Polnisches Zivilgesetzbuch und Precedent, Rule of: Unterschied zwischen den Seiten

Aus HWB-EuP 2009
(Unterschied zwischen Seiten)
K 1 Version importiert
 
de>Jentz
Keine Bearbeitungszusammenfassung
 
Zeile 1: Zeile 1:
von ''[[Ulrich Ernst]]''
von ''[[Stefan Vogenauer]]''
== 1. Begriff und Gegenstand ==
Die ''rule of precedent'' (auch: ''doctrine of precedent'') des englischen Rechts regelt die rechtliche Bindungswirkung von Präjudizien für zukünftige Entscheidungen. Präjudiz (''precedent'') ist eine richterlich gesetzte Norm. Die ''doctrine of precedent'' steht daher in engem Zusammenhang mit der Lehre vom [[Richterrecht]] und wird häufig gemeinsam mit der Frage nach der richterlichen Befugnis zur Rechtserzeugung erörtert. Rechtsetzungskompetenz und Bindungswirkung sind jedoch nicht notwendig miteinander verknüpft, wie etwa die gegenwärtige Situation in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen zeigt. Dort lehnen selbst diejenigen, die eine rechtsschöpferische Tätigkeit der Gerichte anerkennen, die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen in der Regel ab.


Das polnische Zivilgesetzbuch (''kodeks cywilny'') von 1964 ist Frucht eines Kodifikationswerkes, das Erfahrungen mit den älteren kontinentalen Gesetzbüchern mit Ideen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verband. Es ist gemäß dem [[Pandektensystem]] gegliedert und umfasst heute auch Teile des traditionellen Handelsrechts.  
== 2. Die ''rule of precedent'' im englischen Recht ==
In England spielt Richterrecht seit jeher eine bedeutende Rolle. Bereits im Mittelalter beriefen sich die Gerichte auf früher ergangene Entscheidungen. Seit dem 16. Jahrhundert geschah dies in immer größerem Umfang. Während sich die Gerichte zur Befolgung einer richterlichen Regel verpflichtet sahen, wenn diese durch eine Abfolge von Entscheidungen (''course'' oder ''line of decisions'') etabliert war, so erkannten sie doch einzelnen Entscheidungen keine rechtliche Bindungswirkung zu. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verfestigte sich der Grundsatz des ''stare decisis'','' quieta non movere'' (“beim Entschiedenen stehenbleiben und das Ruhende nicht bewegen”) zu einer strikten Präjudizienbindung.


== 1. Kodifikationsgeschichte ==
Dabei waren zwei Formen der Bindungswirkung zu unterscheiden. Zum einen bildete sich im zweiten Viertel des Jahrhunderts der Grundsatz heraus, dass alle Gerichte an die Entscheidungen höherer Instanzen gebunden waren. Er wird heute als ''vertical precedent'' (vertikale Präjudizienbindung) bezeichnet. Zum anderen entwickelte sich seit ungefähr 1860 das Gebot der Bindung an solche Vorentscheidungen, die das erkennende Gericht selbst oder ein gleichgeordneter Spruchkörper erlassen hatte. Endgültig setzte sich diese strenge „horizontale Bindungswirkung“ (''horizontal precedent'') erst um die Jahrhundertwende durch (''London Street Tramways Co Ltd v. London County Council''<nowiki> [1898] AC&nbsp;375 (HL)). </nowiki>Diese Entwicklung war das Ergebnis des Zusammenwirkens verfassungsrechtlicher, rechtsphilosophischer und rechtstatsächlicher Faktoren. Im Lichte von Gewaltenteilungslehre, Demokratieprinzip und rechtsstaatlichem Gedankengut galt die richterliche Kompetenz zur Setzung von Recht als fragwürdig. Dies galt nicht nur für die Entwicklung von [[Richterrecht]] im vorher rechtsfreien Raum, sondern auch für die schöpferische Fortbildung oder Nichtanwendung bestehenden Präjudizienrechts. Ferner garantierte die gewissenhafte Befolgung von Vorentscheidungen ein Höchstmaß an Rechtssicherheit und verwirklichte damit den für die englische Rechtsphilosophie des 19. und frühen 20.&nbsp;Jahrhunderts zentralen Rechtswert. Schließlich schufen die Professionalisierung der Publikation von Gerichtsurteilen und die Einführung einer übersichtlichen und feststehenden Gerichtshierarchie in der ersten Hälfte des 19.&nbsp;Jahrhunderts überhaupt erst die erforderlichen Voraussetzungen für ein funktionierendes System des Präjudizienrechts.
=== a) Alte Polnisch-Litauische Union und Teilungszeit (bis 1918) ===
Erst die Wiedergründung des polnischen Staates im Jahre 1918 hat die Voraussetzung für eine moderne nationale Gesetzgebung geschaffen. Die frühere polnisch-litauische ''Rzeczpospolita Obojga Narodów'' (Republik Beider Nationen), rechtlich verfestigt durch die Lubliner Union von 1569, war 1795 vollständig durch Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt worden, gerade, als die Zeit der modernen Kodifikationen begann. Die Institutionen des alten Gemeinwesens hatten einem großen Teil des Kontinents einen ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt gewährleistenden Rahmen gegeben; sie prägen Selbstverständnis und politische Kultur der auf seinem Grund entstandenen modernen Nationen Polens, Litauens, der Ukraine und Weißrusslands bis heute mit. Im Privatrecht war die Kontinuität jedoch unterbrochen. Die Teilungsmächte hatten durch ihre neuen Gesetzbücher das ständisch differenzierende frühneuzeitliche polnisch-litauische Recht ersetzt. Dieses hatte, wie auch anderswo in Mitteleuropa, staatliche Regelungen (darunter die Kodifikation der drei Statuten Litauens, in dessen weißruthenischer Kanzleisprache erlassen im 16.&nbsp;Jahrhundert), (ins Polnische übertragene) Stadtrechte aus dem deutschsprachigen Raum, örtliches Gewohnheitsrecht und gelehrte Praxis verbunden, ohne generell die Geltung des römischen Rechts anzunehmen.


Österreich diente sein von ihm sog. Galizien Ende des 18.&nbsp;Jahrhunderts gar als Experimentierfeld für das [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]]. Später erhielten dort die Polen eine weit reichende politische und kulturelle Autonomie, an den Universitäten Krakau und Lemberg fanden Forschung und Lehre in polnischer Sprache statt, als Wissenschaftler, Richter und Beamte konnten Polen die Rechtsentwicklung beeinflussen, verstärkt seit Beginn des 20.&nbsp;Jahrhunderts auch auf der Ebene des Kaiserreichs. In den preußischen Provinzen galt ab 1794 das [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|ALR]] (auch hier hatte der Wunsch nach Beseitigung von Eigenheiten in den bisherigen polnischen Gebieten das Inkraftsetzen mitveranlasst) und ab 1900 das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]]. Gemeinsam war den preußisch-deutschen und den österreichischen Teilgebieten die Geltung der jeweiligen Fassungen des [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch|(AD)HGB]].  
Mit Einführung der strikten Bindungswirkung war auch eine ernsthaftere methodische Reflexion der Anwendung von Präjudizien unabdingbar. Vor allem musste möglichst genau definiert werden, welcher Teil einer Vorentscheidung als „tragender Entscheidungsgrund“ (''ratio decidendi'') tatsächlich der Bindungswirkung unterlag und welcher Teil als bloßes ''obiter dictum'' nicht bindend war. Unterschieden wurden jetzt auch strikt bindende Vorentscheidungen (''binding authority'') und Gerichtsurteile, die nur Überzeugungskraft (''persuasive authority'') aufwiesen, ohne bindend zu sein. Zur zweiten Gruppe gehören etwa Entscheidungen gleichrangiger, bisweilen sogar niederrangiger, und ausländischer Gerichte. Der Grad der Überzeugungskraft beruht dabei auf so verschiedenen Faktoren wie dem Ansehen des Richters, der die frühere Entscheidung ausgesprochen hat, oder der Nähe der ausländischen Rechtsordnung zum englischen Recht. Ferner entwickelten die Gerichte Regeln und Prinzipien für eine methodengerechte Anwendung und Auslegung des Präjudizienrechts. Dabei wurde insbesondere die Technik des ''distinguishing'' perfektioniert. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Anwendung einer bindenden Vorentscheidung vermeiden, wenn die Sachverhaltskonstellation des zu entscheidenden Falles in nicht unerheblichem Maße vom Sachverhalt des Präjudizes abweicht.


Etwas anders verhielt es sich in den dem Zaren unterworfenen Landesteilen: Im ab 1815 bestehenden „Königreich Polen“ (sog. Kongresspolen; mit Städten wie Warschau, Lodz und Lublin) dauerten vom restlichen Russischen Reich separierte Institutionen fort, die das 1807 von ''Napoleon'' begründete, von nationalen Hoffnungen getragene „Herzogtum Warschau“ eingeführt hatte. Dies betraf die französischen ''[[Code civil]]'' und ''[[Code de Commerce]]'', deren Geltung in den 1820er und 30er Jahren durch den Ersatz des weltlichen durch ein konfessionelles Eherecht (Hauptbekenntnisse waren das römisch-katholische und das orthodoxe sowie die jüdische Religion) und die Einführung eines moderneren eigenständigen Hypotheken- und Grundbuchrechts beschränkt wurden (Hauptautor: ''Antoni Wyczechowski'', 1780–1844). Die egalitäre französische Gesetzgebung bewirkte einen erheblichen Wandel der bisher feudalen Gesellschaftsstrukturen. In den östlicheren Gebieten galt die russische Gesetzgebung (''Swod Zakonow'', [[Russisches Zivilgesetzbuch]]), deren regionale Sonderregelungen noch am ehesten Elemente des früheren polnisch-litauischen Rechts enthielten. Schließlich unterlag ein kleines Gebiet (Zips und Arwa) ungarischem Recht.
Erst in der zweiten Hälfte des 20.&nbsp;Jahrhunderts weichte die strikte Präjudizienlehre langsam auf. Das ''House of Lords'' erklärte jetzt ausdrücklich, es werde seine eigenen Vorentscheidungen auch weiterhin normalerweise als bindend ansehen, aber von ihnen abweichen, „wenn dies Rechtens zu sein scheint“ (''when it appears to be right to do so'') (''Practice Statement (Judicial Precedent)''<nowiki> [1966] 1&nbsp;WLR 1234). Von dieser Freiheit machte das Gericht insbesondere seit den 1980er Jahren zunehmend Gebrauch. Während dieser Jahre gaben auch die einzelnen Abteilungen des </nowiki>''High Court'' den Grundsatz der horizontalen Bindungswirkung auf. Bis heute erhalten geblieben sind aber die rechtliche Bindung an die Entscheidungen höherer Gerichte und der methodengeleitete Umgang mit dem Präjudizienrecht.


=== b) Neuaufbau des eigenen Rechtssystems auf vergleichender Grundlage (1918–1939) ===
== 3. Die Bindungswirkung von Präjudizien in den kontinentalen Rechten ==
Zu Beginn der sog. Zweiten Republik 1918 waren die polnischen Juristen also in erster Linie Kenner der deutschen, französischen, österreichischen und russischen Systeme. Aus den dargestellten Gründen bestand eine positive Identifikation am ehesten mit dem französischen und dem österreichischen Recht, anderseits stellte das deutsche BGB die modernste Kodifikation dar. Schnell kam man überein, dass der gemeinsame Rechtsraum nicht durch Erstreckung eines der Teilrechte auf das gesamte Staatsgebiet geschaffen werden sollte. Die vom neuen Staat eingerichtete Kodifikationskommission schuf daher zunächst gemeinsames interlokales und internationales Kollisionsrecht (1924, in Geltung seit 1926; Hauptautor: ''Fryderyk Zoll'' ''jun.'', 1865–1948, Krakauer Professor, hatte vorher auch am österreichischen IPR-Entwurf und an der ABGB-Reform mitgewirkt). Die Vereinheitlichung des Sachrechts sollte dagegen nicht überstürzt werden.
Die kontinentaleuropäische Diskussion zur Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen bewegte sich seit dem Mittelalter im Spannungsfeld zweier scheinbar gegensätzlicher Quellenstellen des ''[[Corpus Juris Civilis]]''. Einerseits ordnete C.&nbsp;7,45,13 an, es sei „nicht nach Beispielen, sondern nach den Gesetzen zu urteilen“ (''non exemplis'','' sed legibus iudicandum est''). Andererseits gebot D.&nbsp;1,3,38, „dass bei Zweifelsfragen, die sich aus dem Gesetz ergeben, die Gewohnheit oder auch die Autorität stets gleich entschiedener Fälle Gesetzeskraft haben sollten“. Die herrschende Lehre im [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] bemühte sich um Auflösung des Widerspruchs, indem sie die bindende Kraft einer Reihe von Gerichtsentscheidungen, die sich gewohnheitsrechtlich verfestigt hatte (''usus fori'', Gerichtsgebrauch), befürwortete, einer einzelnen Gerichtsentscheidung dagegen keine rechtliche Bindungswirkung zuerkannte. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Gerichte faktisch auch einzelne Präjudizien häufig befolgten und das Richterrecht erhebliche praktische Bedeutung hatte. Das Reichskammergericht war seit dem 16.&nbsp;Jahrhundert sogar gesetzlich verpflichtet, gewisse Rechtsfragen allgemeinverbindlich zu entscheiden.


Im materiellen Privatrecht konnten 1933 zwei Kodizes verabschiedet und 1934 in Kraft gesetzt werden, das Gesetzbuch der Schuldverhältnisse (''kodeks zobоwiązań'','' ''dt. auch: Obligationengesetzbuch) sowie das Handelsgesetzbuch (''kodeks handlowy''). Letzteres entwickelte das deutsch-österreichische Vorbild weiter und enthielt auch das Kapitalgesellschaftsrecht. Das Erstere gilt als bedeutendste Leistung der modernen polnischen Gesetzgebung. Unter seinen Schöpfern sind zuvörderst zu nennen: die Lemberger Professoren ''Ernest Till'' (1848–1926) und ''Roman Longchamps de Berier'' (1883–1941, mit anderen Lemberger Dozenten und ihren Angehörigen nach dem deutschen Einmarsch erschossen) sowie der Warschauer Anwalt ''Ludwik Domański ''(1877–1952, von 1945–1948 Professor in Lodz). Sie bezogen ihre Anregungen vor allem von den deutschen, französischen, österreichischen und schweizerischen Kodifikationen. Man berücksichtigte daneben das russische Recht unter Einschluss des Entwurfs für ein Zivilgesetzbuch von 1913 sowie den italo-französisch geprägten Schuldrechtsentwurf des ''Comité pour l’union législative entre les nations alliées et amies'' von 1927, den man insgesamt als zu wenig neuzeitlich ansah, um ihn für Polen zu übernehmen. Weiterhin stand man im Austausch mit den Wissenschaftlern aus den südlichen mitteleuropäischen Nachbarstaaten. Das Obligationengesetzbuch stieß im zeitgenössischen internationalen Schrifttum auf Interesse und Anerkennung. So endete die ausführliche Besprechung in der Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht von 1934 mit der Feststellung, dass „durch wohlüberlegte Mischung von Bewährtem und Neuem ein eigenartiges und selbständiges Gesetz geschaffen worden“ sei, das einen „sehr wertvollen Beitrag Polens zum europäischen Rechtswesen“ darstelle.
Später gelangten auch einige territoriale Gesetzgeber zu der Überzeugung, die Praxis der Rechtsprechung müsse einheitlicher und vorhersehbarer werden. So war während des 18. und 19.&nbsp;Jahrhunderts in verschiedenen Einzelstaaten (Bayern, Hannover) zumindest eine eingeschränkte Präjudizienbindung vorgeschrieben. Grundsätzlich aber waren sowohl der aufgeklärte Absolutismus als auch die französische Revolution und der Frühkonstitutionalismus präjudizienfeindlich. Da die Rechtsetzungsbefugnis ausschließlich beim gesetzgebenden Fürsten bzw. beim Parlament konzentriert sein sollte, durften Gerichtsentscheidungen auch nicht für spätere Sachverhalte verbindlich sein. Das [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten]] (ALR) bestimmte sogar ausdrücklich, auf „ältere Aussprüche der Richter, soll[e] bey künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden“ (§&nbsp;6 der Einleitung). Ähnliche Vorschriften finden sich bis heute im ''[[Code civil]]'' (Art.&nbsp;5) und im [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] (§&nbsp;12). Auch die Rechtslehre des 19.&nbsp;Jahrhunderts sprach einzelnen Gerichtsentscheidungen jegliche rechtlich verpflichtende Kraft ab. Selbst die Lehre vom Gerichtsgebrauch geriet im Laufe des Jahrhunderts zunehmend in die Kritik.


Bereits in den zwanziger Jahren waren u.a. Wettbewerbs-, Patentrecht und Urheberrecht geschaffen worden. Vorgelegt wurden auch Entwürfe zu Einzelbereichen des Familienrechts, die auf Widerstand kirchennaher Kreise stießen, sowie zum Sachenrecht, weiterhin wurde an einer Regelung des Erbrechts gearbeitet und die Schaffung eines Allgemeinen Teils erörtert. Bis zum deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen 1939 konnten diese Pläne jedoch nicht mehr umgesetzt werden.
Diese Grundhaltung wurde während des 20.&nbsp;Jahrhunderts nur wenig abgemildert. Zwar sind sich die bis heute vorherrschenden Strömungen der Methodenlehre der praktischen Bedeutung des Richterrechts ebenso bewusst wie der Tatsache, dass Gerichte Präjudizien in der Regel befolgen. Während eine solche ''de facto''-Bindung nicht als problematisch gilt, wird eine Bindungswirkung ''de jure'' aber weiterhin weitgehend abgelehnt. Durchgesetzt hat sich nicht einmal der vermittelnde Vorschlag, Präjudizien jedenfalls insofern normative Kraft zuzuerkennen, als sich derjenige, der von ihnen abweichen will, einer erhöhten „Argumentationslast“ aussetzt. Eine Bindungswirkung ist nur dort anerkannt, wo der Gesetzgeber sie ausdrücklich anordnet. So sind etwa gemäß §&nbsp;31 BVerfGG die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber allen Verfassungsorganen und Behörden verbindlich; bestimmte Entscheidungen haben sogar Gesetzeskraft.


=== c) Herstellung der Rechtseinheit in der sowjetisch geprägten „Volksdemokratie“ (1944–1989) ===
Da die kontinentale Methodenlehre eine Bindungswirkung von Präjudizien stets fast einhellig ablehnte, sah sie auch nie die Notwendigkeit, eine der englischen ''rule of precedent'' vergleichbare Präjudizienlehre zu entwickeln. Daher fehlen gesicherte methodische Grundsätze, welche (Teile von) Gerichtsentscheidungen welchen Grad von Verbindlichkeit besitzen. Ferner fehlen Leitlinien für die Anwendung und Auslegung des Präjudizienrechts. Solcher Grundsätze bedarf es aber auch dann, wenn ein Gericht eine Vorentscheidung befolgt, ohne sich dazu rechtlich verpflichtet zu fühlen. Hier findet sich, wie die amerikanische Rechtsvergleicherin ''Mary Ann Glendon'' zutreffend konstatiert hat, eine „Achillesverse in der Methodik des civil law“.
Die zweite Phase der Rechtsentwicklung fällt mit der sowjetisch dominierten Staatlichkeit der Jahre 1944–1989 zusammen („Volkspolen“). Im territorial nach Westen verschobenen Land wurde die Rechtseinheit gelöst von früheren institutionellen und kulturellen Barrieren mit Wirkung zum 1.1.1947 hergestellt, indem man zu den noch nicht unifizierten Materien Einzeldekrete in Anlehnung an die Vorkriegsentwürfe erließ.  


Als Abschluss der Schaffung einheitlichen Rechts wurde von der politischen Führung die Zusammenfassung in einem Zivilgesetzbuch angeordnet. Zur Verwirklichung bedurfte es dreier Anläufe. In den jeweiligen dem Justizministerium unterstehenden Arbeitsgruppen wirkten auch Mitglieder der Kodifikationskommission der Zwischenkriegszeit mit; eine maßgebliche Rolle spielte dabei stets ''Jan Wasiłkowski'' (1898–1977; schon vor dem Krieg Warschauer Professor, später Parlamentsabgeordneter, Präsident des Obersten Gerichts und Mitglied des Zentralkomitees der kommunistischen Partei). Nur ein Jahr nach der kompletten Vorlage des von ihm mitverfassten Entwurfs (1949) bezeichnete er diesen selbstkritisch als „auf hohem rechtstechnischen Niveau im Stile der modernen bourgeoisen Kodifikationen“. Die in den vierziger Jahren einsetzende Umgestaltung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gemäß der marxistisch-leninistischen Ideologie hatte das Werk während seiner Entstehung unzeitgemäß werden lassen. Die Einführung der Planwirtschaft und die Verstaatlichung von Industrie und Handel erforderten ein neues Wirtschaftsrecht; der Unterschied zwischen öffentlichem und Privatrecht wurde als überwunden angesehen, sodass grundsätzlich nicht mehr von „Privat-“, sondern nur noch von „Zivilrecht“ gesprochen wurde ([[sozialistisches Recht]]). Charakteristisch war die Unterscheidung verschiedener Arten des Eigentums (Oberkategorien: gesellschaftliches sowie Individualeigentum). Da aber Privateigentum, gerade auch in der Landwirtschaft, weiter bestand, blieben die herkömmlichen zivilrechtlichen Institutionen wichtiger als in anderen damaligen Ostblockstaaten. Eine zweite Initiative trug den neuen Bedingungen Rechnung, indem ihre ZGB-Entwürfe von 1955/‌56 die jeweils für die beiden nun nebeneinander bestehenden Bereiche der Volkswirtschaft erforderlichen Regelungen enthielt. Sie stießen jedoch wegen geringen gesetzestechnischen Niveaus und Ungenauigkeit auf heftige Kritik aus Lehre und Praxis. Erst das mit dem Ende des Stalinismus ab 1956 einsetzende politische Tauwetter schuf die Voraussetzungen für den Abschluss des Werkes. Ein auf dem Projekt von 1956 beruhender, aber sorgfältig überarbeiteter und präzisierter Entwurf wurde 1960 vorgelegt. Er führte zum 1964 vom Parlament verabschieden ZGB, das am 1.1.1965 in Kraft trat.
== 4. Die Bindungswirkung von Präjudizien im europäischen Privatrecht ==
Im Gemeinschaftsrecht, und damit auch im Gemeinschaftsprivatrecht, ist die faktische Bindungswirkung von Präjudizien besonders stark. Das Gericht erster Instanz befolgt regelmäßig die einschlägigen Präzedenzfälle des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]. Auch der EuGH selbst bezieht sich in fast jeder Entscheidung auf frühere Urteile. Die Generalanwälte berufen sich in ihren Schlussanträgen genauso häufig auf sie. Unumgänglich ist dies vor allem, wenn der EuGH an solche Entscheidungen anknüpft, mit denen er selbst [[Richterrecht]] geschaffen hat. In derartigen Fällen legt er weniger das primäre oder sekundäre Gemeinschaftsrecht als das entsprechende Präjudiz oder die darauf beruhende gefestigte Rechtsprechung aus. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Präjudizienpraxis der Europäischen Gerichtsbarkeit also kaum von derjenigen der englischen Gerichte. Eine normative Präjudizienbindung kennt das Gemeinschaftsrecht jedoch nicht. Das Gericht erster Instanz ist nicht zur Befolgung der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet (keine vertikale Bindung). Der EuGH hält sich für berechtigt, von seinen früheren Urteilen abzuweichen, wenn sich neue Umstände ergeben (keine horizontale Bindung). Dies geschieht gelegentlich, indem er ein Präjudiz ausdrücklich korrigiert. Zumeist lassen die Urteilsbegründungen jedoch nicht klar erkennen, ob und in welchem Umfang eine Änderung der Rechtsprechung erfolgt. Das Gericht erster Instanz ist ebensowenig an seine eigenen Vorentscheidungen gebunden. Auch im Hinblick auf das Fehlen ausgereifter methodischer Grundsätze für die Anwendung von Präjudizienrecht stehen die Gemeinschaftsgerichte eher in der kontinentalen als in der englischen Rechtsprechungstradition. Ähnlich verhält es sich mit der Präjudizienpraxis des [[Europäischer Gerichtshof|Europäischen Gerichtshof]]s für Menschenrechte.


=== d) Modernisierung und europäische Integration (ab 1989) ===
Nationale Gerichte sind ebenfalls nicht an Präjudizien des EuGH gebunden. Urteile im Vorabentscheidungsverfahren nach Art.&nbsp;234 EG/‌ 267 AEUV binden nur das vorlegende Gericht. Ist in einem späteren mitgliedstaatlichen Verfahren dieselbe Frage entscheidungserheblich, kann das zur Entscheidung berufene Gericht die Frage erneut dem EuGH vorlegen. Der EuGH steht derartigen Vorlagen jedoch nicht nur bei identischen, sondern auch bei ähnlichen Fragen eher ablehnend gegenüber und beantwortet sie meist mit einer gleichlautenden Entscheidungsformel. Er geht davon aus, dass sich die nationalen Gerichte bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts an seiner Rechtsprechung orientieren.
Das durch die Gewerkschaftsbewegung ''Solidarność'' mitvorbereitete europäische Wendejahr 1989 bedeutete auch für Polen die Wiedererlangung von Freiheit und Demokratie. Die seither wieder so genannte Republik Polen definiert sich als demokratischer Rechtsstaat, der wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und Privateigentum garantiert. Zu Anfang der 1990er Jahre wurden damit rechtliche Institutionen aktuell, die in den Zeiten der Staatswirtschaft allenfalls für den Außenhandel Bedeutung hatten, wie das noch geltende oder wieder in Kraft gesetzte Gesellschafts- sowie das Insolvenzrecht. Damit erlangten die neu aufgelegten Kommentare des Lemberger Professors, Anwalts und Mitglieds der ersten Kodifikationskommission ''Maurycy Allerhand'' (1868–1942, ermordet im Lemberger deutschen Konzentrationslager Janowska) eine womöglich noch größere Bedeutung als in den wenigen Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Gesetzesnovellen standen zunächst im Zeichen der Beseitigung der kommunistischen Bestandteile und anschließend der Modernisierung und gleichzeitigen Anpassung an die Erfordernisse des europäischen Gemeinschaftsrechts, auch über den EU-Beitritt Polens am 1.5.2004 hinaus.


== 2. Merkmale und Gliederung ==
Nach herkömmlicher Auffassung sind die Gerichte einer bestimmten Rechtsordnung nicht an die Rechtsprechung anderer Jurisdiktionen gebunden. Für die [[Auslegung des internationalen Einheitsrechts]] ist jedoch anerkannt, dass die Gerichte eines Vertragsstaats die Präjudizien der Gerichte anderer Vertragsstaaten wenn auch nicht befolgen, so doch zumindest berücksichtigen müssen. Für die [[Auslegung des Gemeinschaftsrechts]] gilt dieser Grundsatz ebenfalls, er ist aber angesichts der Existenz eines einheitlichen obersten Gerichtshofs von wesentlich geringerer praktischer Bedeutung. Zunehmend wird auch gefordert, Entscheidungen anderer Vertrags- bzw. Mitgliedstaaten zum Einheitsrecht bzw. zum Gemeinschaftsrecht eine gewisse Bindungswirkung beizumessen. Als Vorbild dient gewöhnlich die ''persuasive authority'', die Gerichte innerhalb des anglo-amerikanischen Rechtskreises ihren Entscheidungen gegenseitig zuerkennen, insbesondere im Verhältnis Englands zu den Ländern des Commonwealth. Gelegentlich wird über eine solche bloße Überzeugungskraft fremder Entscheidungen hinaus sogar zumindest in gewissen Bereichen des Einheits- und Gemeinschaftsrechts eine genuin rechtliche Bindung an Präjudizien aus anderen Rechtsordnungen befürwortet.
=== a) Stil und System des Privatrechts ===
Unmittelbare Vorbilder für das ZGB von 1964 stellen das Gesetzbuch der Schuldverhältnisse von 1933 sowie die Vereinheitlichungsdekrete der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Während die alte Kodifikationskommission ihre Entwürfe mit umfangreichen Begründungen veröffentlichte, fehlen solche für die Dekrete der Nachkriegszeit und auch für die Arbeiten nach 1956 am jetzigen ZGB. Dies ist – neben deren Qualität – ein weiterer Grund, warum für das Verständnis vieler Reglungen des heutigen Rechts auf die Materialien aus der Zwischenkriegszeit zurückgegriffen wird.
 
Schon die Gesetzgebung der 1920er und 1930er Jahre zeugt vom Bemühen um eine verständliche Sprache sowie um die Vermeidung allzu detaillierter Bestimmungen, um Raum für eine mit der Zeit gehende Rechtsprechung zu lassen. Diese Tendenzen verstärkte das ZGB noch, indem es Formulierungen modernisierte und Vieles vereinfachte, letzteres freilich im Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust differenzierter privatautonomer Gestaltung. Häufig wird kritisiert, dass die Novellen ab 1990 den guten Traditionen nicht mehr entsprächen – schlechtes Vorbild sind hierbei auch europäische Richtlinien. Weiteres Kennzeichen sind die schon im alten Schuldrechtsgesetzbuch zahlreichen Generalklauseln („Rechtsmissbrauch“, „gute Sitten“, später nach sowjetischem Vorbild auch genannt „Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens“, ''clausula rebus sic stantibus'', Billigkeitshaftung im Deliktsrecht). Die Rechtsprechung machte davon nur zurückhaltend Gebrauch, worin in den Zeiten der kommunistischen Diktatur ein Schutzmechanismus gegen Einflüsse der politischen Gewalt gesehen werden mag.
 
Struktur und Regelungsbereich des ZGB ähneln dem Muster des deutschen BGB. Das Familienrecht ist zwar – entgegen dem Entwurf von 1960 – im Jahre 1964 nach sowjetischem Vorbild als eigenes Gesetzbuch verabschiedet worden; dieses wird jedoch allgemein als Teil der Zivilrechtskodifikation behandelt. Einbezogen in das ZGB sind die Bestimmungen über die Firma und traditionelle Handelsgeschäfte. Dies folgt der in den 1960er Jahren getroffenen Entscheidung, den Dualismus zwischen Zivil- und Wirtschaftsrecht regelungstechnisch zu überwinden und den Kaufmannsbegriff abzuschaffen. Dieser Prozess wurde nach 2000 u.a. mit der Schaffung eines Gesetzbuches der Handelsgesellschaften (''kodeks spółek handlowych'') und Überführung der Regelungsgegenstände der letzten noch geltenden Vorschriften des alten HGB ins ZGB abgeschlossen – das Unternehmerregister ist mittlerweile Gegenstand eines eigenen Gesetzes. Seit der kommunistischen Zeit wird das Arbeitsrecht als eigenständiges Rechtsgebiet aufgefasst; gemäß dem Arbeitsgesetzbuch von 1974 finden die zivilrechtlichen Vorschriften insoweit allenfalls entsprechende Anwendung.
 
=== b) Pandektenstruktur und charakteristische Regelungen ===
Das 1.&nbsp;Buch des ZGB, den „Allgemeinen Teil“, leiten wenige grundsätzliche Bestimmungen zum Anwendungsbereich, der Beweislast und über den Rechtsmissbrauch ein. Der Abschnitt über die Personen ist unterteilt in die Vorschriften zu den natürlichen Personen und den juristischen Personen (nach Entfernung kommunistischer Relikte verblieben nur einige wenige allgemeine Anordnungen) sowie schließlich, als Querschnittsgebiet, den Unternehmern (v.a. Firmenrecht). Es folgen die Regelungen über die Vermögensgüter (v.a. Sachen als materielle Gegenstände), Rechtsgeschäfte, Fristen und Verjährung.
 
Merkmale des 2.&nbsp;Buches „Eigentum und andere Sachenrechte“ sind die systematisch gemeinsame Regelung des Eigentums an beweglichen und unbeweglichen Sachen, sowie die Formulierung allgemeiner Bestimmungen zu den beschränkten dinglichen Rechten. In der Entstehungszeit als Übergangserscheinung aufgefasst, finden sich das Recht der Hypotheken und Grundbücher in einem Sondergesetz, ebenso die Bestimmungen zum in den 1990er Jahren trotz der Anerkennung besitzlosen Sicherungseigentums eingeführten Registerpfand. Das polnische Recht misst Verpflichtungsgeschäften grundsätzlich dingliche (d.h. Verfügungs&#8209;)Wirkung bei – wenn die Parteien aber die Notwendigkeit des Abschlusses eines zusätzlichen dinglichen Vertrages vereinbaren, so hängt dessen Wirksamkeit von der des Verpflichtungsgeschäfts ab.
 
Das 3.&nbsp;Buch über die „Schuldverhältnisse“ folgt nicht völlig der klaren Struktur des Gesetzbuches von 1933: dieses enthielt in seinen allgemeinen Bestimmungen die Reglungen der einzelnen Entstehungsgründe: durch Vertrag und einseitige Willenserklärung sowie kraft Gesetzes, d.h. bei Geschäftsführung ohne Auftrag, ungerechtfertigter Bereicherung und unerlaubter Handlung (wie schon im [[Schweizerisches Obligationenrecht|Schweizer Obligationenrecht]] von 1911 – ähnlich auch im Zivilgesetzbuch Portugals von 1966). Darauf folgten die Regelungen der einzelnen Typenverträge. Heute finden sich Delikts- und Bereicherungsrecht weiterhin unter den allgemeinen Bestimmungen, die Geschäftsführung ohne Auftrag dagegen im Anschluss an den Dienstvertrag. In Anlehnung an das Gesetzbuch von 1933 enthält das Deliktsrecht eine Generalklausel über die Ersatzpflicht bei schuldhaft und rechtswidrig verursachten Schäden sowie zahlreiche Tatbestände der Gefährdungshaftung, das Leistungsstörungsrecht einen allgemeinen Schadensersatzanspruch bei vom Schuldner zu vertretenden Pflichtverletzungen sowie Rücktrittsrechte bei Verzug und Unmöglichkeit, die z.B. durch die Gewährleistungsrechte für Kauf- und Werkvertrag ergänzt werden. Am Ende der allgemeinen Vorschriften findet sich ein Abschnitt zur Gläubigeranfechtung. Als besondere Vertragstypen geregelt sind auch solche des Wirtschaftsverkehrs wie Handelsvertreter-, Kommissions-, Beförderungs-, Speditions- und Lager- sowie heute der Leasingvertrag.
 
Kennzeichen des Erbrechts (4.&nbsp;Buch) ist der kleine Kreis gesetzlicher Erben. Zur ersten Gruppe gehören der Ehegatte sowie die Kinder des Erblassers und deren Nachfahren, zur zweiten Gruppe der Ehegatte sowie die Eltern des Erblassers und deren Nachfahren. Das ZGB enthielt umfangreiche Sonderbestimmungen für die Vererbung landwirtschaftlicher Betriebe, die im Jahre 2001 größtenteils vom Verfassungsgerichtshof für unwirksam erklärt wurden.
 
Die im „Familien- und Vormundschaftsgesetzbuch“ geregelte zivile Form der Eheschließung wird nach 1989 ergänzt durch die Möglichkeit, einer kirchlichen Trauung familienrechtliche Wirkungen zu verleihen, sofern ein entsprechender Vertrag zwischen Staat und Religionsgemeinschaft besteht. Zudem wurde das System der ehelichen Güterstände marktwirtschaftlichen Erfordernissen angepasst und erheblich differenziert – gesetzliche (und praktische) Regel ist jedoch nach wie vor die Gütergemeinschaft. Später aufgenommen wurde auch die Möglichkeit der Trennung von Tisch und Bett. Im Scheidungsrecht gilt das Zerrüttungsprinzip. Regelungen über nichteheliche sowie gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften bestehen nicht.
 
Der Überblick zeigt, dass das ZGB zu recht in Polen als Mitglied der romanisch-germanischen Rechtsfamilie aufgefasst wird, für das die Zuordnung zu einer Untergruppe wenig Sinn ergäbe.
 
== 3. Einflüsse des EG- und internationalen Einheitsrechts, Ausblick ==
Die zivilrechtlichen [[Richtlinie]]n der EG wurden zum Teil durch Novellen des ZGB, zum Teil in Einzelgesetzen umgesetzt. Eine Definition des Verbrauchers findet sich unter den Bestimmungen über natürliche Personen des Allgemeinen Teils; dessen Abschnitt zum Vertragsschluss berücksichtigt auch Vorschriften über den elektronischen Handel. Die Regeln zur Vertragsmustereinbeziehung und &#8209;kontrolle finden sich (einer seit dem Gesetzbuch von 1933 bestehenden Tradition folgend) unter den allgemeinen Vorschriften zum Vertrag im Schuldrecht; diejenigen über die Produkthaftung im Anschluss an das Recht der unerlaubten Handlung und die zum Handelsvertreterrecht wurden den bestehenden zum Handelsvertretervertrag im Schuldrecht des ZGB beigefügt. Haustürwiderrufs- und Fernabsatzverträge sind Gegenstand eines gesonderten Gesetzes. Weitere Gesetze gibt es zum Zahlungsverzug, Verbraucherkredit, zu den Teilzeitwohnrechten und zum Verbrauchsgüterkauf. Insbesondere das letztere wird dafür kritisiert, dass es die hergebrachte Systematik des ZGB weitestgehend unbeachtet lässt und zugleich den Käufer schlechter stellt als die allgemeinen Regelungen des ZGB. Politisch gerechtfertigt wurde die Entscheidung zur Schaffung von Einzelgesetzen mit dem seitens der EU-Kommission geäußerten Rat zu „Eins-zu-Eins-Umsetzungen“ der einzelnen Richtlinien, um somit einfacher den Vollzug der notwendigen Schritte in der Beitrittsvorbereitung feststellen zu können.
 
Unter dem Eindruck auswärtiger Empfehlungen entstanden die Vorschriften des Registerpfandgesetzes von 1996, das sich in hinreichender Form dem rechtlichen Umfeld anpasst. Bei der Reform des Allgemeinen Teils im Jahre 2003 wurden vom UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) beeinflusste Regelungen über den Vertragsschluss ins ZGB eingefügt.
 
Die Vielzahl an Änderungen sowie Einzelgesetzen auf solchen Gebieten wie dem Verbrauchervertrags- und dem Sachenrecht gibt Anlass für Überlegungen zu einer Neukodifikation. Der Leiter der Kodifikationskommission beim Justizministerium formulierte diese 2006 in einem Grünbuch als Ziel, wobei die bisherige Systemstruktur nicht in Frage gestellt werden soll.


==Literatur==
==Literatur==
''Udo Rukser'', Das neue polnische Obligationenrecht, Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 8 (1934) 342&nbsp;ff.; ''Stanislaus Dnistrjansky'', Die leitenden Grundsätze des neuen polnischen Obligationenrechts, Zeitschrift für osteuropäisches Recht 1 (1934/‌ 1935) 123&nbsp;ff.; ''Ludwik Domański'', Instytucje kodeksu zobowiązań: Komentarz teoretyczno-praktyczny, 1936; ''Roman Longchamps de Berier'', Zobowią<nowiki>zania [Schuldverhältnisse], 2.</nowiki>&nbsp;Aufl. 1939 (ND: 1999); ''Friedrich Korkisch'', Das Privatrecht im ehemals polnischen Staatsgebiet, Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 12 (1938/‌1939) 850&nbsp;ff.; ''Erhardt Gralla'', Das polnische Zivilgesetzbuch, Osteuropa-Recht 1966, 81 ff.; ''Stanisław Grodziski'', Prace nad kodyfikacją i unifikacją<nowiki> polskiego prawa prywatnego (1919–1947) [Die Arbeiten an der Kodifizierung und Unifizierung des polnischen Privatrechts (1919–1947)], Kwartalnik Pr</nowiki>awa Prywatnego 1 (1992) 9&nbsp;ff.;'' Józef Skąpski''<nowiki>, Kodeks cywilny z 1964 r: Błaski i cienia kodyfikacji oraz jej perspektywy [Das Zivilgesetzbuch 1964: Glanzpunkte und Schatten der Kodifikation und ihre Perspektiven], Kwartalnik Prawa Prywatnego </nowiki>1 (1992) 57&nbsp;ff.;'' Claudia Kraft'', Europa im Blick der polnischen Juristen: Rechtsordnung und juristische Profession in Polen im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa, 1918–1939, 2002;'' Fryderyk Zoll'', The Impact of the Vienna Convention on the International Sale of Goods on Polish Law, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 71 (2007) 81&nbsp;ff.
Vgl. die zum Stichwort [[Richterrecht]] aufgeführte Literatur; ferner: ''Laurence Goldstein'' (Hg.), Precedent in Law, 1987; ''Rupert Cross'', ''James W. Harris'', Precedent in English Law, 4.&nbsp;Aufl. 1991; ''Thomas Probst'', Die Änderung der Rechtsprechung: Eine rechtsvergleichende, methodologische Untersuchung zum Phänomen der höchstrichterlichen Rechtsprechungsänderung in der Schweiz (civil law) und den Vereinigten Staaten (common law), 1993; ''Lionel Neville Brown'', ''Tom Kennedy'', The Court of Justice of the European Communities, 5.&nbsp;Aufl. 2000; ''William Hamilton Bryson und Serge Dauchy'' (Hg.), Ratio decidendi: Guiding Principles of Judicial Decisions, Bd.&nbsp;1: Case Law, 2006; ''Ilka Klöckner'', Grenzüberschreitende Bindung an zivilgerichtliche Präjudizien: Möglichkeiten und Grenzen im Europäischen Rechtsraum und bei staatsvertraglich angelegter Rechtsvereinheitlichung, 2006.
 
==Quellen, Gesetzgebungsmaterialien==
<nowiki>R.&nbsp;Longchamps de Berier in: Komisja Kodyfikacyjna, Podkomisja Prawa o Zobowiązaniach, Hefte 4–6, Uzasadnienie projektu kodeksu zobowiązań z uwzględnieniem ostatecznego tekstu kodesku [Begründung des Entwurfs des Schuldrechtsgesetzbuchs unter Berücksichtigung des endgültigen Textes des Gesetzbuchs], Warszawa 1936; Projekt kodeksu cywilnego, Demokratyczny Przegląd Prawniczy, 1947–1948; Projekt kodeksu cywilnego Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej [Entwurf eines Zivilgesetzbuchs der Polnischen Volksrepublik], Warszawa 1954; Projekt kodeksu cywilnego Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej [Entwurf eines Zivilgesetzbuchs der Polnischen Volksrepublik], Warszawa 1960; Zbigniew Radwański (Hg.), Zielona Księga – Optymalna wizja Kodeksu cywilnego w Rzeczypospolitej Polskiej [= Green Paper – An Optimal Vision of the Civil Code of the Republic of Poland] Warszawa 2006).</nowiki>
 
==Übersetzungen von Rechtstexten==
Geschäftsstelle Posen der deutschen Sejm- und Senatsabgeordneten, Das polnische Recht der Schuldverhältnisse und das polnische Handelsgesetzbuch nebst den zugehörigen Einführungsbestimmungen in deutscher Übersetzung, Posen 1934; Code des obligations de la République de Pologne, Paris 1935 (Übersetzung von Stefan Sieczkowski und Jean Wasilkowski in Zusammenarbeit mit Henri Mazeaud); Zivilgesetzbuch der Volksrepublik Polen, Berlin 1965 (Übersetzung von Wolfdietrich Vogel); Zivilgesetzbuch der Volksrepublik Polen 1964, Wiener Quellenhefte zur Ostkunde – Reihe Recht, Wien 1967 (Übersetzung von Georg Hum); Witold Chachórski, Jan Wasilkowski (Hg.), Code Civil de la République Populaire de Pologne, Varsovie 1966 (Übersetzung von Maciej Szepietowski); Ewa Łętowska, Józef Piątowski (Hg.), Code Civil de la République Populaire de Pologne, Warszawa 1980 (Übersetzung von Maciej Szepietowski); Ewa Łętowska, Józef Piątowski (Hg.), Civil Code of the Polish People's Republic, Warszawa 1980 (Übersetzung von Alexander Makowsk); Polnische Wirtschaftsgesetze, 7.&nbsp;Aufl. 2005 (Übersetzung (des Zivilgesetzbuchs) von Erhardt Gralla).


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Polish_Civil_Code]]
[[en:Precedent,_Rule_of]]

Version vom 28. September 2021, 18:35 Uhr

von Stefan Vogenauer

1. Begriff und Gegenstand

Die rule of precedent (auch: doctrine of precedent) des englischen Rechts regelt die rechtliche Bindungswirkung von Präjudizien für zukünftige Entscheidungen. Präjudiz (precedent) ist eine richterlich gesetzte Norm. Die doctrine of precedent steht daher in engem Zusammenhang mit der Lehre vom Richterrecht und wird häufig gemeinsam mit der Frage nach der richterlichen Befugnis zur Rechtserzeugung erörtert. Rechtsetzungskompetenz und Bindungswirkung sind jedoch nicht notwendig miteinander verknüpft, wie etwa die gegenwärtige Situation in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen zeigt. Dort lehnen selbst diejenigen, die eine rechtsschöpferische Tätigkeit der Gerichte anerkennen, die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen in der Regel ab.

2. Die rule of precedent im englischen Recht

In England spielt Richterrecht seit jeher eine bedeutende Rolle. Bereits im Mittelalter beriefen sich die Gerichte auf früher ergangene Entscheidungen. Seit dem 16. Jahrhundert geschah dies in immer größerem Umfang. Während sich die Gerichte zur Befolgung einer richterlichen Regel verpflichtet sahen, wenn diese durch eine Abfolge von Entscheidungen (course oder line of decisions) etabliert war, so erkannten sie doch einzelnen Entscheidungen keine rechtliche Bindungswirkung zu. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verfestigte sich der Grundsatz des stare decisis, quieta non movere (“beim Entschiedenen stehenbleiben und das Ruhende nicht bewegen”) zu einer strikten Präjudizienbindung.

Dabei waren zwei Formen der Bindungswirkung zu unterscheiden. Zum einen bildete sich im zweiten Viertel des Jahrhunderts der Grundsatz heraus, dass alle Gerichte an die Entscheidungen höherer Instanzen gebunden waren. Er wird heute als vertical precedent (vertikale Präjudizienbindung) bezeichnet. Zum anderen entwickelte sich seit ungefähr 1860 das Gebot der Bindung an solche Vorentscheidungen, die das erkennende Gericht selbst oder ein gleichgeordneter Spruchkörper erlassen hatte. Endgültig setzte sich diese strenge „horizontale Bindungswirkung“ (horizontal precedent) erst um die Jahrhundertwende durch (London Street Tramways Co Ltd v. London County Council [1898] AC 375 (HL)). Diese Entwicklung war das Ergebnis des Zusammenwirkens verfassungsrechtlicher, rechtsphilosophischer und rechtstatsächlicher Faktoren. Im Lichte von Gewaltenteilungslehre, Demokratieprinzip und rechtsstaatlichem Gedankengut galt die richterliche Kompetenz zur Setzung von Recht als fragwürdig. Dies galt nicht nur für die Entwicklung von Richterrecht im vorher rechtsfreien Raum, sondern auch für die schöpferische Fortbildung oder Nichtanwendung bestehenden Präjudizienrechts. Ferner garantierte die gewissenhafte Befolgung von Vorentscheidungen ein Höchstmaß an Rechtssicherheit und verwirklichte damit den für die englische Rechtsphilosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zentralen Rechtswert. Schließlich schufen die Professionalisierung der Publikation von Gerichtsurteilen und die Einführung einer übersichtlichen und feststehenden Gerichtshierarchie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt erst die erforderlichen Voraussetzungen für ein funktionierendes System des Präjudizienrechts.

Mit Einführung der strikten Bindungswirkung war auch eine ernsthaftere methodische Reflexion der Anwendung von Präjudizien unabdingbar. Vor allem musste möglichst genau definiert werden, welcher Teil einer Vorentscheidung als „tragender Entscheidungsgrund“ (ratio decidendi) tatsächlich der Bindungswirkung unterlag und welcher Teil als bloßes obiter dictum nicht bindend war. Unterschieden wurden jetzt auch strikt bindende Vorentscheidungen (binding authority) und Gerichtsurteile, die nur Überzeugungskraft (persuasive authority) aufwiesen, ohne bindend zu sein. Zur zweiten Gruppe gehören etwa Entscheidungen gleichrangiger, bisweilen sogar niederrangiger, und ausländischer Gerichte. Der Grad der Überzeugungskraft beruht dabei auf so verschiedenen Faktoren wie dem Ansehen des Richters, der die frühere Entscheidung ausgesprochen hat, oder der Nähe der ausländischen Rechtsordnung zum englischen Recht. Ferner entwickelten die Gerichte Regeln und Prinzipien für eine methodengerechte Anwendung und Auslegung des Präjudizienrechts. Dabei wurde insbesondere die Technik des distinguishing perfektioniert. Mit ihrer Hilfe lässt sich die Anwendung einer bindenden Vorentscheidung vermeiden, wenn die Sachverhaltskonstellation des zu entscheidenden Falles in nicht unerheblichem Maße vom Sachverhalt des Präjudizes abweicht.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weichte die strikte Präjudizienlehre langsam auf. Das House of Lords erklärte jetzt ausdrücklich, es werde seine eigenen Vorentscheidungen auch weiterhin normalerweise als bindend ansehen, aber von ihnen abweichen, „wenn dies Rechtens zu sein scheint“ (when it appears to be right to do so) (Practice Statement (Judicial Precedent) [1966] 1 WLR 1234). Von dieser Freiheit machte das Gericht insbesondere seit den 1980er Jahren zunehmend Gebrauch. Während dieser Jahre gaben auch die einzelnen Abteilungen des High Court den Grundsatz der horizontalen Bindungswirkung auf. Bis heute erhalten geblieben sind aber die rechtliche Bindung an die Entscheidungen höherer Gerichte und der methodengeleitete Umgang mit dem Präjudizienrecht.

3. Die Bindungswirkung von Präjudizien in den kontinentalen Rechten

Die kontinentaleuropäische Diskussion zur Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen bewegte sich seit dem Mittelalter im Spannungsfeld zweier scheinbar gegensätzlicher Quellenstellen des Corpus Juris Civilis. Einerseits ordnete C. 7,45,13 an, es sei „nicht nach Beispielen, sondern nach den Gesetzen zu urteilen“ (non exemplis, sed legibus iudicandum est). Andererseits gebot D. 1,3,38, „dass bei Zweifelsfragen, die sich aus dem Gesetz ergeben, die Gewohnheit oder auch die Autorität stets gleich entschiedener Fälle Gesetzeskraft haben sollten“. Die herrschende Lehre im ius commune bemühte sich um Auflösung des Widerspruchs, indem sie die bindende Kraft einer Reihe von Gerichtsentscheidungen, die sich gewohnheitsrechtlich verfestigt hatte (usus fori, Gerichtsgebrauch), befürwortete, einer einzelnen Gerichtsentscheidung dagegen keine rechtliche Bindungswirkung zuerkannte. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Gerichte faktisch auch einzelne Präjudizien häufig befolgten und das Richterrecht erhebliche praktische Bedeutung hatte. Das Reichskammergericht war seit dem 16. Jahrhundert sogar gesetzlich verpflichtet, gewisse Rechtsfragen allgemeinverbindlich zu entscheiden.

Später gelangten auch einige territoriale Gesetzgeber zu der Überzeugung, die Praxis der Rechtsprechung müsse einheitlicher und vorhersehbarer werden. So war während des 18. und 19. Jahrhunderts in verschiedenen Einzelstaaten (Bayern, Hannover) zumindest eine eingeschränkte Präjudizienbindung vorgeschrieben. Grundsätzlich aber waren sowohl der aufgeklärte Absolutismus als auch die französische Revolution und der Frühkonstitutionalismus präjudizienfeindlich. Da die Rechtsetzungsbefugnis ausschließlich beim gesetzgebenden Fürsten bzw. beim Parlament konzentriert sein sollte, durften Gerichtsentscheidungen auch nicht für spätere Sachverhalte verbindlich sein. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) bestimmte sogar ausdrücklich, auf „ältere Aussprüche der Richter, soll[e] bey künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden“ (§ 6 der Einleitung). Ähnliche Vorschriften finden sich bis heute im Code civil (Art. 5) und im ABGB (§ 12). Auch die Rechtslehre des 19. Jahrhunderts sprach einzelnen Gerichtsentscheidungen jegliche rechtlich verpflichtende Kraft ab. Selbst die Lehre vom Gerichtsgebrauch geriet im Laufe des Jahrhunderts zunehmend in die Kritik.

Diese Grundhaltung wurde während des 20. Jahrhunderts nur wenig abgemildert. Zwar sind sich die bis heute vorherrschenden Strömungen der Methodenlehre der praktischen Bedeutung des Richterrechts ebenso bewusst wie der Tatsache, dass Gerichte Präjudizien in der Regel befolgen. Während eine solche de facto-Bindung nicht als problematisch gilt, wird eine Bindungswirkung de jure aber weiterhin weitgehend abgelehnt. Durchgesetzt hat sich nicht einmal der vermittelnde Vorschlag, Präjudizien jedenfalls insofern normative Kraft zuzuerkennen, als sich derjenige, der von ihnen abweichen will, einer erhöhten „Argumentationslast“ aussetzt. Eine Bindungswirkung ist nur dort anerkannt, wo der Gesetzgeber sie ausdrücklich anordnet. So sind etwa gemäß § 31 BVerfGG die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber allen Verfassungsorganen und Behörden verbindlich; bestimmte Entscheidungen haben sogar Gesetzeskraft.

Da die kontinentale Methodenlehre eine Bindungswirkung von Präjudizien stets fast einhellig ablehnte, sah sie auch nie die Notwendigkeit, eine der englischen rule of precedent vergleichbare Präjudizienlehre zu entwickeln. Daher fehlen gesicherte methodische Grundsätze, welche (Teile von) Gerichtsentscheidungen welchen Grad von Verbindlichkeit besitzen. Ferner fehlen Leitlinien für die Anwendung und Auslegung des Präjudizienrechts. Solcher Grundsätze bedarf es aber auch dann, wenn ein Gericht eine Vorentscheidung befolgt, ohne sich dazu rechtlich verpflichtet zu fühlen. Hier findet sich, wie die amerikanische Rechtsvergleicherin Mary Ann Glendon zutreffend konstatiert hat, eine „Achillesverse in der Methodik des civil law“.

4. Die Bindungswirkung von Präjudizien im europäischen Privatrecht

Im Gemeinschaftsrecht, und damit auch im Gemeinschaftsprivatrecht, ist die faktische Bindungswirkung von Präjudizien besonders stark. Das Gericht erster Instanz befolgt regelmäßig die einschlägigen Präzedenzfälle des EuGH. Auch der EuGH selbst bezieht sich in fast jeder Entscheidung auf frühere Urteile. Die Generalanwälte berufen sich in ihren Schlussanträgen genauso häufig auf sie. Unumgänglich ist dies vor allem, wenn der EuGH an solche Entscheidungen anknüpft, mit denen er selbst Richterrecht geschaffen hat. In derartigen Fällen legt er weniger das primäre oder sekundäre Gemeinschaftsrecht als das entsprechende Präjudiz oder die darauf beruhende gefestigte Rechtsprechung aus. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Präjudizienpraxis der Europäischen Gerichtsbarkeit also kaum von derjenigen der englischen Gerichte. Eine normative Präjudizienbindung kennt das Gemeinschaftsrecht jedoch nicht. Das Gericht erster Instanz ist nicht zur Befolgung der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet (keine vertikale Bindung). Der EuGH hält sich für berechtigt, von seinen früheren Urteilen abzuweichen, wenn sich neue Umstände ergeben (keine horizontale Bindung). Dies geschieht gelegentlich, indem er ein Präjudiz ausdrücklich korrigiert. Zumeist lassen die Urteilsbegründungen jedoch nicht klar erkennen, ob und in welchem Umfang eine Änderung der Rechtsprechung erfolgt. Das Gericht erster Instanz ist ebensowenig an seine eigenen Vorentscheidungen gebunden. Auch im Hinblick auf das Fehlen ausgereifter methodischer Grundsätze für die Anwendung von Präjudizienrecht stehen die Gemeinschaftsgerichte eher in der kontinentalen als in der englischen Rechtsprechungstradition. Ähnlich verhält es sich mit der Präjudizienpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Nationale Gerichte sind ebenfalls nicht an Präjudizien des EuGH gebunden. Urteile im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG/‌ 267 AEUV binden nur das vorlegende Gericht. Ist in einem späteren mitgliedstaatlichen Verfahren dieselbe Frage entscheidungserheblich, kann das zur Entscheidung berufene Gericht die Frage erneut dem EuGH vorlegen. Der EuGH steht derartigen Vorlagen jedoch nicht nur bei identischen, sondern auch bei ähnlichen Fragen eher ablehnend gegenüber und beantwortet sie meist mit einer gleichlautenden Entscheidungsformel. Er geht davon aus, dass sich die nationalen Gerichte bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts an seiner Rechtsprechung orientieren.

Nach herkömmlicher Auffassung sind die Gerichte einer bestimmten Rechtsordnung nicht an die Rechtsprechung anderer Jurisdiktionen gebunden. Für die Auslegung des internationalen Einheitsrechts ist jedoch anerkannt, dass die Gerichte eines Vertragsstaats die Präjudizien der Gerichte anderer Vertragsstaaten wenn auch nicht befolgen, so doch zumindest berücksichtigen müssen. Für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts gilt dieser Grundsatz ebenfalls, er ist aber angesichts der Existenz eines einheitlichen obersten Gerichtshofs von wesentlich geringerer praktischer Bedeutung. Zunehmend wird auch gefordert, Entscheidungen anderer Vertrags- bzw. Mitgliedstaaten zum Einheitsrecht bzw. zum Gemeinschaftsrecht eine gewisse Bindungswirkung beizumessen. Als Vorbild dient gewöhnlich die persuasive authority, die Gerichte innerhalb des anglo-amerikanischen Rechtskreises ihren Entscheidungen gegenseitig zuerkennen, insbesondere im Verhältnis Englands zu den Ländern des Commonwealth. Gelegentlich wird über eine solche bloße Überzeugungskraft fremder Entscheidungen hinaus sogar zumindest in gewissen Bereichen des Einheits- und Gemeinschaftsrechts eine genuin rechtliche Bindung an Präjudizien aus anderen Rechtsordnungen befürwortet.

Literatur

Vgl. die zum Stichwort Richterrecht aufgeführte Literatur; ferner: Laurence Goldstein (Hg.), Precedent in Law, 1987; Rupert Cross, James W. Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991; Thomas Probst, Die Änderung der Rechtsprechung: Eine rechtsvergleichende, methodologische Untersuchung zum Phänomen der höchstrichterlichen Rechtsprechungsänderung in der Schweiz (civil law) und den Vereinigten Staaten (common law), 1993; Lionel Neville Brown, Tom Kennedy, The Court of Justice of the European Communities, 5. Aufl. 2000; William Hamilton Bryson und Serge Dauchy (Hg.), Ratio decidendi: Guiding Principles of Judicial Decisions, Bd. 1: Case Law, 2006; Ilka Klöckner, Grenzüberschreitende Bindung an zivilgerichtliche Präjudizien: Möglichkeiten und Grenzen im Europäischen Rechtsraum und bei staatsvertraglich angelegter Rechtsvereinheitlichung, 2006.