Römisch-holländisches Recht und Römisches Recht: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Reinhard Zimmermann]]''
von ''[[Reinhard Zimmermann]]''
== 1. Das goldene Zeitalter der Niederlande ==
== 1. Rom und Europa ==
Als römisch-holländisches Recht bezeichnen wir, ''pars pro toto'', das Recht der sieben nördlichen Provinzen der zunächst burgundischen, dann spanisch-habsburgischen Niederlande, die sich 1579 zur Union von Utrecht zusammengeschlossen und 1581 im ''Placaet van Verlatinge'' vom spanischen König ''Philipp II.'' losgesagt hatten. Bei dieser Union handelte es sich um ein Staatengebilde, das in mehreren grundlegenden Punkten nicht den Trends entsprach, die die politische Entwicklung des 17. Jahrhunderts ansonsten beherrschten: Es war nicht absolutistisch, sondern republikanisch organisiert, nicht zentralistisch, sondern föderativ strukturiert und nicht nationalstaatlich, sondern partikularistisch inspiriert. Darüber hinaus gewährte es in einem Zeitalter religiöser Intoleranz eine bemerkenswert weitreichende Toleranz gegenüber denen, die die politisch und kulturell prägende calvinistische Religion ablehnten.
„Dreimal hat Rom der Welt Gesetze diktiert, dreimal die Völker zur Einheit verbunden, das erstemal, als das römische Volk noch in der Fülle seiner Kraft stand, zur Einheit des ''Staats'', das zweitemal, nachdem dasselbe bereits untergegangen, zur Einheit der ''Kirche'', das drittemal infolge der Rezeption des römischen Rechts, im Mittelalter zur Einheit des ''Rechts''<nowiki>; das erstemal mit äußerem Zwange durch die Macht der Waffen, die beiden anderen Male durch die Macht des Geistes.“ Mit diesen Worten beginnt </nowiki>''Rudolf von Jherings'' berühmtes Werk über den „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“ (1852–1865). In der Tat gehört das römische Recht zu den Elementen antiker Kultur, die Europa bis in die Gegenwart hinein besonders nachhaltig geprägt haben. Das zeigt sich im europäischen Privatrecht auf Schritt und Tritt.


Es ist eine bemerkenswerte, vielleicht sogar einzigartige Tatsache, dass die Niederlande bereits unmittelbar nach ihrem Entstehen, und trotz der noch 80&nbsp;Jahre lang andauernden kriegerischen Verstrickung mit Spanien, zu einer der führenden Kulturnationen Europas wurden. Das 17.&nbsp;Jahrhundert war die Zeit der niederländischen Meister in der Malerei. Aber auch Wissenschaft und Philosophie erlebten eine bedeutende Blütezeit. Mit holländischen Teleskopen beobachtete man die Ringe und Monde des Saturn, mit holländischen Mikroskopen wurden Protozoen, Bakterien und Spermatozoen entdeckt. Und unter den Philosophen, die in den Niederlanden lebten und publizierten, waren Männer vom Range eines ''René'' ''Descartes'', ''John Locke'' und ''Baruch de Spinoza''.
== 2. Eckdaten der römischen Rechtsentwicklung ==
Zwei markante Dokumente in der Entwicklung des antiken römischen Rechts sind das Zwölftafelgesetz (ca.&nbsp;450&nbsp;v.&nbsp;Chr.) und das ''[[Corpus Juris Civilis]]'' (528–34&nbsp;n.&nbsp;Chr.). Die zwölf Tafeln markieren nicht den Beginn der römischen Rechtsgeschichte; sie sind jedoch unsere Hauptquelle für die sog. altrömische Periode. Diese reicht bis etwa zum Beginn der Punischen Kriege (Mitte des 3.&nbsp;Jahrhunderts v.&nbsp;Chr.). Die Zeit der jüngeren Republik war dann geprägt einerseits durch die Ausbreitung der römischen Herrschaft in Italien sowie im gesamten Mittelmeerraum. Andererseits wandelten sich auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse; aus einer im Wesentlichen bäuerlichen wurde eine typische Stadtkultur, und die Hofwirtschaft wurde von einem Wirtschaftsleben abgelöst, das an Handel und Kapital orientiert war. Gleichzeitig bereitete die Begegnung mit dem hellenistischen Osten den Boden für die Ausbildung einer Rechtswissenschaft; der schöpferischen Kraft der Juristen, die während der beiden letzten Jahrhunderte der Republik lebten (unter ihnen etwa ''Publius Mucius Scaevola'' und ''Servius Sulpicius Rufus'') wird ihre traditionelle Bezeichnung als Vorklassiker freilich kaum gerecht. Diese Rechtswissenschaft wurde dann von den Juristen der klassischen Periode – die sich in etwa mit der Zeit des Prinzipates deckt (27&nbsp;v.&nbsp;Chr.-235&nbsp;n.&nbsp;Chr.) – zu ihrer höchsten Blüte geführt. Die nachklassische Periode gilt hingegen als Zeitalter des Niedergangs. Es kam zu einer Vulgarisierung, das heißt zu einer Verflachung und Verfälschung des römischen Rechts durch Eindringen der Denk- und Ausdrucksformen juristischer Laien. Dieser Vulgarisierung wirkten nach der Reichsteilung im Jahre 395&nbsp;n.&nbsp;Chr. im oströmischen Reich die Rechtsschulen insbesondere in Beryt und Konstantinopel entgegen. Ihren Höhepunkt erreichte diese klassizistische Tendenz mit dem Gesetzgebungswerk des Kaisers ''Justinian'' (527–565), das unter dem Namen ''[[Corpus Juris Civilis]]'' bekannt ist; auf dessen Hauptteil, die Digesten, stützt sich im Wesentlichen unsere Kenntnis des klassischen römischen Rechts.


Primär waren für diesen Aufschwung Handel und Schifffahrt verantwortlich. „Außer Großbritannien in der Zeit nach etwa 1780“, schreibt ''Jonathan Israel'' (Dutch Primacy in World Trade 1585–1740, 1989, 12; Übersetzung durch den Verfasser), „hat kein Staat in der Geschichte jemals eine so dominierende Stellung im Welthandel eingenommen wie eineinhalb Jahrhunderte lang die Niederländer. ... Dass überhaupt eine Nation, oder ein Staat, eine so anhaltende, und immer wieder erneuerte, Fähigkeit entwickeln konnte, die Weltwirtschaft zu beherrschen, ist schon an sich erstaunlich genug. Was es aber umso ungewöhnlicher macht, ist die Tatsache, dass die Vereinigten Niederlande zur Zeit ihrer Vorherrschaft im Bereich des Handels und der Seeschifffahrt der kleinste der bedeutenderen europäischen Staaten war, was Territorium, Bevölkerung und Bodenschätze betrifft.“ In der Tat handelte es sich um ein Gebiet von nicht mehr als hundert Quadratkilometern mit einer Einwohnerzahl (im Jahre 1650) von 1,9 Mio. Dennoch gelang es den Niederlanden, durch zwei Handelsgesellschaften ein bedeutendes Kolonialreich zu erwerben und zu verwalten. Amsterdam wurde zu einem der größten europäischen Banken- und Börsenzentren. Es kam zu einer zunehmenden Urbanisierung; die niederländische war ganz wesentlich eine städtische Kultur.
== 3. Prägende Merkmale des klassischen römischen Rechts ==
Für die Wirkung des römischen Rechts waren folgende Merkmale von besonderer Bedeutung. (a)&nbsp;Es handelte sich um eine hoch entwickelte Fachwissenschaft, die von Juristen getragen wurde. Das war für die antike Welt einmalig. (b)&nbsp;Damit verbunden war eine prinzipielle Abgrenzung (oder, nach einem Ausdruck von ''Fritz Schulz'': Isolierung) von Recht gegenüber Religion, Sitte, Politik und Ökonomie: eine Sonderung des Rechts vom Nichtrecht. (c)&nbsp;Damit wiederum hing zusammen eine sehr starke Konzentration auf das Privatrecht (und die Durchsetzung des Privatrechts im Zivilprozess); Strafrecht und Staatsverwaltung schienen den römischen Juristen demgegenüber offenbar weitgehend nicht unter spezifisch juristischen Kriterien erfassbar. (d)&nbsp;Das römische Privatrecht war weithin Juristenrecht; es war in keinem Gesamtgesetz systematisch geordnet, sondern es wurde von praktisch erfahrenen und praktisch tätigen Juristen angewandt und fortgebildet. (e)&nbsp;Das erklärt einerseits die große Anschaulichkeit und Lebensnähe des römischen Rechts. Es erklärt andererseits aber auch die vielen unterschiedlichen Ansichten und Kontroversen, die sich um die Beurteilung konkreter Probleme herumrankten. So lesen wir etwa in Ulpian D.&nbsp;9,2,11pr. (das Fragment stammt aus dem 18.&nbsp;Buch des Ediktkommentars des spätklassischen Juristen ''Ulpian''<nowiki> [† 233 n.&nbsp;Chr.]): „Ebenso schreibt [Fabius] Mela [ein Zeitgenosse des Augustus]: Als einige spielten und dabei einer den Ball mit Wucht auf die Hände eines Barbiers schleuderte und dadurch die eine Hand nach unten drückte, wurde die Kehle eines Sklaven, den der Barbier gerade rasierte, von dem angesetzten Rasiermesser durchschnitten: Derjenige von den Beteiligten hafte nach der </nowiki>''lex Aquilia''<nowiki>, den Verschulden treffe. Proculus [er lebte im 1.&nbsp;Jahrhundert n.&nbsp;Chr. und war Haupt einer der beiden ‚Rechtsschulen‘ der klassischen Zeit] meint, den Barbier treffe Verschulden. Und in der Tat, wenn er dort rasierte, wo man gewöhnlich spielte oder lebhafter Verkehr herrschte, gibt es etwas, was ihm vorgeworfen werden kann. Doch könnte man nicht mit Unrecht auch folgende Meinung vertreten: Vertraut sich jemand einem Barbier an, der seinen Sessel auf einem gefährlichen Platz aufgestellt hat, so muss er sich bei sich selbst beklagen.“ Mit diesem Text beschäftigten sich europäische Juristen seit der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter bis heute im Rahmen ihrer Erörterungen über das Verschuldenserfordernis bei unerlaubten Handlungen und bei der Herausbildung der Lehre vom mitwirkenden Verschulden. (f)&nbsp;Derartige Meinungsverschiedenheiten waren Ausdruck der inneren Dynamik des römischen Rechts. Es war in ständiger Fortentwicklung begriffen. Zwischen </nowiki>''Publius Mucius Scaevola'' (Konsul im Jahre 133&nbsp;v.&nbsp;Chr.), der zu denen gehörte, „qui fundaverunt ius civile“ und ''Aemilius Papinianus'', überragender Jurist der Spätklassik und als ''praefectus praetorio'' von 205–212 n.&nbsp;Chr. höchster Reichsbeamter in Zivilverwaltung und Rechtsprechung, liegt ein Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren, innerhalb derer Staat und Gesellschaft, römische Rechtskultur und römisches Recht grundlegenden Veränderungen unterworfen waren, und innerhalb derer sich auch die Problemlösungen immer weiter verfeinerten. (g)&nbsp;Die Redeweise von „dem“ römischen Recht ist insofern ungenau. Vielmehr bildete schon das antike römische Recht eine Tradition, in der die jüngeren Autoren auf der Jurisprudenz der älteren aufbauten und einen generationenübergreifenden Diskussionszusammenhang schufen. Ein typisches Beispiel bietet das eben zitierte Fragment des ''Ulpian''. (h)&nbsp;Das römische Recht war damit außerordentlich komplex. Es gründete sich in der Hauptsache auf Fallentscheidungen. Es bildete eine über mehrere Jahrhunderte reichende Tradition. Es war in einer kaum noch überschaubaren Literatur dokumentiert. Und es beruhte auf zwei unterschiedlichen Geltungsgrundlagen: dem traditionellen Kern der alten Bürgerordnung (''ius civile''), die letztlich auf das Zwölftafelgesetz zurückging, und dem ''ius honorarium'', das die Prätoren (d.h. die für die Rechtspflege zuständigen Magistrate) im öffentlichen Interesse einführten „adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia“ (Pap. D.&nbsp;1,1,7,1). Die Parallele zu dem Verhältnis von ''[[common law]]'' und ''[[equity]]'' in der englischen Rechtsentwicklung liegt auf der Hand. (i)&nbsp;Gleichwohl bildete das römische Recht kein undurchdringliches Gestrüpp von Einzelheiten. Vielmehr entwickelten die römischen Juristen eine Vielzahl von Rechtsinstitutionen, Begriffen und Regeln, die sie im Sinne innerer Widerspruchsfreiheit aufeinander abzustimmen suchten. Damit entstand eine Art von offenem System, das gedankliche Stringenz, gleichzeitig aber auch ein großes Maß an Flexibilität bei der Lösung praktischer Probleme gewährleistete. Geleitet wurden die römischen Juristen von einer Reihe grundlegender Werte oder Prinzipien wie etwa der Freiheit der Person, den Geboten der ''bona fides'' und der ''humanitas'', oder dem Schutz erworbener Rechte, insbesondere des Eigentums. (j)&nbsp;Eine weitere Eigenheit der römischen Jurisprudenz, die sie ihrerseits zu so einem fruchtbaren Gegenstand rechtswissenschaftlicher Analyse machte, lag darin, dass Begründungen für die Fallentscheidungen vielfach entweder überhaupt nicht gegeben oder nur kurz angedeutet wurden. Die römischen Quellentexte sind damit ausgesprochen voraussetzungsvoll.


Trotz des Systems formaler Gleichheit innerhalb der Union der sieben Provinzen (Holland, Seeland, Friesland, Utrecht, Gelderland, Groningen, Overijssel) dominierte jedenfalls faktisch eine von ihnen sehr stark, und das war Holland. Sie war am dichtesten bevölkert und bei weitem am finanzkräftigsten. Der holländische Statthalter (jeweils das Haupt der Hauses Oranien) übte deshalb in der Regel auch das Amt des militärischen Oberbefehlshabers der Union aus.
Die Herausbildung einer Privatrechtswissenschaft mit diesen Charakteristika war sicherlich nicht möglich ohne die Rezeption griechischer Philosophie und Wissenschaftslehre im republikanischen Rom. Von entscheidender Bedeutung war aber die Rolle des juristischen Fachmannes bei der Anwendung und Fortbildung des Rechts. Daran hatte es beispielsweise in Griechenland selbst gefehlt. Das griechische Recht war, pointiert gesagt, ein Recht ohne Juristen gewesen: Wurde dort ein Rechtsstreit doch von einer Anzahl durch Los bestimmter Laien entschieden, die aufgrund einer mündlichen Verhandlung, in der beide Parteien eine genau begrenzte Redezeit hatten, ohne Diskussion und Nachfrage durch geheime Abstimmung und mit einfacher Mehrheit ihr Urteil fällten. Es ist nicht schwer zu sehen, dass dies keine günstige Grundlage für das Entstehen einer privatrechtlichen Fachwissenschaft war.


== 2. Holland und die niederländische Rechtskultur ==
== 4. Römisches Recht und europäische Rechtstradition ==
Eine der Ausprägungen der geistigen und kulturellen Blüte der Vereinigten Niederlande während des 17.&nbsp;Jahrhunderts war das römisch-holländische Recht. Schon die Bezeichnung bestätigt die eben erwähnte Dominanz Hollands auch im juristischen Bereich. Genau genommen hatte jede Provinz ihre eigene Rechtsordnung. Dabei bestanden untereinander durchaus Unterschiede. Das lag zum einen an der Gesetzgebungsaktivität der ja nur für jeweils eine Provinz zuständigen Provinzialstände, zum anderen aber auch an der nicht ganz gleichmäßigen Rezeption des [[römisches Recht|römischen Recht]]s in den verschiedenen Provinzen. So lag etwa der Kern des spezifischen Identitätsgefühls der friesischen Juristen in ihrer besonderen Treue zum römischen Recht. Gleichwohl überwogen natürlich die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Rechtsordnungen bei weitem: Ihre Grundlage bildete schließ-lich überall das römisch-kanonische [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']].
Die Universität gilt als die europäische Institution ''par excellence''. Sie entstammt nicht der Antike, sondern entstand als Ausdruck und Träger der großen abendländischen Bildungsrevolution seit dem ausgehenden 12.&nbsp;Jahrhundert zuerst in Bologna, dann in Paris, Oxford und an einer ständig wachsenden Zahl von Orten in West-, Zentral- und Südeuropa. Die römische Jurisprudenz hatte den Charakter einer Wissenschaft, ohne aber universitäre Wissenschaft gewesen zu sein. Als das Recht jedoch im hohen Mittelalter von der erwähnten Bildungsrevolution erfasst wurde, war es das römische Recht, das sich wie keine andere zeitgenössische Rechtsordnung (mit einer Ausnahme, die zudem stark vom römischen Recht beeinflusst war: dem [[kanonisches Recht|kanonischen Recht]]) als Gegenstand scholastisch-analytischer Interpretation und damit der universitären Lehre anbot. So rückten von Anfang an die römischen Quellentexte in das Zentrum des Studiums des weltlichen Rechts. Dies galt für alle nach dem Modell von Bologna in Europa gegründeten Universitäten, und es blieb so bis in das Zeitalter der nationalen Kodifikationen, d.h. in Deutschland bis zum Ende des 19.&nbsp;Jahrhunderts. Dadurch kam es auch zu einer ''praktischen'' [[Rezeption]] des römischen Rechts: Es wurde zur Grundlage eines [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']], das in weiten Teilen West- und Zentraleuropas nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern auch die Rechtsanwendung prägte.


Ein für die herausgehobene Stellung des holländischen Rechts im niederländischen Gesamtverband besonders wichtiger Faktor war das Ansehen und die besondere Autorität seiner Gerichte. Neben den in allen Provinzen weiterbestehenden, althergebrachten Untergerichten gewannen nämlich im Laufe des 15.&nbsp;und 16.&nbsp;Jahrhunderts die von den jeweiligen Landesherren eingesetzten und zunächst teilweise, später ausschließlich mit gelehrten Juristen besetzten Obergerichte zunehmend an Gewicht. Deren ältestes war in den nördlichen Niederlanden der ''Hof van Holland'','' Zeeland en West Friesland'', der bis auf die Zeit ''Philips des Guten ''von Burgund zurückreicht. Demgegenüber erhielten Friesland, Utrecht und Gelderland ähnliche Obergerichte erst in den Jahren 1499, 1530 und 1547. Gegen die Urteile aller dieser Gerichte konnte zunächst an ein ebenfalls von ''Philip dem Guten'' gegründetes Hofgericht, den seit 1473 sog. Großen Rat von Mecheln, appelliert werden. Nach der Trennung der nördlichen und südlichen Niederlande war ein derartiger Instanzenweg natürlich nicht mehr opportun. Nur Holland richtete daraufhin im Jahre 1581 ein Appellationsgericht (''Hoge Raad'') ein, dessen Jurisdiktion sich zwar nicht, wie erhofft, alle anderen Provinzen unterwarfen, dem aber allein durch seine Existenz als einzigem niederländischem Appellationsgerichtshof eine große Autorität zukam. An beiden holländischen Gerichten praktizierten bedeutende Juristen, die deren Ansehen ständig steigerten. Manche von ihnen sammelten Gutachten und Entscheidungen, die nach ihrer Publikation zu einflussreichen Präzedentien wurden.
Sucht man nach Merkmalen, die die europäische im Vergleich zu anderen Rechtstraditionen der Welt charakterisieren, so zeigt sich Punkt für Punkt der Einfluss des römischen Rechts. Da ist zum einen das Merkmal der Schriftlichkeit. Römisches Recht war nicht zuletzt deshalb im mittelalterlichen Recht so einflussreich, weil es schriftlich niedergelegtes Recht war; es galt als „ratio ''scripta''“. Das zeigt nicht nur der Vorgang der [[Rezeption]] selbst, sondern auch das Streben nach schriftlicher Fixierung des mittelalterlichen Gewohnheitsrechts in Europa seit dem Ausgang des 12.&nbsp;Jahrhunderts. Doch galt das römische Recht jahrhundertelang eben auch als „''ratio'' scripta“: Als Modell eines vernünftigen, das heißt der menschlichen Vernunft gemäßen Rechtes. Römisches Recht war damit gleichzeitig Ausdruck und Grundlage eines Strebens nach Rationalität und Wissenschaftlichkeit des Rechts, nach intellektueller Kohärenz und System. Indes verhinderte die Eigenart der römischen Quellen, dass es sich bei diesem System um etwas Starres oder Statisches handelte. Vielmehr ist dem europäischen Recht eine spezifische Entwicklungsfähigkeit eigen. Es ist stetem Wandel unterworfen, es kann auf neu aufgetretene Bedürfnisse und veränderte Umstände reagieren, und es hat immer wieder eine erstaunliche Integrationsfähigkeit bewiesen. Das römische Recht des Mittelalters war nicht mehr das römische Recht der Antike, der ''[[usus modernus]] pandectarum'' entsprach nicht mehr dem ''usus medii aevi'', und die Pandektendoktrin ([[Historische Schule) nicht mehr dem ''usus modernus''. Die Entwicklung ging, mit einem berühmten Wort ''Rudolf von Jherings'', durch das römische Recht über das römische Recht hinaus. In der Antike hatte sich das römische Recht von einer bloßen Rechtskunde zu einer Wissenschaft entwickelt. An den mittelalterlichen Universitäten wurde daraus ein gelehrtes Recht, das an der Universität studiert werden konnte.


Der zweite, nicht minder wichtige Faktor für die Dominanz Hollands in der niederländischen Rechtskultur war das besondere Prestige der juristischen Fakultät der Universität Leiden. Die erfolglose Belagerung dieser strategisch wichtig gelegenen Stadt durch die Truppen des ''Herzogs von Alba'' hatte 1574 der Geschichte des Aufstands gegen die Spanierherrschaft die entscheidende Wende gegeben, und der heldenmütige Widerstand der Leidener Bürger verdiente deshalb eine besondere Belohnung: Leiden wurde auf Vorschlag des Führers der Aufständischen, ''Wilhelms „des Schweigers“''<nowiki> von Nassau und Oranien, Sitz einer Universität für die freien Niederlande (1575; die bedeutendste Hochschule der spanischen Niederlande war Löwen [Louvain] gewesen – sie bestand schon seit 1425). Zwar wurden im Laufe der Zeit auch in anderen Provinzen Universitäten gegründet: die Universität von Franeker in Friesland bereits im Jahre 1585, die Universität von Groningen folgte 1614, danach die Universität von Utrecht (1636), und schließlich kam es im Jahre 1648 in Harderwijk zur Gründung einer Universität für Gelderland. Gleichwohl blieb die Universität Leiden, und insbesondere auch deren juristische Fakultät, tonangebend: Sie vermochte es immer wieder, führende Gelehrtenpersönlichkeiten an sich zu binden. So gelang es bereits in den Gründungsjahren, mit </nowiki>''Hugo Donellus'' einen der bedeutendsten Rechtsgelehrten des [[Humanismus]] nach Leiden zu berufen.
Darin liegt ein weiteres, mit dem vorigen eng zusammenhängendes Charakteristikum des europäischen Rechts, und wiederum eines, das im römischen Recht vorgeprägt war. Die Jurisprudenz ist eine gelehrte Profession, und Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung sind Aufgabe des gelehrten Juristen. Damit wiederum verbunden ist die Tatsache, dass die Jurisprudenz in der europäischen Tradition eine eigenständige Fachdisziplin ist und dass das Recht dementsprechend als ein von anderen gesellschaftlichen Verhaltensordnungen und Steuerungsmechanismen, insbesondere von der Religion, prinzipiell unabhängiges Normensystem erfasst wird. Das entspricht der römischen Isolierung des Rechts vom Nichtrecht. Aus dem römischen Recht stammt die Dominanz des Privatrechts in der Tradition des [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] mit einem besonderen Akzent auf einem fein ausdifferenzierten Vertragsrecht. Und schließlich gründet sich das Recht in Europa auf bestimmte Werte, die letztlich auf der Zentralität der Person als Subjekt und intellektuellem Bezugspunkt des Rechts beruhen. Eine besondere Akzentuierung erhielt diese Idee durch die auf seine Gottesebenbildlichkeit gegründete Würde des Menschen, doch angelegt war sie bereits in dem Prinzip der Freiheit der Person des römischen Rechts. Hier lässt sich damit wie in vielen anderen Bereichen sagen, dass durch die christliche Offenbarung die Weisheit des Altertums überhöht und zu ihrem Ziel geführt wurde. In ganz ähnlicher Weise harmonierten die Billigkeit des kanonischen Rechts (''aequitas canonica'') und der römische Grundsatz von Treu und Glauben (''bona fides'') miteinander.


Diese Konzentration juristischen Talents wie auch der juristischen Spruchpraxis und des gelehrten Gutachtenbetriebes auf die Provinz Holland führte natürlich auch dazu, dass das römisch-holländische Recht wissenschaftlich besonders intensiv erschlossen wurde. Ein Datum von zentraler Bedeutung bildete in diesem Zusammenhang das Erscheinen der „Inleiding tot de Hollandsche Rechtsgeleertheyd“ von ''Hugo Grotius'' (1583–1645) im Jahre 1631. Die „Inleiding“ war das erste Werk, das das aktuell praktizierte Recht der Republik Holland in systematischer Form behandelte. Es war nicht in Latein, sondern in Holländisch verfasst und bestach nicht zuletzt durch die originelle, klare und bündige Art der Darstellung, die von den üblichen weitschweifigen Erörterungen römischer Rechtsantiquitäten wohltuend abwich ([[Institutionenlehrbücher]]). Die „Inleiding“ hatte sogleich einen durchschlagenden Erfolg; bereits im Jahre ihres Erscheinens erlebte sie fünf Auflagen. Sie machte ''Hugo Grotius'' zu dem eigentlichen intellektuellen Vater des römisch-holländischen Rechts und darüber hinaus ganz allgemein des ''[[usus modernus]]'' des römischen Rechts in den Niederlanden.
== 5. Römisches Recht heute ==
Die Kodifikationen des kontinentalen Europa haben das „zweite Leben“ des römischen Rechts zu einem Ende gebracht. Das hat dazu geführt, dass das römische Recht in der juristischen Ausbildung durch Vorlesungen über die nationalen Privatrechtskodifikationen ersetzt wurde. Es geriet in die Rolle eines pädagogischen Bildungsmittels und wurde in seiner Stellung innerhalb der juristischen Fakultäten zunehmend geschwächt. Diese Entwicklung ist ausgesprochen paradox in einer Zeit, in der es auf Überblick, Verständnis grundlegender Zusammenhänge und die Besinnung auf den europäischen Charakter unserer Rechtskultur in besonderer Weise ankommt. Denn die Kodifikationen sind, nach einem Wort von ''Bernhard Windscheid'', nichts als „ein Punkt in der Entwicklung, fassbarer gewiss als eine Wasserwelle im Strome, aber doch nur eine Welle im Strome“. In der Tat trägt ein Gesetzbuch wie das BGB charakteristische Züge eines ''[[Restatements|Restatement]]'' gemeinrechtlicher Jurisprudenz des 19.&nbsp;Jahrhunderts. Es sah sich als Teil einer Tradition, und zwar einer in starkem Maße durch Rechtswissenschaft geprägten Tradition. Das Gesetzbuch sollte für die organische Weiterentwicklung des Rechts einen seinerseits organisch aus der gemeinrechtlichen Tradition entstandenen Rahmen bieten; und in eben diesem Sinne verstanden denn auch Wissenschaft und Rechtsprechung seine Normen. Ganz Ähnliches gilt für die anderen modernen Kodifikationen; so ist etwa der ''[[Code civil]]'' von 1804 in manchen Punkten sogar noch römischer als das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]].


== 3. Eleganz und Utilität ==
Dramatischere Folgen als für die Privatrechtspflege hatte die Kodifikation des bürgerlichen Rechts für die Wissenschaft vom römischen Recht. Sie konnte sich nunmehr, unberührt durch gemeinrechtliche Anwendbarkeitsrücksichten, ganz der Betrachtung der Antike widmen und die römischen Rechtsquellen in ihrem historischen Kontext zu verstehen beginnen. Damit begann ein großes Entdeckungszeitalter. ''Otto Lenel'' rekonstruierte auf der Grundlage der in den Digesten enthaltenen Fragmente aus Ediktskommentaren klassischer Juristen das Jurisdiktionsedikt des Prätors („Edictum Perpetuum“, 1883); dies war für die Rechtspflege in Rom von zentraler Bedeutung gewesen, weil das römische Recht – wie übrigens auch das englische Recht – ein Aktionenrechtssystem war (d.h., das materielle Recht wird von seiner prozessualen Durchsetzbarkeit her gedacht: ''ubi remedium'','' ibi ius'') und das prätorische Edikt die einschlägigen Rechtsschutzverheißungen und Klagformulare enthielt. In seiner „Palingenesia Iuris Civilis“, 1889, bemühte sich ''Lenel'' zudem um die Wiederherstellung der klassischen Rechtsbibliothek, soweit dies auf der Grundlage der überlieferten Fragmente möglich ist. ''Ludwig Mitteis'' zeigte, inwieweit im Osten des Reiches „volksrechtliche“, d.h. einheimische Rechtsvorstellungen vornehmlich hellenistischer Herkunft, lebendig blieben und erschütterte damit das traditionelle Verständnis von der Rechtseinheit der kaiserzeitlichen Rechtsordnung („Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs“, 1891). ''Otto Gradenwitz'' und ''Fridolin Eisele'' waren Pioniere der Interpolationenforschung (''[[Corpus Juris Civilis]]''). ''Fritz Schulz'' und ''Franz Wieacker'' ermittelten ''vorjustinianische'' Veränderungen der klassischen Juristentexte (Textstufenforschung). ''Ernst Levy'' erschloss mit dem weströmischen Vulgarrecht die Schnittstelle zwischen antikem römischem und frühmittelalterlich „germanischem“ Recht. Neben dem Privat- und Zivilverfahrensrecht rückte nunmehr auch die Geschichte des Strafrechts und des Verfassungsrechts in den Blickpunkt (''Wolfgang Kunkel''). Die in einer unermesslichen Menge von Papyri dokumentierte Rechtspraxis in den römischen Provinzen rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit (''Ludwig Mitteis'', ''Ernst Rabel''), und der Blick erweiterte sich auf andere antike Rechtskulturen (''Josef Partsch'', ''Paul Koschaker''). Diese sehr prononcierte Historisierung der Rechtsgeschichte mit all ihren glanzvollen Entdeckungen und der damit verbundene Prozess einer „Emancipation … durch das Auseinanderdenken des römischen und des heutigen Rechts“ (''Ernst Immanuel Bekker'') hatte freilich auch eine Kehrseite: die ''Rechtswissenschaft'' verstand sich immer weniger als „geschichtliche Wissenschaft“ (''Friedrich Carl'' ''v. Savigny''<nowiki>; [[Historische Rechtsschule|Historische Schule]]). Damit geriet in Vergessenheit, in welchem Maße das römische Recht bis heute die kontinentalen Privatrechtsordnungen prägt, und welches einheitsstiftende Potential ihm nach wie vor innewohnt.</nowiki>
In der Literatur ist häufig von der holländischen „eleganten“ Schule die Rede, wenn es um die Rechtswissenschaft in den Niederlanden während des 17.&nbsp;und frühen 18.&nbsp;Jahrhunderts geht. Gemeint ist damit eine humanistisch inspirierte Jurisprudenz, die in erklärtem Gegensatz zur bartolistischen Methode der Kommentatoren sich darum bemühte, die antike Rechtskultur als Ideal auch für die Gegenwart wiederzuerschließen. Begründet worden war diese Richtung in Frankreich (''mos gallicus''), wo sie in der 1464 gegründeten Universität von Bourges ihren Mittelpunkt gefunden hatte. Textkritik der römischen Rechtsquellen, Editionsprojekte bezüglich der justinianischen und vorjustinianischen Quellen, Interpolationensuche (''[[Corpus Juris Civilis]]''), Palingenesie, Byzantistik, die Erforschung auch des römischen Staatsrechts und der römischen Geschichte: Dies waren die großen Untersuchungsprogramme des französischen Humanismus, die die niederländischen Juristen übernahmen und weiterführten. Die Blütezeit der humanistischen Jurisprudenz in den Niederlanden lag etwa zwischen 1670 und 1750.
 
Doch handelte es sich insgesamt bei dem juristischen Humanismus nur um ''einen'' Aspekt der niederländischen Jurisprudenz jener Zeit. Denn das römisch-holländische Recht erlangte gerade auch dadurch einen führenden Rang in der frühneuzeitlichen Welt, dass es einen ''[[usus modernus]]'' des römischen Rechts darstellte: dass sich also die am römischen Recht orientierte Wissenschaft für die zeitgenössische Rechtspraxis, für die ''mores hodierni'' oder ''consuetudines nostrae'', öffnete und damit das ''aktuell geltende Recht'' systematisch zu erfassen suchte. Dadurch kam es zu einem Entwicklungsschub und zu einer grundlegenden Modernisierung der Privatrechtsdogmatik, die damit im Grunde bereits im 17. und 18.&nbsp;Jahrhundert, nach dem berühmten Wort von ''Rudolf von Jhering'', durch das römische Recht über das römische Recht hinausstrebte. Studieren lässt sich dieser Modernisierungsprozess, was das Schuldrecht betrifft, etwa in der Geschichte des allgemeinen Vertragsbegriffs, des Problems der rechtlich erzwingbaren Erfüllungsverpflichtung ([[Erfüllungsanspruch]]), der Einbeziehung Dritter in das Schuldverhältnis ([[Vertrag zugunsten Dritter]]), oder auch des allgemeinen Bereicherungsanspruchs ([[Bereicherungsrecht]]). Zu den Protagonisten dieser Seite der niederländischen Jurisprudenz zählten nicht nur praktisch interessierte, sondern vielfach auch praktisch tätige Universitätsprofessoren und wissenschaftlich ausgebildete Praktiker.
 
''Hugo Grotius'' war Advokat, Syndikus, Diplomat und Universalgelehrter. Heute vor allem als Wegbereiter des [[Naturrecht]]s und der Völkerrechtswissenschaft bekannt, schuf er gleichzeitig das bereits erwähnte erste und später viel kommentierte Einführungslehrbuch zum römisch-holländischen Recht. ''Arnold Vinnius'' (1588–1653), Professor in Leiden, wurde mit seinem Institutionenkommentar zum Autor eines der am weitesten verbreiteten und damit einflussreichsten romanistischen Bücher der neueren Privatrechtsgeschichte. ''Simon van Groenewegen van der Made'' (1613–1652), Advokat und später Leiter der Stadtkanzlei seiner Heimatstadt Delft, ging in seinem „Tractatus“ das gesamte ''[[Corpus Juris Civilis]]'' Abschnitt für Abschnitt darauf durch, welche seiner Bestimmungen im zeitgenössischen Recht – sei es durch Gesetz, sei es ''qua'' Gewohnheitsrecht – als aufgehoben anzusehen waren. ''Ulrich Huber'' (1636–1694), Professor in Franeker und zeitweise Richter am ''Hof van Friesland'', war der bedeutendste friesische Jurist; außer dem Privatrecht förderte er insbesondere die allgemeine Staatslehre und das [[internationales Privatrecht|internationale Privatrecht]]. ''Johannes Voet'' (1647–1713) war Autor des ausführlichsten Pandektenkommentars der niederländischen Schule; er zielte ab auf die Erkenntnis der dem geltenden Recht zugrunde liegenden Prinzipien im Interesse rationaler Rechtsfortbildung und Rechtskritik und benutzte das römische deshalb im Grunde als eine Folie für das geltende Recht. ''Cornelis van Bynkershoek'' (1673–1743) präsidierte fast zwanzig Jahre lang dem höchsten holländischen Gericht. Die von ihm Abend für Abend notierten „Observationes Tumultuariae“, die erst im 20.&nbsp;Jahrhundert veröffentlicht wurden, gewähren einen einzigartigen Einblick in die zeitgenössische Entscheidungspraxis.
 
Somit bündelten sich im römisch-holländischen Recht die beiden großen, für den Umgang mit den römischen Rechtsquellen maßgeblichen Traditionsstränge, die sich schlagwortartig mit den Begriffen Eleganz und Utilität, oder ''mos gallicus'' und ''mos italicus'' bezeichnen lassen. Denn auch die Autoren, die sich selbst in ihren Arbeiten nicht mithilfe der philologischen Methoden des [[Humanismus]] den Problemen der Textkonstitution und Emendation widmeten, befanden sich doch voll und ganz auf der Höhe romanistisch-humanistischer Gelehrsamkeit und vermochten erst dadurch sich selbst und allen Zeitgenossen vor Augen zu führen, in welchen Punkten und wie weit die ''mores hodierni'' sich vom römischen Recht der Antike entfernt hatten.  
 
== 4. Naturrecht ==
Hinzu kam aber als ein dritter die europäische Rechtsentwicklung maßgeblich prägender Traditionsstrang das soeben auf eine ganz neue Basis gestellte und von dort aus einen ungeheuren Aufschwung nehmende [[Naturrecht]]. „Und das, was wir bereits ausgeführt haben, würde auch dann gelten, wenn wir voraussetzen, was ohne größten Frevel nicht vorausgesetzt werden kann, nämlich dass es Gott nicht gibt oder dass er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht kümmert“, schrieb ''Hugo Grotius'' in den Prolegomena zu seinem epochalen „De iure belli ac pacis“ und führte damit das, was natürlicherweise als Recht erscheint, nicht mehr auf eine göttliche ''lex aeterna'', sondern auf die menschliche Vernunft zurück. Es wäre erstaunlich, wenn nicht auch ''Grotius’'' „Inleiding“ Einflüsse der neuen, naturrechtlichen Denkweise aufwiese, und in der Tat stehen „Inleiding“ und „De iure belli ac pacis“ denn auch keineswegs vollkommen isoliert nebeneinander.
 
Damit bestand für die Autoren des römisch-holländischen Rechts gleichzeitig eine intellektuelle Verbindung zur spanischen Spätscholastik ([[Scholastik]]) des 16.&nbsp;und frühen 17.&nbsp;Jahrhunderts. Deren Hauptvertreter, Autoren wie ''Francisco de Vitoria'', ''Diego de Covarruvias'', ''Domingo de Soto'', ''Luis de Molina'' und ''Leonardus Lessius'' hatten das rezipierte [[römisches Recht|römische Recht]] mithilfe der von ''Thomas von Aquin'' christianisierten Philosophie des ''Aristoteles'' durchdrungen und zu einem einheitlichen und in sich konsistenten System von Doktrinen geformt. Die Vertreter eines säkularisierten Naturrechts, allen voran ''Grotius'', übernahmen und popularisierten in weiten Bereichen die so erreichte Synthese. Eine wichtige Brücke zwischen spanischem und römisch-holländischem Recht bildete im Übrigen das südniederländische Recht, zu dem die intellektuellen Verbindungen trotz des achtzigjährigen Krieges mit Spanien nicht abbrachen. Dort hatten insbesondere die Spruchtätigkeit des Großen Rats von Mecheln und die Universität Löwen zu einer Blüte der Rechtswissenschaft geführt.
 
Geistige Offenheit für alle Strömungen gemeinrechtlicher Jurisprudenz, für das Naturrecht und für das einheimische Gewohnheitsrecht prägten das römisch-holländische Recht. Es entfaltete sich in einer Atmosphäre von Urbanität und (bedingter) Glaubensfreiheit. Und es atmete einen ausgesprochen europäischen Geist. Das zeigt sich an dem Bildungsweg der führenden Rechtswissenschaftler ebenso wie an der Berufungspolitik der für die Besetzung der Lehrstühle an den niederländischen Universitäten zuständigen Gremien. So wurden während des 17. und der ersten Hälfte des 18.&nbsp;Jahrhunderts an allen niederländischen Fakultäten deutsche Gelehrte ernannt. Doch kamen nicht nur Professoren aus dem Ausland, sondern vor allem, und in vergleichsweise noch größerer Zahl, Studenten. Leiden war hier natürlich der Hauptanziehungspunkt. Nicht weniger als 15.000 von den insgesamt 35.000 dort im Laufe des 17.&nbsp;Jahrhunderts immatrikulierten Studenten stammten von außerhalb der Vereinigten Niederlande, davon mehr als 50&nbsp;% aus Deutschland. Eine zweite besonders wichtige Gruppe unter den ausländischen Studenten waren interessanterweise die Schotten ([[Schottisches Privatrecht]]).
 
== 5. Römisch-holländisches Recht am Kap der Guten Hoffnung ==
In den Niederlanden gilt seit 1809 kodifiziertes Recht. Der unmittelbaren Geltung des [[Ius commune (Gemeines Recht)|Gemeinen Rechts]] in seiner niederländischen Spielart war damit jedenfalls in Europa ein Ende gesetzt. Für die niederländischen Kolonien galt dies jedoch nicht, jedenfalls sofern sie vor dem Inkrafttreten des „für das Königreich Holland eingerichteten“ napoleonischen Gesetzbuchs von den Engländern übernommen worden waren. So lag es insbesondere in Südafrika. Im April des Jahres 1652 hatten Angehörige der Vereinigten Ostindischen Handelskompanie (VOC) am Kap der Guten Hoffnung damit begonnen, für den Handelsweg nach Indien eine Vorratsstation einzurichten, und aus dieser Vorratsstation entstand alsbald eine permanente Siedlung. Je größer die Siedlung wurde, desto wichtiger wurden auch Streitschlichtung und Rechtspflege. Seit 1656 tagte in Kapstadt ein ''Raad van Justitie'', und für Streitsachen von geringerer Bedeutung wurden alsbald die örtlichen Gerichte der ''landdrosten en heemraden'' eingerichtet. Doch welches Recht war anwendbar? Diese Frage ist bis heute nicht vollständig geklärt. Als selbstverständlich erschien immerhin, dass dies nicht das Recht der Buschleute und Hottentotten sein konnte, sondern das den Siedlern aus ihrer Heimat vertraute, europäische Recht. Dies wurde damit an das Kap der Guten Hoffnung transplantiert. Nun unterstanden die überseeischen Besitzungen, und unterstand damit auch die VOC, den Generalständen, dem höchsten ''gemeinschaftlichen'' Organ der Republik der Vereinigten Niederlande. Doch ein gemeines Recht der Vereinigten Niederlande, das damit hätte angewandt werden können, gab es nicht. Das Leitungsgremium der Handelskompanie, die „Siebzehn Herren“, hatte deshalb bereits im Jahre 1621 bestimmt, dass in den indischen Besitzungen (zu denen das Kap gehörte) das Recht der Provinz Holland anzuwenden sein sollte. Diese Anordnung stand zwar formell auf schwachen Füßen, da die VOC keine Gesetzgebungsbefugnisse hatte. Praktisch kam es jedoch in der Tat zur Anwendung des Rechts von Holland. ''Grotius'', ''Groenwegen'', ''Voet'' und ''Vinnius'' wurden damit zu den maßgeblichen Autoritäten; juristische Autoren anderer Provinzen – etwa ''Ulrich Huber'' – wurden demgegenüber vielfach nur mit größerer Vorsicht herangezogen.
 
Tiefgreifenden Änderungen war das römisch-holländische Recht unter der Herrschaft der VOC nicht ausgesetzt. Das änderte sich erst mit der britischen Besetzung im Jahre 1806, durch die die Rechtsentwicklung am Kap von der des Mutterlandes abgekoppelt wurde. Zwar wurde das römisch-holländische Recht nie formell und ''in toto'' durch englisches Recht ersetzt und blieb damit – im Einklang mit anerkannten Prinzipien des englischen Staatsrechts – weiterhin Grundlage für die Privatrechtspflege am Kap. Andererseits aber kam es nunmehr in vielen Bereichen zu einer schleichenden Rezeption des englischen Rechts. Damit wurde das römisch-holländische Recht in Südafrika zu einer [[Mischrechtsordnungen|Mischrechtsordnung]], in der die Traditionslinien von ''[[common law]]'' und ''civil law'' nicht nur historisch zusammengelaufen sind, sondern auch heute noch in gemeinrechtlicher Form fortgeführt werden.


==Literatur==
==Literatur==
''Robert Feenstra'', ''C.J. De Waal'', Seventeenth-century Leyden Law Professors and their Influence on the Development of the Civil Law, 1975; ''Reinhard Zimmermann'', Das römisch-holländische Recht in Südafrika: Einführung in die Grundlagen und usus hodiernus, 1983; ''Margreet Ahsmann'', ''Robert Feenstra'', Bibliographie van hoogleraren in de rechten aan de Leidse universiteit tot 1811, 1984; ''Simon Schama'', The Embarrassment of Riches: An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, 1988; ''Margreet J.A''.''M''.'' Ahsmann'', Collegia en colleges, 1990; ''Robert Feenstra'', ''Reinhard Zimmermann'' (Hg.), Das römisch-holländische Recht: Fortschritte des Zivilrechts im 17.&nbsp;und 18.&nbsp;Jahrhundert, 1992; ''Jonathan Israel'', The Dutch Republic: Her Rise, Greatness and Fall 1477–1806, 1995; ''Govaert C.J.J. van den Bergh'', Die holländische elegante Schule: Ein Beitrag zur Geschichte von Humanismus und Rechtswissenschaft in den Niederlanden 1500–1800, 2002; ''Jan H.A. Lokin'', ''Frits Brandsma'', ''Corjo Jansen'', Roman-Frisian Law of the 17th and 18th Century, 2003.
''Fritz Schulz'', Prinzipien des römischen Rechts, 1934; ''Fritz Schulz'', Classical Roman Law, 1951 (Nachdruck 1992); ''Fritz Schulz'', History of Roman Legal Science, 2.&nbsp;Aufl. 1953; ''Paul Koschaker'', Europa und das römische Recht, 4.&nbsp;Aufl. 1966; ''Franz Wieacker'', Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967 (zur Geschichte der Befassung mit dem römischen Recht); ''Max Kaser'', Das römische Privatrecht, Bd.&nbsp;I, 2. Aufl. 1971; Bd.&nbsp;II, 2. Aufl. 1975; ''Franz Wieacker'', Römische Rechtsgeschichte, Bd.&nbsp;I, 1988, Bd.&nbsp;II, 2006; ''Max Kaser'', ''Karl Hackl'', Das römische Zivilprozeßrecht, 2.&nbsp;Aufl. 1996; ''Reinhard Zimmermann'', The Law of Obligations, 1996 (für den Bereich des Schuldrechts und wirkungsgeschichtlich orientiert); ''Wolfgang Waldstein'', ''J. Michael Rainer'', Römische Rechtsgeschichte, 10.&nbsp;Aufl. 2005.


==Quellen==
==Quellen==
Viele der zentralen Werke des römisch-holländischen Rechts sind in modernen Übersetzungen verfügbar, vgl. etwa ''Hugo Grotius'', The Jurisprudence of Holland, Bd.&nbsp;I, 1926 (Text und Übersetzung); Bd.&nbsp;II, 1936 (Kommentar), beide von ''Robert Warden Lee''<nowiki>; </nowiki>''Percival Gane'', The Selective Voet Being the Commentary on the Pandects, 7&nbsp;Bde., 1955–58; ''Percival Gane'', Huber’s Jurisprudence of my Time, 2&nbsp;Bde., 1939; ''Simon van Groenewegen van der Made'', De Legibus Abrogatis, Bd. I, 1974; Bd. II, 1975; Bd. III, 1984; Bd. IV, 1987, Übersetzung von B. Beinart und M.L. Hewett; ''Arnold Vinnius'', Institutionenkommentar: Schuldrecht, 2005, Übersetzung von Klaus Wille; vgl. ferner ''Reinhard Zimmermann'', Südafrikanische Übersetzungen gemeinrechtlicher Literatur, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 5 (1997) 536&nbsp;ff.
Siehe ''Corpus Juris Civilis''<nowiki>; außerdem </nowiki>''S.&nbsp;Riccobono'','' J. Baviera'','' C. Ferrini'','' J.&nbsp;Furlani'','' V. Arangio-Ruiz'', Fontes Iuris Romani Ante-iustiniani, 3 Bde., Neudruck 1968/‌69; ''M.H. Crawford'', Roman Statutes, 2 Bde., 1996; ''H. Heumann'','' E. Seckel'', Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 1907 (11.&nbsp;Aufl. 1971).


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Version vom 28. September 2021, 18:57 Uhr

von Reinhard Zimmermann

1. Rom und Europa

„Dreimal hat Rom der Welt Gesetze diktiert, dreimal die Völker zur Einheit verbunden, das erstemal, als das römische Volk noch in der Fülle seiner Kraft stand, zur Einheit des Staats, das zweitemal, nachdem dasselbe bereits untergegangen, zur Einheit der Kirche, das drittemal infolge der Rezeption des römischen Rechts, im Mittelalter zur Einheit des Rechts; das erstemal mit äußerem Zwange durch die Macht der Waffen, die beiden anderen Male durch die Macht des Geistes.“ Mit diesen Worten beginnt Rudolf von Jherings berühmtes Werk über den „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“ (1852–1865). In der Tat gehört das römische Recht zu den Elementen antiker Kultur, die Europa bis in die Gegenwart hinein besonders nachhaltig geprägt haben. Das zeigt sich im europäischen Privatrecht auf Schritt und Tritt.

2. Eckdaten der römischen Rechtsentwicklung

Zwei markante Dokumente in der Entwicklung des antiken römischen Rechts sind das Zwölftafelgesetz (ca. 450 v. Chr.) und das Corpus Juris Civilis (528–34 n. Chr.). Die zwölf Tafeln markieren nicht den Beginn der römischen Rechtsgeschichte; sie sind jedoch unsere Hauptquelle für die sog. altrömische Periode. Diese reicht bis etwa zum Beginn der Punischen Kriege (Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr.). Die Zeit der jüngeren Republik war dann geprägt einerseits durch die Ausbreitung der römischen Herrschaft in Italien sowie im gesamten Mittelmeerraum. Andererseits wandelten sich auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse; aus einer im Wesentlichen bäuerlichen wurde eine typische Stadtkultur, und die Hofwirtschaft wurde von einem Wirtschaftsleben abgelöst, das an Handel und Kapital orientiert war. Gleichzeitig bereitete die Begegnung mit dem hellenistischen Osten den Boden für die Ausbildung einer Rechtswissenschaft; der schöpferischen Kraft der Juristen, die während der beiden letzten Jahrhunderte der Republik lebten (unter ihnen etwa Publius Mucius Scaevola und Servius Sulpicius Rufus) wird ihre traditionelle Bezeichnung als Vorklassiker freilich kaum gerecht. Diese Rechtswissenschaft wurde dann von den Juristen der klassischen Periode – die sich in etwa mit der Zeit des Prinzipates deckt (27 v. Chr.-235 n. Chr.) – zu ihrer höchsten Blüte geführt. Die nachklassische Periode gilt hingegen als Zeitalter des Niedergangs. Es kam zu einer Vulgarisierung, das heißt zu einer Verflachung und Verfälschung des römischen Rechts durch Eindringen der Denk- und Ausdrucksformen juristischer Laien. Dieser Vulgarisierung wirkten nach der Reichsteilung im Jahre 395 n. Chr. im oströmischen Reich die Rechtsschulen insbesondere in Beryt und Konstantinopel entgegen. Ihren Höhepunkt erreichte diese klassizistische Tendenz mit dem Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian (527–565), das unter dem Namen Corpus Juris Civilis bekannt ist; auf dessen Hauptteil, die Digesten, stützt sich im Wesentlichen unsere Kenntnis des klassischen römischen Rechts.

3. Prägende Merkmale des klassischen römischen Rechts

Für die Wirkung des römischen Rechts waren folgende Merkmale von besonderer Bedeutung. (a) Es handelte sich um eine hoch entwickelte Fachwissenschaft, die von Juristen getragen wurde. Das war für die antike Welt einmalig. (b) Damit verbunden war eine prinzipielle Abgrenzung (oder, nach einem Ausdruck von Fritz Schulz: Isolierung) von Recht gegenüber Religion, Sitte, Politik und Ökonomie: eine Sonderung des Rechts vom Nichtrecht. (c) Damit wiederum hing zusammen eine sehr starke Konzentration auf das Privatrecht (und die Durchsetzung des Privatrechts im Zivilprozess); Strafrecht und Staatsverwaltung schienen den römischen Juristen demgegenüber offenbar weitgehend nicht unter spezifisch juristischen Kriterien erfassbar. (d) Das römische Privatrecht war weithin Juristenrecht; es war in keinem Gesamtgesetz systematisch geordnet, sondern es wurde von praktisch erfahrenen und praktisch tätigen Juristen angewandt und fortgebildet. (e) Das erklärt einerseits die große Anschaulichkeit und Lebensnähe des römischen Rechts. Es erklärt andererseits aber auch die vielen unterschiedlichen Ansichten und Kontroversen, die sich um die Beurteilung konkreter Probleme herumrankten. So lesen wir etwa in Ulpian D. 9,2,11pr. (das Fragment stammt aus dem 18. Buch des Ediktkommentars des spätklassischen Juristen Ulpian [† 233 n. Chr.]): „Ebenso schreibt [Fabius] Mela [ein Zeitgenosse des Augustus]: Als einige spielten und dabei einer den Ball mit Wucht auf die Hände eines Barbiers schleuderte und dadurch die eine Hand nach unten drückte, wurde die Kehle eines Sklaven, den der Barbier gerade rasierte, von dem angesetzten Rasiermesser durchschnitten: Derjenige von den Beteiligten hafte nach der lex Aquilia, den Verschulden treffe. Proculus [er lebte im 1. Jahrhundert n. Chr. und war Haupt einer der beiden ‚Rechtsschulen‘ der klassischen Zeit] meint, den Barbier treffe Verschulden. Und in der Tat, wenn er dort rasierte, wo man gewöhnlich spielte oder lebhafter Verkehr herrschte, gibt es etwas, was ihm vorgeworfen werden kann. Doch könnte man nicht mit Unrecht auch folgende Meinung vertreten: Vertraut sich jemand einem Barbier an, der seinen Sessel auf einem gefährlichen Platz aufgestellt hat, so muss er sich bei sich selbst beklagen.“ Mit diesem Text beschäftigten sich europäische Juristen seit der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter bis heute im Rahmen ihrer Erörterungen über das Verschuldenserfordernis bei unerlaubten Handlungen und bei der Herausbildung der Lehre vom mitwirkenden Verschulden. (f) Derartige Meinungsverschiedenheiten waren Ausdruck der inneren Dynamik des römischen Rechts. Es war in ständiger Fortentwicklung begriffen. Zwischen Publius Mucius Scaevola (Konsul im Jahre 133 v. Chr.), der zu denen gehörte, „qui fundaverunt ius civile“ und Aemilius Papinianus, überragender Jurist der Spätklassik und als praefectus praetorio von 205–212 n. Chr. höchster Reichsbeamter in Zivilverwaltung und Rechtsprechung, liegt ein Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren, innerhalb derer Staat und Gesellschaft, römische Rechtskultur und römisches Recht grundlegenden Veränderungen unterworfen waren, und innerhalb derer sich auch die Problemlösungen immer weiter verfeinerten. (g) Die Redeweise von „dem“ römischen Recht ist insofern ungenau. Vielmehr bildete schon das antike römische Recht eine Tradition, in der die jüngeren Autoren auf der Jurisprudenz der älteren aufbauten und einen generationenübergreifenden Diskussionszusammenhang schufen. Ein typisches Beispiel bietet das eben zitierte Fragment des Ulpian. (h) Das römische Recht war damit außerordentlich komplex. Es gründete sich in der Hauptsache auf Fallentscheidungen. Es bildete eine über mehrere Jahrhunderte reichende Tradition. Es war in einer kaum noch überschaubaren Literatur dokumentiert. Und es beruhte auf zwei unterschiedlichen Geltungsgrundlagen: dem traditionellen Kern der alten Bürgerordnung (ius civile), die letztlich auf das Zwölftafelgesetz zurückging, und dem ius honorarium, das die Prätoren (d.h. die für die Rechtspflege zuständigen Magistrate) im öffentlichen Interesse einführten „adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia“ (Pap. D. 1,1,7,1). Die Parallele zu dem Verhältnis von common law und equity in der englischen Rechtsentwicklung liegt auf der Hand. (i) Gleichwohl bildete das römische Recht kein undurchdringliches Gestrüpp von Einzelheiten. Vielmehr entwickelten die römischen Juristen eine Vielzahl von Rechtsinstitutionen, Begriffen und Regeln, die sie im Sinne innerer Widerspruchsfreiheit aufeinander abzustimmen suchten. Damit entstand eine Art von offenem System, das gedankliche Stringenz, gleichzeitig aber auch ein großes Maß an Flexibilität bei der Lösung praktischer Probleme gewährleistete. Geleitet wurden die römischen Juristen von einer Reihe grundlegender Werte oder Prinzipien wie etwa der Freiheit der Person, den Geboten der bona fides und der humanitas, oder dem Schutz erworbener Rechte, insbesondere des Eigentums. (j) Eine weitere Eigenheit der römischen Jurisprudenz, die sie ihrerseits zu so einem fruchtbaren Gegenstand rechtswissenschaftlicher Analyse machte, lag darin, dass Begründungen für die Fallentscheidungen vielfach entweder überhaupt nicht gegeben oder nur kurz angedeutet wurden. Die römischen Quellentexte sind damit ausgesprochen voraussetzungsvoll.

Die Herausbildung einer Privatrechtswissenschaft mit diesen Charakteristika war sicherlich nicht möglich ohne die Rezeption griechischer Philosophie und Wissenschaftslehre im republikanischen Rom. Von entscheidender Bedeutung war aber die Rolle des juristischen Fachmannes bei der Anwendung und Fortbildung des Rechts. Daran hatte es beispielsweise in Griechenland selbst gefehlt. Das griechische Recht war, pointiert gesagt, ein Recht ohne Juristen gewesen: Wurde dort ein Rechtsstreit doch von einer Anzahl durch Los bestimmter Laien entschieden, die aufgrund einer mündlichen Verhandlung, in der beide Parteien eine genau begrenzte Redezeit hatten, ohne Diskussion und Nachfrage durch geheime Abstimmung und mit einfacher Mehrheit ihr Urteil fällten. Es ist nicht schwer zu sehen, dass dies keine günstige Grundlage für das Entstehen einer privatrechtlichen Fachwissenschaft war.

4. Römisches Recht und europäische Rechtstradition

Die Universität gilt als die europäische Institution par excellence. Sie entstammt nicht der Antike, sondern entstand als Ausdruck und Träger der großen abendländischen Bildungsrevolution seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zuerst in Bologna, dann in Paris, Oxford und an einer ständig wachsenden Zahl von Orten in West-, Zentral- und Südeuropa. Die römische Jurisprudenz hatte den Charakter einer Wissenschaft, ohne aber universitäre Wissenschaft gewesen zu sein. Als das Recht jedoch im hohen Mittelalter von der erwähnten Bildungsrevolution erfasst wurde, war es das römische Recht, das sich wie keine andere zeitgenössische Rechtsordnung (mit einer Ausnahme, die zudem stark vom römischen Recht beeinflusst war: dem kanonischen Recht) als Gegenstand scholastisch-analytischer Interpretation und damit der universitären Lehre anbot. So rückten von Anfang an die römischen Quellentexte in das Zentrum des Studiums des weltlichen Rechts. Dies galt für alle nach dem Modell von Bologna in Europa gegründeten Universitäten, und es blieb so bis in das Zeitalter der nationalen Kodifikationen, d.h. in Deutschland bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dadurch kam es auch zu einer praktischen Rezeption des römischen Rechts: Es wurde zur Grundlage eines ius commune, das in weiten Teilen West- und Zentraleuropas nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern auch die Rechtsanwendung prägte.

Sucht man nach Merkmalen, die die europäische im Vergleich zu anderen Rechtstraditionen der Welt charakterisieren, so zeigt sich Punkt für Punkt der Einfluss des römischen Rechts. Da ist zum einen das Merkmal der Schriftlichkeit. Römisches Recht war nicht zuletzt deshalb im mittelalterlichen Recht so einflussreich, weil es schriftlich niedergelegtes Recht war; es galt als „ratio scripta“. Das zeigt nicht nur der Vorgang der Rezeption selbst, sondern auch das Streben nach schriftlicher Fixierung des mittelalterlichen Gewohnheitsrechts in Europa seit dem Ausgang des 12. Jahrhunderts. Doch galt das römische Recht jahrhundertelang eben auch als „ratio scripta“: Als Modell eines vernünftigen, das heißt der menschlichen Vernunft gemäßen Rechtes. Römisches Recht war damit gleichzeitig Ausdruck und Grundlage eines Strebens nach Rationalität und Wissenschaftlichkeit des Rechts, nach intellektueller Kohärenz und System. Indes verhinderte die Eigenart der römischen Quellen, dass es sich bei diesem System um etwas Starres oder Statisches handelte. Vielmehr ist dem europäischen Recht eine spezifische Entwicklungsfähigkeit eigen. Es ist stetem Wandel unterworfen, es kann auf neu aufgetretene Bedürfnisse und veränderte Umstände reagieren, und es hat immer wieder eine erstaunliche Integrationsfähigkeit bewiesen. Das römische Recht des Mittelalters war nicht mehr das römische Recht der Antike, der usus modernus pandectarum entsprach nicht mehr dem usus medii aevi, und die Pandektendoktrin ([[Historische Schule) nicht mehr dem usus modernus. Die Entwicklung ging, mit einem berühmten Wort Rudolf von Jherings, durch das römische Recht über das römische Recht hinaus. In der Antike hatte sich das römische Recht von einer bloßen Rechtskunde zu einer Wissenschaft entwickelt. An den mittelalterlichen Universitäten wurde daraus ein gelehrtes Recht, das an der Universität studiert werden konnte.

Darin liegt ein weiteres, mit dem vorigen eng zusammenhängendes Charakteristikum des europäischen Rechts, und wiederum eines, das im römischen Recht vorgeprägt war. Die Jurisprudenz ist eine gelehrte Profession, und Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung sind Aufgabe des gelehrten Juristen. Damit wiederum verbunden ist die Tatsache, dass die Jurisprudenz in der europäischen Tradition eine eigenständige Fachdisziplin ist und dass das Recht dementsprechend als ein von anderen gesellschaftlichen Verhaltensordnungen und Steuerungsmechanismen, insbesondere von der Religion, prinzipiell unabhängiges Normensystem erfasst wird. Das entspricht der römischen Isolierung des Rechts vom Nichtrecht. Aus dem römischen Recht stammt die Dominanz des Privatrechts in der Tradition des ius commune mit einem besonderen Akzent auf einem fein ausdifferenzierten Vertragsrecht. Und schließlich gründet sich das Recht in Europa auf bestimmte Werte, die letztlich auf der Zentralität der Person als Subjekt und intellektuellem Bezugspunkt des Rechts beruhen. Eine besondere Akzentuierung erhielt diese Idee durch die auf seine Gottesebenbildlichkeit gegründete Würde des Menschen, doch angelegt war sie bereits in dem Prinzip der Freiheit der Person des römischen Rechts. Hier lässt sich damit wie in vielen anderen Bereichen sagen, dass durch die christliche Offenbarung die Weisheit des Altertums überhöht und zu ihrem Ziel geführt wurde. In ganz ähnlicher Weise harmonierten die Billigkeit des kanonischen Rechts (aequitas canonica) und der römische Grundsatz von Treu und Glauben (bona fides) miteinander.

5. Römisches Recht heute

Die Kodifikationen des kontinentalen Europa haben das „zweite Leben“ des römischen Rechts zu einem Ende gebracht. Das hat dazu geführt, dass das römische Recht in der juristischen Ausbildung durch Vorlesungen über die nationalen Privatrechtskodifikationen ersetzt wurde. Es geriet in die Rolle eines pädagogischen Bildungsmittels und wurde in seiner Stellung innerhalb der juristischen Fakultäten zunehmend geschwächt. Diese Entwicklung ist ausgesprochen paradox in einer Zeit, in der es auf Überblick, Verständnis grundlegender Zusammenhänge und die Besinnung auf den europäischen Charakter unserer Rechtskultur in besonderer Weise ankommt. Denn die Kodifikationen sind, nach einem Wort von Bernhard Windscheid, nichts als „ein Punkt in der Entwicklung, fassbarer gewiss als eine Wasserwelle im Strome, aber doch nur eine Welle im Strome“. In der Tat trägt ein Gesetzbuch wie das BGB charakteristische Züge eines Restatement gemeinrechtlicher Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts. Es sah sich als Teil einer Tradition, und zwar einer in starkem Maße durch Rechtswissenschaft geprägten Tradition. Das Gesetzbuch sollte für die organische Weiterentwicklung des Rechts einen seinerseits organisch aus der gemeinrechtlichen Tradition entstandenen Rahmen bieten; und in eben diesem Sinne verstanden denn auch Wissenschaft und Rechtsprechung seine Normen. Ganz Ähnliches gilt für die anderen modernen Kodifikationen; so ist etwa der Code civil von 1804 in manchen Punkten sogar noch römischer als das BGB.

Dramatischere Folgen als für die Privatrechtspflege hatte die Kodifikation des bürgerlichen Rechts für die Wissenschaft vom römischen Recht. Sie konnte sich nunmehr, unberührt durch gemeinrechtliche Anwendbarkeitsrücksichten, ganz der Betrachtung der Antike widmen und die römischen Rechtsquellen in ihrem historischen Kontext zu verstehen beginnen. Damit begann ein großes Entdeckungszeitalter. Otto Lenel rekonstruierte auf der Grundlage der in den Digesten enthaltenen Fragmente aus Ediktskommentaren klassischer Juristen das Jurisdiktionsedikt des Prätors („Edictum Perpetuum“, 1883); dies war für die Rechtspflege in Rom von zentraler Bedeutung gewesen, weil das römische Recht – wie übrigens auch das englische Recht – ein Aktionenrechtssystem war (d.h., das materielle Recht wird von seiner prozessualen Durchsetzbarkeit her gedacht: ubi remedium, ibi ius) und das prätorische Edikt die einschlägigen Rechtsschutzverheißungen und Klagformulare enthielt. In seiner „Palingenesia Iuris Civilis“, 1889, bemühte sich Lenel zudem um die Wiederherstellung der klassischen Rechtsbibliothek, soweit dies auf der Grundlage der überlieferten Fragmente möglich ist. Ludwig Mitteis zeigte, inwieweit im Osten des Reiches „volksrechtliche“, d.h. einheimische Rechtsvorstellungen vornehmlich hellenistischer Herkunft, lebendig blieben und erschütterte damit das traditionelle Verständnis von der Rechtseinheit der kaiserzeitlichen Rechtsordnung („Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs“, 1891). Otto Gradenwitz und Fridolin Eisele waren Pioniere der Interpolationenforschung (Corpus Juris Civilis). Fritz Schulz und Franz Wieacker ermittelten vorjustinianische Veränderungen der klassischen Juristentexte (Textstufenforschung). Ernst Levy erschloss mit dem weströmischen Vulgarrecht die Schnittstelle zwischen antikem römischem und frühmittelalterlich „germanischem“ Recht. Neben dem Privat- und Zivilverfahrensrecht rückte nunmehr auch die Geschichte des Strafrechts und des Verfassungsrechts in den Blickpunkt (Wolfgang Kunkel). Die in einer unermesslichen Menge von Papyri dokumentierte Rechtspraxis in den römischen Provinzen rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit (Ludwig Mitteis, Ernst Rabel), und der Blick erweiterte sich auf andere antike Rechtskulturen (Josef Partsch, Paul Koschaker). Diese sehr prononcierte Historisierung der Rechtsgeschichte mit all ihren glanzvollen Entdeckungen und der damit verbundene Prozess einer „Emancipation … durch das Auseinanderdenken des römischen und des heutigen Rechts“ (Ernst Immanuel Bekker) hatte freilich auch eine Kehrseite: die Rechtswissenschaft verstand sich immer weniger als „geschichtliche Wissenschaft“ (Friedrich Carl v. Savigny; [[Historische Rechtsschule|Historische Schule]]). Damit geriet in Vergessenheit, in welchem Maße das römische Recht bis heute die kontinentalen Privatrechtsordnungen prägt, und welches einheitsstiftende Potential ihm nach wie vor innewohnt.

Literatur

Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, 1934; Fritz Schulz, Classical Roman Law, 1951 (Nachdruck 1992); Fritz Schulz, History of Roman Legal Science, 2. Aufl. 1953; Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. Aufl. 1966; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967 (zur Geschichte der Befassung mit dem römischen Recht); Max Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1971; Bd. II, 2. Aufl. 1975; Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Bd. I, 1988, Bd. II, 2006; Max Kaser, Karl Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1996; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, 1996 (für den Bereich des Schuldrechts und wirkungsgeschichtlich orientiert); Wolfgang Waldstein, J. Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 10. Aufl. 2005.

Quellen

Siehe Corpus Juris Civilis; außerdem S. Riccobono, J. Baviera, C. Ferrini, J. Furlani, V. Arangio-Ruiz, Fontes Iuris Romani Ante-iustiniani, 3 Bde., Neudruck 1968/‌69; M.H. Crawford, Roman Statutes, 2 Bde., 1996; H. Heumann, E. Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 1907 (11. Aufl. 1971).