Rechtswissenschaft und Reichskammergericht: Unterschied zwischen den Seiten

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== 1. Gegenstand, Begriff und Funktion ==
== 1. Institutionelle Verortung ==
Rechtswissenschaft ist die rationale Untersuchung von Erscheinungsformen des Rechts. Dabei werden in der Regel begriffliche, systematische, empirische und wertorientierte Ansätze kombiniert und, je nach Epoche und Rechtsordnung, verschieden gewichtet. Kerngebiet der Rechtswissenschaft ist die Rechtsdogmatik, also die Erfassung, Durchdringung und Weiterentwicklung des geltenden Rechts. Zur Rechtswissenschaft im weiteren Sinne gehören auch die Analyse der historischen, philosophischen, wirtschaftlichen, politischen, soziologischen und kulturellen Grundlagen des Rechts sowie der Vergleich rechtlicher Phänomene in diversen Rechtsordnungen.  
Das Reichskammergericht (RKG) war seit seiner Gründung im Jahre 1495 bis zu seiner Auflösung 1806 neben dem Reichshofrat die oberste Gerichtsinstanz im [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reich]] deutscher Nation. Nach langen Verhandlungen zwischen Kaiser Maximilian I. und den Reichsständen, insbesondere mit deren Wortführer, dem Mainzer Erzbischof und Reichserzkanzler ''Berthold von Henneberg'', wurde auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1495 die Gründung einer örtlich vom Kaiser unabhängigen Gerichtsinstanz beschlossen. Deren Name knüpfte an das bereits seit über 100 Jahren bestehende Königliche Kammergericht an. Es handelte sich aber um eine neue Reichsinstitution. Die Errichtung des RKG stellt den zentralen Punkt einer umfassenden, aber nur z.T. verwirklichten Reichsreform dar. Die Einrichtung einer solchen Gerichtsinstanz diente vor allem als Ausgleich für das ebenfalls in Worms 1495 ausgesprochene endgültige Fehdeverbot und den proklamierten Ewigen Landfrieden. Als Richter sollten nach der ursprünglichen Vorstellung bei der Reichsreform je zur Hälfte Adelige und gelehrte Juristen fungieren. Relativ rasch stellte sich jedoch heraus, dass auch die adeligen Assessoren ihre Aufgabe nicht ohne ein fundiertes Rechtsstudium bewältigen konnten. Die ursprünglich noch an das frühere Königliche Kammergericht anknüpfende Organisation wurde in den darauf folgenden Jahrzehnten sukzessiv durch Reichsabschiede erweitert. Der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach den Wirren der Reformation und der Religionsprozesse unter Berücksichtigung der konfessionellen Parität erreichte Zustand blieb im Wesentlichen bis zum Ende des Alten Reichs (1806) erhalten. Nach den ersten Jahren der Wanderschaft und der Unterbrechung seiner Tätigkeit fand das Gericht 1527 in Speyer seinen endgültigen Sitz. Ende des 17. Jahrhunderts floh das Gerichtspersonal aus Speyer vor den französischen Truppen. Nach einer jahrelangen Unterbrechung fand das RKG in der kleinen Reichsstadt Wetzlar einen Sitz, wo es bis zum Ende des Alten Reichs tätig blieb.


Der Begriff „Rechtswissenschaft“ ist relativ jung. Zwar diskutierten die gelehrten Juristen Europas spätestens seit dem 16. Jahrhundert, ob ihre Tätigkeit „wissenschaftlichen“ Charakter habe. Vorherrschend blieben aber zunächst überlieferte Bezeichnungen wie „Jurisprudenz“ oder „Rechtsgelehrtheit“, die vom lateinischen ''iuris prudentia'' („Rechtsklugheit“, „Wissen“ vom Recht) abgeleitet waren. Der Ausdruck „Rechtswissenschaft“ setzte sich erst in der deutschen Rechtssprache des frühen 19. Jahrhunderts durch. Er fand im Wege der Übersetzung Eingang in weitere europäische Sprachen. In Italien etwa werden ''scienza del diritto'' oder ''scienza giuridica'' heute mit ähnlichem Bedeutungsgehalt verwendet. In anderen Ländern dagegen wirken Begriffe wie ''legal science'' oder ''science du droit'' noch immer wie Kunstwörter und sind wesentlich weniger verbreitet als einheimische Bezeichnungen wie ''legal scholarship'' oder ''la doctrine''.  
Die juristische Kompetenz der Assessoren stellte bald deren einziges Qualifikationserfordernis dar. Die Reformen des jüngsten Reichsabschiedes von 1654 und der beiden letzten Visitationen Mitte des 18. Jahrhunderts galten dem Prozess und dem Geschäftsgang und weniger der Gerichtsverfassung. Die Kammerrichter wurden vom Kaiser berufen. Seit 1507 bestand daneben die Befugnis und die Pflicht der Reichsstände, geeignete Kandidaten als Assessoren aufzubieten. Die Präsentationsberechtigten hatten dem Plenum des Gerichts nach Bekanntwerden der Vakanz des ihnen zugeordneten Assessorats mehrere qualifizierte Persönlichkeiten vorzuschlagen. Aus diesen wählte das Plenum des Gerichts seit Mitte des 16. Jahrhunderts den neuen Assessor aus, in der Regel nach der Abhaltung einer Qualifikationsprüfung in Form einer Proberelation.


''La dottrina'' oder „die Lehre“ werden auch in der italienischen und in der deutschen Rechtssprache weitgehend synonym mit dem Begriff „Rechtswissenschaft“ gebraucht. Damit wird deutlich, dass Rechtswissenschaft in erster Linie eine Angelegenheit universitärer Forschung und Lehre ist. Am rechtswissenschaftlichen Diskurs beteiligen sich aber in großem Umfang auch Vertreter der Rechtspraxis. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der starken Anwendungsbezogenheit der Rechtswissenschaft. Insbesondere die Rechtsdogmatik sieht sich nicht nur der bloßen Erkenntnisgewinnung verpflichtet, sondern bemüht sich um Ergebnisse, die unmittelbar in der Praxis verwertbar sind. Gleichzeitig empfängt sie sowohl für die Entwicklung neuer Fragestellungen als auch für die Erarbeitung innovativer Lösungen Impulse aus der Rechtspraxis.
== 2. Zuständigkeit und Verfahrensrecht ==
Die ursprüngliche Aufgabe der neuen Reichsinstanz war die Einhaltung des Landfriedens. Bei Bruch des Ewigen Landfriedens konnte der Reichsfiskal als Vertreter der kaiserlichen Rechte ein Strafverfahren gegen den Friedensbrecher einleiten. Eine solche Kompetenz stand auch dem Angegriffenen zu. Darüber hinaus judizierte das RKG als Appellationsinstanz bei der Anfechtung von Urteilen territorialer und reichsstädtischer Gerichtsinstanzen in Zivilsachen. Es entfaltete sich daraus bald eine Spruchpraxis zur Kontrolle der landesherrlichen Gerichtsbarkeit. Ferner hatte das RKG als Kontrollinstanz Jurisdiktion bei Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung durch Untergerichte sowie bei Nichtigkeitsbeschwerden gegen territoriale oder städtische Instanzen. Die bald seit Mitte des 16. Jahrhunderts in großem Umfang vom Kaiser erteilten Appellationsprivilegien limitierten zwar die Jurisdiktion des RKG als Appellationsinstanz, standen jedoch nicht Nichtigkeits- und Rechtsverweigerungsbeschwerden entgegen. Dadurch blieb dem Gericht die Möglichkeit, auch privilegierte Reichsstände der Kontrolle durch die Reichsjustiz zu unterwerfen. Die Bedeutung des RKG im politischen Gefüge des Alten Reichs liegt gerade in dieser Stellung über Territorien und Konfessionen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem den sog. Untertanenprozessen eine große verfassungshistorische Bedeutung zu. Diese meist langwierigen, oft mit Vergleichen endenden Verfahren zogen der territorialen Herrschaft reichsrechtliche Grenzen und beschränkten die obrigkeitliche Machtentfaltung im justizstaatlichen Geist. Gerade als zentrales Reichsorgan hat das RKG neben dem Reichshofrat hier für die Verfassungsordnung im Alten Reich Wesentliches bewirkt.


In modernen Gesellschaften ist Recht großteils in schriftlichen Texten niedergelegt. Zum Verständnis dieser Schriften beizutragen, ist wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft. Rechtswissenschaft besteht daher vor allem in der Auslegung juristischer Texte ([[Auslegung von Rechtsnormen]]). Die Besonderheit dieser Texte ist ihr normativer Geltungsanspruch. Sie verpflichten ihre Adressaten; ihre Nichtbefolgung löst staatliche Sanktionen aus. Die Rechtswissenschaft ist somit in stärkerem Maße an autoritative Vorgaben gebunden als andere Textwissenschaften. Gleichzeitig ist eine ihrer wesentlichen Funktionen die Erarbeitung bisher nicht vorgegebener rechtlicher Lösungen, denen wiederum Geltungsanspruch zukommen soll. Rechtswissenschaft versteht sich daher auch als normative Disziplin.  
Die Regeln des Kameralprozesses wurzelten im gemeinrechtlichen Verfahrensrecht der geistlichen Gerichte. Sie bildeten sich schrittweise nach dem praktischen Bedarf. Die jeweiligen RKG-Ordnungen von 1500, von 1521 und schließlich von 1548/‌1555 stellen die Schwerpunkte dieser Entwicklung dar. Wesentliche Aspekte des Verfahrensrechts blieben allerdings gesetzlich ungeregelt und der Justizpraxis bzw. den „gemeinen Bescheiden“ des Gerichts überlassen. Das Verfahren war ausschließlich schriftlich. Es wurde von der Dispositionsmaxime, dem Beibringungsgrundsatz und den Regeln des schriftlichen Artikelverfahrens beherrscht. Auch das [[Beweisrecht, internationales|Beweisverfahren]] war schriftlich. Grundlage der Beweiserhebung waren die schriftlich dokumentierten Zeugenprotokolle, die den Akten beigegeben wurden. Der Kameralprozess hat die deutschen territorialen Gerichtsordnungen wesentlich beeinflusst, die dessen Verfahrensgrundsätze z.T. wörtlich übernahmen. Auch in dieser Hinsicht spielte das RKG eine wesentliche Rolle für die Durchsetzung des schriftlichen gemeinen [[Ius commune (Gemeines Recht)|Prozessrecht]]s in Deutschland.


Die vorgenannten Eigenschaften erschweren eine Einordnung der Rechtswissenschaft in den wissenschaftlichen Fächerkanon. Ihr normativer Anspruch hinsichtlich der Regelung gesellschaftlicher Fragen verbindet sie mit der Philosophie und Teilen der Sozialwissenschaften, zum Beispiel der Politikwissenschaft und der Ökonomie. Ihre Textbezogenheit und die zentrale Rolle der Interpretation teilt die Rechtswissenschaft mit anderen hermeneutischen Disziplinen. Insbesondere der Theologie ist sie durch ihre Gebundenheit an autoritative normative Vorgaben verbunden. Ihr starker Praxisbezug rückte sie an den frühen Universitäten in die Nähe anderer anwendungsorientierter Disziplinen, etwa der Medizin. Die beiden letztgenannten Merkmale haben gelegentlich dazu geführt, ihr den Charakter als „Wissenschaft“ abzusprechen. Heute stehen andere Fragen im Vordergrund, etwa ob die Rechtswissenschaft angesichts der zahlreichen Berührungspunkte mit anderen Fächern überhaupt einen eigenständigen, „autonomen“ Forschungsgegenstand aufweist oder aufweisen sollte und ob dieser den Geistes- oder den Sozialwissenschaften zuzuordnen ist.
== 3. Einfluss auf die Rezeption ==
Das RKG nahm gerade wegen seiner juristisch-professionellen Besetzung von Anfang an eine zentrale Funktion ein bei der [[Rezeption]] des [[römisches Recht|römischen Recht]]s in den deutschen Territorien. Das [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] galt hier gemäß der aus der spätmittelalterlichen italienischen Rechtswissenschaft übernommenen Statutentheorie allerdings nur subsidiär. Das sog. partikulare Recht, also der Normenbestand aus den Staats- und Territorialrechten, ging ihm vor. Nach der Wormser Satzung von 1495 waren die Assessoren am RKG gehalten, „nach des Reichs Gemainem Rechten, auch nach redlichen, erbern und leydenlichen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten …, die für sy bracht werden, … zu richten.“ Demnach sollten die dargelegten und auch bewiesenen partikularen Normen und Gewohnheiten dem römisch-kanonischen Gemeinen Recht vorgehen, das insoweit nur subsidiär galt. Die Darlegungs- und Beweislast gereichte jedoch prozessual zum Nachteil der einheimischen Rechte, die das Gericht nach der Regel „statuta stricte interpretanda sunt“ zudem einschränkend anwendete. Nur die notorischen Gewohnheitsrechte und Statuten bedurften nicht des Beweises. Wer sich auf die Normen des ''[[Corpus Juris Civilis]]'' berief, hatte dagegen eine „fundatam intentionem“. Diese prozessualen Anwendungsregeln beeinflussten tiefgreifend die Gerichtspraxis des RKG und verhalfen während des 16. Jahrhunderts zu einer zunehmend praktischen Rezeption der Regeln des römisch-gemeinen Rechts in den deutschen Territorien. Neuere Untersuchungen haben allerdings zugleich gezeigt, dass das RKG durchaus auch wichtige partikulare Rechtsordnungen gut kannte und ggfs. auch heranzog.


In vielen europäischen Sprachen bezeichnen Ausdrücke wie „die Rechtswissenschaft“ oder „die Lehre“ nicht nur die Analyse rechtlicher Phänomene, sondern dienen gleichzeitig als Kollektivbezeichnung für die Personengruppe, die sich dieser Tätigkeit widmet, sowie für die Publikationen, die aus dieser Beschäftigung hervorgehen.  
Die Schriftlichkeit und der mittelbare Charakter des Verfahrens im Gemeinen Prozess, sowie die kollegiale Struktur der Speyerer Gerichtsinstanz haben hier Technik und Stil der Entscheidungsfindung mitgeprägt. Im Zentrum der richterlichen Aufgabe eines Assessors am RKG stand das Verfassen einer Relation aus einer Prozessakte. Die einzelnen Produkte der Prozessparteien wurden vom Kanzleipersonal in Speyer überhaupt erst zu einem Prozessdossier zusammengestellt, wenn der Rechtsstreit als entscheidungsreif für eine Relation vor dem Kollegium anstand. Die Notwendigkeit nämlich, das Kollegialgericht über einen Prozess zu informieren, machte es erforderlich, dass ein Assessor als ''Relator'' ein Referat, eine sog. ''relatio'', zum Inhalt der schriftlichen Prozessakte anfertigte und den Kollegen vortrug. Bereits in der Kammergerichtsordnung von 1500 heißt es, „… daß in allen Sachen die Besichtigung der Acten und Gerichtshandlungen, so zu Schöpfung der Urtheile nothdürftig sind, allezeit zum wenigstens zwey Assessoren oder Urtheiler … befohlen werden, also daß jeder der zwey diesselben Acten, einer nach dem andern lesen, nothdürftig besichtigen, ermessen, und allsdann die Relation davon thun solle …“. In der Kammergerichtsordnung von 1555 hieß es noch bestimmter, „… der Cammerrichter solle die Acten … jederzeit zwey Assessoren zu referiren geben“ In den ersten Ordnungen des RKG, selbst in der sonst ausführlichen Kammergerichtsordnung von 1555, finden sich sonst keine methodischen Regelungen über die Anfertigung von Aktenrelationen. Erst im Jüngsten Reichsabschied von 1654 stößt man in den §§ 143–150 auf umfangreichere Bestimmungen, die sich auf die am RKG gehaltenen Relationen beziehen. Auch diese Vorschriften betreffen jedoch den äußerlichen Verlauf der Relation. Die materielle Ausgestaltung bei der Anfertigung von Relation und Votum blieb den Regeln aus Praxis und Tradition überlassen.


== 2. Ursprünge der Rechtswissenschaft in Europa ==
Bereits im 16. Jahrhundert wurden für eine solche Technik der Anfertigung einer Aktenrelation strenge Aufbauregeln entwickelt. Ein derartiger Regelkomplex stand wohl im Zusammenhang mit der methodischen Tradition der Konsiliatoren des ''mos italicus'' und mit der gemeinrechtlichen Lehrtradition jener Zeit. Dieser fand bald seinen Niederschlag in zahlreichen Anleitungsschriften zur Anfertigung einer Aktenrelation. Das Ausbildungsziel stand hier eindeutig im Vordergrund. Eine ähnliche Ausbildungsfunktion erfüllten offenbar auch die zahlreichen gedruckten Sammlungen von Relationen. Die didaktische Funktion solcher Sammlungen wird besonders deutlich, wenn man beachtet, dass gelegentlich auch sog. ''Proberelationen'' in diesen Sammlungen abgedruckt wurden. Es handelt sich dabei um Aktenrelationen, die Kandidaten für das Amt des Assessorats am RKG als Nachweis ihrer Befähigung für die richterliche Tätigkeit anzufertigen und abzuhalten hatten. Hierfür wurden meistens echte kammergerichtliche Prozessakten zugrunde gelegt. Zeugnisse einer solchen literarisch-didaktischen Tradition lassen sich bereits in der deutschen prozessrechtlichen Literatur der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachweisen. Später wird die Anzahl dieser Anleitungsschriften unübersehbar. Die hier beschriebene Arbeitstechnik entfaltete auch in den späteren Jahrzehnten einen nachhaltigen Einfluss auf die Geschichte der deutschen Juristenausbildung. Übungen und die Technik der Aktenrelation wurden Mitte des 18. Jahrhunderts an der Universität Göttingen unterrichtet. Eine solche Tradition beobachten wir unter der Rubrik „praktische Jurisprudenz“ noch an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts: Die Relations- und Gutachtentechnik, die in der Kameralpraxis entwickelt worden war, lebte weiter in der preußischen Referendarausbildung des 18. und des 19. Jahrhunderts. Trotz der wesentlichen Vereinfachung und Veränderung der jeweiligen Arbeitsregeln erkennt man bis heute in der Ausbildung der deutschen Rechtsreferendare und Jurastudenten noch Reste dieser Anleitungstradition.
Im antiken Rom bildete sich früh ein eigenständiger Stab von Rechtsexperten heraus, zunächst Angehörige des Priesterstandes, später wohlhabende Privatgelehrte. Diese ''iuris prudentes'' oder ''iuris consulti'' wurden rechtsberatend tätig. Zunächst gaben sie ihr Wissen mündlich an ihre Schüler weiter, doch seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert fixierten sie es zunehmend schriftlich. Die erste, gewöhnlich dem Juristen ''Quintus Mucius Scaevola'' zugeschriebene Gesamtdarstellung des [[römisches Recht|römischen Recht]]s entstand gegen 100 v. Chr. Der früheste überlieferte lehrbuchartige Überblick, die Institutionen des ''Gaius'', wird auf etwa 160 n. Chr. datiert. Als Blüte der römischen Rechtswissenschaft gelten die ersten 250 Jahre n. Chr. Trotz des Niedergangs des römischen Rechts in der Spätantike etablierten sich während des 5. und 6. Jahrhunderts in Kleinasien erstmals Rechtsschulen für die Juristenausbildung.  


Die Rechtslehrer Roms bemühten sich nicht um strenge Terminologie, rigide Taxonomien oder gar eine Systembildung im modernen Sinne. Gewiss entwickelten sie einen spezifisch juristischen Denkstil und erarbeiteten zentrale Begriffe, leitende Grundsätze und bestimmte Ordnungsmuster. ''Gaius'' etwa gliederte den Rechtsstoff in die wirkmächtigen Kategorien von Personen, „Vermögen“ und Klagemöglichkeiten. Doch die Diskussion orientierte sich primär an einzelnen Rechtsproblemen, deren Lösung im Zusammenspiel mit der Rechtspraxis erarbeitet wurde. Da die Träger der Zivilgerichtsbarkeit nicht rechtskundig waren, befolgten sie regelmäßig den fachkundigen Rat der Juristen. Auf diese Weise wurden die Juristengutachten (''responsa'') zur veritablen Rechtsquelle. Dieses „Juristenrecht“ gewann derart an Bedeutung, dass es 426 für nötig befunden wurde, seinen autoritativen Status durch ein „Zitiergesetz“ auf die Schriften fünf bedeutender klassischer Juristen zu beschränken. Dennoch erlangten später zahlreiche klassische Fragmente Gesetzeskraft. Sie wurden zur Textgrundlage der Digesten (''[[Corpus Juris Civilis]]''). Schon frühere Rechtsakte waren maßgeblich durch Rechtslehrer beeinflusst worden, die den Kaisern beratend zur Seite standen.
==Literatur==
 
''Bettina Dick'', Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495–1555, 1981; ''Filippo Ranieri'', Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption: Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 1985; ''Bernhard Diestelkamp'' (Hg.), Recht und Gericht im Römischen Reich, 1999; ''Peter Oestmann'', Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrechte im Alten Reich, 2002; ''Erik Oliver Mader'', Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“: Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, 2005; ''Peter Oestmann'' (Hg.), Ein Zivilprozess am Reichskammergericht: Edition und Kommentar einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert, 2008; ''Filippo Ranieri'', Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren, in: Peter Oestmann (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozess, 2009, 165 ff.
== 3. Entwicklung der europäischen Rechtswissenschaft seit dem Mittelalter ==
Mehrere Charakteristika der europäischen Rechtswissenschaft lassen sich also bis auf das römische Recht zurückführen: Gebundenheit an autoritative, ursprünglich gar sakrale Vorgaben, starke Anwendungsbezogenheit in ständigem Dialog mit der Rechtspraxis und normativer Anspruch mit unmittelbarem Einfluss auf die Rechtsetzung. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit traten die Textbezogenheit, die zentrale Rolle der Interpretation und die institutionelle Verankerung in der Universität hinzu.
 
Die Erneuerung der europäischen Rechtswissenschaft begann mit der Wiederentdeckung der Digesten im späten 11. Jahrhundert. Das ''[[Corpus Juris Civilis]]'' erlangte aufgrund seiner [[Rezeption]] in der Epoche des [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] in weiten Teilen Europas zumindest subsidiäre Geltungskraft. Es stand im Zentrum der juristischen Ausbildung in den seit dem 11. Jahrhundert entstehenden Universitäten. Von nun an blieben Wissenschaft und Lehre eng verzahnt. Wer rechtswissenschaftlich arbeitete, war in der Regel auch im Rechtsunterricht tätig. Eine solche Verbindung bestand übrigens auch in Rechtskulturen und Epochen, in denen die Rechtslehre nicht in den Universitäten angesiedelt war. Dies gilt etwa für England, wo das geltende nationale Recht erst im späten 19. Jahrhundert zu einem etablierten Studiengegenstand wurde. Dort erfolgte die Durchdringung und Ordnung des heimischen Rechtsstoffs, wenn auch in geringerem Maße als auf dem Kontinent, in den Ausbildungszentren der Anwaltszunft, den ''Inns of Court''.
 
Die heute gängige Periodisierung der europäischen Rechtsgeschichte seit dem Mittelalter richtet sich nach den wissenschaftlichen Methoden im Umgang mit den römischen Quellen, die in den verschiedenen Epochen vorherrschten. Die einleitend angeführten Charakteristika der Jurisprudenz traten hier jeweils mehr oder weniger in den Vordergrund.  


Im Zeitalter der Glossatoren, das gegen Ende des 11. Jahrhunderts begann, blieb die wissenschaftliche Behandlung der juristischen Schriften noch weitgehend auf eine intensive Textanalyse in der Form von Randbemerkungen (''glossae'') zu einzelnen Worten des ''Corpus Juris'' beschränkt. Die Glossatoren bezweckten nicht, das römische Gesetzbuch zu kritisieren. Es musste zunächst besser erschlossen und verstanden werden. Hier wird gemeinhin eine enge Verbindung zur Theologie gesehen. Wie die Bibel den Theologen, so galt das ''Corpus Juris'' den Juristen als ''ratio scripta'' und strikt zu befolgende Autorität. Mit der Theologie teilte die hochmittelalterliche Jurisprudenz auch die scholastische Methode der Texterläuterung mit ihren spezifischen Argumentformen, vor allem dem Syllogismus, und dem Versuch, Widersprüche zwischen verschiedenen, gleich autoritativen Textfragmenten harmonisierend zu deuten. Studenten der Jurisprudenz hatten, wie auch angehende Theologen und Mediziner, regelmäßig vorab ein Studium der ''septem artes liberales'' absolviert, das sie unter anderem in Grammatik, Rhetorik und Logik (Dialektik) schulte.
==Quellen==
 
Kammergerichtsordnung von 1500, Tit. 18; wiederholt in der Kammergerichtsordnung von 1555, Teil I, Tit.13, § 9; Kammergerichtsordnung von 1555, Theil 1, Tit. 10, § 4; H.E. Rosencorb (Rosacorb), Syntagma observationum practicarum recentiorum in supremis Germaniae tribunalibus, Mühlhausen 1605, Frankfurt a.M. 1646, Kap. 2, 2 ff.: „methodus referendi, seu vota concipiendi“; Tractatus methodicus processi Camerae Imperialis, in: Symphorema Consultationibus, I, Frankfurt a.M. 1601, 70 ff.: „methodus referendi causas in iudicio“.
Die im 14. Jahrhundert beginnende Epoche der Kommentatoren („Konsiliatoren“, „Postglossatoren“) zeichnete sich durch einen stärkeren Praxisbezug der Rechtswissenschaft aus. In den Vordergrund rückte das Bestreben, die antiken Quellen besser für die zeitgenössischen Bedürfnisse dienstbar zu machen. Dies gelang insbesondere durch kreative, teils auch gewagte Neuinterpretationen des ''Corpus Juris''. Die enge Verbindung mit der Rechtspraxis wurde durch die Gutachter- und Ratgebertätigkeit der Rechtslehrer befördert. In ihren ''consilia'' mussten sie sich mit den Rechtsproblemen des Mittelalters und, über die antiken Rechtstexte hinaus, auch mit den modernen [[Stadtrecht]]en, anderen Partikularrechten und dem [[kanonisches Recht|kanonischen Recht]] befassen.
 
Seit dem frühen 16. Jahrhundert propagierte der juristische [[Humanismus]] eine neue philologisch-historische Methode, durch die mit Mitteln der Textkritik der ursprüngliche Sinn juristischer Quellen herausgearbeitet werden sollte. Diese Richtung hatte zwar kaum Einfluss auf die zeitgenössische Rechtspraxis. Sie führte aber zur nachhaltigen Erschütterung der Autoritäts- und Textgläubigkeit der Juristen. Im Gegensatz zu Glossatoren und Kommentatoren, die keine umfassende Systematisierung des Rechts im modernen Sinne angestrebt hatten, lösten sich die Humanisten von der Exegese einzelner Textstellen und entwarfen die ersten zusammenfassenden Darstellungen einzelner Rechtsmaterien.
 
Der ''[[usus modernus]] pandectarum'', die besonders im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschende Strömung der Rechtswissenschaft, verschrieb sich wieder dem zeitgemäßen Gebrauch der Pandekten. Er zeichnete sich durch eine Verbindung der römischen Quellen mit dem gesetzten Recht und dem Gewohnheitsrecht der europäischen Territorien aus. Dabei orientierte er sich vorrangig an den Bedürfnissen der Rechtspraxis und brachte umfangreiche Gesamtdarstellungen des Rechts und einzelner Rechtsgebiete, gerade auch einzelner Partikularrechte, hervor.
 
Zur gleichen Zeit entwickelten sich auch die Schulen des neuzeitlichen [[Naturrecht]]s und des Vernunftrechts. Ihr Vermächtnis ist die Integration rationalistischen Gedankenguts in die Rechtswissenschaft. Unter Emanzipation vom geltenden römischen oder partikularen Recht sowie von den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoritäten sollte sich alles Recht auf übergeordnete Grundsätze zurückführen lassen, die mit der Natur des Menschen bzw. der Vernunft im Einklang standen. Diese Grundsätze bildeten „Oberbegriffe“ des rechtlichen „Systems“, aus dem heraus sich mit Hilfe einer logisch-deduktiven Methode konkrete Rechtssätze entwickeln ließen. Die vollständige begriffliche und systematische Durchdringung des Rechtsstoffs durch die Natur- und Vernunftrechtler erlangte zunächst kaum Bedeutung für die Rechtspraxis, doch sie bereitete den Boden für die großen [[Kodifikation]]en des 18. und 19. Jahrhunderts.
 
Unabhängig von der jeweils vorherrschenden methodischen Grundtendenz wies die Rechtswissenschaft des ''ius commune'' kontinuierlich zwei Merkmale auf. Zum einen hatte sie genuin gemeineuropäischen Charakter. Zwar hatte jede der methodischen Schulen ihren eigenen geographischen Ursprung und Schwerpunkt. Für Glossatoren und Kommentatoren war dies Norditalien, für den juristischen Humanismus Frankreich und für den ''usus modernus'' waren dies zunächst Deutschland sowie später die Niederlande. Doch selbst als sich die Lehre im späten ''usus modernus'' zunehmend mit den einheimischen nationalen Rechten befasste, sorgten die verbindenden Klammern des geltenden römischen Rechts und der lateinischen Sprache dafür, dass juristische Literatur europaweit gelesen wurde, die Lehrpläne der Fakultäten weitgehend identisch waren und die grenzüberschreitende Mobilität von Studenten und Dozenten hoch war. Selbst England und die Teile Skandinaviens, die das römische Recht nicht oder kaum rezipiert hatten, waren von diesen gemeineuropäischen Rechtsentwicklungen nicht abgeschnitten.
 
Zum anderen wurde der Jurisprudenz weitgehend rechtserzeugende Kraft zuerkannt. Wie bereits im antiken römischen Recht erlangten die Schriften führender Rechtswissenschaftler, zumindest aber die allgemeine Ansicht der Rechtsgelehrten, die ''communis opinio'', derartige Autorität, dass sie als eigenständige Rechtsquelle neben das interpretierte und kommentierte Gesetz traten. Einige europäische Gesetzgeber positivierten die normative Kraft des Schrifttums, indem sie die Gerichte durch „Zitiergesetze“ verpflichteten, in Zweifelsfragen die Auffassung bestimmter Autoren zu beachten. Der Einfluss der Rechtswissenschaft beruhte nicht nur auf dem Vakuum, das die Alterung der römischen Quellen bei gleichzeitigem Fehlen aktiver und starker zentralstaatlicher Gesetzgeber und Gerichte hinterließ. Er wurde auch durch prozessuale Faktoren begünstigt. Dazu gehörte vor allem das schriftliche Verfahren, das zu ausführlichen Schriftsätzen mit Zitierung der einschlägigen Literatur und zum Einholen professoraler Gutachten ermutigte. Insbesondere in Deutschland kam hinzu, dass die Gerichte komplizierte Fälle zur Begutachtung an Rechtsfakultäten verschickten (Aktenversendung) und das Votum der Wissenschaftler in der Regel befolgten. Ferner übten viele Professoren eine richterliche Nebentätigkeit aus.
 
== 4. Nationalisierung der Rechtswissenschaft seit dem 18. Jahrhundert ==
Der Einfluss der Rechtswissenschaft auf die Rechtspraxis blieb auch unter der Herrschaft der nationalen [[Kodifikation]]en des späten 18. und des 19. Jahrhunderts bestehen. Zwar waren diese Gesetzbücher auch erlassen worden, um den Machtanspruch der souveränen nationalstaatlichen Gesetzgeber gegenüber rivalisierenden Rechtsetzungsinstanzen durchzusetzen und um Rechtsklarheit und ‑sicherheit zu erhöhen. Beides sprach dafür, die Bedeutung der Rechtswissenschaftler und ihrer häufig widersprüchlichen Stellungnahmen einzuschränken. So sollten die Gerichte nach dem [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten|(ALR)]] auf „Meinungen der Rechtslehrer … keine Rücksicht“ nehmen. In mehreren deutschen Territorien wurde verboten, die neuen Kodifikationen wissenschaftlich zu kommentieren. In Frankreich blieben die Rechtsfakultäten nach der Revolution für ein Jahrzehnt geschlossen.
 
Dennoch wiesen gerade in Deutschland die [[Historische Rechtsschule]] und die Pandektistik ([[Pandektensystem]]) dem „Juristenrecht“ weiterhin rechtserzeugende Funktion zu. Die Kodifikationen hatten zwar das römische Recht außer Kraft gesetzt, doch sie bewirkten keinen radikalen Bruch mit der älteren Jurisprudenz. Mehrheitlich von Professoren verfasst, nahmen sie inhaltlich zahlreiche Lösungsmodelle des ''ius commune'' auf, und ihre Systematik folgte vernunftrechtlichen Vorbildern. Die deutsche Rechtslehre des 19. Jahrhunderts konnte deshalb auch weiterhin auf Basis des römischen Rechts die Geschichtlichkeit des gegenwärtigen Rechts bzw. seine systematische Perfektion als entscheidende Kriterien juristischer Wissenschaftlichkeit propagieren. Diese Hochblüte der Wissenschaft vom römischen Recht endete erst mit Inkrafttreten des reichsweit geltenden [[Bürgerliches Gesetzbuch|Bürgerlichen Gesetzbuchs]]. In anderen europäischen Rechtsordnungen, in denen früher als in Deutschland eine nationale Kodifikation und eine zentrale Höchstgerichtsbarkeit eingeführt worden waren, hatte sich das Gewicht der Rechtswissenschaft im institutionellen Gefüge gegenüber dem des Gesetzgebers und der Rechtsprechung ([[Richterrecht]]) bereits vorher vermindert.
 
Die Kodifikationsbewegung und die mit ihr einhergehende Nationalisierung des Rechts markierten zugleich das Ende der gemeineuropäischen Rechtswissenschaft. Die Juristen konzentrierten sich zunächst auf die Exegese und Fortentwicklung der neuen Gesetzbücher. Juristische Forschung und Lehre erfolgten in der jeweiligen Landessprache. Grenzüberschreitende Ortswechsel von Studenten und Professoren wurden zur Ausnahme. Zwar gab es auch weiterhin europaweite Tendenzen der juristischen Methode, etwa die sog. „exegetischen Schulen“ des 19. Jahrhunderts, die antiformalistisch-„freirechtlichen“ Bewegungen am Übergang zum 20. Jahrhundert oder die topischen Ansätze zu einer „Rechtsrhetorik“ nach dem Zweiten Weltkrieg, doch wurden diese eher als Parallelentwicklungen, denn als einheitlich-übergreifende Erscheinungen aufgefasst.
 
Ein europaweit zu beobachtendes Phänomen war die zunehmende Spezialisierung der Materie im 20. Jahrhundert. Insbesondere durch den Bedeutungsgewinn des öffentlichen Rechts wurden ganze Rechtsgebiete erstmals ernsthaft wissenschaftlich durchdrungen. Auch die Nebengebiete des traditionell im Vordergrund stehenden Privatrechts, etwa das Arbeits-, Gesellschafts-, Versicherungs- oder Insolvenzrecht, entwickelten sich zu eigenständigen Disziplinen. Überall spiegelte die Auffächerung des Fächerkanons sowohl die zunehmende Komplexität und Arbeitsteiligkeit moderner Gesellschaften als auch den Anstieg der Studentenzahlen und den zumindest eingeschränkt korrespondierenden Zuwachs an Lehrstühlen wider. Darüber hinaus reflektierte sie die Hinwendung der Jurisprudenz zu den Sozialwissenschaften, die sich allerdings bisher weniger in einem Wandel der Methode in den dogmatischen Kernfächern als in der Begründung neuer Nebenfächer, etwa der Kriminologie, der Rechtssoziologie oder der ökonomischen Analyse des Rechts zeigt. Dies unterscheidet Europa von den USA, wo die traditionelle Rechtsdogmatik seit den sechziger Jahren gegenüber interdisziplinären Ansätzen wie ''law and economics'', ''law and literature'' oder ''empirical legal studies'' zurücktritt.  
 
== 5. Europäische Rechtswissenschaft heute ==
Die derzeit bedeutendste Entwicklung im Bereich der Rechtswissenschaft ist die schrittweise Überwindung ihres nationalstaatlichen Gepräges zugunsten einer stärkeren Internationalisierung und (Re‑)Europäisierung. Die Gründung der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]]en und der zunehmende Erlass gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden von der Wissenschaft zunächst eher nachvollziehend als mitgestaltend begleitet. Hier standen vor allem das Verfassungs-, Verwaltungs- und Wettbewerbsrecht im Mittelpunkt. Im [[Gemeinschaftsprivatrecht/‌ Unionsprivatrecht|Gemeinschaftsprivatrecht]] wurde der europäische Gesetzgeber erst seit den 1970er Jahren tätig, und er intervenierte bisher nur punktuell, insbesondere in Nebengebieten wie dem Arbeits-, Gesellschafts- und Verbraucherschutzrecht. Auch der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] ist bisher kaum mit Kerngebieten des Privatrechts befasst worden. Stärkeren Einfluss auf die nationalen Privatrechte hat bisher der [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|Europäische Gerichtshof für Menschenrechte]] ausgeübt, etwa im Familienrecht, im Zivilprozessrecht oder bei der Entwicklung des Persönlichkeitsschutzes.
 
Motor der Entwicklung zu einem [[europäisches Privatrecht|Europäischen Privatrecht]] ist seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Rechtswissenschaft. Im Anschluss an programmatische Schriften (''Helmut'' ''Coing'', ''Hein'' ''Kötz'', ''Reinhard'' ''Zimmermann'') entstanden in den neunziger Jahren erste privatrechtliche Zeitschriften und Unterrichtsmaterialien mit gemeineuropäischer Ausrichtung. Sie sollten zur Europäisierung der Juristenausbildung beitragen, die auch durch Reform der Studienordnungen und europäische Studentenaustauschprogramme gefördert wurde. Das erste Lehrbuch klassischen Formats mit konsequent gesamteuropäischem Zuschnitt legte ''Kötz'' zum europäischen Vertragsrecht vor. In den letzten Jahren haben verschiedene wissenschaftliche Arbeitsgruppen Vorschläge zu ''[[Restatements]]'' von Teilgebieten des Privatrechts vorgelegt (''[[Principles of European Contract Law]] ''(PECL), ''[[Principles of European Tort Law]]'' (PETL), ''[[Study Group on a European Civil Code]]'', ''[[Acquis Principles]]''). Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat diese Arbeiten bisher nur zögernd und nur für den Bereich des Vertragsrechts aufgegriffen (''[[Common Frame of Reference]]'').
 
Eine herausragende Rolle bei der Europäisierung der Privatrechtswissenschaft spielen [[Rechtsgeschichte]] und [[Rechtsvergleichung]]. Unter Rückbesinnung auf die Leistungen der Rechtswissenschaft des [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] und unter rechtsvergleichender Herausarbeitung des „gemeinsamen Kerns“ (''common core'') der geltenden Privatrechte werden historische und aktuelle Gemeinsamkeiten betont. Diese können die Grundlage weiterer legislativer Rechtsvereinheitlichung bilden. Sie erfüllen gleichzeitig eine wichtige, wenn auch umstrittene, legitimierende Funktion für die wissenschaftliche Erarbeitung eines Europäischen Privatrechts.
 
Zu erwarten ist, dass sich die europäische Privatrechtswissenschaft in den kommenden Jahrzehnten vorwiegend der Entwicklung einer europäischen Zivilrechtsdogmatik mit einer eigenständigen Begrifflichkeit, Systematik und allgemeinen Leitgedanken widmen wird. Begleitend wird es darum gehen, einen gemeineuropäischen Stil der Rechtswissenschaft und eine gemeineuropäische Methodenlehre zu entwickeln.
 
Noch ist es zu früh, von einer gemeinsamen Privatrechtswissenschaft in Europa zu sprechen. Heute dominieren, durchaus den geltenden Rechten und ihren Rechtswirklichkeiten entsprechend, nationale Betrachtungsweisen und wissenschaftliche Stile. Allerdings zeigt die neuere Entwicklung der Wissenschaft des Gemeinschaftsrechts, vor allem im Gemeinschaftsverfassungs- und Wettbewerbsrecht, mit welcher Geschwindigkeit die Europäisierung der Wissenschaft in Gebieten erfolgen kann, in denen der Gemeinschaftsgesetzgeber aktiv wird.  
 
==Literatur==
''Paul Koschaker'', Europa und das römische Recht, 4. Aufl. 1966; ''Franz Wieacker'', Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967; Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. I, 1973, 37 ff.; Bd. II/‌1, 1977; ''Peter Stein'', Römisches Recht und Europa, 1996; ''Hein Kötz'', Europäisches Vertragsrecht, Bd. I, 1996; ''Reinhard Zimmermann'', Savignys Vermächtnis: Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, 1998; ''Jan Schröder'', Recht als Wissenschaft: Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule, 2001; ''Brian H. Bix'', Law as an Autonomous Discipline, in: Peter Cane, Mark Tushnet (Hg.), The Oxford Handbook of Legal Studies, 2003, 975 ff.; ''William Twining'', ''Ward Farnsworth'', ''Stefan Vogenauer'', ''Fernando Tesón'', The Role of Academics in the Legal System, in: Peter Cane, Mark Tushnet (Hg.), The Oxford Handbook of Legal Studies, 2003, 920 ff.; ''Christopher McCrudden'', Legal Research and the Social Sciences, Law Quarterly Review 122 (2006) 632 ff.; ''Reinhard Zimmermann'', Die Europäisierung des Privatrechts und die Rechtsvergleichung, 2006; ''Christoph Engel'', ''Wolfgang Schön'' (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007.


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Version vom 28. September 2021, 18:51 Uhr

von Filippo Ranieri

1. Institutionelle Verortung

Das Reichskammergericht (RKG) war seit seiner Gründung im Jahre 1495 bis zu seiner Auflösung 1806 neben dem Reichshofrat die oberste Gerichtsinstanz im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Nach langen Verhandlungen zwischen Kaiser Maximilian I. und den Reichsständen, insbesondere mit deren Wortführer, dem Mainzer Erzbischof und Reichserzkanzler Berthold von Henneberg, wurde auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1495 die Gründung einer örtlich vom Kaiser unabhängigen Gerichtsinstanz beschlossen. Deren Name knüpfte an das bereits seit über 100 Jahren bestehende Königliche Kammergericht an. Es handelte sich aber um eine neue Reichsinstitution. Die Errichtung des RKG stellt den zentralen Punkt einer umfassenden, aber nur z.T. verwirklichten Reichsreform dar. Die Einrichtung einer solchen Gerichtsinstanz diente vor allem als Ausgleich für das ebenfalls in Worms 1495 ausgesprochene endgültige Fehdeverbot und den proklamierten Ewigen Landfrieden. Als Richter sollten nach der ursprünglichen Vorstellung bei der Reichsreform je zur Hälfte Adelige und gelehrte Juristen fungieren. Relativ rasch stellte sich jedoch heraus, dass auch die adeligen Assessoren ihre Aufgabe nicht ohne ein fundiertes Rechtsstudium bewältigen konnten. Die ursprünglich noch an das frühere Königliche Kammergericht anknüpfende Organisation wurde in den darauf folgenden Jahrzehnten sukzessiv durch Reichsabschiede erweitert. Der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach den Wirren der Reformation und der Religionsprozesse unter Berücksichtigung der konfessionellen Parität erreichte Zustand blieb im Wesentlichen bis zum Ende des Alten Reichs (1806) erhalten. Nach den ersten Jahren der Wanderschaft und der Unterbrechung seiner Tätigkeit fand das Gericht 1527 in Speyer seinen endgültigen Sitz. Ende des 17. Jahrhunderts floh das Gerichtspersonal aus Speyer vor den französischen Truppen. Nach einer jahrelangen Unterbrechung fand das RKG in der kleinen Reichsstadt Wetzlar einen Sitz, wo es bis zum Ende des Alten Reichs tätig blieb.

Die juristische Kompetenz der Assessoren stellte bald deren einziges Qualifikationserfordernis dar. Die Reformen des jüngsten Reichsabschiedes von 1654 und der beiden letzten Visitationen Mitte des 18. Jahrhunderts galten dem Prozess und dem Geschäftsgang und weniger der Gerichtsverfassung. Die Kammerrichter wurden vom Kaiser berufen. Seit 1507 bestand daneben die Befugnis und die Pflicht der Reichsstände, geeignete Kandidaten als Assessoren aufzubieten. Die Präsentationsberechtigten hatten dem Plenum des Gerichts nach Bekanntwerden der Vakanz des ihnen zugeordneten Assessorats mehrere qualifizierte Persönlichkeiten vorzuschlagen. Aus diesen wählte das Plenum des Gerichts seit Mitte des 16. Jahrhunderts den neuen Assessor aus, in der Regel nach der Abhaltung einer Qualifikationsprüfung in Form einer Proberelation.

2. Zuständigkeit und Verfahrensrecht

Die ursprüngliche Aufgabe der neuen Reichsinstanz war die Einhaltung des Landfriedens. Bei Bruch des Ewigen Landfriedens konnte der Reichsfiskal als Vertreter der kaiserlichen Rechte ein Strafverfahren gegen den Friedensbrecher einleiten. Eine solche Kompetenz stand auch dem Angegriffenen zu. Darüber hinaus judizierte das RKG als Appellationsinstanz bei der Anfechtung von Urteilen territorialer und reichsstädtischer Gerichtsinstanzen in Zivilsachen. Es entfaltete sich daraus bald eine Spruchpraxis zur Kontrolle der landesherrlichen Gerichtsbarkeit. Ferner hatte das RKG als Kontrollinstanz Jurisdiktion bei Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung durch Untergerichte sowie bei Nichtigkeitsbeschwerden gegen territoriale oder städtische Instanzen. Die bald seit Mitte des 16. Jahrhunderts in großem Umfang vom Kaiser erteilten Appellationsprivilegien limitierten zwar die Jurisdiktion des RKG als Appellationsinstanz, standen jedoch nicht Nichtigkeits- und Rechtsverweigerungsbeschwerden entgegen. Dadurch blieb dem Gericht die Möglichkeit, auch privilegierte Reichsstände der Kontrolle durch die Reichsjustiz zu unterwerfen. Die Bedeutung des RKG im politischen Gefüge des Alten Reichs liegt gerade in dieser Stellung über Territorien und Konfessionen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem den sog. Untertanenprozessen eine große verfassungshistorische Bedeutung zu. Diese meist langwierigen, oft mit Vergleichen endenden Verfahren zogen der territorialen Herrschaft reichsrechtliche Grenzen und beschränkten die obrigkeitliche Machtentfaltung im justizstaatlichen Geist. Gerade als zentrales Reichsorgan hat das RKG neben dem Reichshofrat hier für die Verfassungsordnung im Alten Reich Wesentliches bewirkt.

Die Regeln des Kameralprozesses wurzelten im gemeinrechtlichen Verfahrensrecht der geistlichen Gerichte. Sie bildeten sich schrittweise nach dem praktischen Bedarf. Die jeweiligen RKG-Ordnungen von 1500, von 1521 und schließlich von 1548/‌1555 stellen die Schwerpunkte dieser Entwicklung dar. Wesentliche Aspekte des Verfahrensrechts blieben allerdings gesetzlich ungeregelt und der Justizpraxis bzw. den „gemeinen Bescheiden“ des Gerichts überlassen. Das Verfahren war ausschließlich schriftlich. Es wurde von der Dispositionsmaxime, dem Beibringungsgrundsatz und den Regeln des schriftlichen Artikelverfahrens beherrscht. Auch das Beweisverfahren war schriftlich. Grundlage der Beweiserhebung waren die schriftlich dokumentierten Zeugenprotokolle, die den Akten beigegeben wurden. Der Kameralprozess hat die deutschen territorialen Gerichtsordnungen wesentlich beeinflusst, die dessen Verfahrensgrundsätze z.T. wörtlich übernahmen. Auch in dieser Hinsicht spielte das RKG eine wesentliche Rolle für die Durchsetzung des schriftlichen gemeinen Prozessrechts in Deutschland.

3. Einfluss auf die Rezeption

Das RKG nahm gerade wegen seiner juristisch-professionellen Besetzung von Anfang an eine zentrale Funktion ein bei der Rezeption des römischen Rechts in den deutschen Territorien. Das ius commune galt hier gemäß der aus der spätmittelalterlichen italienischen Rechtswissenschaft übernommenen Statutentheorie allerdings nur subsidiär. Das sog. partikulare Recht, also der Normenbestand aus den Staats- und Territorialrechten, ging ihm vor. Nach der Wormser Satzung von 1495 waren die Assessoren am RKG gehalten, „nach des Reichs Gemainem Rechten, auch nach redlichen, erbern und leydenlichen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten …, die für sy bracht werden, … zu richten.“ Demnach sollten die dargelegten und auch bewiesenen partikularen Normen und Gewohnheiten dem römisch-kanonischen Gemeinen Recht vorgehen, das insoweit nur subsidiär galt. Die Darlegungs- und Beweislast gereichte jedoch prozessual zum Nachteil der einheimischen Rechte, die das Gericht nach der Regel „statuta stricte interpretanda sunt“ zudem einschränkend anwendete. Nur die notorischen Gewohnheitsrechte und Statuten bedurften nicht des Beweises. Wer sich auf die Normen des Corpus Juris Civilis berief, hatte dagegen eine „fundatam intentionem“. Diese prozessualen Anwendungsregeln beeinflussten tiefgreifend die Gerichtspraxis des RKG und verhalfen während des 16. Jahrhunderts zu einer zunehmend praktischen Rezeption der Regeln des römisch-gemeinen Rechts in den deutschen Territorien. Neuere Untersuchungen haben allerdings zugleich gezeigt, dass das RKG durchaus auch wichtige partikulare Rechtsordnungen gut kannte und ggfs. auch heranzog.

Die Schriftlichkeit und der mittelbare Charakter des Verfahrens im Gemeinen Prozess, sowie die kollegiale Struktur der Speyerer Gerichtsinstanz haben hier Technik und Stil der Entscheidungsfindung mitgeprägt. Im Zentrum der richterlichen Aufgabe eines Assessors am RKG stand das Verfassen einer Relation aus einer Prozessakte. Die einzelnen Produkte der Prozessparteien wurden vom Kanzleipersonal in Speyer überhaupt erst zu einem Prozessdossier zusammengestellt, wenn der Rechtsstreit als entscheidungsreif für eine Relation vor dem Kollegium anstand. Die Notwendigkeit nämlich, das Kollegialgericht über einen Prozess zu informieren, machte es erforderlich, dass ein Assessor als Relator ein Referat, eine sog. relatio, zum Inhalt der schriftlichen Prozessakte anfertigte und den Kollegen vortrug. Bereits in der Kammergerichtsordnung von 1500 heißt es, „… daß in allen Sachen die Besichtigung der Acten und Gerichtshandlungen, so zu Schöpfung der Urtheile nothdürftig sind, allezeit zum wenigstens zwey Assessoren oder Urtheiler … befohlen werden, also daß jeder der zwey diesselben Acten, einer nach dem andern lesen, nothdürftig besichtigen, ermessen, und allsdann die Relation davon thun solle …“. In der Kammergerichtsordnung von 1555 hieß es noch bestimmter, „… der Cammerrichter solle die Acten … jederzeit zwey Assessoren zu referiren geben“ In den ersten Ordnungen des RKG, selbst in der sonst ausführlichen Kammergerichtsordnung von 1555, finden sich sonst keine methodischen Regelungen über die Anfertigung von Aktenrelationen. Erst im Jüngsten Reichsabschied von 1654 stößt man in den §§ 143–150 auf umfangreichere Bestimmungen, die sich auf die am RKG gehaltenen Relationen beziehen. Auch diese Vorschriften betreffen jedoch den äußerlichen Verlauf der Relation. Die materielle Ausgestaltung bei der Anfertigung von Relation und Votum blieb den Regeln aus Praxis und Tradition überlassen.

Bereits im 16. Jahrhundert wurden für eine solche Technik der Anfertigung einer Aktenrelation strenge Aufbauregeln entwickelt. Ein derartiger Regelkomplex stand wohl im Zusammenhang mit der methodischen Tradition der Konsiliatoren des mos italicus und mit der gemeinrechtlichen Lehrtradition jener Zeit. Dieser fand bald seinen Niederschlag in zahlreichen Anleitungsschriften zur Anfertigung einer Aktenrelation. Das Ausbildungsziel stand hier eindeutig im Vordergrund. Eine ähnliche Ausbildungsfunktion erfüllten offenbar auch die zahlreichen gedruckten Sammlungen von Relationen. Die didaktische Funktion solcher Sammlungen wird besonders deutlich, wenn man beachtet, dass gelegentlich auch sog. Proberelationen in diesen Sammlungen abgedruckt wurden. Es handelt sich dabei um Aktenrelationen, die Kandidaten für das Amt des Assessorats am RKG als Nachweis ihrer Befähigung für die richterliche Tätigkeit anzufertigen und abzuhalten hatten. Hierfür wurden meistens echte kammergerichtliche Prozessakten zugrunde gelegt. Zeugnisse einer solchen literarisch-didaktischen Tradition lassen sich bereits in der deutschen prozessrechtlichen Literatur der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachweisen. Später wird die Anzahl dieser Anleitungsschriften unübersehbar. Die hier beschriebene Arbeitstechnik entfaltete auch in den späteren Jahrzehnten einen nachhaltigen Einfluss auf die Geschichte der deutschen Juristenausbildung. Übungen und die Technik der Aktenrelation wurden Mitte des 18. Jahrhunderts an der Universität Göttingen unterrichtet. Eine solche Tradition beobachten wir unter der Rubrik „praktische Jurisprudenz“ noch an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts: Die Relations- und Gutachtentechnik, die in der Kameralpraxis entwickelt worden war, lebte weiter in der preußischen Referendarausbildung des 18. und des 19. Jahrhunderts. Trotz der wesentlichen Vereinfachung und Veränderung der jeweiligen Arbeitsregeln erkennt man bis heute in der Ausbildung der deutschen Rechtsreferendare und Jurastudenten noch Reste dieser Anleitungstradition.

Literatur

Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495–1555, 1981; Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption: Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 1985; Bernhard Diestelkamp (Hg.), Recht und Gericht im Römischen Reich, 1999; Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrechte im Alten Reich, 2002; Erik Oliver Mader, Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“: Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, 2005; Peter Oestmann (Hg.), Ein Zivilprozess am Reichskammergericht: Edition und Kommentar einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert, 2008; Filippo Ranieri, Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren, in: Peter Oestmann (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozess, 2009, 165 ff.

Quellen

Kammergerichtsordnung von 1500, Tit. 18; wiederholt in der Kammergerichtsordnung von 1555, Teil I, Tit.13, § 9; Kammergerichtsordnung von 1555, Theil 1, Tit. 10, § 4; H.E. Rosencorb (Rosacorb), Syntagma observationum practicarum recentiorum in supremis Germaniae tribunalibus, Mühlhausen 1605, Frankfurt a.M. 1646, Kap. 2, 2 ff.: „methodus referendi, seu vota concipiendi“; Tractatus methodicus processi Camerae Imperialis, in: Symphorema Consultationibus, I, Frankfurt a.M. 1601, 70 ff.: „methodus referendi causas in iudicio“.