Kartellverbot und Freistellung und Kartellverfahrensrecht: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Reinhard Ellger]]''
von ''[[Friedrich Wenzel Bulst]]''
== 1. Gegenstand und Zweck ==
Das in Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV niedergelegte europäische Kartellrecht dient dem Schutz des [[Wettbewerb im Binnenmarkt|Wettbewerbs auf dem gemeinsamen Markt]] ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]). Es wird öffentlichrechtlich durch die [[Europäische Kommission]] durchgesetzt (zur zivil- und strafrechtlichen Durchsetzung [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]; [[Kartellrecht, private Durchsetzung]]). Um die Wirksamkeit der Kartellrechtsdurchsetzung zu verbessern, sind die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV seit Inkrafttreten der VO 1/‌2003 auch durch die Wettbewerbsbehörden aller Mitgliedstaaten anzuwenden. Zuvor waren dazu nur etwa die Hälfte der nationalen Kartellbehörden befugt. Bei Verstößen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, wenden nunmehr nicht nur die Kommission, sondern gemäß Art. 3(1) VO 1/‌ 2003 auch alle nationalen Behörden die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV (ggf. neben nationalem Kartellrecht) an. Die VO 1/‌2003 ist das Herzstück des sogenannten Modernisierungspaketes von 2004, durch das insbesondere die vorherige Verfahrens-VO 17/‌62 aufgehoben wurde ([[Kartellverbot und Freistellung]]).


Die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags dienen dazu, ein System zu errichten, „das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“ (Art. 3(1)(g) EG). Einen wichtigen Bestandteil dieses Systems bildet das in Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV enthaltene Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen zwischen Unternehmen, von Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und von abgestimmten Verhaltensweisen, soweit diese geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (kurz: Kartellverbot).  
Innerhalb der Kommission ist die Generaldirektion Wettbewerb mit der Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV betraut. Das durch die Kommission anzuwendende Verfahrensrecht ergibt sich seit 2004 vor allem aus der VO 1/‌2003 und der VO 773/‌2004 sowie einigen Mitteilungen und Bekanntmachungen. Diese Instrumente sollen für die wirksame Durchsetzung des Gemeinschaftskartellrechts sorgen und die Achtung der grundlegenden Verteidigungsrechte gewährleisten.


Art. 81 EG/‌101 AEUV ist dreigliedrig aufgebaut: der erste Absatz der Vorschrift enthält ein umfassendes und durch Regelbeispiele erläutertes Verbot wettbewerbsbeschränkender Absprachen zwischen Unternehmen. Der zweite Absatz zieht aus dem Verbot die zivilrechtliche Konsequenz: er erklärt Verträge, die unter das Verbot fallen, für nichtig. Der dritte Absatz enthält die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise wettbewerbsbeschränkende Absprachen vom Verbot des Abs. 1 freigestellt sind.
Die nationalen Wettbewerbsbehörden wenden bei der Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV und des nationalen Kartellrechts nationales Verfahrensrecht an, das im Falle der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV durch die VO 1/‌ 2003 und die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden ergänzt wird.


== 1. Sinn und Zweck des Kartellverbots ==
== 2. Kartellverfahren nach Gemeinschaftsrecht ==
Der [[Wettbewerb im Binnenmarkt]] ist ein zentrales Element der [[Europäische Wirtschaftsverfassung|europäischen Wirtschaftsverfassung]]. Er entsteht in der Regel dadurch, dass die Marktteilnehmer, vor allem die Unternehmen, aber auch die Verbraucher von ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit Gebrauch machen, die ihnen durch die [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] des EG- bzw. AEUVes eröffnet wird. Die Funktionen des Wettbewerbs (Steigerung der Effizienz, Konsumentensouveränität, Anpassungsflexibilität, Verteilung des Markteinkommens) können jedoch nur realisiert werden, wenn die am Markt tätigen Unternehmen sich gegenüber ihren Konkurrenten, Lieferanten und Kunden selbständig verhalten. Gebrauchen die Unternehmen die ihnen eingeräumte Privatautonomie dazu, sich ihrer Handlungsfreiheit im Wettbewerb zu begeben, indem sie z.B. im Zusammenwirken mit ihren Konkurrenten festlegen, zu welchen Mindestpreisen sie ihre Produkte an Kunden veräußern, so wird der Wettbewerb seiner Wirksamkeit beraubt. Der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] hat die Bedeutung dieses sog. „Selbständigkeitspostulats“ für das Funktionieren des Wettbewerbs mehrfach hervorgehoben, indem er feststellte, dass „jeder Unternehmer selbst bestimmt, welche Politik er auf dem gemeinsamen Markt zu betreiben gedenkt, eingeschlossen der Wahl der Personen, denen er Angebote unterbreitet und verkauft“. Zwar dürften sich die Unternehmen dem Verhalten der Konkurrenten „mit wachem Sinn“ anpassen. Das Selbständigkeitspostulat stehe jedoch „streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die bezweckt oder bewirkt, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potentiellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Marktverhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht“ (EuGH verb. Rs. 40–48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/‌73 – ''Suiker Unie'', Slg. 1975, 1663, Rn. 173 f.).
=== a) Das Kommissionsverfahren im Überblick ===
Das Kartellverfahrensrecht enthält die bei der Sachverhaltsermittlung und dem Erlass von Entscheidungen zu beachtenden Vorschriften. Die der Kommission zur Verfügung stehenden Entscheidungsarten und Sanktionen umfassen die Feststellung einer Zuwiderhandlung, die Aufgabe von Abhilfemaßnahmen, den Erlass einstweiliger Maßnahmen, die Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen, die Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern (zu all diesen Entscheidungsarten und Sanktionen [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]) und die Feststellung der Nichtanwendbarkeit der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV (vgl. Art. 7–10, 23, 24 VO 1/‌2003). Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art. 81(1), 82 EG/‌101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art. 2 VO 1/‌2003 die Kommission (oder die nationale Behörde). Für die Voraussetzungen des Art. 81(3) EG/‌101(3) AEUV ist das Unternehmen beweisbelastet, das sich darauf beruft. Zu neuartigen Fragen kann die Kommission Unternehmen in Einzelfällen informell beraten.  


Das Kartellverbot dient damit dem Zweck, die Unternehmen daran zu hindern, sich durch den (Fehl‑)Gebrauch ihrer Privatautonomie ihrer Handlungsfreiheit (= Selbständigkeit) in Bezug auf ihre wettbewerblichen Handlungsmöglichkeiten (Parameter) wie z.B. Preise, Konditionen, Kundendienst, Auswahl der Kunden, Werbung etc. zu berauben und dadurch den Wettbewerb zu beseitigen oder einzuschränken.
Die Kommission kann ''ex officio'' oder auf eine Beschwerde hin Ermittlungen aufnehmen. Was Kartelle angeht, werden die meisten Untersuchungen durch Kronzeugenanträge (vgl. unten) ausgelöst. Die Kommission kann bereits vor Verfahrenseinleitung von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch machen. Leitet sie ein Verfahren zum Erlass einer der vorgenannten Entscheidungen ein, so entfällt gemäß Art. 11(6) VO 1/‌2003 die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden.  


== 2. Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und abgestimmter Verhaltensweisen  ==
''Beschwerden'': Natürliche und juristische Personen, die ein berechtigtes Interesse darlegen, können Beschwerden einreichen. Die Kommission muss ihr Vorbringen sorgfältig prüfen. Ihr steht jedoch ein Aufgreifermessen zu und Beschwerden können nicht nur wegen Unbegründetheit, sondern auch mangels Gemeinschaftsinteresses abgewiesen werden. Beschwerdeführer haben im Verfahren Anhörungs- und Akteneinsichtsrechte.  
Zur Durchsetzung des „Selbständigkeitspostulats“ sieht Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV ein weitreichendes und umfassendes Verbot wettbewerbsbeschränkender Abreden vor. Die sachliche Reichweite dieses Verbots beschränkt sich nicht auf wettbewerbswidrige Abreden von Unternehmen, die auf der gleichen Produktions- oder Distributionsstufe stehen und die daher Konkurrenten sind (horizontale Wettbewerbsbeschränkungen; dies sind die Kartelle im eigentlichen Sinn), sondern erfasst auch Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die auf verschiedenen Wirtschaftsstufen tätig sind und daher nicht im Wettbewerb zueinander stehen (vertikale Wettbewerbsbeschränkungen).  


=== a) Unternehmen ===
''Ermittlungsbefugnisse'':'' ''Die Ermittlungsbefugnisse nach Art. 17–22 VO 1/‌2003 sind Anwendungsfälle der Auskunfts- und Nachprüfungsrechte der Kommission nach Art. 284 EG/‌337 AEUV und dienen der Aufklärung des Sachverhalts und der Gewinnung von Beweismitteln.  
Das Verbot des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV richtet sich an Unternehmen. Nach dem funktionalen Unternehmensbegriff sind damit alle wirtschaftlich handelnden Einheiten, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung erfasst. Durch den funktionalen Unternehmensbegriff werden einerseits der hoheitlich handelnde Staat und andererseits der private Verbraucher als Adressaten des Kartellverbots aus dem Anwendungsbereich des Kartellverbots ausgesondert ([[Wettbewerbsregeln, Anwendbarkeit]]). Die Vorschrift richtet sich nach ihrem Sinn und Zweck dagegen, dass Unternehmen ihr Marktverhalten untereinander abstimmen und dadurch den Wettbewerb behindern.  


=== b) Mittel der Wettbewerbsbeschränkung ===
''Auskunftsverlangen'': Die Kommission kann gemäß Art. 18 VO 1/‌2003 einfache sowie durch Entscheidung angeordnete Auskunftsverlangen an Unternehmen richten, mit Fragen z.B. zu Marktanteilen, Wettbewerberkontakten, Preisentwicklungen und Vertriebspraktiken. Schuldhaft unrichtige Antworten können mit einem Bußgeld bis zu einem Höchstbetrag von 1 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Unternehmensgesamtumsatzes geahndet werden (Art. 23 VO 1/‌2003). Im Falle eines Auskunftsersuchens durch Entscheidung kann bei Nichtbeantwortung ein Zwangsgeld nach Art. 24 VO 1/‌2003 verhängt werden ([[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]).  
Als Instrumente solcher Abstimmung nennt Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen sowie abgestimmte Verhaltensweisen, wobei letztere sowohl von Unternehmen wie auch von Unternehmensvereinigungen praktiziert werden können. Der Begriff der „Vereinbarung“ lehnt sich zwar an das überkommene Konzept des Vertrages an. Bereits die Formulierung „alle Vereinbarungen“ deutet jedoch an, dass die Väter des Vertrages eine weite Auslegung des Begriffs beabsichtigt haben. Die Auslegung des Begriffs der Vereinbarung durch die Gemeinschaftsgerichte geht denn auch wesentlich über das Verständnis der Vereinbarung als Vertrag hinaus. Der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] versteht unter Vereinbarung jede Willensübereinstimmung zwischen Unternehmen, durch die diese ihren Willen ausdrücken, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten (EuGH Rs. C-49/‌92 P – ''Anic Partezipazioni'', Slg. 1999, I-4125, Rn. 130), wobei es gleichgültig ist, ob diese Willensübereinstimmung schriftlich niedergelegt oder rein mündlich erklärt wird oder ob sie ausdrücklich oder konkludent abgeschlossen wird. Ebenso wenig verlangt eine Vereinbarung nach Art. 81(1)/‌101(1) AEUV, dass die beteiligten Unternehmen ihrer Vereinbarung einen Rechtsbindungswillen beilegen. Erfasst werden auch sog. ''Gentlemen´s Agreements'', die von vornherein durch die beteiligten Unternehmen rechtlich unverbindlich abgeschlossen werden, die Parteien aber einer gewissen wirtschaftlichen oder moralischen Verpflichtung unterwerfen. Im Schrifttum ist die Frage des Rechtsbindungswillens als Bestandteil des Vereinbarungsbegriffs umstritten; wichtig für den Anwendungsbereich des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV ist dies nicht, da Willensübereinstimmungen ohne Rechtsbindungswillen als abgestimmte Verhaltensweisen erfasst werden. Unter den Begriff der Vereinbarung i.S.v. Art. 81(1) EG/‌ 101(1) AEUV fallen auch wettbewerbsbeschränkende Absprachen, die im Rahmen von Austauschverträgen, bei denen die Parteien keine gemeinsame Zwecksetzung verfolgen, getroffen werden. Das EuG lässt für die Annahme einer Vereinbarung genügen, dass die Parteien eine Verständigung über ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten gefunden haben (siehe z.B. EuG Rs. T-317/‌94 – ''Weig'', Slg. 1998, II-1241, Rn.134; EuG Rs. T334/‌94 – ''Sarrio'', Slg. 1998, II-1439, Rn. 118; EuG verb. Rs. T-25/‌95 u.a. – ''SA Cimenteries'' ''CBR'', Slg. 2000, II-491, Rn. 1353 u. 1389).  


Der Begriff der abgestimmten Verhaltensweise hat im Rahmen des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV die Funktion eines Auffangtatbestands, der Fälle der Verhaltenskoordination von Unternehmen erfassen soll, die nicht als Vereinbarung qualifiziert werden können oder in denen eine Vereinbarung nicht nachweisbar ist. Unter einer abgestimmten Verhaltensweise ist eine Verhaltenskoordination von Unternehmen in Bezug auf ihr Marktverhalten zu verstehen, die noch nicht die Merkmale einer Vereinbarung – also eine auf ausdrücklicher oder konkludenter Erklärung beruhende, als rechtlich oder moralisch-faktisch verbindlich vorgestellte Willensübereinkunft – erfüllt, sondern durch die die beteiligten Unternehmen die praktische Zusammenarbeit ohne jede rechtliche oder sonstige Verbindlichkeit an die Stelle des für sie mit Risiken und Ungewissheiten verbundenen Wettbewerbs treten lassen (EuGH Rs. 49/‌69 – ''ICI'', Slg. 1972, 619, Rn. 64 ff.). Bei den abgestimmten Verhaltensweisen handelt es sich um einen zweistufigen Tatbestand, der zum einen die Verhaltenskoordination sowie ein ihr entsprechendes tatsächliches Verhalten der an ihr beteiligten Unternehmen und schließlich eine ursächliche Beziehung zwischen diesen beiden Elementen erfordert. In der Praxis von [[Europäische Kommission|Europäischer Kommission]] und Gemeinschaftsgerichten bilden Marktinformationssysteme, durch die die an ihnen beteiligten Unternehmen die Ungewissheit über die Reaktion ihrer Konkurrenten auf das eigene Verhalten am Markt so verringern können, dass der Wettbewerb in erheblicher Weise eingeschränkt wird (Beispiel: EuGH Rs. C-7/‌95 P – ''John Deere'', Slg. 1998, I-3111, Rn. 88 ff.), die wichtigsten Beispielsfälle abgestimmter Verhaltensweisen. Abgestimmte Verhaltensweisen widersprechen ebenso wie Vereinbarungen zwischen Unternehmen und Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen dem bereits eingangs erwähnten Selbständigkeitsprinzip (EuGH Rs. C-7/‌95 P – ''John Deere'', Slg. 1998, I-3111, Rn. 87). Von der abgestimmten Verhaltensweise ist das sog. autonome Parallelverhalten von Unternehmen abzugrenzen, welches nicht unter das Verbot des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV fällt. Das Selbständigkeitspostulat hindert die Untenehmen nicht, sich dem Marktverhalten von Konkurrenten „mit wachem Sinn“ anzupassen, soweit diese Anpassung nicht auf einer Willensübereinstimmung und Fühlungnahme zwischen den Unternehmen beruht. Die Abgrenzung zwischen abgestimmter Verhaltensweise und autonomem Parallelverhalten ist in der Praxis, vor allem auf oligopolistischen Märkten, mitunter schwierig.
''Nachprüfungen (Durchsuchungen)'': Unter den in Art. 20 VO 1/‌2003 niedergelegten Voraussetzungen kann die Kommission die Räumlichkeiten von Unternehmen durchsuchen, Kopien relevanter Unterlagen anfertigen, während der Durchsuchung Siegel anbringen und Tatsachenerläuterungen verlangen und protokollieren. Die Kommissionsbeamten werden durch Vertreter der nationalen Wettbewerbsbehörde unterstützt. Widerstand dürfen nur nationale Beamte brechen. Wenn dafür nach nationalem Recht eine richterliche Genehmigung erforderlich ist, kann diese bereits vorsorglich durch die nationale Behörde beantragt werden. Dem nationalen Gericht kommt dabei nach Art. 20(8) VO 1/‌2003 ein im Wesentlichen auf Willkürfreiheit und [[Verhältnismäßigkeit]] beschränkter Prüfungsumfang zu. Behinderungen durch das Unternehmen können ein Bußgeld nach Art. 23 VO 1/‌2003 nach sich ziehen (vgl. die Buße von EUR 38 Mio. im Fall ''E.ON'' – ''Siegelbruch'', Entscheidung vom 30.1.2008, COMP/‌B-1/‌39.326).


Der Wettbewerb kann nicht nur durch Vereinbarungen und abgestimmtes Verhalten unmittelbar zwischen den beteiligten Unternehmen beschränkt werden; solche Wirkungen können Unternehmen auch durch die gleichfalls verbotenen Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen erzielen, in denen sie zusammengeschlossen sind, um ihre gemeinsamen Interessen in der Öffentlichkeit zu vertreten.  
Nur auf der Grundlage einer Entscheidung und nach vorheriger Genehmigung durch ein nationales Gericht können unter den strengeren Voraussetzungen des Art. 21 VO 1/‌2003 auch andere als Unternehmensräumlichkeiten durchsucht werden.  


=== c) Das Konzept der Wettbewerbsbeschränkung ===
Gemäß Art. 22 VO 1/‌2003 kann die Kommission auch nationale Behörden ersuchen, für sie Ermittlungen vorzunehmen. Anders als bei der Unterstützung einer Durchsuchung der Kommission üben die nationalen Bediensteten in einem solchen Fall die ihnen nach innerstaatlichem Recht gewährten Befugnisse aus. Entsprechende Ermittlungshilfe können auch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten untereinander beantragen.
Die in Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV genannten Vereinbarungen, abgestimmten Verhaltenweisen und Beschlüsse sind nur verboten, wenn sie „eine Verhinderung, Einschränkung und Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken“. Dabei stellt die „Verhinderung“ lediglich eine besonders weitgehende Einschränkung des Wettbewerbs dar. Die Tatbestandsmerkmale der Verhinderung und der Einschränkung werden daher im Begriff der Wettbewerbsbeschränkung zusammengefasst. Eine gewisse eigenständige Bedeutung kommt dem Element der Wettbewerbsverfälschung zu; darunter fallen Maßnahmen von Unternehmen, die zu einer künstlichen Veränderung der Wettbewerbsbedingungen auf dem Binnenmarkt führen und die daher mit dem Ziel eines Systems unverfälschten Wettbewerbs unvereinbar sind, wie z.B. die Errichtung eines Fonds durch Unternehmen zur Zahlung von Ausfuhrbeihilfen.


Das Konzept der Wettbewerbsbeschränkung stellt das zentrale Tatbestandsmerkmal des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV dar. Es erfasst nach der Rechtsprechung des EuGH Handlungsbeschränkungen der an einer Vereinbarung beteiligten Unternehmen in ihrem Marktverhalten, indem sie die ihnen eingeräumte Privatautonomie dazu gebrauchen, sich der ihnen im Wettbewerb offenstehenden Optionen zu selbständigem Verhalten in Bezug auf Wettbewerbsparameter wie Preise, Konditionen, Rabatte, Kundendienst, Werbung etc. zu begeben. Die Kommission stellt in jüngerer Zeit für bestimmte Fallgruppen (bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen) auch auf die Einschränkung von Wahl- und Handlungsmöglichkeiten anderer Marktakteure, insbesondere der Verbraucher ab. Schutzwürdig ist der Wettbewerb in all seinen Erscheinungsformen, die sowohl den aktuellen wie den potentiellen Wettbewerb umfassen. Geschützt ist der lautere Wettbewerb. Art. 81 EG/‌101 AEUV unterscheidet auch nicht zwischen horizontalen Wettbewerbsbeschränkungen (Abreden zwischen Wettbewerbern) und vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen (Vereinbarungen zwischen Unternehmen auf unterschiedlichen Wirtschaftsstufen). Der Tatbestand des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV differenziert zwischen Vereinbarungen und sonstigen Maßnahmen, die eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken und solchen Vereinbarungen und sonstigen Maßnahmen, die eine Wettbewerbsbeschränkung bewirken. Eine Vereinbarung bezweckt eine Wettbewerbsbeschränkung, wenn sie nach ihrem Inhalt und den sonstigen tatsächlichen Begleitumständen objektiv geeignet ist, den Wettbewerb zu beeinträchtigen. Auf die subjektiven Motive der Vertragsparteien kommt es nicht an. Kann einer Vereinbarung ein wettbewerbsbeschränkender Zweck zugeordnet werden, ist die Untersuchung ihrer tatsächlichen Auswirkungen auf die Marktverhältnisse entbehrlich (EuGH verb. Rs. 56/‌64 und 58/‌64 – ''Consten und Grundig'', Slg. 1966, 322, 390). Weist eine Maßnahme hingegen keinen wettbewerbsbeschränkenden Zweck auf, so ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu untersuchen, ob die Maßnahme eine Wettbewerbsbeschränkung bewirkt. Dies ist durch einen Vergleich der tatsächlichen Marktverhältnisse, wie sie sich mit der Vereinbarung darstellen, mit den hypothetischen Verhältnissen, wie sie sich ohne Vereinbarung ergeben hätten zu ermitteln (EuGH Rs. 56/‌65 – ''Société technique minière'', Slg. 1966, 282, 303)''.''
''Befugnis zur Befragung'': Gemäß Art. 19 VO 1/‌ 2003 darf die Kommission natürliche und juristische Personen zum Gegenstand einer Untersuchung befragen, sofern diese der Befragung zustimmen.


Das Verbot des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV soll nur solche Wettbewerbsbeschränkungen erfassen, die sich spürbar auf den gemeinsamen Markt auswirken. Die Kommission hat daher bereits seit langem unter Billigung des EuGH (siehe etwa EuGH Rs. 56/‌65 – ''Société technique minière'', Slg. 1966, 282, 303f; EuGH Rs. 5/‌69 – ''Völk/‌ Verwaecke'', Slg. 1969, 295, Rn. 7; EuGH Rs. C-306/‌96 – ''Javico/‌Yves Saint Laurent'', Slg. 1998, I-1983, Rn. 20) das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Spürbarkeit entwickelt, um wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, die sich nur geringfügig und wenig fühlbar auf dem gemeinsamen Markt auswirken, aus dem Anwendungsbereich von Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV auszusondern. Fehlt es an der Spürbarkeit, verstößt eine Vereinbarung trotz ihres wettbewerbsbeschränkenden Inhalts nicht gegen das Verbot des Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV. Nach der ''de-minimis''-Bekanntmachung der Kommission (ABl. 2001 C 368/‌13) schränkt eine horizontale Vereinbarung den Wettbewerb dann nicht spürbar ein, wenn sie zwischen Unternehmen abgeschlossen ist, die zusammen nicht mehr als 10 % Marktanteil aufweisen. Bei vertikalen Beschränkungen ist die Schwelle der Spürbarkeit nicht überschritten, wenn keines der beteiligten Unternehmen einen Anteil von mehr als 15 % an den relevanten Märkten hat. Das Spürbarkeitskriterium gilt jedoch nicht für bestimmte, in der ''de-minimis''-Bekanntmachung genannte Kernbeschränkungen, die bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen darstellen. Sie führen unabhängig von ihrer Spürbarkeit zu einem Verstoß gegen Art. 81(1) EG/‌101(1) AEUV und sind daher verboten.
''Sektoruntersuchungen'': Die Kommission kann gemäß Art. 17 VO 1/‌2003 ganze Wirtschaftssektoren auf Wettbewerbsbeschränkungen untersuchen und sich zu diesem Zweck der dargestellten Ermittlungsbefugnisse bedienen, mit Ausnahme der Durchsuchung von Privaträumen. Die Ergebnisse werden in einem Bericht veröffentlicht. Sektoruntersuchungen wurden etwa in den Bereichen Energie, Finanzdienstleistungen und Pharmazeutika durchgeführt und ziehen in der Praxis häufig die Einleitung von Verfahren nach sich.


Schließlich setzt die Anwendbarkeit des Kartellverbots voraus, dass die wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel, [[Wettbewerbsregeln, Anwendbarkeit]]).
''Vergleichsverfahren in Kartellfällen'': Um Kartellfälle effizienter bearbeiten zu können, hat die Kommission 2008 durch eine Verordnung und eine Mitteilung ein Vergleichsverfahren eingeführt. Hiernach können die Parteien nach Einsichtnahme in die Kommissionsakte Vergleichsausführungen einreichen und die Beschwerdepunkte anerkennen. Diese Ausführungen werden dann in die Mitteilung der Beschwerdepunkte übernommen, die dadurch deutlich kürzer ausfallen dürfte als in einem Verfahren ohne vorherige Zusammenarbeit. Im Gegenzug kann die Kommission die zu verhängende Geldbuße um 10 % reduzieren. Das Recht, die Kommissionsentscheidung vor dem EuG anzufechten (s.u.), bleibt unberührt.


Art. 81(1) Hs. 2 EG/‌101(1) Hs. 2 AEUV nennt zur Konkretisierung des Verbotstatbestands im Hs. 1 der Vorschrift eine Reihe von Regelbeispielen, wie z.B. die Festsetzung der An- oder Verkaufspreise.  
''Kronzeugenregelung'':'' ''Um geheime Kartelle ([[Kartellverbot und Freistellung]]) effektiver aufdecken zu können, hat die Kommission durch eine Mitteilung eine Kronzeugenregelung eingeführt (zuerst 1996, überarbeitet 2002 und 2006 <nowiki>[Abl. 2006 C 298/‌17]), die Kartellbeteiligte dazu veranlassen soll, das Kartell der Kommission offenzulegen, die Zuwiderhandlung einzustellen und an der Kommissionsuntersuchung aktiv mitzuwirken. Dem Unternehmen, das als erstes Angaben macht, die es der Kommission ermöglichen, gezielte Nachprüfungen durchzuführen oder eine Zuwiderhandlung festzustellen, wird die Geldbuße erlassen, sofern die Kommission die notwendigen Nachweise ohne seine Angaben nicht hätte führen können und das Unternehmen weiteren Voraussetzungen genügt. Insbesondere muss es während der gesamten Untersuchung mit der Kommission zusammenarbeiten und darf kein anderes Unternehmen zur Beteiligung an dem Kartell gezwungen haben. Einem Unternehmen, das sich zwar nicht als erstes als Kronzeuge zur Verfügung stellt, der Kommission aber dennoch Beweismittel mit einem erheblichen Mehrwert vorlegt, wird eine Bußgeldermäßigung von bis zu 50&nbsp;% gewährt, je nachdem wieviele Kronzeugen sich schon vor ihm gemeldet haben. Zur Feststellung der Reihenfolge ist ein Markersystem vorgesehen.</nowiki>


== 3. Freistellung vom Kartellverbot  ==
''Rechtsschutz'': Entscheidungen der Kommission können vor dem [[Europäisches Gericht erster Instanz|EuG]] ([[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]) angefochten werden.
Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV sieht unter den in der Vorschrift genannten vier Voraussetzungen vor, dass eine Vereinbarung, die wegen Verstoßes gegen Art.&nbsp;81(1) EG/‌101(1) AEUV verboten ist, von diesem Verbot freigestellt ist. Der Freistellung vom Kartellverbot liegt die Annahme zugrunde, dass Kooperationen zwischen selbständigen Unternehmen, die wettbewerbsbeschränkende Wirkungen aufweisen, dessen ungeachtet zu gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsgewinnen führen können, die die Nachteile der Wettbewerbsbeschränkungen aufwiegen. Die Rechtswirkung der Freistellung führt dazu, dass nach Art.&nbsp;81(1) EG/‌101(1) AEUV verbotene Vereinbarungen legal praktiziert werden dürfen, wenn sie die in Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV genannten Voraussetzungen erfüllen. Die vier Voraussetzungen dieser Vorschrift müssen kumulativ erfüllt sein, um eine Freistellung herbeizuführen.


=== a) Voraussetzungen der Freistellung ===
=== b) Verfahrensgarantien ===
Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV verlangt, dass die Vereinbarung a)&nbsp;zur Verbesserung der Warenerzeugung oder &#8209;verteilung oder zum technischen oder wirtschaftlichen Fortschritt beiträgt, b)&nbsp;die Verbraucher am entstehenden Gewinn angemessen beteiligt werden, c)&nbsp;sich die beteiligten Unternehmen keine Beschränkungen auferlegen, die zur Erreichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind und d)&nbsp;schließlich den Unternehmen nicht die Möglichkeit eröffnet wird, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschließen. Mit dem Tatbestandsmerkmal der Verbesserung der Warenerzeugung und &#8209;verteilung werden quantitative (Kosteneinsparungen, z.B. durch Größenvorteile in der Produktion oder Distribution) oder qualitative (Entwicklung und Vermarktung eines verbesserten oder neuen Produkts, Anwendung neuer Verfahren etc.) Effizienzverbesserungen erfasst, die durch die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung herbeigeführt werden sollen. Die Effizienzsteigerungen müssen hinreichend substantiiert werden; zwischen ihnen und der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung muss Kausalität bestehen. Nach gefestigter Rspr. des EuGH und Verwaltungspraxis der Kommission können dabei nur objektive Vorteile berücksichtigt werden. Eine „Verbesserung“ i.S.v. Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV liegt vor, wenn die zu erwartenden Vorteile aus der Vereinbarung die durch die Wettbewerbsbebschränkung verursachten Nachteile aufwiegen. Die angemessene Verbraucherbeteiligung setzt voraus, dass den Verbrauchern von den durch die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung erwirtschafteten Effizienzgewinnen zumindest soviel, z.B. in Form von Preissenkungen oder Leistungsverbesserungen, zufließt, dass die ihnen durch die Wettbewerbsbeschränkung zugefügten Nachteile ausgeglichen werden. Eine angemessene Verbraucherbeteiligung ist am ehesten in Märkten zu erwarten, auf denen ein hinreichend starker Wettbewerb die Unternehmen zur Weitergabe von Kosteneinsparungen und sonstigen Vorteilen zwingt. Das Erfordernis der Unerlässlichkeit knüpft die Freistellung vom Kartellverbot an die strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: die Wettbewerbsbeschränkungen, die die Parteien sich durch ihre Vereinbarung auferlegen, dürfen nicht weiter gehen als für die Erreichung der positiven Ziele der Kooperation unbedingt erforderlich. Für die Prüfung des letzten Freistellungskriteriums, nämlich, dass der Wettbewerb auf dem relevanten Markt durch die Vereinbarung nicht ausgeschlossen werden darf, kommt es vor allem – aber nicht allein – auf den aggregierten Marktanteil an, den die an der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung beteiligten Unternehmen haben. Je höher dieser ist, desto höher ist die Gefahr einzuschätzen, dass die Unternehmen den Wettbewerb auf dem relevanten Markt ausschließen können. Neben den Marktanteilen sind aber auch alle sonstigen wirtschaftlichen Umstände zu berücksichtigen, die den Wettbewerb auf dem relevanten Markt beeinflussen. Dazu gehören etwa der trotz der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung verbleibende aktuelle wie auch der potentielle Wettbewerb.
Die Wahl der Ermittlungshandlungen liegt grundsätzlich im Ermessen der Kommission, die die [[Verhältnismäßigkeit]] wahren muss. Ein Stufenverhältnis zwischen den verschiedenen Befugnissen gibt es nicht. Durch die Kommission zu achtende Verfahrensgarantien ergeben sich unstreitig aus den [[Allgemeine Rechtsgrundsätze|allgemeinen Rechtsgrundsätzen]] (s.u.). Kontrovers diskutiert wird, ob sich darüberhinaus unmittelbar auch aus der EMRK Verfahrensgarantien ergeben.  


=== b) Freistellung einzelner Vereinbarungen – Art. 81(3) EG/‌101(3) AEUV als Legalausnahme ===
Art.&nbsp;6 EMRK ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]) enthält eine Reihe von Verfahrensrechten des Angeklagten. In Anfechtungsverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten ([[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]) und in der Literatur wird häufig die Anwendbarkeit des Art.&nbsp;6 EMRK auf das gemeinschaftsrechliche Wettbewerbsverfahren postuliert. Da die EG nicht Vertragspartei der EMRK ist (vgl. aber Art.&nbsp;6(2) AEUV und 14.&nbsp;Zusatzprotokoll zur EMRK), gilt die EMRK nicht unmittelbar für die Gemeinschaft. Die Grundrechte gehören jedoch zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der EuGH, der deren Wahrung zu sichern hat, hebt in ständiger Rechtsprechung die besondere Bedeutung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle für die Gewinnung dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze hervor und folgert, „dass in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind“ (EuGH Rs.&nbsp;C-260/‌89 – ''ERT'', Slg. 1991, I-2925, Rn.&nbsp;41). Die Gemeinschaftsgerichte weisen in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass diese besondere Bedeutung der EMRK durch Art.&nbsp;6(2) EU (1992) sowie den fünften Erwägungsgrund, Art.&nbsp;52(3) und Art.&nbsp;53 der GRCh bestätigt bzw. bekräftigt wurde (zu Verbindlichkeit und Tragweite der Charta [[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]). Die Verpflichtung der Union aus Art.&nbsp;6(2) EU (1992), die Grundrechte, wie sie durch die EMRK gewährleistet sind, zu achten, verlangt nach der Rechtsprechung jedoch keine unmittelbare Geltung der EMRK. Vielmehr wird nach Auffassung der Gemeinschaftsgerichte auf der Grundlage der allgemeinen Rechtsgrundsätze in Wettbewerbssachen ein Schutz gewährt, der dem durch Art.&nbsp;6 EMRK gleichwertig ist. Der Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|EGMR]] sei bei der Auslegung von Grundrechten aber Rechnung zu tragen (zum Ganzen EuGH verb. Rs.&nbsp;C-238/‌99 P – ''PVC (LVM)'', Slg. 2002, I-8375, Rn.&nbsp;274&nbsp;ff.; EuG Rs.&nbsp;T-112/‌98 – ''Mannesmann'', Slg. 2001, II-729, Rn.&nbsp;59; EuG verb. Rs.&nbsp;T-236/‌01 – ''Tokai'', Slg. 2004, II-1181, Rn. 403&nbsp;ff.). In der Literatur und in Anfechtungsklagen wird bisweilen argumentiert, dass der [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|EGMR]] in seiner Rechtsprechung zu Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung von Bußgeldern führen können, weitere Verteidungsrechte gewährt als die Gemeinschaftsgerichte in Wettbewerbssachen.
Seit dem Inkrafttreten der VO&nbsp;1/‌2003 am 1.5.2004 handelt es sich bei der Freistellungsvorschrift des Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV um eine Legalausnahme vom Kartellverbot. Demzufolge ist eine gegen Art.&nbsp;81(1) EG/‌101(1) AEUV verstoßende Vereinbarung ''ex lege'' und ohne kartellbehördliche Entscheidung vom Kartellverbot freigestellt und kann legal praktiziert werden, wenn sie die Voraussetzungen des Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV erfüllt. Im vor dem 1.5.2004 herrschenden Rechtszustand war zwar das Verbot des Art.&nbsp;81(1) EG/‌101(1) AEUV unmittelbar anwendbar (z.B. durch die Kartellbehörden und die Gerichte der Mitgliedstaaten), nicht aber die Freistellungsvorschrift Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV. Eine Freistellung konnte damals nur durch die Kommission erklärt werden (sog. Freistellungsmonopol der Kommmission, Art.&nbsp;9(1) VO&nbsp;17/‌62); die Vorschrift war demzufolge nur mittelbar anwendbar.  


=== c) Gruppenweise Freistellung ===
Nach der Rechtsprechung der Gescheinschaftsgerichte garantieren die allgemeinen Rechtsgrundsätze u.a. die Wahrung der Verteidigungsrechte. Danach kann ein Unternehmen nicht gezwungen werden, seine Beteiligung an einer Zuwiderhandlung zuzugeben. Zwang wird nur angenommen, wenn im Falle einer Verweigerung eine Sanktion droht (vgl. auch Erwägungsgrund 23 der VO&nbsp;1/‌2003). Die Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung bei Auskunftsverlangen und Nachprüfungen ist dementsprechend eingeschränkt. Es besteht jedoch kein umfassendes Aussageverweigerungsrecht.
Neben der Einzelfreistellung stehen Gruppenfreistellungen ([[Gruppenfreistellungsverordnungen]]), zu deren Erlass die Kommission durch verschiedene Ratsverordnungen ermächtigt wird.  


Die Gruppenfreistellung unterliegt denselben materiellrechtlichen Voraussetzungen wie die Einzelfreistellung. In der Praxis kommt den Gruppenfreistellungsverordnungen eine große Bedeutung zu, weil durch sie eine Vielzahl von Vereinbarungen vom Kartellverbot freigestellt wird, ohne dass die beteiligten Unternehmen die unbestimmten und vagen Voraussetzungen des Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV prüfen müssten. Insoweit tragen die Gruppenfreistellungsverordnungen zur Rechtssicherheit bei.  
Die Wahrung der Verteidigungsrechte umfasst auch den Grundsatz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Entsprechende Schriftstücke dürfen nicht herausverlangt und bei Nachprüfungen nicht eingesehen werden. Um festzustellen, ob ein Schriftstück tatsächlich unter das Anwaltsprivileg fällt, ist ein besonderes Verfahren anzuwenden (EuG Rs.&nbsp;T-125/‌03 – ''Akzo'', Slg. 2007, II-3523, Rn.&nbsp;79&nbsp;ff.). Nicht geschützt ist der Schriftverkehr zwischen dem Unternehmen und angestellten Mitarbeitern seiner Rechtsabteilung, auch wenn diese als Anwälte zugelassen sind (EuG Rs.&nbsp;T-125/‌03 – ''Akzo'', Slg. 2007, II-3523, Rn.&nbsp;165&nbsp;ff.).


== 3. Zivilrechtliche Folgen eines Verstoßes gegen das Kartellverbot ==
Vor Erlass einer der oben genannten Sanktionsentscheidungen hat die Kommission dem Adressaten ihre Beschwerdepunkte schriftlich mitzuteilen. Spätestens vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte muss die Kommission die Verfahrenseinleitung beschließen. Das betroffene Unternehmen kann zu den Beschwerdepunkten Stellung nehmen. Es hat auch ein Recht auf Akteneinsicht, von dem Geschäftsgeheimnisse Dritter und verwaltungsinterne Unterlagen ausgenommen sind. Informationen, auf die der Nachweis eines Verstoßes gestützt wird, müssen jedoch offengelegt werden. Die Kommission muss zwischen dem Bedürfnis, ein Schriftstück offenzulegen, und dem durch Offenlegung entstehenden Schaden abwägen.  
Art.&nbsp;81(2) EG/‌101(2) AEUV bestimmt, dass Vereinbarungen oder Beschlüsse, die dem Verbot des Abs.&nbsp;1 dieser Vorschrift unterfallen, nichtig sind. Es handelt sich dabei um die einzige Vorschrift des Vertrages, die unmittelbare zivilrechtliche Rechtsfolgen für privatautonom abgeschlossene Rechtsgeschäfte anordnet.


=== a) Nichtigkeit ===
Über die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, das Recht auf Akteneinsicht und ein faires Verfahren wacht der ''Anhörungsbeauftragte'', der direkt dem für Wettbewerb verantwortlichen Kommissionsmitglied berichtet.
Die Rechtsfolge der Nichtigkeit des Art.&nbsp;81(2) EG/‌101(2) AEUV trifft Vereinbarungen und Beschlüsse, die Wettbewerbsbeschränkungen i.S.v. Abs.&nbsp;1 der Vorschrift bezwecken oder bewirken und die nicht nach den Voraussetzungen des Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV freigestellt sind. Der Begriff der Nichtigkeit entstammt zwar den Zivilrechtsordnungen der Mitgliedstaaten, hat sich jedoch als Konzept des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zu diesen verselbständigt und ist daher autonom nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auszulegen. Dem Schutzzweck des Art.&nbsp;81 EG/‌101 AEUV entsprechend hat die Rechtsprechung des EuGH die Rechtsfolge der Nichtigkeit in Abs.&nbsp;2 dieses Artikels immer dahin ausgelegt, dass sie absolut wirkt (siehe etwa EuGH Rs.&nbsp;22/‌71 – ''Béguelin'', Slg. 1971, 949, Rn.&nbsp;29; EuGH Rs.&nbsp;319/‌82 – ''Sociéte de Vente des Ciments et Bétons/‌Kerpen&Kerpen'', Slg. 1983, 4173). Der Grundsatz der Absolutheit bedeutet, dass die wegen Verstoßes gegen das Kartellverbot nichtigen Vereinbarungen oder Beschlüsse keinerlei rechtliche Wirkungen zwischen denen an ihnen beteiligten Parteien oder zwischen diesen und Dritten erzeugen können. Hinzu kommt, dass sich jedermann in behördlichen oder gerichtlichen Verfahren auf die Nichtigkeit der Vereinbarungen oder Beschlüsse berufen kann. Allerdings geht die Rechtsfolge der Nichtigkeit nach Art. 81(2) EG/‌101(2) AEUV nur soweit, wie es erforderlich ist, um den Schutz des Wettbewerbs sicherzustellen. Unterfallen einzelne Vertragsbestandteile nicht dem Verbotstatbestand des Art.&nbsp;81(1) EG/‌101(1) AEUV und sind sie von den verbotenen Bestandteilen abtrennbar, so richtet sich ihr rechtliches Schicksal mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung nach den entsprechenden Vorschriften des mitgliedstaatlichen Vertragsrechts. Im deutschen Recht ist insoweit §&nbsp;139 BGB über teilnichtige Rechtsgeschäfte einschlägig.  


=== b) Sonstige Sanktionen ===
== 3. Kartellverfahren nach nationalem Recht ==
Neben der unmittelbaren Rechtsfolge der Nichtigkeit sieht das europäische Gemeinschaftsrecht keine Normen für mittelbare Folgen der Verletzung des Kartellverbots vor. Allerdings hat nach der Rechtsprechung des EuGH jeder Geschädigte Anspruch auf Ersatz des kartellbedingten Schadens (EuGH Rs.&nbsp;C-453/‌99 ''Courage/‌Crehan'', Slg. 2001, I-6297; [[Kartellrecht, private Durchsetzung]])''.'' Die Mitgliedstaaten sind demzufolge verpflichtet, in ihrem innerstaatlichen Recht entsprechende Rechtsgrundlagen für den Schadensausgleich vorzusehen. Der deutsche Gesetzgeber hat mit der 7.&nbsp;GWB-Novelle darauf reagiert und in §&nbsp;33 GWB Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche für Personen vorgesehen, die durch eine Verletzung von Art.&nbsp;81 EG/‌101 AEUV geschädigt worden sind.
Alle Mitgliedstaaten verfügen über Wettbewerbsbehörden. Rechtsfolgen und Verfahren sind innerhalb eines Mitgliedstaats grundsätzlich identisch, was Verstöße gegen europäisches und nationales Kartellrecht angeht. In den meisten Mitgliedstaaten führt eine Wettbewerbsbehörde das Ermittlungsverfahren und verhängt Sanktionen. Bisweilen sind diese Befugnisse jedoch auf zwei Behörden verteilt (z.B. Frankreich Reform geplant). In anderen Mitgliedstaaten kann die Wettbewerbsbehörde bestimmte Sanktionen, insbesondere Geldbußen, nicht selbst verhängen, sondern muss sie bei einem Gericht beantragen (z.B. Österreich, Schweden). Bisweilen ist die Zuständigkeit für bestimmte Sektoren abgespalten.  


Darüber hinaus kann ein Verstoß gegen das Kartellverbot des Art.&nbsp;81(1) EG/‌101(1) AEUV auch kartellbehördliche Sanktionen auslösen: so kann die Kommission gegen die beteiligten Unternehmen eine Untersagungsentscheidung nach Art.&nbsp;7 VO&nbsp;1/‌2003 oder Geldbußen bzw. Zwangsgelder gemäß Art.&nbsp;23&nbsp;f. VO&nbsp;1/‌2003 verhängen. Analoge Befugnisse sieht das deutsche GWB für den Vollzug von Art.&nbsp;81 EG/‌101 AEUV durch das Bundeskartellamt vor. Gegenwärtig erwägt die Kommission Maßnahmen, um dem Element der privaten Durchsetzung des Kartellrechts gegenüber dem behördlichen Vollzug eine stärkere Rolle einzuräumen.
Die ''Ermittlungsbefugnisse'' der nationalen Behörden entsprechen in erheblichem Umfang denen der Kommission. Einige Unterschiede bestehen jedoch. So dürfen nicht alle Wettbewerbsbehörde Privaträume durchsuchen (nicht in Bulgarien, Dänemark, Italien, Portugal), Personen befragen (z.B. nicht in Rumänien, Spanien) oder Siegel anbringen (nicht in Finnland, Irland, Luxemburg, Österreich). Anders als nach der VO&nbsp;1/‌2003 dürfen viele nationale Behörden Originale und nicht nur Kopien an sich nehmen. In einigen Mitgliedstaaten stehen anders als nach der VO&nbsp;1/‌2003 gegen Unternehmen, die nicht selbst im Verdacht stehen, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, nur eingeschränkte Ermittlungsbefugnisse zur Verfügung (z.B. Frankreich, Polen, Niederlande).
 
Was die ''Verteidigungsrechte'' angeht, bestehen Unterschiede vor allem in der Behandlung von Anwaltskorrespondenz (insbesondere bei der Bestimmung der Reichweite des Anwaltsprivilegs). Nicht überall werden Entscheidungsadressaten vor der Entscheidung Beschwerdepunkte mit den wesentlichen Vorwürfen (z.B. nicht in Ungarn, Polen) übermittelt. Der Anhörungsbeauftragte ist ein Spezifikum des Kommissionsverfahrens.
 
== 4. Das System paralleler Zuständigkeiten ==
Seit der Umsetzung des Modernisierungspakets bilden die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden gemeinsam ein Netz von Behörden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden (''European Competition Network'' – ECN). Es wurden Informations- und Konsultationsverfahren eingeführt, die von einem gemeinsamen Computernetzwerk unterstützt werden, um eine optimale Verteilung der Fälle innerhalb des Netzwerks und eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.
 
Jeder Fall soll grundsätzlich nur von einer Behörde bearbeitet werden. Wenn bei einer nationalen Behörde eine Beschwerde eingeht oder sie ''ex officio'' ein Verfahren einleitet, dann soll diese Behörde in der Regel für den Fall zuständig bleiben. Hält sich die Behörde aber für die Bearbeitung des Falles nicht für gut geeignet oder halten sich andere Netzwerkmitglieder auch für gut geeignet, kann eine Umverteilung vorgenommen werden, was in der Praxis jedoch sehr selten ist.
 
Im Interesse der Kohärenz der Anwendung der Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV übermitteln die nationalen Wettbewerbsbehörden der Kommission vor Erlass einer Sanktionsentscheidung den Entscheidungsentwurf. Theoretisch kann die Kommission nach Konsultation der betroffenen Behörde als ''ultima ratio'' selbst ein Verfahren eröffnen, wodurch die Zuständigkeit der nationalen Behörden gemäß Art.&nbsp;11(6) VO&nbsp;1/‌2003 entfiele. Die nationalen Wettbewerbsbehörden wirken insbesondere über den Beratenden Ausschuss an der Kartellrechtsdurchsetzung durch die Kommission mit. Der Beratende Ausschuss ist unter anderem vor Sanktionsentscheidungen zu hören.
 
Allein die Kommission kann eine Positiventscheidung nach Art.&nbsp;10 VO&nbsp;1/‌2003 treffen, in der, soweit aus Gründen des öffentliches Interesses der Gemeinschaft erforderlich, festgestellt wird, dass die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV auf ein bestimmtes Marktverhalten keine Anwendung finden.
 
Kommission und nationale Wettbewerbsbehörden können nach Art.&nbsp;12 VO&nbsp;1/‌2003 unter bestimmten Voraussetzungen auch Informationen, einschließlich vertraulicher Angaben, zum Zweck der Anwendung der Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV austauschen und als Beweismittel verwenden.
 
Zu ''ne bis in idem ''[[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]].
 
== 5. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Im Rahmen des ECN gibt es Arbeitsgruppen zu sektorspezifischen sowie sektorübergreifenden Aspekten der Kartellrechtsdurchsetzung (z.B. Themen Kronzeugen; Zusammenarbeit; Sanktionen). Die wohl markanteste kartellverfahrensrechtliche Konvergenz (zur Aufgabe des Notifizierungssystems bei wettbewerbsbeschränkenden Absprachen [[Kartellverbot und Freistellung]]) ist beim Einsatz von Kronzeugenprogrammen zu beobachten. 2002 gab es nur in vier Mitgliedstaaten Kronzeugenprogramme, 2008 verfügten nur noch Slowenien und Malta nicht über ein solches Programm. Die Programme divergieren jedoch bisweilen in ihren Anforderungen, insbesondere in Bezug auf Ausschlusskriterien (Rolle des Antragstellers im Kartell), die Art der offenzulegenden Informationen und die weiteren Anforderungen für einen Erlass. Diese Unterschiede können potentielle Kandidaten von der Offenlegung eines mehrere Mitgliedstaaten betreffenden Kartells abhalten, da sie ggf. befürchten müssen, nicht in allen diesen Staaten Immunität oder eine Bußgeldermäßigung zu erreichen. Um diese Abschreckungswirkung zu vermeiden, hat das ECN im September 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell veröffentlicht, das detaillierte Vorschläge zur Regelung der genannten Aspekte von Kronzeugenprogrammen enthält. So soll eine weiche Mindestharmonisierung erreicht werden. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Kommission haben ihre Kronzeugenprogramme bereits angepasst. Das Modellkronzeugenprogramm hat auch ein System geschaffen, nach dem Kronzeugen, die ein Kartell aufdecken wollen, wegen dessen noch keine Durchsuchung durchgeführt wurde und das sich auf mehr als drei Mitgliedstaaten erstreckt, ihren Antrag an die Kommission richten und gleichzeitig rangwahrende Antragszusammenfassungen bei den betroffenen mitgliedstaatlichen Kartellbehörden einreichen können. Mehr als die Hälfte der nationalen Behörden akzeptiert solche Anträge.
 
Konvergenz ist auch im Bereich der Ermittlungsbefugnisse zu verzeichnen. In den letzten Jahren haben mehr und mehr mitgliedstaatliche Behörden das Recht erhalten, Privatwohnungen zu durchsuchen, bei Nachprüfungen Siegel anzubringen und Sektoruntersuchungen durchzuführen. Das ECN veröffentlicht regelmäßig tabellarische Konvergenzberichte, die der Struktur der VO&nbsp;1/‌2003 folgen.


==Literatur==
==Literatur==
''D.G. Goyder'', EC Competition Law, 3.&nbsp;Aufl. 1998, 75&nbsp;ff.; ''Laurence Idot'', Droit Communautaire de la Concurrence, 2004; ''Ernst-Joachim Mestmäcker'', ''Heike Schweitzer'', Europäisches Wettbewerbsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2004, §§&nbsp;7–14; ''Filippo Amato'', ''Gonzalez Diaz'', Art.&nbsp;81, in: Ulrich Loewenheim, Karl M. Meessen, Alexander Riesenkampff (Hg.), Kartellrecht, Bd.&nbsp;1, 2005; ''Volker Emmerich'', Kartellrecht, 11.&nbsp;Aufl. 2008, §§&nbsp;4–8; ''Reiner Schulze'', ''Manfred Zuleeg'' (Hg.), Europarecht, 2006, §&nbsp;16 B-D; ''Jonathan Faull'', ''Ali Nikpay'' (Hg.), The EC Law of Competition, 2.&nbsp;Aufl. 2007, 3.01-3.453 und 7.01-9.359; ''Reinhard Ellger'', Art.&nbsp;81 Abs.&nbsp;3 EG, in: Ulrich Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker (Hg.), Wettbewerbsrecht, Bd.&nbsp;1, 4.&nbsp;Aufl. 2007; ''Peter Roth'', ''Vivien Rose'' (Hg.), Bellamy & Child European Community Law of Competition, 6.&nbsp;Aufl. 2008.
''Ernst-Joachim Mestmäcker'', ''Heike Schweitzer'', Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, Kap.&nbsp;5; ''Dorothe Dalheimer'','' Christoph T. Feddersen'','' Gerald Miersch'', EU-Kartellverfahrensverordnung – Kommentar zu VO&nbsp;1/‌2003, Sonderausgabe aus Grabitz/‌Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Nach Art.&nbsp;83 EGV, 2005; ''Christina Oelke'', Das Europäische Wettbewerbsnetz – Die Zusammenarbeit von Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden nach der Reform des Europäischen Kartellverfahrensrechts, 2006;'' Anke Johanns'', Behörden, Verfahren, Rechtsschutz, in: Thorsten Mäger (Hg.), Europäisches Kartellrecht, 2006; ''Wouter P.J. Wils'', Powers of Investigation and Procedural Rights and Guarantees in EU Antitrust Enforcement: The Interplay between European and National Legislation and Case-law, World Competition 29 (2006) 3&nbsp;ff.; ''Friedrich Wenzel Bulst'','' ''Dezentralisierung im europäischen Wettbewerbsrecht, in: Michael Stolleis, Wolfgang Streeck (Hg.), Aktuelle Fragen zu politischer und rechtlicher Steuerung im Kontext der Globalisierung, 2007, 2111&nbsp;ff.; ''Ulrich Immenga'', ''Ernst-Joachim Mestmäcker'', Wettbewerbsrecht, Bd.&nbsp;1, Teil 2 – Kommentar zum Europäischen Kartellrecht, 4.&nbsp;Aufl. 2007, Abschn. VI; ''Kris Dekeyser'', ''Maria Jaspers'', A New Era of ECN Cooperation, World Competition 30 (2007) 3&nbsp;ff.; ''Céline Gauer'', ''Maria Jaspers'', ECN Model Leniency Programme: A first step towards a harmonised leniency policy in the EU, Competition Policy Newsletter 2007, 35&nbsp;ff.; ''ECN Working Group on Cooperation Issues'', Results of the questionnaire on the reform of Member States (MS) national competition laws after EC Regulation No.&nbsp;1/‌2003 (Stand 14.4.2008), http:/‌/‌ec.europa.eu/‌comm/‌competition/‌ecn/‌index_en.html (zuletzt abgerufen am 15.7.2009).


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Prohibition_of_Restrictive_Agreements_and_Exemptions]]
[[en:Competition_Law_(Procedure)]]

Version vom 8. September 2021, 12:40 Uhr

von Friedrich Wenzel Bulst

1. Gegenstand und Zweck

Das in Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV niedergelegte europäische Kartellrecht dient dem Schutz des Wettbewerbs auf dem gemeinsamen Markt (Kartellverbot und Freistellung; Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung). Es wird öffentlichrechtlich durch die Europäische Kommission durchgesetzt (zur zivil- und strafrechtlichen Durchsetzung Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen; Kartellrecht, private Durchsetzung). Um die Wirksamkeit der Kartellrechtsdurchsetzung zu verbessern, sind die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV seit Inkrafttreten der VO 1/‌2003 auch durch die Wettbewerbsbehörden aller Mitgliedstaaten anzuwenden. Zuvor waren dazu nur etwa die Hälfte der nationalen Kartellbehörden befugt. Bei Verstößen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, wenden nunmehr nicht nur die Kommission, sondern gemäß Art. 3(1) VO 1/‌ 2003 auch alle nationalen Behörden die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV (ggf. neben nationalem Kartellrecht) an. Die VO 1/‌2003 ist das Herzstück des sogenannten Modernisierungspaketes von 2004, durch das insbesondere die vorherige Verfahrens-VO 17/‌62 aufgehoben wurde (Kartellverbot und Freistellung).

Innerhalb der Kommission ist die Generaldirektion Wettbewerb mit der Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV betraut. Das durch die Kommission anzuwendende Verfahrensrecht ergibt sich seit 2004 vor allem aus der VO 1/‌2003 und der VO 773/‌2004 sowie einigen Mitteilungen und Bekanntmachungen. Diese Instrumente sollen für die wirksame Durchsetzung des Gemeinschaftskartellrechts sorgen und die Achtung der grundlegenden Verteidigungsrechte gewährleisten.

Die nationalen Wettbewerbsbehörden wenden bei der Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV und des nationalen Kartellrechts nationales Verfahrensrecht an, das im Falle der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV durch die VO 1/‌ 2003 und die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden ergänzt wird.

2. Kartellverfahren nach Gemeinschaftsrecht

a) Das Kommissionsverfahren im Überblick

Das Kartellverfahrensrecht enthält die bei der Sachverhaltsermittlung und dem Erlass von Entscheidungen zu beachtenden Vorschriften. Die der Kommission zur Verfügung stehenden Entscheidungsarten und Sanktionen umfassen die Feststellung einer Zuwiderhandlung, die Aufgabe von Abhilfemaßnahmen, den Erlass einstweiliger Maßnahmen, die Verbindlicherklärung von Verpflichtungszusagen, die Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern (zu all diesen Entscheidungsarten und Sanktionen Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen) und die Feststellung der Nichtanwendbarkeit der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV (vgl. Art. 7–10, 23, 24 VO 1/‌2003). Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art. 81(1), 82 EG/‌101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art. 2 VO 1/‌2003 die Kommission (oder die nationale Behörde). Für die Voraussetzungen des Art. 81(3) EG/‌101(3) AEUV ist das Unternehmen beweisbelastet, das sich darauf beruft. Zu neuartigen Fragen kann die Kommission Unternehmen in Einzelfällen informell beraten.

Die Kommission kann ex officio oder auf eine Beschwerde hin Ermittlungen aufnehmen. Was Kartelle angeht, werden die meisten Untersuchungen durch Kronzeugenanträge (vgl. unten) ausgelöst. Die Kommission kann bereits vor Verfahrenseinleitung von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch machen. Leitet sie ein Verfahren zum Erlass einer der vorgenannten Entscheidungen ein, so entfällt gemäß Art. 11(6) VO 1/‌2003 die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden.

Beschwerden: Natürliche und juristische Personen, die ein berechtigtes Interesse darlegen, können Beschwerden einreichen. Die Kommission muss ihr Vorbringen sorgfältig prüfen. Ihr steht jedoch ein Aufgreifermessen zu und Beschwerden können nicht nur wegen Unbegründetheit, sondern auch mangels Gemeinschaftsinteresses abgewiesen werden. Beschwerdeführer haben im Verfahren Anhörungs- und Akteneinsichtsrechte.

Ermittlungsbefugnisse: Die Ermittlungsbefugnisse nach Art. 17–22 VO 1/‌2003 sind Anwendungsfälle der Auskunfts- und Nachprüfungsrechte der Kommission nach Art. 284 EG/‌337 AEUV und dienen der Aufklärung des Sachverhalts und der Gewinnung von Beweismitteln.

Auskunftsverlangen: Die Kommission kann gemäß Art. 18 VO 1/‌2003 einfache sowie durch Entscheidung angeordnete Auskunftsverlangen an Unternehmen richten, mit Fragen z.B. zu Marktanteilen, Wettbewerberkontakten, Preisentwicklungen und Vertriebspraktiken. Schuldhaft unrichtige Antworten können mit einem Bußgeld bis zu einem Höchstbetrag von 1 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Unternehmensgesamtumsatzes geahndet werden (Art. 23 VO 1/‌2003). Im Falle eines Auskunftsersuchens durch Entscheidung kann bei Nichtbeantwortung ein Zwangsgeld nach Art. 24 VO 1/‌2003 verhängt werden (Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen).

Nachprüfungen (Durchsuchungen): Unter den in Art. 20 VO 1/‌2003 niedergelegten Voraussetzungen kann die Kommission die Räumlichkeiten von Unternehmen durchsuchen, Kopien relevanter Unterlagen anfertigen, während der Durchsuchung Siegel anbringen und Tatsachenerläuterungen verlangen und protokollieren. Die Kommissionsbeamten werden durch Vertreter der nationalen Wettbewerbsbehörde unterstützt. Widerstand dürfen nur nationale Beamte brechen. Wenn dafür nach nationalem Recht eine richterliche Genehmigung erforderlich ist, kann diese bereits vorsorglich durch die nationale Behörde beantragt werden. Dem nationalen Gericht kommt dabei nach Art. 20(8) VO 1/‌2003 ein im Wesentlichen auf Willkürfreiheit und Verhältnismäßigkeit beschränkter Prüfungsumfang zu. Behinderungen durch das Unternehmen können ein Bußgeld nach Art. 23 VO 1/‌2003 nach sich ziehen (vgl. die Buße von EUR 38 Mio. im Fall E.ONSiegelbruch, Entscheidung vom 30.1.2008, COMP/‌B-1/‌39.326).

Nur auf der Grundlage einer Entscheidung und nach vorheriger Genehmigung durch ein nationales Gericht können unter den strengeren Voraussetzungen des Art. 21 VO 1/‌2003 auch andere als Unternehmensräumlichkeiten durchsucht werden.

Gemäß Art. 22 VO 1/‌2003 kann die Kommission auch nationale Behörden ersuchen, für sie Ermittlungen vorzunehmen. Anders als bei der Unterstützung einer Durchsuchung der Kommission üben die nationalen Bediensteten in einem solchen Fall die ihnen nach innerstaatlichem Recht gewährten Befugnisse aus. Entsprechende Ermittlungshilfe können auch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten untereinander beantragen.

Befugnis zur Befragung: Gemäß Art. 19 VO 1/‌ 2003 darf die Kommission natürliche und juristische Personen zum Gegenstand einer Untersuchung befragen, sofern diese der Befragung zustimmen.

Sektoruntersuchungen: Die Kommission kann gemäß Art. 17 VO 1/‌2003 ganze Wirtschaftssektoren auf Wettbewerbsbeschränkungen untersuchen und sich zu diesem Zweck der dargestellten Ermittlungsbefugnisse bedienen, mit Ausnahme der Durchsuchung von Privaträumen. Die Ergebnisse werden in einem Bericht veröffentlicht. Sektoruntersuchungen wurden etwa in den Bereichen Energie, Finanzdienstleistungen und Pharmazeutika durchgeführt und ziehen in der Praxis häufig die Einleitung von Verfahren nach sich.

Vergleichsverfahren in Kartellfällen: Um Kartellfälle effizienter bearbeiten zu können, hat die Kommission 2008 durch eine Verordnung und eine Mitteilung ein Vergleichsverfahren eingeführt. Hiernach können die Parteien nach Einsichtnahme in die Kommissionsakte Vergleichsausführungen einreichen und die Beschwerdepunkte anerkennen. Diese Ausführungen werden dann in die Mitteilung der Beschwerdepunkte übernommen, die dadurch deutlich kürzer ausfallen dürfte als in einem Verfahren ohne vorherige Zusammenarbeit. Im Gegenzug kann die Kommission die zu verhängende Geldbuße um 10 % reduzieren. Das Recht, die Kommissionsentscheidung vor dem EuG anzufechten (s.u.), bleibt unberührt.

Kronzeugenregelung: Um geheime Kartelle (Kartellverbot und Freistellung) effektiver aufdecken zu können, hat die Kommission durch eine Mitteilung eine Kronzeugenregelung eingeführt (zuerst 1996, überarbeitet 2002 und 2006 [Abl. 2006 C 298/‌17]), die Kartellbeteiligte dazu veranlassen soll, das Kartell der Kommission offenzulegen, die Zuwiderhandlung einzustellen und an der Kommissionsuntersuchung aktiv mitzuwirken. Dem Unternehmen, das als erstes Angaben macht, die es der Kommission ermöglichen, gezielte Nachprüfungen durchzuführen oder eine Zuwiderhandlung festzustellen, wird die Geldbuße erlassen, sofern die Kommission die notwendigen Nachweise ohne seine Angaben nicht hätte führen können und das Unternehmen weiteren Voraussetzungen genügt. Insbesondere muss es während der gesamten Untersuchung mit der Kommission zusammenarbeiten und darf kein anderes Unternehmen zur Beteiligung an dem Kartell gezwungen haben. Einem Unternehmen, das sich zwar nicht als erstes als Kronzeuge zur Verfügung stellt, der Kommission aber dennoch Beweismittel mit einem erheblichen Mehrwert vorlegt, wird eine Bußgeldermäßigung von bis zu 50 % gewährt, je nachdem wieviele Kronzeugen sich schon vor ihm gemeldet haben. Zur Feststellung der Reihenfolge ist ein Markersystem vorgesehen.

Rechtsschutz: Entscheidungen der Kommission können vor dem EuG (EuGH) angefochten werden.

b) Verfahrensgarantien

Die Wahl der Ermittlungshandlungen liegt grundsätzlich im Ermessen der Kommission, die die Verhältnismäßigkeit wahren muss. Ein Stufenverhältnis zwischen den verschiedenen Befugnissen gibt es nicht. Durch die Kommission zu achtende Verfahrensgarantien ergeben sich unstreitig aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen (s.u.). Kontrovers diskutiert wird, ob sich darüberhinaus unmittelbar auch aus der EMRK Verfahrensgarantien ergeben.

Art. 6 EMRK (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) enthält eine Reihe von Verfahrensrechten des Angeklagten. In Anfechtungsverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten (EuGH) und in der Literatur wird häufig die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf das gemeinschaftsrechliche Wettbewerbsverfahren postuliert. Da die EG nicht Vertragspartei der EMRK ist (vgl. aber Art. 6(2) AEUV und 14. Zusatzprotokoll zur EMRK), gilt die EMRK nicht unmittelbar für die Gemeinschaft. Die Grundrechte gehören jedoch zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Der EuGH, der deren Wahrung zu sichern hat, hebt in ständiger Rechtsprechung die besondere Bedeutung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle für die Gewinnung dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze hervor und folgert, „dass in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind“ (EuGH Rs. C-260/‌89 – ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41). Die Gemeinschaftsgerichte weisen in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass diese besondere Bedeutung der EMRK durch Art. 6(2) EU (1992) sowie den fünften Erwägungsgrund, Art. 52(3) und Art. 53 der GRCh bestätigt bzw. bekräftigt wurde (zu Verbindlichkeit und Tragweite der Charta Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK). Die Verpflichtung der Union aus Art. 6(2) EU (1992), die Grundrechte, wie sie durch die EMRK gewährleistet sind, zu achten, verlangt nach der Rechtsprechung jedoch keine unmittelbare Geltung der EMRK. Vielmehr wird nach Auffassung der Gemeinschaftsgerichte auf der Grundlage der allgemeinen Rechtsgrundsätze in Wettbewerbssachen ein Schutz gewährt, der dem durch Art. 6 EMRK gleichwertig ist. Der Rechtsprechung des EGMR sei bei der Auslegung von Grundrechten aber Rechnung zu tragen (zum Ganzen EuGH verb. Rs. C-238/‌99 P – PVC (LVM), Slg. 2002, I-8375, Rn. 274 ff.; EuG Rs. T-112/‌98 – Mannesmann, Slg. 2001, II-729, Rn. 59; EuG verb. Rs. T-236/‌01 – Tokai, Slg. 2004, II-1181, Rn. 403 ff.). In der Literatur und in Anfechtungsklagen wird bisweilen argumentiert, dass der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung von Bußgeldern führen können, weitere Verteidungsrechte gewährt als die Gemeinschaftsgerichte in Wettbewerbssachen.

Nach der Rechtsprechung der Gescheinschaftsgerichte garantieren die allgemeinen Rechtsgrundsätze u.a. die Wahrung der Verteidigungsrechte. Danach kann ein Unternehmen nicht gezwungen werden, seine Beteiligung an einer Zuwiderhandlung zuzugeben. Zwang wird nur angenommen, wenn im Falle einer Verweigerung eine Sanktion droht (vgl. auch Erwägungsgrund 23 der VO 1/‌2003). Die Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung bei Auskunftsverlangen und Nachprüfungen ist dementsprechend eingeschränkt. Es besteht jedoch kein umfassendes Aussageverweigerungsrecht.

Die Wahrung der Verteidigungsrechte umfasst auch den Grundsatz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Entsprechende Schriftstücke dürfen nicht herausverlangt und bei Nachprüfungen nicht eingesehen werden. Um festzustellen, ob ein Schriftstück tatsächlich unter das Anwaltsprivileg fällt, ist ein besonderes Verfahren anzuwenden (EuG Rs. T-125/‌03 – Akzo, Slg. 2007, II-3523, Rn. 79 ff.). Nicht geschützt ist der Schriftverkehr zwischen dem Unternehmen und angestellten Mitarbeitern seiner Rechtsabteilung, auch wenn diese als Anwälte zugelassen sind (EuG Rs. T-125/‌03 – Akzo, Slg. 2007, II-3523, Rn. 165 ff.).

Vor Erlass einer der oben genannten Sanktionsentscheidungen hat die Kommission dem Adressaten ihre Beschwerdepunkte schriftlich mitzuteilen. Spätestens vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte muss die Kommission die Verfahrenseinleitung beschließen. Das betroffene Unternehmen kann zu den Beschwerdepunkten Stellung nehmen. Es hat auch ein Recht auf Akteneinsicht, von dem Geschäftsgeheimnisse Dritter und verwaltungsinterne Unterlagen ausgenommen sind. Informationen, auf die der Nachweis eines Verstoßes gestützt wird, müssen jedoch offengelegt werden. Die Kommission muss zwischen dem Bedürfnis, ein Schriftstück offenzulegen, und dem durch Offenlegung entstehenden Schaden abwägen.

Über die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, das Recht auf Akteneinsicht und ein faires Verfahren wacht der Anhörungsbeauftragte, der direkt dem für Wettbewerb verantwortlichen Kommissionsmitglied berichtet.

3. Kartellverfahren nach nationalem Recht

Alle Mitgliedstaaten verfügen über Wettbewerbsbehörden. Rechtsfolgen und Verfahren sind innerhalb eines Mitgliedstaats grundsätzlich identisch, was Verstöße gegen europäisches und nationales Kartellrecht angeht. In den meisten Mitgliedstaaten führt eine Wettbewerbsbehörde das Ermittlungsverfahren und verhängt Sanktionen. Bisweilen sind diese Befugnisse jedoch auf zwei Behörden verteilt (z.B. Frankreich – Reform geplant). In anderen Mitgliedstaaten kann die Wettbewerbsbehörde bestimmte Sanktionen, insbesondere Geldbußen, nicht selbst verhängen, sondern muss sie bei einem Gericht beantragen (z.B. Österreich, Schweden). Bisweilen ist die Zuständigkeit für bestimmte Sektoren abgespalten.

Die Ermittlungsbefugnisse der nationalen Behörden entsprechen in erheblichem Umfang denen der Kommission. Einige Unterschiede bestehen jedoch. So dürfen nicht alle Wettbewerbsbehörde Privaträume durchsuchen (nicht in Bulgarien, Dänemark, Italien, Portugal), Personen befragen (z.B. nicht in Rumänien, Spanien) oder Siegel anbringen (nicht in Finnland, Irland, Luxemburg, Österreich). Anders als nach der VO 1/‌2003 dürfen viele nationale Behörden Originale und nicht nur Kopien an sich nehmen. In einigen Mitgliedstaaten stehen anders als nach der VO 1/‌2003 gegen Unternehmen, die nicht selbst im Verdacht stehen, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, nur eingeschränkte Ermittlungsbefugnisse zur Verfügung (z.B. Frankreich, Polen, Niederlande).

Was die Verteidigungsrechte angeht, bestehen Unterschiede vor allem in der Behandlung von Anwaltskorrespondenz (insbesondere bei der Bestimmung der Reichweite des Anwaltsprivilegs). Nicht überall werden Entscheidungsadressaten vor der Entscheidung Beschwerdepunkte mit den wesentlichen Vorwürfen (z.B. nicht in Ungarn, Polen) übermittelt. Der Anhörungsbeauftragte ist ein Spezifikum des Kommissionsverfahrens.

4. Das System paralleler Zuständigkeiten

Seit der Umsetzung des Modernisierungspakets bilden die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden gemeinsam ein Netz von Behörden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden (European Competition Network – ECN). Es wurden Informations- und Konsultationsverfahren eingeführt, die von einem gemeinsamen Computernetzwerk unterstützt werden, um eine optimale Verteilung der Fälle innerhalb des Netzwerks und eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.

Jeder Fall soll grundsätzlich nur von einer Behörde bearbeitet werden. Wenn bei einer nationalen Behörde eine Beschwerde eingeht oder sie ex officio ein Verfahren einleitet, dann soll diese Behörde in der Regel für den Fall zuständig bleiben. Hält sich die Behörde aber für die Bearbeitung des Falles nicht für gut geeignet oder halten sich andere Netzwerkmitglieder auch für gut geeignet, kann eine Umverteilung vorgenommen werden, was in der Praxis jedoch sehr selten ist.

Im Interesse der Kohärenz der Anwendung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV übermitteln die nationalen Wettbewerbsbehörden der Kommission vor Erlass einer Sanktionsentscheidung den Entscheidungsentwurf. Theoretisch kann die Kommission nach Konsultation der betroffenen Behörde als ultima ratio selbst ein Verfahren eröffnen, wodurch die Zuständigkeit der nationalen Behörden gemäß Art. 11(6) VO 1/‌2003 entfiele. Die nationalen Wettbewerbsbehörden wirken insbesondere über den Beratenden Ausschuss an der Kartellrechtsdurchsetzung durch die Kommission mit. Der Beratende Ausschuss ist unter anderem vor Sanktionsentscheidungen zu hören.

Allein die Kommission kann eine Positiventscheidung nach Art. 10 VO 1/‌2003 treffen, in der, soweit aus Gründen des öffentliches Interesses der Gemeinschaft erforderlich, festgestellt wird, dass die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV auf ein bestimmtes Marktverhalten keine Anwendung finden.

Kommission und nationale Wettbewerbsbehörden können nach Art. 12 VO 1/‌2003 unter bestimmten Voraussetzungen auch Informationen, einschließlich vertraulicher Angaben, zum Zweck der Anwendung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV austauschen und als Beweismittel verwenden.

Zu ne bis in idem Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen.

5. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Im Rahmen des ECN gibt es Arbeitsgruppen zu sektorspezifischen sowie sektorübergreifenden Aspekten der Kartellrechtsdurchsetzung (z.B. Themen Kronzeugen; Zusammenarbeit; Sanktionen). Die wohl markanteste kartellverfahrensrechtliche Konvergenz (zur Aufgabe des Notifizierungssystems bei wettbewerbsbeschränkenden Absprachen Kartellverbot und Freistellung) ist beim Einsatz von Kronzeugenprogrammen zu beobachten. 2002 gab es nur in vier Mitgliedstaaten Kronzeugenprogramme, 2008 verfügten nur noch Slowenien und Malta nicht über ein solches Programm. Die Programme divergieren jedoch bisweilen in ihren Anforderungen, insbesondere in Bezug auf Ausschlusskriterien (Rolle des Antragstellers im Kartell), die Art der offenzulegenden Informationen und die weiteren Anforderungen für einen Erlass. Diese Unterschiede können potentielle Kandidaten von der Offenlegung eines mehrere Mitgliedstaaten betreffenden Kartells abhalten, da sie ggf. befürchten müssen, nicht in allen diesen Staaten Immunität oder eine Bußgeldermäßigung zu erreichen. Um diese Abschreckungswirkung zu vermeiden, hat das ECN im September 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell veröffentlicht, das detaillierte Vorschläge zur Regelung der genannten Aspekte von Kronzeugenprogrammen enthält. So soll eine weiche Mindestharmonisierung erreicht werden. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Kommission haben ihre Kronzeugenprogramme bereits angepasst. Das Modellkronzeugenprogramm hat auch ein System geschaffen, nach dem Kronzeugen, die ein Kartell aufdecken wollen, wegen dessen noch keine Durchsuchung durchgeführt wurde und das sich auf mehr als drei Mitgliedstaaten erstreckt, ihren Antrag an die Kommission richten und gleichzeitig rangwahrende Antragszusammenfassungen bei den betroffenen mitgliedstaatlichen Kartellbehörden einreichen können. Mehr als die Hälfte der nationalen Behörden akzeptiert solche Anträge.

Konvergenz ist auch im Bereich der Ermittlungsbefugnisse zu verzeichnen. In den letzten Jahren haben mehr und mehr mitgliedstaatliche Behörden das Recht erhalten, Privatwohnungen zu durchsuchen, bei Nachprüfungen Siegel anzubringen und Sektoruntersuchungen durchzuführen. Das ECN veröffentlicht regelmäßig tabellarische Konvergenzberichte, die der Struktur der VO 1/‌2003 folgen.

Literatur

Ernst-Joachim Mestmäcker, Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004, Kap. 5; Dorothe Dalheimer, Christoph T. Feddersen, Gerald Miersch, EU-Kartellverfahrensverordnung – Kommentar zu VO 1/‌2003, Sonderausgabe aus Grabitz/‌Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Nach Art. 83 EGV, 2005; Christina Oelke, Das Europäische Wettbewerbsnetz – Die Zusammenarbeit von Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden nach der Reform des Europäischen Kartellverfahrensrechts, 2006; Anke Johanns, Behörden, Verfahren, Rechtsschutz, in: Thorsten Mäger (Hg.), Europäisches Kartellrecht, 2006; Wouter P.J. Wils, Powers of Investigation and Procedural Rights and Guarantees in EU Antitrust Enforcement: The Interplay between European and National Legislation and Case-law, World Competition 29 (2006) 3 ff.; Friedrich Wenzel Bulst, Dezentralisierung im europäischen Wettbewerbsrecht, in: Michael Stolleis, Wolfgang Streeck (Hg.), Aktuelle Fragen zu politischer und rechtlicher Steuerung im Kontext der Globalisierung, 2007, 2111 ff.; Ulrich Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Teil 2 – Kommentar zum Europäischen Kartellrecht, 4. Aufl. 2007, Abschn. VI; Kris Dekeyser, Maria Jaspers, A New Era of ECN Cooperation, World Competition 30 (2007) 3 ff.; Céline Gauer, Maria Jaspers, ECN Model Leniency Programme: A first step towards a harmonised leniency policy in the EU, Competition Policy Newsletter 2007, 35 ff.; ECN Working Group on Cooperation Issues, Results of the questionnaire on the reform of Member States (MS) national competition laws after EC Regulation No. 1/‌2003 (Stand 14.4.2008), http:/‌/‌ec.europa.eu/‌comm/‌competition/‌ecn/‌index_en.html (zuletzt abgerufen am 15.7.2009).