dem Franchisenehmer gestattet, bestimmte Erzeugnisse unter Verwendung des Namens und der Marke, der Ausstattung und des Know-how des Franchisegebers zu verkaufen oder zu nutzen. In der Regel sehen die Franchise-Vereinbarungen vor, dass der Franchisenehmer die Vertragswaren ausschließlich vom Franchisegeber zu beziehen hat. Daneben enthalten solche Vereinbarungen nicht selten noch weitere wettbewerbsbeschränkende Elemente, etwa die Verpflichtung des Franchisegebers, Vertragswaren nur in einem bestimmten Geschäftslokal zu vertreiben. Dadurch sollen die Franchisenehmer vor Konkurrenz durch andere Franchisenehmer geschützt werden. Denselben Zweck verfolgen die sog. Bannmeilenregelungen, in denen sich der Franchisegeber verpflichtet, in einem bestimmten Umkreis um das Geschäftslokal eines Franchisenehmers keine weiteren Franchisenehmer zuzulassen. Neben den wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen bringen solche Vereinbarungen auch positive Effekte mit sich. Sie ermöglichen es Herstellern, sich ohne hohen Investitionsaufwand auf neuen Märkten zu etablieren. Franchise-Verträge können durch die Vereinheitlichung von Geschäftsmethoden zu Kostenersparnissen führen. Auch der Markenwettbewerb kann unter Umständen verbessert werden, indem der Vertrieb über Franchise-Verträge die Konkurrenz zu den großen filialisierten Vertriebsketten verstärkt.
3. Freistellung
Art. 81(3) EG/101(3) AEUV legt die Voraussetzungen und die Formen fest, unter denen eine Vertikalvereinbarung mit wettbewerbsbeschränkenden Abreden, die unter das Verbot des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV fällt, von diesem Verbot freigestellt werden kann. Art. 81(3) EG/101(3) AEUV sieht zwei unterschiedliche Wege der Freistellung vor: Zum einen kann die einzelne Vereinbarung, die zwischen zwei oder mehr Parteien abgeschlossen worden ist, unmittelbar nach Art. 81(3) EG/101(3) AEUV freigestellt sein, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind. Des Weiteren sieht Art. 81(3) EG/ 101(3) AEUV neben dieser Einzelfreistellung auch die gruppenweise Freistellung vor. Die Europäische Kommission hat zwei Gruppenfreistellungsverordnungen (GFVOen) erlassen, die für die Frage der Freistellung vertikaler Vereinbarungen mit wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen vom Kartellverbot von außerordentlich großer praktischer Bedeutung sind. Es handelt sich dabei um die VO 2790/1999 der Kommission vom 22.12.1999 über die Anwendung von Artikel 81(3) des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen und die VO 1400/2002 der Kommission vom 31.7.2002 über die Anwendung von Art. 81(3) EG/101(3) AEUV auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor. Die Verordnungen konkretisieren die vagen und unbestimmten Freistellungsvoraussetzungen des Art. 81(3) EG/ 101(3) AEUV speziell für den Sektor der Vertikalvereinbarungen und erleichtern damit den betroffenen Unternehmen, den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sowie den Gerichten, die Rechtmäßigkeit solcher Vereinbarungen zu prüfen (Gruppenfreistellungsverordnungen).
Liegen die Voraussetzungen der Vertikal- oder der KFZ-GFVO nicht vor, weil etwa die Art. 3(1) Vertikal-GFVO oder Art. 3(1) und (2) KFZ-GFVO festgelegten Marktanteilsschwellen von 30 % überschritten sind, kommt eine Freistellung der betreffenden Vereinbarung unmittelbar nach Art. 81(3) EG/101(3) AEUV in Betracht. Dazu ist erforderlich, dass die Vereinbarung zur Verbesserung der Warenerzeugung oder ‑verteilung oder zum wirtschaftlichen oder technischen Fortschritt beiträgt, die Verbraucher angemessen am entstehenden Gewinn beteiligt werden, die Beschränkungen zur Erreichung dieser Ziele unerlässlich sind sowie der Wettbewerb nicht für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren ausgeschaltet wird. Vereinbarungen, die die oben genannten Kernbeschränkungen enthalten, sind in aller Regel nicht nach Art. 81(3) EG/101(3) AEUV freistellbar.
4. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 81 EG/101 AEUV
Fällt eine Vertikalvereinbarung unter den Tatbestand des Art. 81(1) EG/101(1) AEUV, weil sie wettbewerbsbeschränkende Zwecke verfolgt oder solche Wirkungen aufweist und ist sie nicht aufgrund einer GFVO oder unmittelbar nach Art. 81(3) EG/101(3) AEUV freigestellt, so ist die Vereinbarung gemäß Art. 81(2) EG/101(2) AEUV nichtig und erzeugt keine Rechtswirkungen (Kartellverbot und Freistellung).
Literatur
Ernst-Joachim Mestmäcker, Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, §§ 12, 14; Volker Emmerich, Kartellrecht, 11. Aufl. 2008, § 5 II; Thorsten Mäger, § 16, Abschn. C: Kartellrecht, in: Reiner Schulze, Manfred Zuleeg (Hg.), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis; Markus Buchner, EG-Kartellrecht und Vertriebssysteme, insbesondere der KFZ-Vertrieb, 2006; Jonathan Faull, Ali Nikpay, The EC Law of Competition, 2. Aufl. 2007, Rn. 9.01 ff.; Peter Roth, Vivien Rose (Hg.), Bellamy & Child European Community Law of Competition, 6. Aufl. 2008, Rn. 6.001 ff.; D.G. Goyder, EC Competition Law, 3. Aufl. 1998, 177 ff.