Ordonnances und Ordre public: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Gebhard Rehm]]''
von ''[[Dieter Martiny]]''
== 1. Begriff ==
== 1. Begriff und Konzept ==
Nach der Auflösung des Karolingischen Reiches (endgültig 921) trennten sich auch juristisch die Wege Deutschlands und Frankreichs, wenngleich die fränkischen Wurzeln in beiden Staaten nicht vollständig gekappt wurden. Frankreich teilte sich rechtlich dabei in zwei Teile, auch wenn die Unterschiede oft fließend waren. Herrschte in Nordfrankreich (etwa nördlich einer gedachten Linie Genf-Girondemündung) bis dahin das weithin durch fränkisch-burgundisch-vulgare Tradition geprägte sog. ''droit coutumier'' (Gewohnheitsrecht), so galten im Süden vor allem durch römische Rechtsquellen inspirierte Volksrechte, die seit Rezeption des ''[[Corpus Juris Civilis]]'' verstärkt durch dieses beeinflusst werden ((''droit écrit''/‌geschriebenes Recht). Dennoch war auch das Recht im Süden Frankreichs in nicht geringem Maße durch gewohnheitsrechtliche Regeln geprägt. Das Recht war nicht nur zwischen Norden und Süden, sondern auch zwischen den einzelnen Regionen zersplittert; die maßgeblichen Regeln lassen sich oft nur mühsam ermitteln. Ab dem 12. Jahrhundert erschienen überall in Frankreich Sammlungen von lokalen bzw. regionalen Rechten, die zunächst vor allem Gewohnheitsrecht aufzeichnen (''Coutumes''). Mit den im ''Ancien Régime'' als ''Ordonnances'' bezeichneten Gesetzesnormen schließlich versuchten die französischen Könige insbesondere seit dem 16. Jahrhundert zum einen, die Rechtsfindung zu erleichtern und zum zweiten, die herrschende Rechtszersplitterung zu mildern. Handelte es sich dabei zunächst um Aufzeichnungen jeweils geltender Rechtsbräuche (insbesondere der in der Rechtspraxis sehr wichtigen ''Coutume de Paris''), nutzten die Könige die ''Ordonnances'' im weiteren Verlauf als Instrument eigener Gesetzgebung und legten damit die langfristige Grundlage für die Rechtsvereinheitlichung unter ''Napoléon Bonaparte'' (''[[Code civil]]'', ''[[Code de Commerce]]''). Dabei wird zuweilen zwischen „eigentlichen Verordnungen“ (''ordonnances proprement dites''), Edikten (''édits'') und Anordnungen (''déclarations'') unterschieden. Während Anordnungen ein bestehendes Gesetz ergänzten oder interpretierten und Edikte eher Einzelfragen regelten, betraf die eigentliche Verordnung als Vorläufer des Kodifikationsgedankens umfassende Rechtsmaterien. Mit einer sog. ''Ordonnance de réformation'' wie z.B. dem ''Code Michau'' reagierte der König auf Regelungsvorschläge der Generalstände; entsprechend umfassend, wenn auch nicht systematisch durchgebildet, war häufig ihr Regelungsumfang.
Dem Ausdruck ''ordre public'' (''public policy'') entspricht sprachlich die „öffentliche Ordnung“. Der Begriff wird in vielfältiger Weise verwendet.  


In der heutigen Rechtspraxis werden mit ''Ordonnances'' (die allerdings nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen sind) im Sinne von Verordnungen Rechtsakte der Regierung bezeichnet, mit denen die Zuständigkeit des Parlaments teilweise in bemerkenswert weitem Umfang umgangen werden kann, was in der Literatur nicht selten auf Kritik stößt. So ist die jüngste Reform des ''Code de commerce'' im Wesentlichen im Verordnungswege erfolgt.
Die öffentliche Ordnung findet sich bereits im [[EG-Vertrag]]. Hier erlaubt sie insbesondere eine Einschränkung der [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]]. Nach europäischem Primärrecht ist zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Beschränkung der [[Warenverkehrsfreiheit]] möglich (Art. 30 EG/‌36 AEUV), desgleichen sind Beschränkungen der [[Niederlassungsfreiheit]] (Art. 46 EG/‌52 AEUV) und der [[Dienstleistungsfreiheit]] (Art. 55 EG/‌62 AEUV) zulässig. Insofern kann der nationale Gesetzgeber Schranken setzen. Ob hierfür jeweils die Voraussetzungen gegeben sind, entscheidet gegebenenfalls der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]. Der ''ordre public'' spielt auch im Völkerrecht eine Rolle.


== 2. Regelungsgegenstände ==
Der ''ordre public'' gehört ferner zu den Rechtsinstituten des Allgemeinen Teils des [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrechts]] sowie des internationalen Verfahrensrechts und dient zur Abwehr von den eigenen Grundvorstellungen widersprechendem ausländischem Recht, ausländischen Entscheidungen sowie anderen rechtlich relevanten Einflüssen. Nach der klassischen Konzeption des internationalen Privatrechts ist der ''ordre public'' ein geradezu unverzichtbares Bollwerk gegenüber schädlichen ausländischen Normen und Entscheidungen. Er schränkt daher die Bereitschaft zur Anwendung des grundsätzlich als gleichwertig angesehenen fremden Rechts ebenso ein wie die Anerkennung ausländischer Verfahrensakte.
=== a) Rechtsfeststellende ''Ordonnances'' ===
Die erste wichtige, durch ''Karl VII.'' nach dem Ende des Hundertjährigen Kriegs erlassene und damit die „Neugründung“ Frankreichs begleitende sog. ''Ordonnance von Montil-les-Tours'' (1453) vereinheitlichte selbst noch nicht das Recht. Sie ordnete – gewissermaßen in einer Vorstufe – nur an, die jeweiligen regionalen „Gewohnheitsrechte, Gebräuche und Verfahrensweisen“ (''Coutumes'') nieder zu schreiben, um sie im Interesse eines ''bon ordre de justice'' leichter feststellen zu können. Diese zunächst erkennbare Zurückhaltung beruhte nicht etwa darauf, dass der König etwa einen „Wettbewerb der (lokalen und regionalen) Rechtsordnungen“ hätte ermöglichen wollen, sondern auf seiner zu dieser Zeit noch beschränkten Kompetenz zum Gesetzeserlass und der Notwendigkeit, nach dem mit England geführten Krieg und dem französischen Bürgerkrieg das geltende Recht zu ermitteln. Königliche Gesetze waren ursprünglich an die Zustimmung der wichtigsten Regionalfürsten gebunden, die aber mit dem ab der Mitte des 13. Jahrhunderts erkennbaren Machtzuwachs des Königs recht bald nur noch formell eingeholt wurde. Ab dem 14. Jahrhundert begannen zwar die Generalstände, also die Vertreter von Adel, Klerus und Drittem Stand, einen gewissen Einfluss auf die königliche Gesetzgebung zu nehmen, ohne dass dieser indes überschätzt werden sollte. Der König nahm entsprechende Initiativen eher zum Anlass oder Ausgangspunkt für eine Regelung, als dass inhaltliche Wünsche vollständig übernommen worden wären. Wesentliche anordnende Inhalte der ''Ordonnances'' im 13. und 14. Jahrhundert waren dabei Fehdeverbote, die der Vermeidung allgegenwärtiger Privatkriege der Lehnsfürsten – in die häufig auch deren Verwandte einbezogen waren – dienten und insbesondere in Zeiten auswärtiger Kriege (vor allem auch der Auseinandersetzung mit England) des französischen Königs unerwünscht waren. Diese Fehdeverbote entfalteten indes kaum eine nennenswerte Wirkung. Erst mit der ''Ordonnance'' ''Cabochienne'' (1413) konnte das Zeitalter der Privatkriege beendet werden.


=== b) Übergang zu rechtsgestaltenden ''Ordonnances'' ===
Neben dem mit Rechtsnormen befassten materiellrechtlichen ''ordre public'' gibt es begrifflich und rechtstechnisch noch den auf das Verfahren bezogenen verfahrensrechtlichen'' ordre public'' mit jeweils unterschiedlicher Herleitung und verschiedenen Anwendungsbereichen. Schwierigkeiten macht auf allen Gebieten, dass der ''ordre public'' als unbestimmter Rechtsbegriff der Präzisierung bedarf.
Die Niederschriften der ''Coutumes'' (Gewohnheitsrechte) gaben den Anstoß, sich näher mit ihnen zu befassen. So avancierte etwa die 1510 amtlich fixierte ''Coutume de Paris'' auch dank eines Kommentars von ''Dumoulin'' (1539) und ihrer Neufassung 1580 zur Grundlage des nordfranzösischen Gewohnheitsrechts, mit dem der Einfluss des römischen Rechts verringert werden sollte. Zusehends wurden allerdings auch bestimmte Einzelfragen neu geregelt. So legte die ''Ordonnance de Roussillon'' (1549) den Jahresbeginn auf den 1. Januar statt Ostern fest, mit der ''Ordonnance de Moulin'' beschnitt ''Karl IX.'' 1566 die Rechte der ''Parlements'' (königliche Obergerichte) und der lokalen Gouverneure (als Vertreter des Königs). Die von ''Heinrich III.'' erlassene ''Ordonnance de Blois'' (1579) untersagte geheime Eheschließungen und führte ein von der Kirche geführtes Eheregister ein.  


=== c) Die ''Ordonnances'' als Grundlage beginnender Rechtsvereinheitlichung ===
Der Begriff des ''ordre public'' wird teilweise, insbesondere in Frankreich, auch synonym für nicht dispositives, d.h. zwingendes Recht gebraucht (''ordre public interne''). Nur der ''ordre public international ''betrifft das internationale Privatrecht.
Die französischen Könige erkannten die ''Ordonnances'' zunehmend als Chance, stärkeren Einfluss auf die Rechtsentwicklung zu nehmen und rechtsvereinheitlichende Instrumente für ganze Rechtsgebiete zu erlassen. Bereits die ''Ordonnance de Villers-Cotterêts'' (1539) (auch ''Ordonnance'' ''Guillemine'' bzw. offiziell ''Ordonnance générale sur le fait de la justice'','' police et finances'' genannt'')'' hatte bestimmte Fragen der Kirchengerichtsbarkeit geregelt, die Einrichtung eines generellen Taufregisters angeordnet und die französische Sprache statt der regionalen „Vulgarsprachen“ oder des Lateinischen zur generellen Gesetzes- und Verwaltungssprache erklärt. Zudem enthielt sie strafrechtliche Elemente. Der ''Code Michau'' ''Ludwig XIII.'' sollte auf eine Reihe von Anregungen der Generalstände im Bereich des Zivil-, (See‑)Handels- und Eherechts sowie des Strafrechts reagieren, hätte aber die Macht der Regionalfürsten und der ''Parlements'' – insbesondere das Recht zur Registrierung einer ''Ordonnance'' als deren Geltungsvoraussetzung (sog. ''remontrance'') – zugunsten des Königs zeitlich beschnitten und scheiterte daher letztlich nicht zuletzt auf Betreiben Kardinal'' Richelieus''. Danach entstanden indes unter ''Ludwig XIV''., in dessen Regierungszeit die Generalstände nicht mehr einberufen wurden und der zunehmenden Gebrauch von umfassenden Gesetzesinstrumenten machte, in rascher Abfolge die das Zivilprozessrecht betreffende ''Ordonnance'' ''civile touchant la réformation de la justice ''(auch ''Ordonnance de S. German-en-Laye'' oder ''Code Louis'' genannt) (1667), die straf- und strafprozessrechtsvereinheitlichende ''Ordonnance'' ''criminelle'' (1670), die ''Ordonnance du commerce'' bzw. ''Code Marchand'' (1673) und die ''Ordonnance de la marine'' (1681). Der ''Code Louis'' regelte umfassend den Zivilprozess gegliedert nach seinem Ablauf von der Ladung bis zur Zwangsvollstreckung. Auch wenn er teilweise neue Rechtsvorschriften enthielt, diente er doch vor allem der systematischen Erfassung bestehenden Rechts und vereinheitlichte und vereinigte das französische Zivilprozessrecht in einem einzigen Gesetzbuch. Entgegenstehende Regeln wurden ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Die ''Ordonnance criminelle'' kodifizierte in ähnlicher Weise umfassend den Strafprozess und versuchte, mit einer rigiden Beschneidung der Rechte des Angeklagten die Kriminalität zu bekämpfen. Die beiden letztgenannten Normwerke regelten das Handels- und See(handels)recht und avancierten damit zu den ersten Kodifikationen des Handelsrechts in Europa. Inhaltlich enthielt der ''Code Marchand'' Regelungen zum Kaufmannsstand, den Handels- und Bankgeschäften und der Handelsgerichtsbarkeit. Die ''Ordonnance de la marine'' regelte schließlich umfassend das öffentliche und private Seehandelsrecht, um dem Seerecht Englands und der Hanse zur Mehrung französischen Wohlstandes im Geiste des Merkantilismus ein eigenes Regelungsregime entgegensetzen zu können. Mit dem letztlich in seiner praktischen Wirkung eher unbedeutenden ''Code Noir'' (1685) wurden schließlich die Rechtsverhältnisse der (schwarzen) Sklaven in den französischen Territorien geregelt.


Eine bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von ''Daguesseau'' unter ''Ludwig XV''. erwogene schrittweise Gesamtkodifikation des französischen Zivilrechts gelangte über den Erlass von ''Ordonnances'' über Schenkungen (1731), Testamente (1735) und Substitutionen im Fideikommissrecht (1748) nicht hinaus.
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Bezüglich des kollisions- und verfahrensrechtlichen ''ordre public'' bestehen mehrere miteinander verwobene Problemfelder und nicht widerspruchsfreie Entwicklungstendenzen. Zunächst einmal ist zu bestimmen, wie weit der ''ordre public'' auf einer übergeordneten europäischen Ebene und wie weit er auf der nationalen Ebene angesiedelt ist. Ferner ist der Inhalt zu bestimmen. So wird der ''ordre public'' auf europäischer Ebene zunehmend nicht mehr nur als Schutzinstrument zugunsten mitgliedstaatlicher Werte verstanden. Vielmehr wird der Inhalt des ''ordre public'' zunehmend europäisiert. Grundwerte des primären Gemeinschaftsrechts, aber auch der Europäischen Menschenrechtskonvention ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]) werden zur Ausfüllung des ''ordre public'' herangezogen. Nationalen Vorstellungen wird bei der Anwendung des ''ordre public'' zugleich eine Grenze gesetzt.  


== 3. Bedeutung ==
Für den europäischen Justizraum strebt vor allem die [[Europäische Kommission]] danach, den nationalen ''ordre public'' gegenüber Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten nicht mehr zuzulassen. Im Interesse eines einheitlichen Justizraums soll eine ungehinderte Anerkennung und Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen gewährleistet werden. Dies setzt letztlich gleiche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren voraus. Dieses Konzept hat inzwischen in mehreren Verordnungen Ausdruck gefunden.
Die hier nur beispielhaft aufgezählten ''Ordonnances'' avancierten also im ''Ancien Régime'' von einer bloßen Sammlung von Gewohnheitsrecht über eine auf Initiative der Generalstände versuchte Rechtsvereinheitlichung zu einem mächtigen Kodifikationsinstrument des Königs. Ihre jeweilige Bedeutung hing dabei stets vom aktuellen Machtgefüge – insbesondere der Stellung des Königs gegenüber den regionalen Fürsten und den Generalständen – ab. Es verwundert daher nicht, dass die vier zitierten ''Ordonnances'' ''Ludwig XIV''., die sog. ''Grandes Ordonnances'', den größten Einfluss erlangten. Die beiden handelsrechtlichen ''Ordonnances'', verfasst unter dem Einfluss des Begründers des Merkantilismus, ''Jean-Baptiste Colbert'', und des Handelsrechtlers ''Jacques Savary'', sowie der ''Code Louis'' und die ''Ordonnance criminelle'' hatten nachhaltige Wirkung auf die Entstehung und Ausformung des französischen Handels-, Prozess- und Strafrechts. Neben diesen konkreten Einflüssen erwiesen die ''Ordonnances'' sich letztlich als notwendige Voraussetzung der französischen Rechtseinigung, wie sie energisch allerdings erst im ''[[Code civil]]'' und seinen Schwestergesetzen – u.a. dem ''[[Code de Commerce]]'' – verwirklicht werden sollte. Die ''Grandes'' ''Ordonnances'' ''Ludwigs XIV''. sind als Kodifikationen und damit umfassende Regelung eines breiten Rechtsgebiets, nicht als (ungeordnete) Kompilationen existierender Rechtsvorschriften anzusehen, selbst wenn ihr Wert nicht in der Einführung bahnbrechender, neuer Regeln, sondern in der Systematisierung des gewohnheitsrechtlich und in zahlreichen vorhergehenden ''Ordonnances ''zersplitterten Rechtsstoffs liegt. Dabei hatten die ''Grandes Ordonnances'' ihre wesentliche Bedeutung im öffentlichen Recht. Dagegen fehlt den ''Daguessau''’schen zivilrechtlichen Normwerken der kodifikatorische Anspruch, weil mit ihnen nur einzelne Rechtsinstitute, nicht aber umfassende Rechtsbereiche geregelt wurden. Mit ihnen sollte zudem im Wesentlichen nur die Gesetzesanwendung durch die ''Parlements'', nicht aber das in den Gebieten von ''droit coutumier'' und ''droit écrit ''unterschiedliche materielle Recht vereinheitlicht werden. Für alle ''Ordonnances''<nowiki> gilt aber die Feststellung, dass sie „kein Instrument zur Rechtserneuerung, sondern vielmehr zur Rechtsbewahrung [waren]: sie setzte[n] nicht neues Recht, sondern altes Recht neu“ (</nowiki>''Walter Wilhelm'').
 
Soweit die ''ordre public''-Klausel noch verwendet wird, versucht man, ihre Anwendung auf Ausnahmefälle zu beschränken. Ferner wird, soweit möglich, inhaltlich genauer umschrieben, wann ein ''ordre public''-Verstoß in Betracht kommt. Damit versucht man, den Ausnahmecharakter des ''ordre public'' noch deutlicher zu machen.
 
Der ''ordre public'' wird zunehmend, was in Deutschland ohnehin herrschend ist, lediglich als negativer ''ordre public'' verstanden, d.h. er wird nur als Abwehrinstrument gegenüber dem ausländischen Recht eingesetzt. Dagegen wird die auf die Durchsetzung des eigenen (zwingenden) Rechts zielende positive Wirkung des ''ordre public'' immer weniger gebilligt (positiver ''ordre public''). Insoweit wird freilich die gleiche kollisionsrechtliche Wirkung mit einer Sonderanknüpfung eigenen international zwingenden Rechts bzw. mithilfe von [[Eingriffsnormen]] erreicht.
 
== 3. ''Ordre public'' im internationalen Privatrecht ==
Der ''ordre public'' spielt immer dann eine Rolle, wenn nach internationalem Privatrecht ausländisches Recht anzuwenden und das Ergebnis der anzuwendenden (ausländischen) Rechtsnorm mit der inländischen Rechtsordnung unvereinbar ist. Die dann erfolgende Abwehr von Auslandsrecht kommt in dem ebenfalls gebräuchlichen Ausdruck „Vorbehaltsklausel“ zum Ausdruck.
 
Die ''ordre public''-Klausel gehört zum festen Bestand der Haager Konventionen. Hier wird für das Eingreifen der ''ordre public''-Klausel ein „offensichtlicher“ Verstoß verlangt, so etwa in Art.&nbsp;13 Haager Unterhaltsprotokoll von 2007, Art.&nbsp;22, 30 Haager Unterhaltsdurchsetzungsübereinkommen von 2007, ebenso in Art.&nbsp;22 Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 unter Bezug auf das Kindeswohl.
 
Die Verordnungen zum europäischen internationalen Schuldrecht Rom&nbsp;I (VO&nbsp;593/‌2008) und Rom&nbsp;II (VO 864/‌2007) enthalten eine identische ''ordre public''-Klausel. Die Anwendung einer Vorschrift des nach der jeweiligen Verordnung bezeichneten Rechts kann nur dann versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist (Art.&nbsp;21 Rom&nbsp;I-VO und Art.&nbsp;26 Rom&nbsp;II-VO). Der Inhalt des europäischen ''ordre public'' lässt sich aber kaum exakt umschreiben. Zu den Bestandteilen werden jedenfalls die Auswirkungen der [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] und auch der [[Europäische Wirtschaftsverfassung|europäischen Wirtschaftsverfassung]] in Bezug auf Wettbewerbsbeschränkungen, ferner jedenfalls grundlegende Aussagen der EMRK zu rechnen sein.
 
Auch die nationalen Kollisionsnormen kennen ''ordre public''-Klauseln im Rahmen der Kollisionsnormen. Inhaltlich geht es um Verstöße gegen inländische Grundwerte. Auch hier spricht man wegen des Einflusses des Gemeinschaftsrechts und der EMRK von einer Europäisierung und einer Vergemeinschaftung des nationalen ''ordre public''.
 
Nach deutschem Kollisionsrecht ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist (so Art.&nbsp;6 EGBGB). Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Die Bezugnahme auf die Grundrechte hat freilich keine selbständige Bedeutung erlangt. Nach dem Vorbild der Haager Konventionen wird verlangt, dass der Verstoß offensichtlich ist. Eine ''ordre public''-Klausel kennen auch ausländische Kodifikationen, so etwa Art.&nbsp;16 ital. IPRG. Abgewehrt wird des Öfteren das [[islamisches Recht|islamische Recht]], etwa wegen Verstößen gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. Im Allgemeinen wird eine Inlandsbeziehung bzw. Binnenbeziehung des Sachverhalts verlangt. Sie kann insbesondere durch den Aufenthalt der Betroffenen begründet sein.
 
Es besteht Übereinstimmung, dass es auf das Ergebnis im Einzelfall ankommt. Die Anwendung der ausländischen Rechtsnorm muss zu einem untragbaren Resultat führen. Es kommt nicht darauf an, ob das ausländische Recht auf den gleichen Grundsätzen wie die inländische Gesetzgebung beruht. Nicht das ausländische Recht selbst (abstrakte Normenkontrolle), sondern erst seine Anwendung im Inland muß gegen die inländische Rechtsordnung verstoßen. D.h. auch wenn ein ausländischer Rechtssatz für sich gesehen anstößig ist, muss seine Anwendung noch nicht dazu führen. Der Grad der Inlandsbeziehung, die etwa mit gewöhnlichem Aufenthalt und Staatsangehörigkeit gegeben sein kann, ist für die einzelne Konstellation freilich schwer zu konkretisieren.
 
Einigkeit besteht über den Ausnahmecharakter des ''ordre public''<nowiki>; allerdings ist die Praxis unterschiedlich großzügig. Der ordre public ist von </nowiki>''Franz Kahn'' als „der noch unerkannte und der noch unfertige Teil des internationalen Privatrechts“ bezeichnet worden. Heute versucht man sein Eingreifen freilich wenn möglich, durch differenzierte Anknüpfungen, aber auch Sonderanknüpfungen, die Durchsetzung eigener Eingriffsnormen (international zwingender Normen) und andere Techniken zu vermeiden.
 
Rechtsfolge der Anwendung des ''ordre public'' ist, dass ein Ersatzrecht angewendet werden muss. Hier wird teilweise zunächst einmal eine Anknüpfung nach anderen Gesichtspunkten verlangt, ehe die Anwendung des eigenen Rechts als Ersatzrecht zugelassen wird (Art.&nbsp;16 Abs.&nbsp;2 ital. IPRG).
 
== 4. ''Ordre public'' im internationalen Verfahrensrecht ==
Im internationalen Zivilverfahrensrecht spielt der ''ordre public'' mehrfach eine Rolle. So enthalten die Regeln über die [[Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen]] regelmäßig ein entsprechendes Anerkennungshindernis. Der ''ordre public'' ist aber auch für das internationale Zustellungsrecht ([[Zustellung]]), die internationale Rechtshilfe sowie das internationale Insolvenzrecht ([[Insolvenz, grenzüberschreitende]]) von Bedeutung.  
 
Der Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kann etwa der Anerkennung von Zahlungsurteilen entgegenstehen. Eine identische ''ordre public''-Klausel enthalten Art.&nbsp;34 Brüssel&nbsp;I-VO (VO&nbsp;44/‌2001) für Zivil- und Handelssachen sowie Art.&nbsp;22 Brüssel&nbsp;IIa-VO (VO&nbsp;2201/‌2003) für Ehesachen und [[Elterliche Verantwortung|elterliche Verantwortung]]. Die Anerkennung scheitert, wenn sie der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde. Das Gericht des Zweitstaates prüft dies allerdings nicht mehr von Amts wegen nach. Eine gewisse Präzisierung versucht die ''ordre public''-Klausel in Art.&nbsp;26 EuInsVO (VO&nbsp;1346/‌ 2000). Danach kann sich jeder Mitgliedstaat weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit die Anerkennung oder Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist.
 
Auch nach den europäischen Anerkennungsregeln handelt es sich beim ''ordre public'' um eine Schranke, die zum Schutz von Grundwerten des nationalen Rechts eingreift. Der verfahrensrechtliche ''ordre public'' sichert nicht nur die materiell-rechtliche, sondern auch die verfahrensrechtliche Gerechtigkeit ab. Insofern geht es um eine generell oder im Einzelfall im Entscheidungsstaat erfolgte Verfahrensgestaltung, welche mit elementaren Wertvorstellungen des Anerkennungsstaates kollidiert.
 
Der EuGH hat zu Art.&nbsp;27 EuGVÜ formuliert, es sei zwar nicht seine Sache, den Inhalt der öffentlichen Ordnung zu definieren, er habe aber über die Grenzen zu wachen (EuGH Rs. C-38/‌98 – ''Renault'', Slg. 2000, I-2973).
 
Für die Ausfüllung des europäischen ''ordre public'' sind die verfahrensrechtlichen Garantien der EMRK herangezogen worden. Insbesondere das Recht auf einen fairen Prozess (Art.&nbsp;6 EMRK) ist ein Bestandteil der Vorbehaltsklausel. So wurde das Recht auf Verteidigung durch einen Anwalt auch ohne ein persönliches Erscheinen des Beklagten anerkannt. In Deutschland durfte daher die Anerkennung einer französischen Entscheidung, die dies missachtete, verweigert werden (EuGH Rs.&nbsp;C-7/‌98 –'' Krombach'', Slg. 2000, I-1935). Insoweit kann man von einem gemeineuropäischen o''rdre public''-Vorbehalt sprechen, für den auch die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie die sich aus völkerrechtlichen Übereinkommen ergebenden allgemeinen Rechtsgrundsätze zählen.
 
Nationale ''ordre public''-Klauseln bezüglich der Anerkennung ausländischer Entscheidungen betreffen ebenfalls Verstöße gegen Grundwerte und verlangen stets eine ergebnisorientierte Einzelfallprüfung. Hier besteht eine größere Toleranz; der ''ordre public'' hat nur eine „abgeschwächte Wirkung“ (''effet atténué''). Eine ''ordre public''-Klausel findet sich im deutschen Recht in §&nbsp;328 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;4 ZPO, der die Voraussetzungen für die Anerkennung ausländischer Urteile betrifft. Eine ausländische Entscheidung wird dann nicht anerkannt, wenn die Anerkennung des Urteils zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere den Grundrechten unvereinbar ist. Entsprechende Vorbehaltsklauseln enthalten auch ausländische Regelungen (so z.B. Art.&nbsp;64 lit.&nbsp;g ital. IPRG). Auch hier geht es nicht nur um materiellrechtliche Abweichungen. Grobe Verfahrensmängel können ebenfalls einen ''ordre public''-Verstoß begründen. Der ''ordre public'' setzt hier ebenfalls eine Beziehung zum Inland, vermittelt insbesondere durch die Staatsangehörigkeit oder den gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten voraus. Folge des ''ordre public''-Verstoßes ist die Nichtanerkennung der ausländischen Entscheidung.
 
== 5. Verzicht auf den ''ordre public'' ==
Einige neuere europäische Verordnungen folgen allein dem Anerkennungsprinzip. Keine ''ordre public''-Klausel enthalten daher die Verordnungen über den europäischen Vollstreckungstitel von 2004 sowie über das europäische Mahnverfahren von 2006. Hier ist mit dem ausdrücklich angeordneten Wegfall des Exequaturerfordernisses die Überprüfung der ausländischen Entscheidung eingeschränkt worden, es ist eine Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen erfolgt. Eine ''ordre public''-Kontrolle ist daher nicht mehr vorgesehen; dem Schuldner stehen lediglich Rechtsbehelfe im Rahmen der Zwangsvollstreckung zur Verfügung. Eine Abschaffung des Exequaturverfahrens kennt auch die Unterhaltsverordnung für Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, der durch das Haager Protokoll von 2007 gebunden ist (Art. 17(1) VO&nbsp;4/‌2009).
 
Im Übrigen wird eine Abschaffung des ''ordre public'' im europäischen Kontext kontrovers diskutiert. Teilweise wird vor einem zu weit gehenden „Systemwechsel“ gewarnt und die Schranke des ''ordre public'' für unabdingbar gehalten. Die Argumentation der EG-Kommission stützt sich vor allem auf das gegenseitige Vertrauen innerhalb des europäischen Justizraums. Eine vermittelnde Ansicht hält den Verzicht vor allem dort für möglich, wo einheitliche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren ausreichende verfahrensrechtliche Garantien bieten, insbesondere den Beklagtenschutz absichern. Es versteht sich von selbst, dass das Vertrauen in die ordnungsgemäße Rechtspflege in den Mitgliedstaaten vor allem dort eine tragfähige Basis bildet, wo zusätzliche Verfahrensgarantien (insb. Benachrichtigung des Beklagten, Mitwirkung am Verfahren, Berichtigung von Entscheidungen) geschaffen worden sind.


==Literatur==
==Literatur==
''Ernest Glasson'', Histoire du droit et des institutions de la France VIII, 1903, §§&nbsp;17&nbsp;ff.; ''Robert Holtzmann'', Französische Verfassungsgeschichte, 1910, 220&nbsp;ff.; ''Adhémar (Jean Hippolyte Emmanuel)'' ''Esmein'', Cours élémentaire d’histoire du droit français, 1925, 816&nbsp;ff.;'' Walter Wilhelm'', Gesetzgebung und Kodifikation in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, Ius Commune, 1 (1967) 241&nbsp;ff.; ''Heinrich Kaspers'', Vom Sachsenspiegel zum Code Napoléon, 1978, 155&nbsp;ff.
''Franz Kahn'', Die Lehre vom ordre public, Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 39 (1898) 1&nbsp;ff. = Abhandlungen zum internationalen Privatrecht, 1928, 194&nbsp;ff.; ''Paul Lagarde'', Public Policy, in: IECL III, Kap.&nbsp;11, 1994; ''Jürgen Basedow'','' ''Die Verselbständigung des europäischen ordre public, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 291&nbsp;ff.; ''Dieter Martiny'','' ''Die Zukunft des europäischen ordre public im Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 523&nbsp;ff.; ''Ansgar Staudinger'','' ''Der ordre public-Einwand im Europäischen Zivilverfahrensrecht, The European Legal Forum 2004, 273&nbsp;ff.; ''Philia'' ''Georganti'','' ''Die Zukunft des ordre public-Vorbehalts im europäischen Zivilprozessrecht, 2006; ''Ioanna'' ''Thoma'','' ''Die Europäisierung und die Vergemeinschaftung des nationalen ordre public, 2007;'' Gerte Reichelt'','' ''Zur Kodifikation des Europäischen Kollisionsrechts – am Beispiel des ordre public, in: eadem (Hg.),'' ''Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 2007, 5&nbsp;ff.; ''Th. M. de Boer'','' ''Unwelcome foreign law: Public policy and other means to protect the fundamental values and public interests of the European Community, in: Alberto Malatesta, Stefania Bariatti, Fausto Pocar (Hg.), The external dimension of EC Private International Law in family and succession matters, 2008, 295&nbsp;ff.; ''Teun H.D. Struycken'','' ''L’ordre public de la Communauté européenne, in: Liber amicorum Hélène Gaudemet-Tallon, 2008, 617&nbsp;ff.; ''Bartosz'' ''Sujecki'','' ''Die Möglichkeiten und Grenzen der Abschaffung des ordre public-Vorbehalts im Europäischen Zivilprozessrecht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008) 458&nbsp;ff.
 
==Quellen==
Die königlichen ''Ordonnances'' des ''Ancien Régime'' finden sich bei ''Athanase-Jean-Léger Jourdan'', ''François-André Isambert'', ''Alphonse-Honoré Taillandier''<nowiki> (Hg.), Recueil général des anciennes lois françaises, depuis l'an 420 jusqu'à la Révolution de 1789, 1821–1833 (abrufbar unter <www.gallica.bnf.fr>).</nowiki>


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Ordonnances]]
[[en:Public_Policy]]

Version vom 28. September 2021, 18:19 Uhr

von Dieter Martiny

1. Begriff und Konzept

Dem Ausdruck ordre public (public policy) entspricht sprachlich die „öffentliche Ordnung“. Der Begriff wird in vielfältiger Weise verwendet.

Die öffentliche Ordnung findet sich bereits im EG-Vertrag. Hier erlaubt sie insbesondere eine Einschränkung der Grundfreiheiten. Nach europäischem Primärrecht ist zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit möglich (Art. 30 EG/‌36 AEUV), desgleichen sind Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Art. 46 EG/‌52 AEUV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 55 EG/‌62 AEUV) zulässig. Insofern kann der nationale Gesetzgeber Schranken setzen. Ob hierfür jeweils die Voraussetzungen gegeben sind, entscheidet gegebenenfalls der EuGH. Der ordre public spielt auch im Völkerrecht eine Rolle.

Der ordre public gehört ferner zu den Rechtsinstituten des Allgemeinen Teils des internationalen Privatrechts sowie des internationalen Verfahrensrechts und dient zur Abwehr von den eigenen Grundvorstellungen widersprechendem ausländischem Recht, ausländischen Entscheidungen sowie anderen rechtlich relevanten Einflüssen. Nach der klassischen Konzeption des internationalen Privatrechts ist der ordre public ein geradezu unverzichtbares Bollwerk gegenüber schädlichen ausländischen Normen und Entscheidungen. Er schränkt daher die Bereitschaft zur Anwendung des grundsätzlich als gleichwertig angesehenen fremden Rechts ebenso ein wie die Anerkennung ausländischer Verfahrensakte.

Neben dem mit Rechtsnormen befassten materiellrechtlichen ordre public gibt es begrifflich und rechtstechnisch noch den auf das Verfahren bezogenen verfahrensrechtlichen ordre public mit jeweils unterschiedlicher Herleitung und verschiedenen Anwendungsbereichen. Schwierigkeiten macht auf allen Gebieten, dass der ordre public als unbestimmter Rechtsbegriff der Präzisierung bedarf.

Der Begriff des ordre public wird teilweise, insbesondere in Frankreich, auch synonym für nicht dispositives, d.h. zwingendes Recht gebraucht (ordre public interne). Nur der ordre public international betrifft das internationale Privatrecht.

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Bezüglich des kollisions- und verfahrensrechtlichen ordre public bestehen mehrere miteinander verwobene Problemfelder und nicht widerspruchsfreie Entwicklungstendenzen. Zunächst einmal ist zu bestimmen, wie weit der ordre public auf einer übergeordneten europäischen Ebene und wie weit er auf der nationalen Ebene angesiedelt ist. Ferner ist der Inhalt zu bestimmen. So wird der ordre public auf europäischer Ebene zunehmend nicht mehr nur als Schutzinstrument zugunsten mitgliedstaatlicher Werte verstanden. Vielmehr wird der Inhalt des ordre public zunehmend europäisiert. Grundwerte des primären Gemeinschaftsrechts, aber auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) werden zur Ausfüllung des ordre public herangezogen. Nationalen Vorstellungen wird bei der Anwendung des ordre public zugleich eine Grenze gesetzt.

Für den europäischen Justizraum strebt vor allem die Europäische Kommission danach, den nationalen ordre public gegenüber Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten nicht mehr zuzulassen. Im Interesse eines einheitlichen Justizraums soll eine ungehinderte Anerkennung und Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen gewährleistet werden. Dies setzt letztlich gleiche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren voraus. Dieses Konzept hat inzwischen in mehreren Verordnungen Ausdruck gefunden.

Soweit die ordre public-Klausel noch verwendet wird, versucht man, ihre Anwendung auf Ausnahmefälle zu beschränken. Ferner wird, soweit möglich, inhaltlich genauer umschrieben, wann ein ordre public-Verstoß in Betracht kommt. Damit versucht man, den Ausnahmecharakter des ordre public noch deutlicher zu machen.

Der ordre public wird zunehmend, was in Deutschland ohnehin herrschend ist, lediglich als negativer ordre public verstanden, d.h. er wird nur als Abwehrinstrument gegenüber dem ausländischen Recht eingesetzt. Dagegen wird die auf die Durchsetzung des eigenen (zwingenden) Rechts zielende positive Wirkung des ordre public immer weniger gebilligt (positiver ordre public). Insoweit wird freilich die gleiche kollisionsrechtliche Wirkung mit einer Sonderanknüpfung eigenen international zwingenden Rechts bzw. mithilfe von Eingriffsnormen erreicht.

3. Ordre public im internationalen Privatrecht

Der ordre public spielt immer dann eine Rolle, wenn nach internationalem Privatrecht ausländisches Recht anzuwenden und das Ergebnis der anzuwendenden (ausländischen) Rechtsnorm mit der inländischen Rechtsordnung unvereinbar ist. Die dann erfolgende Abwehr von Auslandsrecht kommt in dem ebenfalls gebräuchlichen Ausdruck „Vorbehaltsklausel“ zum Ausdruck.

Die ordre public-Klausel gehört zum festen Bestand der Haager Konventionen. Hier wird für das Eingreifen der ordre public-Klausel ein „offensichtlicher“ Verstoß verlangt, so etwa in Art. 13 Haager Unterhaltsprotokoll von 2007, Art. 22, 30 Haager Unterhaltsdurchsetzungsübereinkommen von 2007, ebenso in Art. 22 Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 unter Bezug auf das Kindeswohl.

Die Verordnungen zum europäischen internationalen Schuldrecht Rom I (VO 593/‌2008) und Rom II (VO 864/‌2007) enthalten eine identische ordre public-Klausel. Die Anwendung einer Vorschrift des nach der jeweiligen Verordnung bezeichneten Rechts kann nur dann versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist (Art. 21 Rom I-VO und Art. 26 Rom II-VO). Der Inhalt des europäischen ordre public lässt sich aber kaum exakt umschreiben. Zu den Bestandteilen werden jedenfalls die Auswirkungen der Grundfreiheiten und auch der europäischen Wirtschaftsverfassung in Bezug auf Wettbewerbsbeschränkungen, ferner jedenfalls grundlegende Aussagen der EMRK zu rechnen sein.

Auch die nationalen Kollisionsnormen kennen ordre public-Klauseln im Rahmen der Kollisionsnormen. Inhaltlich geht es um Verstöße gegen inländische Grundwerte. Auch hier spricht man wegen des Einflusses des Gemeinschaftsrechts und der EMRK von einer Europäisierung und einer Vergemeinschaftung des nationalen ordre public.

Nach deutschem Kollisionsrecht ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist (so Art. 6 EGBGB). Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Die Bezugnahme auf die Grundrechte hat freilich keine selbständige Bedeutung erlangt. Nach dem Vorbild der Haager Konventionen wird verlangt, dass der Verstoß offensichtlich ist. Eine ordre public-Klausel kennen auch ausländische Kodifikationen, so etwa Art. 16 ital. IPRG. Abgewehrt wird des Öfteren das islamische Recht, etwa wegen Verstößen gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. Im Allgemeinen wird eine Inlandsbeziehung bzw. Binnenbeziehung des Sachverhalts verlangt. Sie kann insbesondere durch den Aufenthalt der Betroffenen begründet sein.

Es besteht Übereinstimmung, dass es auf das Ergebnis im Einzelfall ankommt. Die Anwendung der ausländischen Rechtsnorm muss zu einem untragbaren Resultat führen. Es kommt nicht darauf an, ob das ausländische Recht auf den gleichen Grundsätzen wie die inländische Gesetzgebung beruht. Nicht das ausländische Recht selbst (abstrakte Normenkontrolle), sondern erst seine Anwendung im Inland muß gegen die inländische Rechtsordnung verstoßen. D.h. auch wenn ein ausländischer Rechtssatz für sich gesehen anstößig ist, muss seine Anwendung noch nicht dazu führen. Der Grad der Inlandsbeziehung, die etwa mit gewöhnlichem Aufenthalt und Staatsangehörigkeit gegeben sein kann, ist für die einzelne Konstellation freilich schwer zu konkretisieren.

Einigkeit besteht über den Ausnahmecharakter des ordre public; allerdings ist die Praxis unterschiedlich großzügig. Der ordre public ist von Franz Kahn als „der noch unerkannte und der noch unfertige Teil des internationalen Privatrechts“ bezeichnet worden. Heute versucht man sein Eingreifen freilich wenn möglich, durch differenzierte Anknüpfungen, aber auch Sonderanknüpfungen, die Durchsetzung eigener Eingriffsnormen (international zwingender Normen) und andere Techniken zu vermeiden.

Rechtsfolge der Anwendung des ordre public ist, dass ein Ersatzrecht angewendet werden muss. Hier wird teilweise zunächst einmal eine Anknüpfung nach anderen Gesichtspunkten verlangt, ehe die Anwendung des eigenen Rechts als Ersatzrecht zugelassen wird (Art. 16 Abs. 2 ital. IPRG).

4. Ordre public im internationalen Verfahrensrecht

Im internationalen Zivilverfahrensrecht spielt der ordre public mehrfach eine Rolle. So enthalten die Regeln über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen regelmäßig ein entsprechendes Anerkennungshindernis. Der ordre public ist aber auch für das internationale Zustellungsrecht (Zustellung), die internationale Rechtshilfe sowie das internationale Insolvenzrecht (Insolvenz, grenzüberschreitende) von Bedeutung.

Der Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kann etwa der Anerkennung von Zahlungsurteilen entgegenstehen. Eine identische ordre public-Klausel enthalten Art. 34 Brüssel I-VO (VO 44/‌2001) für Zivil- und Handelssachen sowie Art. 22 Brüssel IIa-VO (VO 2201/‌2003) für Ehesachen und elterliche Verantwortung. Die Anerkennung scheitert, wenn sie der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde. Das Gericht des Zweitstaates prüft dies allerdings nicht mehr von Amts wegen nach. Eine gewisse Präzisierung versucht die ordre public-Klausel in Art. 26 EuInsVO (VO 1346/‌ 2000). Danach kann sich jeder Mitgliedstaat weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit die Anerkennung oder Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist.

Auch nach den europäischen Anerkennungsregeln handelt es sich beim ordre public um eine Schranke, die zum Schutz von Grundwerten des nationalen Rechts eingreift. Der verfahrensrechtliche ordre public sichert nicht nur die materiell-rechtliche, sondern auch die verfahrensrechtliche Gerechtigkeit ab. Insofern geht es um eine generell oder im Einzelfall im Entscheidungsstaat erfolgte Verfahrensgestaltung, welche mit elementaren Wertvorstellungen des Anerkennungsstaates kollidiert.

Der EuGH hat zu Art. 27 EuGVÜ formuliert, es sei zwar nicht seine Sache, den Inhalt der öffentlichen Ordnung zu definieren, er habe aber über die Grenzen zu wachen (EuGH Rs. C-38/‌98 – Renault, Slg. 2000, I-2973).

Für die Ausfüllung des europäischen ordre public sind die verfahrensrechtlichen Garantien der EMRK herangezogen worden. Insbesondere das Recht auf einen fairen Prozess (Art. 6 EMRK) ist ein Bestandteil der Vorbehaltsklausel. So wurde das Recht auf Verteidigung durch einen Anwalt auch ohne ein persönliches Erscheinen des Beklagten anerkannt. In Deutschland durfte daher die Anerkennung einer französischen Entscheidung, die dies missachtete, verweigert werden (EuGH Rs. C-7/‌98 – Krombach, Slg. 2000, I-1935). Insoweit kann man von einem gemeineuropäischen ordre public-Vorbehalt sprechen, für den auch die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie die sich aus völkerrechtlichen Übereinkommen ergebenden allgemeinen Rechtsgrundsätze zählen.

Nationale ordre public-Klauseln bezüglich der Anerkennung ausländischer Entscheidungen betreffen ebenfalls Verstöße gegen Grundwerte und verlangen stets eine ergebnisorientierte Einzelfallprüfung. Hier besteht eine größere Toleranz; der ordre public hat nur eine „abgeschwächte Wirkung“ (effet atténué). Eine ordre public-Klausel findet sich im deutschen Recht in § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, der die Voraussetzungen für die Anerkennung ausländischer Urteile betrifft. Eine ausländische Entscheidung wird dann nicht anerkannt, wenn die Anerkennung des Urteils zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere den Grundrechten unvereinbar ist. Entsprechende Vorbehaltsklauseln enthalten auch ausländische Regelungen (so z.B. Art. 64 lit. g ital. IPRG). Auch hier geht es nicht nur um materiellrechtliche Abweichungen. Grobe Verfahrensmängel können ebenfalls einen ordre public-Verstoß begründen. Der ordre public setzt hier ebenfalls eine Beziehung zum Inland, vermittelt insbesondere durch die Staatsangehörigkeit oder den gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten voraus. Folge des ordre public-Verstoßes ist die Nichtanerkennung der ausländischen Entscheidung.

5. Verzicht auf den ordre public

Einige neuere europäische Verordnungen folgen allein dem Anerkennungsprinzip. Keine ordre public-Klausel enthalten daher die Verordnungen über den europäischen Vollstreckungstitel von 2004 sowie über das europäische Mahnverfahren von 2006. Hier ist mit dem ausdrücklich angeordneten Wegfall des Exequaturerfordernisses die Überprüfung der ausländischen Entscheidung eingeschränkt worden, es ist eine Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen erfolgt. Eine ordre public-Kontrolle ist daher nicht mehr vorgesehen; dem Schuldner stehen lediglich Rechtsbehelfe im Rahmen der Zwangsvollstreckung zur Verfügung. Eine Abschaffung des Exequaturverfahrens kennt auch die Unterhaltsverordnung für Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, der durch das Haager Protokoll von 2007 gebunden ist (Art. 17(1) VO 4/‌2009).

Im Übrigen wird eine Abschaffung des ordre public im europäischen Kontext kontrovers diskutiert. Teilweise wird vor einem zu weit gehenden „Systemwechsel“ gewarnt und die Schranke des ordre public für unabdingbar gehalten. Die Argumentation der EG-Kommission stützt sich vor allem auf das gegenseitige Vertrauen innerhalb des europäischen Justizraums. Eine vermittelnde Ansicht hält den Verzicht vor allem dort für möglich, wo einheitliche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren ausreichende verfahrensrechtliche Garantien bieten, insbesondere den Beklagtenschutz absichern. Es versteht sich von selbst, dass das Vertrauen in die ordnungsgemäße Rechtspflege in den Mitgliedstaaten vor allem dort eine tragfähige Basis bildet, wo zusätzliche Verfahrensgarantien (insb. Benachrichtigung des Beklagten, Mitwirkung am Verfahren, Berichtigung von Entscheidungen) geschaffen worden sind.

Literatur

Franz Kahn, Die Lehre vom ordre public, Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 39 (1898) 1 ff. = Abhandlungen zum internationalen Privatrecht, 1928, 194 ff.; Paul Lagarde, Public Policy, in: IECL III, Kap. 11, 1994; Jürgen Basedow, Die Verselbständigung des europäischen ordre public, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 291 ff.; Dieter Martiny, Die Zukunft des europäischen ordre public im Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 523 ff.; Ansgar Staudinger, Der ordre public-Einwand im Europäischen Zivilverfahrensrecht, The European Legal Forum 2004, 273 ff.; Philia Georganti, Die Zukunft des ordre public-Vorbehalts im europäischen Zivilprozessrecht, 2006; Ioanna Thoma, Die Europäisierung und die Vergemeinschaftung des nationalen ordre public, 2007; Gerte Reichelt, Zur Kodifikation des Europäischen Kollisionsrechts – am Beispiel des ordre public, in: eadem (Hg.), Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 2007, 5 ff.; Th. M. de Boer, Unwelcome foreign law: Public policy and other means to protect the fundamental values and public interests of the European Community, in: Alberto Malatesta, Stefania Bariatti, Fausto Pocar (Hg.), The external dimension of EC Private International Law in family and succession matters, 2008, 295 ff.; Teun H.D. Struycken, L’ordre public de la Communauté européenne, in: Liber amicorum Hélène Gaudemet-Tallon, 2008, 617 ff.; Bartosz Sujecki, Die Möglichkeiten und Grenzen der Abschaffung des ordre public-Vorbehalts im Europäischen Zivilprozessrecht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008) 458 ff.