Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen und Kartellrecht, private Durchsetzung: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Friedrich Wenzel Bulst]]''
von ''[[Friedrich Wenzel Bulst]]''
== 1. Gegenstand, Zweck und Verfahren ==
== 1. Gegenstand und Zweck ==
Kartellrechtsverstöße können in öffentlichrechtlichen Verfahren ebenso festgestellt werden wie in zivil- und strafrechtlichen. Dementsprechend breit ist die Palette möglicher Rechtsfolgen. Öffentlichrechtliche Sanktionen dienen gemeinhin der Beendigung des Verstoßes und der (Wieder‑) Herstellung unverfälschten [[Wettbewerb im Binnenmarkt|Wettbewerbs im Binnenmarkt]], der Spezial- und Generalprävention sowie der Pönalisierung. Strafrechtliche Sanktionen haben ebenfalls sowohl die Spezial- und Generalprävention als auch die Pönalisierung des Rechtsverletzers zum Ziel. Zivilrechtliche Rechtsfolgen sind gemeinhin auf die Kompensation der Opfer des Verstoßes gerichtet und sollen gleichzeitig spezial- und generalpräventiv wirken. Inwieweit ihnen auch eine pönalisierende Wirkung zukommen soll, ist im Gemeinschaftsrecht ebenso umstritten wie in den meisten nationalen Rechtsordnungen ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]).
Die Grundnormen des europäischen Kartellrechts ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]; [[Wettbewerb im Binnenmarkt]]), die Art.&nbsp;81(1), 82&nbsp;EG/‌101, 102 AEUV, sind nach ständiger Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] unmittelbar anwendbar. Seit Inkrafttreten der VO&nbsp;1/‌2003 am 1.5.2004 gilt das auch für Art.&nbsp;81(3) EG/‌101(3) AEUV ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Kartellverfahrensrecht]]). Die VO&nbsp;1/‌2003 sollte die Durchsetzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV durch eine verstärkte Einbindung der Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten dezentralisieren. Zuvor wurden beide Artikel in erster Linie durch die [[Europäische Kommission]] und in geringerem Umfang auch durch nationale Wettbewerbsbehörden durchgesetzt ([[Kartellverfahrensrecht]]; [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]). Die nationalen Gerichte, die Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, hingegen spielten bei der Anwendung des EG-Kartellrechts<sup> </sup>eine untergeordnete Rolle.


Das in Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV niedergelegte europäische Kartellrecht ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]) wird ''öffentlichrechtlich'' durch die ''[[Europäische Kommission]]'' und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten durchgesetzt ([[Kartellverfahrensrecht]]). ''Strafrechtliche sowie zivilrechtliche'' Rechtsfolgen von Verstößen gegen die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV werden nur durch nationale Behörden bzw. Gerichte ausgesprochen ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]).
Bei privaten Kartellrechtsstreitigkeiten ist zu unterscheiden zwischen vertraglichen Auseinandersetzungen, in denen sich eine der Vertragsparteien auf die Kartellrechtswidrigkeit und Nichtigkeit einer Vereinbarung ([[Kartellverbot und Freistellung]]; [[Vertikalvereinbarungen im EG‑Kartellrecht|Vertikalvereinbarungen]]; [[Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen]]) beruft sowie gegebenenfalls [[Schadensersatz]] verlangt, und nichtvertraglichen Auseinandersetzungen, in denen Dritte gegen Wettbewerbsverstöße von Unternehmen mit Unterlassungs- und Schadensersatzklagen vorgehen. Innerhalb dieser Verfahrensart ist zu unterscheiden zwischen Klagen, die im Nachgang zu einer Behördenentscheidung, mit der ein Kartellrechtsverstoß festgestellt wurde, erhoben werden (sog. Folgeklagen), und von Verwaltungsverfahren unabhängigen Klagen. Schadensersatzklagen beider Spielart sind in der Gemeinschaft bis zum Jahre 2005 kaum bekannt geworden. Auch wenn die Zahl von Folgeklagen in einigen Mitgliedstaaten seitdem deutlich angestiegen ist, bleiben kartellrechtliche Schadensersatzklagen in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten die Ausnahme, obwohl nach allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen grundsätzlich ein deliktischer Anspruch ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]) auf Ersatz von durch Kartellrechtsverstöße verursachten Schäden besteht.


Die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV erlegen Rechtspflichten und &#8209;folgen nur ''Unternehmen und Unternehmensvereinigungen ''auf. Unternehmen sind nach der Rechtsprechung des EuGH Einheiten, die nicht nur gelegentlich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig von ihrer Rechtsform, der Art ihrer Finanzierung und dem Vorliegen oder Fehlen einer Gewinnerzielungabsicht. Das heißt, dass natürliche Personen, die für ein kartellrechtswidrig handelndes Unternehmen tätig sind, gemeinschaftsrechtlich nicht belangt werden können, auch wenn sie als Organe oder (leitende) Mitarbeiter die den Verstoß ausmachenden Handlungen begangen haben. Nach vielen nationalen Rechten sind sie jedoch vor Sanktionen nicht gefeit, weder bei Verstößen gegen das Gemeinschafts- noch gegen nationales Kartellrecht.
Es besteht eine gewisse Spannung zwischen dieser rechtstatsächlichen Lage und dem Urteil in der Rechtssache ''Courage'', in dem der EuGH die Bedeutung privater Schadensersatzklagen gegen Kartellanten für die wirksame Durchsetzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV hervorgehoben hat. Hiernach wäre die volle Wirksamkeit des Art.&nbsp;81 EG/‌101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des Verbots des Art.&nbsp;81 (1) EG/‌101(1) AEUV beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Verstoß gegen diese Vorschrift entstanden ist (EuGH Rs.&nbsp;C-453/‌99 – ''Courage Ltd/‌Crehan'', Slg. 2001, I-6297, Rn.&nbsp;26; bestätigt durch EuGH Rs.&nbsp;C-295/‌04-C-298/‌04 – ''Manfredi'', Slg. 2006, I-6619, Rn.&nbsp;60). Für Art.&nbsp;82 EG/‌102 AEUV dürfte der EuGH zu derselben Einschätzung gelangen, böte sich die Gelegenheit.  


Die mitgliedstaatlichen Kartellrechte werden allein durch nationale Behörden und Gerichte durchgesetzt ([[Kartellverfahrensrecht]]; [[Kartellrecht, private Durchsetzung]]).  
Das ''Courage''-Urteil, mehr noch als die VO&nbsp;1/‌ 2003, hat der privaten Durchsetzung viel Aufmerksamkeit beschert. In einigen Mitgliedstaaten, wie Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Ungarn, haben die Gesetzgeber seit 2002 Maßnahmen ergriffen, um die private Kartellrechtsdurchsetzung zu stärken. In allen diesen Mitgliedstaaten soll die private die öffentlichrechtliche Durchsetzung ergänzen, nicht ersetzen. Dasselbe Ziel verfolgt die Kommission. Im Dezember 2005 veröffentlichte sie ein Grünbuch (KOM(2005) 672 endg.) und im April 2008 ein Weißbuch (KOM(2008) 165 endg.) zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung der Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV, jeweils begleitet von einem ausführlichen Arbeitspapier. Darin werden verschiedene Regelungsoptionen (Grünbuch) bzw. Vorschläge (Weißbuch) zur Stärkung der privaten Durchsetzung vorgestellt. Das Weißbuch fasst zudem den bereits erreichten ''acquis communautaire ''aus Sicht der Kommission zusammen.  


== 2. Rechtsfolgen ==
Im Grünbuch wurde unter anderem ein über die bloße Kompensation entstandener Schäden hinausgehendes und dezidiert auf Abschreckung von Kartellrechtsverstößen gerichtetes Schadensersatzregime erwogen. Diese Überlegungen sind im Weißbuch weitestgehend zugunsten einer Beschränkung auf primär kompensatorisch wirkende Vorschläge aufgegeben worden, die Abschreckung nur als Nebeneffekt verfolgen. Ob der EuGH in ''Courage'' und später ''Manfredi'' vor allem die kompensatorische Wirkung von Schadensersatzklagen, also den effektiven Individualrechtschutz, oder aber ihre abschreckende Wirkung, also die effektive Durchsetzung von Verbotsnormen, vor Augen hatte, wird kontrovers diskutiert.
=== a) Nach Gemeinschaftsrecht ===
Die gemeinschaftsrechtlichen Folgen von Kartellrechtsverstößen ergeben sich aus Art.&nbsp;81(2) EG/‌101(2) AEUV sowie der VO&nbsp;1/‌2003 in Verbindung mit den Bußgeldleitlinien der Kommission.


''Nichtigkeitsfolge'': Nach Art.&nbsp;81(2) EG/‌101(2) AEUV sind die nach Art.&nbsp;81 EG/‌101 AEUV ([[Kartellverbot und Freistellung]]) verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse nichtig. Diese gemeinschaftsrechtliche ''Nichtigkeitsfolge'' erstreckt sich nur auf die Bestimmungen, die unter das Kartellverbot fallen. Die gesamte Vereinbarung ist nach Art.&nbsp;81(2) EG nur dann nichtig, wenn sich die verbotenen Teile nicht von den übrigen trennen lassen (EuGH Rs.&nbsp;56/‌65 – ''Société Technique Minière'', Slg. 1966, 282, 304). Folgeverträge mit Dritten, also etwa zwischen einem Kartellanten und seinem Abnehmer, sind grundsätzlich nicht erfasst. Die weiteren Rechtsfolgen des Art.&nbsp;81(2) EG/‌101(2) AEUV sind nach nationalem Recht zu bestimmen.  
In der rechtspolitischen Diskussion wird jedoch auch die grundsätzlichere Frage gestellt, ob die private Kartellrechtsdurchsetzung überhaupt, d.h. selbst in ihrer kompensatorischen Funktion, gestärkt werden soll. Umstritten ist gleichermaßen, ob eine Stärkung durch eine Gemeinschaftsmaßnahme erfolgen sollte. Die Positionierung in dieser politischen Debatte folgt weithin den wirtschaftlichen Interessen ihrer Protagonisten.


''Abhilfemaßnahmen'': Gemäß Art.&nbsp;7 VO&nbsp;1/‌2003 kann die Kommission ein an einem Kartellrechtsverstoß beteiligtes Unternehmen verpflichten, die Zuwiderhandlung einzustellen, und ihm alle verhältnismäßigen ''Abhilfemaßnahmen'' auferlegen ([[Verhältnismäßigkeit]]), die erforderlich sind, um die Zuwiderhandlung abzustellen. Die Kommission kann Unternehmen mithin nicht nur zur Unterlassung eines bestimmten Marktverhaltens, sondern auch zu konkreten Maßnahmen verpflichten, wie dem Abschluss von Lizenzverträgen, der Offenlegung bestimmter Informationen oder dem (Mit&#8209;)Vertrieb von Produkten Dritter. Solche Abhilfemaßnahmen sind insbesondere bei Verstößen gegen Art.&nbsp;82 EG/‌101 AEUV ([[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]) von Bedeutung. Abhilfemaßnahmen können nicht nur verhaltensorientierter, sondern auch struktureller Art sein. Wenn ein erhebliches, durch die Struktur eines Unternehmens als solcher bedingtes Risiko anhaltender oder wiederholter Zuwiderhandlungen gegeben ist, kann ein Verstoß auch mit einer Änderung der Unternehmensstruktur sanktioniert werden, also einer Entflechtung (Erwägungsgrund 12 der VO&nbsp;1/‌2003). Die Kommission kann, bei berechtigem Interesse, auch einen bereits beendeten Wettbewerbsverstoß festellen. In dringenden Fällen erlaubt Art.&nbsp;8 VO&nbsp;1/‌2003 die Anordnung ''einstweiliger Maßnahmen''.
== 2. Einzelaspekte ==
=== a) Rechtliche Grundlage ===
Die Diskussion um die ''rechtliche Grundlage ''von Schadensersatzansprüchen für Verstöße gegen das Gemeinschaftskartellrecht hat in den Schlussanträgen des Generalanwalts ''Walter'' ''van Gerven'' in der Rechtssache ''Banks'' und den Anmerkungen dazu einen ersten Höhepunkt gefunden (Rs.&nbsp;C-128/‌92, Slg.&nbsp;1994, I-1209, Rn. 36&nbsp;ff.), bevor sie durch das ''Courage''-Urteil wieder neu beflügelt wurde. Es ist nach wie vor umstritten, ob sich solche Ansprüche allein auf die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV stützen lassen (so ''van Gerven'') oder sich innerhalb der Grenzen europarechtlicher Vorgaben nach nationalem Recht richten. Der EuGH zitiert in ''Courage'' zwar das Urteil des EuGH in der Rechtssache ''Francovich'' (Rs.&nbsp;C-6/‌90 und C-9/‌90, Slg. 1991, 5357) und damit die Leitentscheidung für den eindeutig auf dem Gemeinschaftsrecht fußenden staatshaftungsrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht verletzen, bezeichnet die Sanktion des Schadensersatzes in ''Courage'' anders als in ''Francovich'' aber nicht ausdrücklich als einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz. Die Frage ist nahezu ohne praktische Bedeutung. Da das Gemeinschaftsrecht die Voraussetzungen des Anspruchs unstreitig nur in Ansätzen subsumtionsfähig regelt, sind diese dem nationalen Recht zu entnehmen, das insoweit den Anforderungen des gemeinschaftsrechtlichen [[Effektivitätsgrundsatz|Effektivitäts-]] und des Äquivalenzprinzips genügen muss. Beide Ansätze nehmen damit in der Praxis das nationale Recht zum Ausgangspunkt und bestimmen bei Bedarf sowohl seine Korrekturbedürftigkeit als auch das Korrekturergebnis anhand des Effektivitäts- und des Äquivalenzprinzips.


Unternehmen können auch ''Verpflichtungszusagen'' abgeben, um eine Abhilfemaßnahme abzuwenden. Nach Art.&nbsp;9 VO&nbsp;1/‌2003 kann die Kommission eine solche Verpflichtungszusage für bindend erklären, wenn diese die Bedenken der Kommission ausräumen. Auch Verpflichtungszusagen können Maßnahmen struktureller Art enthalten.
Den Urteilen ''Courage'' und ''Manfredi'' und der Rechtsprechung des EuGH zur Staats- und Gemeinschaftshaftung sowie zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben können bereits grobe Konturen einer dem Effektivitätsprinzip genügenden Ausgestaltung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches entnommen werden.  


''Geldbußen'': Im Vordergrund der Rechtsfolgenbetrachtung stehen gemeinhin die von der Kommission auf der Grundlage des Art.&nbsp;23 VO&nbsp;1/‌2003 verhängten ''Geldbußen''. Vorsätzliche oder fahrlässige Verstöße eines Unternehmens gegen die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV können danach mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 10&nbsp;% des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens geahndet werden. Nach dem oben definierten Unternehmensbegriff des EG-Kartellrechts gilt diese 10&nbsp;%-Grenze grundsätzlich für den gesamten Konzernumsatz und nicht nur für den Umsatz etwa einer handelnden Tochtergesellschaft.  
=== b) ''Acquis communautaire'' ===
''Anspruchsberechtigung:'' Was die Anspruchsberechtigung angeht, kann nach der Rechtsprechung des EuGH in ''Courage'' und ''Manfredi'' als gesicherter ''acquis communautaire ''gelten, dass jeder Geschädigte anspruchsberechtigt ist, wenn zwischen seinem Schaden und dem Kartellrechtsverstoß eine hinreichend unmittelbare (s.u.) kausale Beziehung besteht. Damit sind nicht nur die direkten Abnehmer eines gegen das Kartellrecht verstoßenden Unternehmens anspruchsberechtigt, sondern zum Beispiel auch die Abnehmer des Abnehmers, sog. Folgeabnehmer. Ein Folgeabnehmer kann geschädigt sein, wenn der Direktabnehmer eines Kartellanten oder Marktbeherrschers einen kartellrechtswidrig überhöhten Preis auf den Folgeabnehmer abwälzt (Schadensabwälzung).  


Die Methode, nach der die Kommission Geldbußen festsetzt, ist in den Bußgeldleitlinien von 2006 niedergelegt, die die Leitlinien von 1998 ablösten. Nach den neuen Leitlinien setzt die Kommission Geldbußen innerhalb der 10&nbsp;%-Obergrenze auf bis zu 30&nbsp;% des Jahresumsatzes des betroffenen Unternehmens fest, der mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang steht, multipliziert mit der Anzahl Jahre der Beteiligung an der Zuwiderhandlung. Auf den mit dem betroffenen Produkt erzielten Umsatz wird abgestellt, um einen Bezug zum rechtswidrig erlangten Gewinn herzustellen und auf diese Weise eine abschreckende Wirkung zu erreichen. Bei der Bestimmung der genauen Höhe der Ausgangsbetrags berücksichtigt die Kommission mehrere Umstände, u.a. die Art der Zuwiderhandlung, den kumulierten Marktanteil sämtlicher beteiligter Unternehmen, den Umfang des von der Zuwiderhandlung betroffenen räumlichen Marktes und die etwaige praktische Umsetzung der Zuwiderhandlung, z.B. einer Absprache. Darüber hinaus kann ein bestimmter Anteil der Geldbuße, die so genannte “Eintrittsgebühr”, unabhängig von der Dauer der Zuwiderhandlung verhängt werden, um Unternehmen auch vor einer nur kurzen Beteiligung an einem Verstoß abzuschrecken.
''Schadensersatz:'' Nach der Rechtsprechung des EuGH steht als ''acquis communautaire ''zum ersatzfähigen Schaden fest, dass ein Geschädigter Ersatz des Vermögensschadens (''damnum emergens''), des entgangenen Gewinns (''lucrum cessans'') und die Zahlung von Zinsen verlangen können muss. Der EuGH entnimmt diese Vorgaben in ''Manfredi'' dem Effektivitätsprinzip, nach dem insbesondere Ersatz für entgangenen Gewinn nicht vollständig ausgeschlossen werden darf, da anderenfalls insbesondere bei Rechtsstreitigkeiten kommerzieller Natur ein Ersatz der tatsächlich entstandenen wirtschaftlichen Beeinträchtigung nicht gewährleistet werden könne. Die Mitgliedstaaten dürfen nicht'' a priori'' eine absolute Anspruchsobergrenze vorsehen. Es ist ihnen jedoch unbenommen, dafür Sorge zu tragen, dass der Schadensersatz nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Geschädigten führt. Nach dem Äquivalenzprinzip sind auch besondere Arten des Schadensersatzes zu gewähren, wie insbesondere [[Strafschadensersatz]], sofern ein entsprechender Anspruch bei Verstößen gegen nationales Kartellrecht besteht. Erwartungen, in England würden im Rahmen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ''exemplary damages ''gewährt, haben sich bislang nicht bestätigt. Für Folgeklagen wurden solche Ansprüche sogar ausdrücklich ausgeschlossen.  


Die Leitlinien sehen eine Reihe von erschwerenden und mildernden Umständen vor, wie die Rolle des betroffenen Unternehmens im Rahmen der Zuwiderhandlung (Rädelsführer, Anstifter; fahrlässige, geringfügige, von echtem Wettbewerb begleitete Beteiligung) und sein Verhalten während der behördlichen Untersuchung (Behinderung; über rechtliche Verpflichtungen hinausgehende Kooperation außerhalb eines Kronzeugenprogramms). Insbesondere kann die Buße bei Wiederholungstätern für jede ähnliche frühere Zuwiderhandlung um bis zu 100&nbsp;% erhöht werden. Um eine wirksame Abschreckung sicherzustellen, kann die Geldbuße erhöht werden, wenn der mit anderen als den betroffenen Produkten erzielte Umsatz besonders hoch ist. Wenn der nach den vorstehenden Grundsätzen ermittelte Betrag die 10&nbsp;%-Obergrenze überschreitet, wird die Buße auf den zulässigen Höchstbetrag reduziert. Das heißt, die Obergrenze führt nicht bereits bei früheren Berechnungsschritten zu einer Kappung. Bußgelder können unter außergewöhnlichen Umständen auch herabgesetzt werden, wenn sie die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des betroffenen Unternehmens unwiderruflich gefährden.
Bei Kartellrechtsverstößen, die zu höheren als sich bei Wettbewerb bildenden Preisen führen, bedeuten diese Grundsätze, dass einem Abnehmer jedenfalls die Differenz zwischen dem gezahlten, rechtswidrig überhöhten Preis und dem hypothetischen Wettbewerbspreis zu ersetzen ist. Bei Abnehmern, die das von dem Verstoß betroffene Gut weiterverkaufen, also Zwischenhändlern, stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem Ersatz eines entgangenen Gewinns. Ohne die Zuwiderhandlung hätte der Zwischenhändler regelmäßig nicht nur pro Einheit günstiger, sondern auch mehr Einheiten des fraglichen Gutes erworben. Darin zeigt sich die angebotsverknappende Wirkung des Wettbewerbsverstoßes (''dead weight loss''). Das heißt, in Bezug auf die kartellbedingt nicht erworbenen Einheiten des Gutes kann dem Zwischenhändler eine Marge entgangen sein. Dieser Gewinnentgang muss nach dem ''acquis'' ebenfalls ersetzt werden. Er ließe sich einerseits als Schadensposten zur Preisdifferenz hinzuaddieren. Andererseits ließe sich aber auch der gesamte Schaden des Zwischenhändlers nur als Gewinnentgang betrachten, d.h. als die Differenz zwischen dem Gewinn, den er mit dem fraglichen Gut ohne den Verstoß erwirtschaftet hätte und dem tatsächlich erwirtschafteten Gewinn. Welche Betrachtung sachgerecht ist, ergibt sich vor allem aus der Behandlung des sog. Einwands der Schadensabwälzung.  


Die Kommission kann nach ständiger Rechtsprechung von ihren Leitlinien nicht abweichen, ohne gegen allgemeine Rechtsgrundsätze wie die Gleichbehandlung und den Vertrauensschutz zu verstoßen. Zu den Leitlinien von 1998 haben [[Europäisches Gericht erster Instanz|EuG]] und [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] entschieden, dass ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer in hinreichend genauer Weise die Berechnungsmethode und die Größenordnung der Geldbußen vorhersehen kann, die ihm bei einem bestimmten Verhalten drohen, und dass die Tatsache, dass er das genaue Niveau einer zu erwartenden Geldbuße nicht im Voraus genau erkennen kann, keine Verletzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Strafen darstellt (EuGH verb. Rs.&nbsp;C 189/‌02 P, C 202/‌02 P, C 205/‌02 P bis C 208/‌02 P und C 213/‌02 P ''Dansk Rørindustri'', Slg. 2005, I-5425, Rn.&nbsp;209–211).
''Schadensabwälzung:'' So wie sich klagende Folgeabnehmer auf eine Schadensabwälzung durch den Zwischenabnehmer auf sie berufen, behaupten Beklagte häufig, die sie in Anspruch nehmenden (Direkt&#8209;)Abnehmer hätten selbst keinen Schaden erlitten, sondern den kartellrechtswidrigen Preisaufschlag an ihre Abnehmer weitergegeben. Hält man diesen Einwand für unbeachtlich, kann es zu einer Mehrfachhaftung des Kartellanten oder Marktbeherrschers für denselben Schadensposten kommen, wenn sowohl Direkt- als auch Folgeabnehmer klagen. Erklärt man den Einwand aber für beachtlich, werden Direktabnehmerklagen – je nach Beweislastverteilung hinsichtlich der Abwälzung deutlich erschwert mit dem Ergebnis, dass eine private Kartellrechtsdurchsetzung unter Umständen nicht stattfindet. Folgeabnehmer gelten nämlich, weil sie oft nur Streuschäden erleiden, als weniger klagebereit als Direktabnehmer. Zudem wird es ihnen wegen der geringeren Nähe zum Verstoß häufig schwerer fallen, diesen und ihren kausalen Schaden zu beweisen.  


Die bislang höchste Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen Art.&nbsp;81 EG/‌101 AEUV wurde 2008 verhängt und betrug rund EUR 896 Mio. (Saint-Gobain – Autoglas; Gesamtgeldbuße aller Kartellbeteiligten: rund EUR 1.3 Mrd.). Die bislang höchste Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen Art.&nbsp;82 EG/‌102 AEUV wurde 2009 verhängt und betrug rund EUR 1 Mrd. (Intel).
Wie eine Rechtsordnung das Abwälzungsproblem löst, sagt viel darüber aus, ob sie in erster Linie das Ziel verfolgt, den Schädiger um die Früchte seines Verstoßes zu bringen und dadurch ggf. eine Abschreckungswirkung zu erzielen, oder ob sie vor allem die Opfer von Verstößen entschädigen soll. Soweit sich hierzu bereits ein ''acquis communautaire'' formulieren lässt, ergibt er sich außer aus ''Courage ''und ''Manfredi ''aus der EuGH-Rechtsprechung zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben (EuGH Rs.&nbsp;C-147/‌01 – ''Weber's Wine World'', Slg. 2003, I-11365, Rn.&nbsp;95&nbsp;ff.). Danach erscheint die Berücksichtigung des Abwälzungseinwands insoweit zulässig, als sie eine Bereicherung des Anspruchstellers verhindert und der Schädiger die Beweislast für die erfolgte Abwälzung trägt. Die Beachtlichkeit des Einwands ist gemeinschaftsrechtlich jedoch nur erlaubt, nicht geboten.


Unternehmen haben die Möglichkeit, einer Geldbuße zu entgehen oder eine solche zu reduzieren, indem sie sich an dem Kronzeugenprogramm der Kommission beteiligen ([[Kartellverfahrensrecht]]).
Nach dem Weißbuch soll die beklagte Partei das Recht haben, den Schadensabwälzungseinwand geltend zu machen, muss die Abwälzung aber beweisen. Folgeabnehmer sollen sich auf eine widerlegliche Vermutung berufen können, dass der kartellrechtswidrige Preisaufschlag in vollem Umfang auf sie abgewälzt wurde.  


Gemäß Art.&nbsp;23(5) VO&nbsp;1/‌2003 haben Bußgeldentscheidungen der Kommission keinen strafrechtlichen Charakter, was unter Hinweis auf die Höhe der von der Kommission verhängten Bußen in Anfechtungsklagen vor dem EuG und der Literatur bisweilen in Zweifel gezogen wird, verbunden mit der Forderung, die verfahrensrechtlichen Garantien des Art.&nbsp;6(3) EMRK ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]; [[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte|EGMR]]) zur Gänze zur Anwendung zu bringen ([[Kartellverfahrensrecht]]). Das ''ne bis in idem''-Prinzip gilt jedoch unbestritten und zwar, nach der Rechtsprechung des EuGH, unter der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts. Der Grundsatz verbietet es mithin, dasselbe Unternehmen mehr als einmal wegen desselben rechtswidrigen Verhaltens zum Schutz desselben Rechtsguts mit einer Sanktion zu belegen. Bei Kartellrechtsverstößen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, wenden nicht nur die Kommission, sondern gemäß Art.&nbsp;3(1) VO&nbsp;1/‌2003 auch die nationalen Behörden die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV an (ggf. neben nationalem Kartellrecht), d.h. dieselben Rechtsnormen.
''Kausalität:'' Der EuGH hat in ''Manfredi'' explizit auf das Kausalitätserfordernis als Anspruchsvoraussetzung hingewiesen. Der Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung kann vor allem entnommen werden, dass das Effektivitätsprinzip eine kausale Zurechnung nur bei hinreichender Unmittelbarkeit zwischen einem Verstoß und seinen Folgen gebietet (EuGH verb. Rs.&nbsp;64/‌76 – ''Durmotier Frères'', Slg. 1979, 3091, Rn.&nbsp;21).  


''Zwangsgelder'': Art.&nbsp;24 VO&nbsp;1/‌2003 ermächtigt die Kommission unter anderem, gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, die ihren Verpflichtungen aus einer Kommissionsentscheidung nach Art.&nbsp;7, 8 oder 9 VO&nbsp;1/‌2003 nicht nachkommen, ein Zwangsgeld in Höhe von bis zu 5&nbsp;% des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten durchschnittlichen Tagesumsatzes pro Tag der Nichterfüllung zu verhängen. Auf der Grundlage dieser Vorschrift hat die Kommission im Fall Microsoft (COMP/‌37.792) Zwangsgelder in Höhe von EUR 280 Mio. (2006) und EUR 899 Mio. (2008) verhängt.
''Verschulden: ''Uneinheitlich beurteilt wird die Reichweite des ''acquis'' zu der Frage, ob nationales Recht das Bestehen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches an den Nachweis eines Verschuldens knüpfen darf, wie es die Mehrheit der mitgliedstaatlichen Haftungsregime tut. Dem Weißbuch zufolge ist nur ein auf sehr spezifische und außerordentliche Umstände begrenztes Verschuldenserfordernis mit dem Effektivitätsprinzip vereinbar. Die Urteile ''Courage'' und ''Manfredi ''sowie die Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung lassen sich jedoch auch offener interpretieren. Unbestritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht kein Verschuldenserfordernis vorschreibt.  


''Rechtsmittel'': Das EuG überprüft als Rechtsmittelgericht auf Antrag Entscheidungen der Kommission, mit denen ein Buß- oder Zwangsgeld festgesetzt wird, unbeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit ([[Kartellverfahrensrecht]]) und kann das festgesetzte Buß- oder Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder erhöhen, vgl. Art.&nbsp;31 VO&nbsp;1/‌2003 und Art.&nbsp;229 EG/‌261 AEUV. Das EuG erkennt der Kommission bei der Festsetzung von Bußgeldern einen Ermessensspielraum zu, der seine Grenzen vor allem in den Prinzipien der Gleichbehandlung und der [[Verhältnismäßigkeit]] findet.
''Verjährung:'' Dem Urteil in ''Manfredi ''lässt sich mit dem Weißbuch entnehmen, dass das Effektivitätsprinzip verletzt wird, wenn eine kurze Verjährungsfrist ([[Verjährung]]) bereits mit der ersten Verwirklichung eines Kartells zu laufen beginnt und nicht unterbrochen werden kann. Bei fortgesetzten oder wiederholten Zuwiderhandlungen droht dann nämlich ein Verjährungsende noch vor Beendigung des Verstoßes.  


=== b) Nach nationalem Recht ===
''Beweislast:'' Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art.&nbsp;81(1), 82 EG/‌101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art.&nbsp;2 VO&nbsp;1/‌2003 die Partei, die sich darauf beruft. Für die Voraussetzungen des Art.&nbsp;81 (3) EG/‌101(3) AEUV gilt nach Art.&nbsp;2 VO&nbsp;1/‌2003 dasselbe.
Die nationalen Behörden setzen die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV mit Hilfe ihres nationalen Verfahrensrechts durch ([[Kartellverfahrensrecht]]). Die VO&nbsp;1/‌2003 verpflichtet sie dazu und enthält in Art.&nbsp;5 VO&nbsp;1/‌2003 die zulässigen Entscheidungsarten, die denjenigen entsprechen, die der Kommission nach der Verordnung zur Verfügung stehen (mit Ausnahme der Feststellung eines beendeten Verstoßes und einer Positiventscheidung nach Art.&nbsp;10 VO&nbsp;1/‌2003 [[Kartellverfahrensrecht]]). Vor Inkrafttreten der VO&nbsp;1/‌2003 waren nur etwa in der Hälfte der damaligen Mitgliedstaaten die nationalen Kartellbehörden durch die nationale Gesetzgebung ermächtigt, die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV anzuwenden. In nahezu allen Mitgliedstaaten bestehen inzwischen die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass den nationalen Wettbewerbsbehörden fast alle der in Art.&nbsp;5 VO&nbsp;1/‌2003 aufgeführten Entscheidungsarten zur Verfügung stehen. Strukturelle Abhilfemaßnahmen stehen jedoch nur etwa der Hälfte der nationalen Behörden zu Gebote. Auch Zwangsgelder nach dem Vorbild des Art.&nbsp;24 VO&nbsp;1/‌2003 können nicht überall verhängt werden.


Rechtsfolgen und Verfahren sind innerhalb eines Mitgliedstaates grundsätzlich identisch, was Verstöße gegen europäisches und nationales Kartellrecht angeht. Die innerstaatlichen Rechte sehen als Sanktionen vor allem Geldbußen für Unternehmen vor, bisweilen auch alternativ die Abschöpfung eines durch einen Verstoß erzielten Mehrerlöses. Die Bußgeldrahmen sind in ca. 2/‌3 der Mitgliedstaaten auf 10&nbsp;% des Unternehmensumsatzes beschränkt. Die Berechnung des relevanten Umsatzes und der maßgebliche Referenzzeitraum unterscheiden sich jedoch. In einigen erst seit 2004 zur Gemeinschaft gehörenden Mitgliedstaaten gelten absolute betragsmäßige Obergrenzen (vgl. auch unter 3.). In einigen wenigen Mitgliedstaaten, wie Großbritannien, Irland, Rumänien und Estland, können verantwortliche Unternehmensmitarbeiter bzw. Organmitglieder jedenfalls im Falle von Absprachen mit Wettbewerbern (sog. horizontale Vereinbarungen) mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren belegt werden. In anderen Mitgliedstaaten, wie Deutschland, Österreich und Ungarn, sind solche strafrechtlichen Sanktionen auf Fälle der Abstimmung bei öffentlichen Ausschreibungen (Ausschreibungsbetrug) beschränkt. Ausschreibungsbezogene Verstöße können auch den zeitlich beschränkten Ausschluss des fraglichen Unternehmens von späteren Vergabeverfahren nach sich ziehen.  
''Anwendbares Recht: ''Gemäß Art.&nbsp;6(3)(a) und den Erwägungsgründen 22 und 23 der Rom&nbsp;II-VO (VO&nbsp;864/‌2007) wird das auf kartelldeliktsrechtliche Ansprüche anwendbare Recht grundsätzlich nach dem Marktortprinzip bestimmt, d.h. es ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird. Wird der Markt in mehr als einem Staat beeinträchtigt, gilt die differenzierte Regelung des Art.&nbsp;6(3)(b) Rom&nbsp;II-VO.


Was zivilrechtliche Sanktionen einschließlich der Nichtigkeitsfolge des Art.&nbsp;81(2) EG/‌101(2) AEUV betrifft, so sind nach Art.&nbsp;6 VO&nbsp;1/‌2003 auch die einzelstaatlichen Gerichte für die Anwendung der Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV zuständig. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss grundsätzlich jedermann Ersatz des Schadens verlangen können, der ihm durch einen Verstoß gegen europäisches Kartellrecht entstanden ist ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]). Ob sich dieser Schadensersatzanspruch aus dem Gemeinschaftsrecht selbst ergibt oder aber die Mitgliedstaaten nach Art.&nbsp;10 EG/‌im Wesentlichen ersetzt durch Art.&nbsp;3a(3) EU (2007) verpflichtet sind, einen solchen Schadensersatzanspruch vorzusehen, ist in der Literatur umstritten und allenfalls von geringer praktischer Bedeutung. Jedenfalls obliegt es den Mitgliedstaaten, in Abwesenheit einschlägiger Gemeinschaftsregelungen in den Grenzen des gemeinschaftsrechtlichen Äquivalenz- und [[Effektivitätsgrundsatz]]es die nötigen Voraussetzungen für eine Durchsetzung dieses Anspruches zu schaffen. Theoretisch steht in allen Mitgliedstaaten den Opfern eines Kartellrechtsverstoßes Anspruch auf Ersatz zu. In der Mehrheit der Mitgliedstaaten ist dieser Anspruch bislang jedoch ohne praktische Bedeutung geblieben. Ansprüche sind gemeinhin auf Ersatz des entstandenen Schadens beschränkt, also allein kompensatorischer Natur. Strafschadensersatz wurde bislang nur vereinzelt zugesprochen ([[Kartellrecht, private Durchsetzung]]).
=== c) Das Weißbuch der Kommission ===
Die Kommission schlägt in ihrem Weißbuch neben einer klarstellenden Kodifizierung der wesentlichen Elemente des bisherigen ''acquis'' eine Reihe von Regelungen vor, um den privaten Kartelldeliktsschutz wirksamer zu gestalten.  


== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
''Zugang zu Beweismitteln:'' In Kartellrechtsfällen befinden sich die für den Beweis ([[Beweisrecht, internationales|Beweisrecht]]) der Zuwiderhandlung oder die Bezifferung eines Schadens nötigen Unterlagen oft im Besitz der des Verstoßes verdächtigten Partei. Um den Zugang zu Beweismitteln zu verbessern, wird im Weißbuch in Fortführung des der RL&nbsp;2004/‌48 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums zugrunde liegenden Ansatzes ([[Geistiges Eigentum (Durchsetzung)]]) ein Verfahren zur Offenlegung von Beweismitteln zwischen den Parteien eines Rechtsstreits unter Aufsicht des Gerichts vorgeschlagen.  
Die Höhe der von der Kommission verhängten Bußgelder ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Während das EuG an der Höhe von durch die Kommission festgesetzten Bußgeldern bislang kaum umfangreichere Korrekturen vornahm, die überwiegend aus geringen Herabsetzungen bestanden, ist in der jüngsten Vergangenheit eine Tendenz zu einer umfassenderen Überprüfung auszumachen, die auch zur Erhöhung von Bußgeldern durch das EuG geführt hat (EuG verb. Rs.&nbsp;T-101/‌05 und T-111/‌05 – ''BASF'', Slg. 2007, II-4949).


Seit Inkrafttreten der VO&nbsp;1/‌2003 haben sich die den Behörden zu Gebote stehenden Sanktionen dem Instrumentarium der Verordnung angeglichen. Diese Entwicklung betraf vor allem die Möglichkeit, einstweilige Maßnahmen zu verhängen, Zusagen für verbindlich zu erklären und – obwohl hier die Kovergenz am wenigsten weit fortgeschritten ist – die Verfügbarkeit struktureller Abhilfemaßnahmen.
''Kollektiver Rechtsschutz:'' Um Defizite im kollektiven Rechtsschutz ([[Verbandsklage]]) auszugleichen, die insbesondere bei relativ geringwertigen Streuschäden einer wirksamen Entschädigung entgegenstehen und darüberhinaus zu prozessökonomischen Ineffizienzen führen, werden im Weißbuch die Einführung von Verbandsklagen durch besonders qualifizierte Einrichtungen sowie ''opt-in''-Gruppenklagen vorgeschlagen, zu denen sich einzelne Opfer ausdrücklich zusammenschließen, um ihre jeweiligen Schadenersatzansprüche in einer einzigen Klage zusammenzufassen.


Was die Methoden der Bußgeldberechnung angeht, so verwendet weniger als die Hälfte der nationalen Wettbewerbsbehörden Leitlinien, die, beginnend mit einem Ausgangsbetrag, eine schrittweise abzuarbeitende Bußgeldberechnung vorgeben, wie es die Bußgeldleitlinien der Kommission tun. Die übrigen Behörden berücksichtigen im Rahmen der Bußgeldbemessung eine Reihe von Kriterien, deren Gewichtung gar nicht oder aber nicht in demselben Umfang vorgegeben ist wie in der vorgenannten Gruppe. Auch zeigen sich bei der Bestimmung des für einen Ausgangsbetrag, sofern ein solcher vorgesehen ist, oder für die Bußgeldobergrenze maßgeblichen Umsatzes Divergenzen.
''Verhältnis zwischen Kronzeugenprogrammen und Schadenersatzklagen:'' Die Kommission und fast alle nationalen Wettbewerbsbehörden verfügen über Kronzeugenprogramme, in deren Rahmen Unternehmen ihre Beteiligung an einem Kartell anzeigen und die Behörde bei dessen Aufklärung und Ahndung unterstützen können. Im Gegenzug erhalten sie unter bestimmten Voraussetzungen einen Bußgelderlass oder eine Bußgeldermäßigung ([[Kartellverfahrensrecht]]). Kronzeugenprogramme haben sich als sehr erfolgreiches Mittel zur Aufdeckung von Kartellen erwiesen. Uneinigkeit besteht darüber, ob und inwieweit eine Stärkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung die Wirksamkeit solcher Programme gefährdet, indem sie potentielle Kronzeugen von einer Selbstanzeige abhält. Kronzeugen würden sich dem Risiko aussetzen, zwar ein Bußgeld abzuwenden, aber gleichzeitig die Grundlage für die eigene zivilrechtliche Inanspruchnahme zu schaffen. Ob die Sorge um die fortwährende Attraktivität von Kronzeugenprogrammen berechtigt ist, hängt zum einen davon ab, ob die destabilisierende Wirkung, die diese Programme auf Kartelle haben sollen, durch die Stärkung eines separaten Sanktionenregimes tatsächlich gemindert wird. Zum anderen ist die Justierung des Zusammenspiels von Kronzeugenprogrammen und privater Durchsetzung von Bedeutung, wie sie etwa durch eine haftungsrechtliche Privilegierung von Kronzeugen und Beschränkungen des Zugangs zu Kronzeugenanträgen erfolgen kann. So schlägt die Kommission in ihrem Weißbuch vor, dass Kronzeugenanträge gegen Offenlegung im Zivilprozess geschützt werden müssen.  


Trotz dieser Unterschiede ist ein erhebliches Maß an Konvergenz festzustellen. Das gilt vor allem, was die Akzeptanz der Bedeutung des mit dem betroffenen Produkt erzielten Umsatzes für die Bußgeldberechnung angeht. Auch werden die Bußgeldobergrenzen, die mit Ausnahme Dänemarks überall vorgesehen sind, ganz überwiegend umsatzabhängig formuliert (also nicht absolut). Daraus wird deutlich, dass Einigkeit über die anzustrebende general- und spezialpräventive Wirkung von Geldbußen besteht. Auch werden, bei möglichen Unterschieden der Gewichtung, von nahezu allen Behörden im Wesentlichen dieselben erschwerenden und mildernden Umstände als relevant angesehen (vgl. 2. a) zu diesen Umständen). Die Arbeitsgruppe Sanktionen der ''European Competition Authorities'' (ECA), eines Diskussionsforums der Wettbewerbsbehörden der EWR-Mitgliedstaaten, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde, hat im Mai 2008 unverbindliche Empfehlungen zur Bemessung von Geldbußen in Kartellverfahren gegen Unternehmen verabschiedet (''Principles for Convergence'') mit dem Ziel, das Bußgeldniveau der ECA-Mitglieder anzugleichen.  
''Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden:'' Dem Modell des dt. §&nbsp;33 Abs.&nbsp;4 GWB folgend, schlägt das Weißbuch eine Bindungswirkung bestandskräftiger Entscheidungen von mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden in kartellrechtlichen Schadensersatzprozessen vor. Stellt eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen die Art.&nbsp;81, 82 EG/‌101, 102 AEUV bestandskräftig fest, soll kein nationales Gericht – desselben oder eines anderen Mitgliedstaates – eine dieser Feststellung zuwiderlaufende Entscheidung treffen dürfen. Das Recht bzw. die Pflicht, ein Vorlageverfahren nach Art.&nbsp;234 EG/‌267 AEUV anzustrengen, soll unberührt bleiben. Das Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden würde damit dem zwischen nationalen Gerichten und Kommission weitgehend nachgebildet (vgl. Art.&nbsp;16(1) VO&nbsp;1/‌2003).
 
== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung  ==
Auf europäischer Ebene sind potenziell gegenläufige Entwicklungen zu beobachten. Die Bemühungen um eine Stärkung der privaten Durchsetzung gehen einher mit einer zunehmend ökonomisch geprägten Auslegung des Kartellrechts, die eine komplexere Prüfung der Auswirkungen des fraglichen Marktverhaltens erforderlich macht, bevor es als Kartellrechtsverstoß qualifiziert werden kann ([[Wettbewerb im Binnenmarkt]]; [[Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung]]). Die für eine solche Prüfung erforderlichen ökonomischen Daten können private Prozessparteien vor kaum zu überwindende Schwierigkeiten stellen.
 
Die Entwicklung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ist durch legislative Reformen in den Mitgliedstaaten, eine anwachsende Judikatur nationaler Gerichte und die Diskussion um eine sekundärrechtliche Harmonisierungsmaßnahme auf Gemeinschaftsebene geprägt. Eine solche Maßnahme, die grundsätzlich auf Art.&nbsp;83 oder 95 EG/‌103 oder 114 AEUV gestützt werden könnte, stellt ob der vielen Bezüge des Kartelldeliktsrechts zum allgemeinen Delikts- und Schadensrecht sowie zum Zivilprozessrecht eine Herausforderung dar. Diese Schwierigkeit geht mit dem Potenzial einher, als Impuls für eine über die europäische Kartellrechtsdurchsetzung hinausgehende ''de facto'' Harmonisierung zu wirken. Das gilt zum einen in Bezug auf die private Durchsetzung des nationalen Kartellrechts und zum anderen für die Erstreckung und Verallgemeinerung von Regelungen. So könnten etwa Vorgaben zum kollektiven Rechtsschutz durch Mitgliedstaaten nicht nur für kartellrechtliche Verfahren, sondern mit einem breiteren Anwendungsbereich umgesetzt werden. Die Vielzahl der Bezüge zu anderen Rechtsgebieten bedeutet aber auch, dass die private Durchsetzung des europäischen Kartellrechts selbst nach einer sekundärrechtlichen Maßnahme nicht ohne Rückgriff auf die nationalen Rechte auskommen dürfte.


==Literatur==
==Literatur==
''Dermot Cahill'','' John D. Cooke'' (Hg.), The Modernisation of EU Competition Law Enforcement in the EU, FIDE 2004 National Reports, 2004; ''Dorothe Dalheimer'','' Christoph T. Feddersen'','' Gerald Miersch'', EU-Kartellverfahrensverordnung – Kommentar zur VO&nbsp;1/‌2003, Sonderausgabe aus Grabitz/‌Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Nach Art. 83&nbsp;EGV, 2005; ''Wouter P.J. Wils'', Principles of European antitrust enforcement, 2005; ''idem'', The European Commission’s 2006 Guidelines on Antitrust Fines: A Legal and Economic Analysis, World Competition 2007, 197&nbsp;ff.; ''Philip Lowe'','' Frank Maier-Rigaud'', Quo Vadis Antitrust Remedies, in: Barry Hawk (Hg.), International Antitrust Law & Policy, 2007, 597&nbsp;ff.; ''Heribert Franz Koeck'', ''Margit Maria Karollus ''(Hg.), The Modernisation of European Competition Law – Initial Experiences with Regulation 1/‌2003, FIDE Congress 2008, Bd.&nbsp;2, 2008; ''Callum Campbell'' (Hg.), Cartel Regulation, 2008; ''Per Hellström'','' Frank Maier-Rigaud'','' Friedrich Wenzel Bulst'', Remedies in European Antitrust Law, Antitrust Law Journal 2009, im Erscheinen.
''Karsten Schmidt'','' ''Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977; ''Wolfgang Wurmnest'', Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, 2003; ''Jürgen Basedow'', Die Durchsetzung des Kartellrechts im Zivilverfahren, in: Carl Baudenbacher (Hg.),'' ''Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht, 2006, 353&nbsp;ff.; ''Friedrich Wenzel Bulst'', Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006; ''Josef Drexl'', Zur Schadensersatzberechtigung unmittelbarer und mittelbarer Abnehmer im europäisierten Kartelldeliktsrecht, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd.&nbsp;I, 2007, 1339&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'' (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 2007; ''Thomas M.J. Möllers'', ''Andreas Heinemann ''(Hg.), The Enforcement of Competition Law in Europa, 2007; ''Assimakis P. Komninos'', EC Private Antitrust Enforcement: Decentralised Application of EC Competition Law by National Courts, 2008; ''Jacqueline Riffault-Silk'', Private enforcement of European competition law: a short review of national judicial decisions, Revue Lamy de la concurrence 2008, 93&nbsp;ff.; ''Friedrich Wenzel Bulst'', Of Arms and Armour – The European Commission’s White Paper on Damages Actions for Breach of EC Antitrust Law, Bucerius Law Journal 2008, 81&nbsp;ff.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Competition_Law_(Sanctions)]]
[[en:Competition_Law_(Private_Enforcement)]]

Version vom 8. September 2021, 12:39 Uhr

von Friedrich Wenzel Bulst

1. Gegenstand und Zweck

Die Grundnormen des europäischen Kartellrechts (Kartellverbot und Freistellung; Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung; Wettbewerb im Binnenmarkt), die Art. 81(1), 82 EG/‌101, 102 AEUV, sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH unmittelbar anwendbar. Seit Inkrafttreten der VO 1/‌2003 am 1.5.2004 gilt das auch für Art. 81(3) EG/‌101(3) AEUV (Kartellverbot und Freistellung; Kartellverfahrensrecht). Die VO 1/‌2003 sollte die Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV durch eine verstärkte Einbindung der Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten dezentralisieren. Zuvor wurden beide Artikel in erster Linie durch die Europäische Kommission und in geringerem Umfang auch durch nationale Wettbewerbsbehörden durchgesetzt (Kartellverfahrensrecht; Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen). Die nationalen Gerichte, die Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, hingegen spielten bei der Anwendung des EG-Kartellrechts eine untergeordnete Rolle.

Bei privaten Kartellrechtsstreitigkeiten ist zu unterscheiden zwischen vertraglichen Auseinandersetzungen, in denen sich eine der Vertragsparteien auf die Kartellrechtswidrigkeit und Nichtigkeit einer Vereinbarung (Kartellverbot und Freistellung; Vertikalvereinbarungen; Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen) beruft sowie gegebenenfalls Schadensersatz verlangt, und nichtvertraglichen Auseinandersetzungen, in denen Dritte gegen Wettbewerbsverstöße von Unternehmen mit Unterlassungs- und Schadensersatzklagen vorgehen. Innerhalb dieser Verfahrensart ist zu unterscheiden zwischen Klagen, die im Nachgang zu einer Behördenentscheidung, mit der ein Kartellrechtsverstoß festgestellt wurde, erhoben werden (sog. Folgeklagen), und von Verwaltungsverfahren unabhängigen Klagen. Schadensersatzklagen beider Spielart sind in der Gemeinschaft bis zum Jahre 2005 kaum bekannt geworden. Auch wenn die Zahl von Folgeklagen in einigen Mitgliedstaaten seitdem deutlich angestiegen ist, bleiben kartellrechtliche Schadensersatzklagen in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten die Ausnahme, obwohl nach allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen grundsätzlich ein deliktischer Anspruch (Deliktsrecht) auf Ersatz von durch Kartellrechtsverstöße verursachten Schäden besteht.

Es besteht eine gewisse Spannung zwischen dieser rechtstatsächlichen Lage und dem Urteil in der Rechtssache Courage, in dem der EuGH die Bedeutung privater Schadensersatzklagen gegen Kartellanten für die wirksame Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV hervorgehoben hat. Hiernach wäre die volle Wirksamkeit des Art. 81 EG/‌101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des Verbots des Art. 81 (1) EG/‌101(1) AEUV beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Verstoß gegen diese Vorschrift entstanden ist (EuGH Rs. C-453/‌99 – Courage Ltd/‌Crehan, Slg. 2001, I-6297, Rn. 26; bestätigt durch EuGH Rs. C-295/‌04-C-298/‌04 – Manfredi, Slg. 2006, I-6619, Rn. 60). Für Art. 82 EG/‌102 AEUV dürfte der EuGH zu derselben Einschätzung gelangen, böte sich die Gelegenheit.

Das Courage-Urteil, mehr noch als die VO 1/‌ 2003, hat der privaten Durchsetzung viel Aufmerksamkeit beschert. In einigen Mitgliedstaaten, wie Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Ungarn, haben die Gesetzgeber seit 2002 Maßnahmen ergriffen, um die private Kartellrechtsdurchsetzung zu stärken. In allen diesen Mitgliedstaaten soll die private die öffentlichrechtliche Durchsetzung ergänzen, nicht ersetzen. Dasselbe Ziel verfolgt die Kommission. Im Dezember 2005 veröffentlichte sie ein Grünbuch (KOM(2005) 672 endg.) und im April 2008 ein Weißbuch (KOM(2008) 165 endg.) zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV, jeweils begleitet von einem ausführlichen Arbeitspapier. Darin werden verschiedene Regelungsoptionen (Grünbuch) bzw. Vorschläge (Weißbuch) zur Stärkung der privaten Durchsetzung vorgestellt. Das Weißbuch fasst zudem den bereits erreichten acquis communautaire aus Sicht der Kommission zusammen.

Im Grünbuch wurde unter anderem ein über die bloße Kompensation entstandener Schäden hinausgehendes und dezidiert auf Abschreckung von Kartellrechtsverstößen gerichtetes Schadensersatzregime erwogen. Diese Überlegungen sind im Weißbuch weitestgehend zugunsten einer Beschränkung auf primär kompensatorisch wirkende Vorschläge aufgegeben worden, die Abschreckung nur als Nebeneffekt verfolgen. Ob der EuGH in Courage und später Manfredi vor allem die kompensatorische Wirkung von Schadensersatzklagen, also den effektiven Individualrechtschutz, oder aber ihre abschreckende Wirkung, also die effektive Durchsetzung von Verbotsnormen, vor Augen hatte, wird kontrovers diskutiert.

In der rechtspolitischen Diskussion wird jedoch auch die grundsätzlichere Frage gestellt, ob die private Kartellrechtsdurchsetzung überhaupt, d.h. selbst in ihrer kompensatorischen Funktion, gestärkt werden soll. Umstritten ist gleichermaßen, ob eine Stärkung durch eine Gemeinschaftsmaßnahme erfolgen sollte. Die Positionierung in dieser politischen Debatte folgt weithin den wirtschaftlichen Interessen ihrer Protagonisten.

2. Einzelaspekte

a) Rechtliche Grundlage

Die Diskussion um die rechtliche Grundlage von Schadensersatzansprüchen für Verstöße gegen das Gemeinschaftskartellrecht hat in den Schlussanträgen des Generalanwalts Walter van Gerven in der Rechtssache Banks und den Anmerkungen dazu einen ersten Höhepunkt gefunden (Rs. C-128/‌92, Slg. 1994, I-1209, Rn. 36 ff.), bevor sie durch das Courage-Urteil wieder neu beflügelt wurde. Es ist nach wie vor umstritten, ob sich solche Ansprüche allein auf die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV stützen lassen (so van Gerven) oder sich innerhalb der Grenzen europarechtlicher Vorgaben nach nationalem Recht richten. Der EuGH zitiert in Courage zwar das Urteil des EuGH in der Rechtssache Francovich (Rs. C-6/‌90 und C-9/‌90, Slg. 1991, 5357) und damit die Leitentscheidung für den eindeutig auf dem Gemeinschaftsrecht fußenden staatshaftungsrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht verletzen, bezeichnet die Sanktion des Schadensersatzes in Courage anders als in Francovich aber nicht ausdrücklich als einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz. Die Frage ist nahezu ohne praktische Bedeutung. Da das Gemeinschaftsrecht die Voraussetzungen des Anspruchs unstreitig nur in Ansätzen subsumtionsfähig regelt, sind diese dem nationalen Recht zu entnehmen, das insoweit den Anforderungen des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitäts- und des Äquivalenzprinzips genügen muss. Beide Ansätze nehmen damit in der Praxis das nationale Recht zum Ausgangspunkt und bestimmen bei Bedarf sowohl seine Korrekturbedürftigkeit als auch das Korrekturergebnis anhand des Effektivitäts- und des Äquivalenzprinzips.

Den Urteilen Courage und Manfredi und der Rechtsprechung des EuGH zur Staats- und Gemeinschaftshaftung sowie zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben können bereits grobe Konturen einer dem Effektivitätsprinzip genügenden Ausgestaltung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches entnommen werden.

b) Acquis communautaire

Anspruchsberechtigung: Was die Anspruchsberechtigung angeht, kann nach der Rechtsprechung des EuGH in Courage und Manfredi als gesicherter acquis communautaire gelten, dass jeder Geschädigte anspruchsberechtigt ist, wenn zwischen seinem Schaden und dem Kartellrechtsverstoß eine hinreichend unmittelbare (s.u.) kausale Beziehung besteht. Damit sind nicht nur die direkten Abnehmer eines gegen das Kartellrecht verstoßenden Unternehmens anspruchsberechtigt, sondern zum Beispiel auch die Abnehmer des Abnehmers, sog. Folgeabnehmer. Ein Folgeabnehmer kann geschädigt sein, wenn der Direktabnehmer eines Kartellanten oder Marktbeherrschers einen kartellrechtswidrig überhöhten Preis auf den Folgeabnehmer abwälzt (Schadensabwälzung).

Schadensersatz: Nach der Rechtsprechung des EuGH steht als acquis communautaire zum ersatzfähigen Schaden fest, dass ein Geschädigter Ersatz des Vermögensschadens (damnum emergens), des entgangenen Gewinns (lucrum cessans) und die Zahlung von Zinsen verlangen können muss. Der EuGH entnimmt diese Vorgaben in Manfredi dem Effektivitätsprinzip, nach dem insbesondere Ersatz für entgangenen Gewinn nicht vollständig ausgeschlossen werden darf, da anderenfalls insbesondere bei Rechtsstreitigkeiten kommerzieller Natur ein Ersatz der tatsächlich entstandenen wirtschaftlichen Beeinträchtigung nicht gewährleistet werden könne. Die Mitgliedstaaten dürfen nicht a priori eine absolute Anspruchsobergrenze vorsehen. Es ist ihnen jedoch unbenommen, dafür Sorge zu tragen, dass der Schadensersatz nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Geschädigten führt. Nach dem Äquivalenzprinzip sind auch besondere Arten des Schadensersatzes zu gewähren, wie insbesondere Strafschadensersatz, sofern ein entsprechender Anspruch bei Verstößen gegen nationales Kartellrecht besteht. Erwartungen, in England würden im Rahmen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung exemplary damages gewährt, haben sich bislang nicht bestätigt. Für Folgeklagen wurden solche Ansprüche sogar ausdrücklich ausgeschlossen.

Bei Kartellrechtsverstößen, die zu höheren als sich bei Wettbewerb bildenden Preisen führen, bedeuten diese Grundsätze, dass einem Abnehmer jedenfalls die Differenz zwischen dem gezahlten, rechtswidrig überhöhten Preis und dem hypothetischen Wettbewerbspreis zu ersetzen ist. Bei Abnehmern, die das von dem Verstoß betroffene Gut weiterverkaufen, also Zwischenhändlern, stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem Ersatz eines entgangenen Gewinns. Ohne die Zuwiderhandlung hätte der Zwischenhändler regelmäßig nicht nur pro Einheit günstiger, sondern auch mehr Einheiten des fraglichen Gutes erworben. Darin zeigt sich die angebotsverknappende Wirkung des Wettbewerbsverstoßes (dead weight loss). Das heißt, in Bezug auf die kartellbedingt nicht erworbenen Einheiten des Gutes kann dem Zwischenhändler eine Marge entgangen sein. Dieser Gewinnentgang muss nach dem acquis ebenfalls ersetzt werden. Er ließe sich einerseits als Schadensposten zur Preisdifferenz hinzuaddieren. Andererseits ließe sich aber auch der gesamte Schaden des Zwischenhändlers nur als Gewinnentgang betrachten, d.h. als die Differenz zwischen dem Gewinn, den er mit dem fraglichen Gut ohne den Verstoß erwirtschaftet hätte und dem tatsächlich erwirtschafteten Gewinn. Welche Betrachtung sachgerecht ist, ergibt sich vor allem aus der Behandlung des sog. Einwands der Schadensabwälzung.

Schadensabwälzung: So wie sich klagende Folgeabnehmer auf eine Schadensabwälzung durch den Zwischenabnehmer auf sie berufen, behaupten Beklagte häufig, die sie in Anspruch nehmenden (Direkt‑)Abnehmer hätten selbst keinen Schaden erlitten, sondern den kartellrechtswidrigen Preisaufschlag an ihre Abnehmer weitergegeben. Hält man diesen Einwand für unbeachtlich, kann es zu einer Mehrfachhaftung des Kartellanten oder Marktbeherrschers für denselben Schadensposten kommen, wenn sowohl Direkt- als auch Folgeabnehmer klagen. Erklärt man den Einwand aber für beachtlich, werden Direktabnehmerklagen – je nach Beweislastverteilung hinsichtlich der Abwälzung – deutlich erschwert mit dem Ergebnis, dass eine private Kartellrechtsdurchsetzung unter Umständen nicht stattfindet. Folgeabnehmer gelten nämlich, weil sie oft nur Streuschäden erleiden, als weniger klagebereit als Direktabnehmer. Zudem wird es ihnen wegen der geringeren Nähe zum Verstoß häufig schwerer fallen, diesen und ihren kausalen Schaden zu beweisen.

Wie eine Rechtsordnung das Abwälzungsproblem löst, sagt viel darüber aus, ob sie in erster Linie das Ziel verfolgt, den Schädiger um die Früchte seines Verstoßes zu bringen und dadurch ggf. eine Abschreckungswirkung zu erzielen, oder ob sie vor allem die Opfer von Verstößen entschädigen soll. Soweit sich hierzu bereits ein acquis communautaire formulieren lässt, ergibt er sich außer aus Courage und Manfredi aus der EuGH-Rechtsprechung zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben (EuGH Rs. C-147/‌01 – Weber's Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 95 ff.). Danach erscheint die Berücksichtigung des Abwälzungseinwands insoweit zulässig, als sie eine Bereicherung des Anspruchstellers verhindert und der Schädiger die Beweislast für die erfolgte Abwälzung trägt. Die Beachtlichkeit des Einwands ist gemeinschaftsrechtlich jedoch nur erlaubt, nicht geboten.

Nach dem Weißbuch soll die beklagte Partei das Recht haben, den Schadensabwälzungseinwand geltend zu machen, muss die Abwälzung aber beweisen. Folgeabnehmer sollen sich auf eine widerlegliche Vermutung berufen können, dass der kartellrechtswidrige Preisaufschlag in vollem Umfang auf sie abgewälzt wurde.

Kausalität: Der EuGH hat in Manfredi explizit auf das Kausalitätserfordernis als Anspruchsvoraussetzung hingewiesen. Der Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung kann vor allem entnommen werden, dass das Effektivitätsprinzip eine kausale Zurechnung nur bei hinreichender Unmittelbarkeit zwischen einem Verstoß und seinen Folgen gebietet (EuGH verb. Rs. 64/‌76 – Durmotier Frères, Slg. 1979, 3091, Rn. 21).

Verschulden: Uneinheitlich beurteilt wird die Reichweite des acquis zu der Frage, ob nationales Recht das Bestehen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches an den Nachweis eines Verschuldens knüpfen darf, wie es die Mehrheit der mitgliedstaatlichen Haftungsregime tut. Dem Weißbuch zufolge ist nur ein auf sehr spezifische und außerordentliche Umstände begrenztes Verschuldenserfordernis mit dem Effektivitätsprinzip vereinbar. Die Urteile Courage und Manfredi sowie die Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung lassen sich jedoch auch offener interpretieren. Unbestritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht kein Verschuldenserfordernis vorschreibt.

Verjährung: Dem Urteil in Manfredi lässt sich mit dem Weißbuch entnehmen, dass das Effektivitätsprinzip verletzt wird, wenn eine kurze Verjährungsfrist (Verjährung) bereits mit der ersten Verwirklichung eines Kartells zu laufen beginnt und nicht unterbrochen werden kann. Bei fortgesetzten oder wiederholten Zuwiderhandlungen droht dann nämlich ein Verjährungsende noch vor Beendigung des Verstoßes.

Beweislast: Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art. 81(1), 82 EG/‌101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art. 2 VO 1/‌2003 die Partei, die sich darauf beruft. Für die Voraussetzungen des Art. 81 (3) EG/‌101(3) AEUV gilt nach Art. 2 VO 1/‌2003 dasselbe.

Anwendbares Recht: Gemäß Art. 6(3)(a) und den Erwägungsgründen 22 und 23 der Rom II-VO (VO 864/‌2007) wird das auf kartelldeliktsrechtliche Ansprüche anwendbare Recht grundsätzlich nach dem Marktortprinzip bestimmt, d.h. es ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird. Wird der Markt in mehr als einem Staat beeinträchtigt, gilt die differenzierte Regelung des Art. 6(3)(b) Rom II-VO.

c) Das Weißbuch der Kommission

Die Kommission schlägt in ihrem Weißbuch neben einer klarstellenden Kodifizierung der wesentlichen Elemente des bisherigen acquis eine Reihe von Regelungen vor, um den privaten Kartelldeliktsschutz wirksamer zu gestalten.

Zugang zu Beweismitteln: In Kartellrechtsfällen befinden sich die für den Beweis (Beweisrecht) der Zuwiderhandlung oder die Bezifferung eines Schadens nötigen Unterlagen oft im Besitz der des Verstoßes verdächtigten Partei. Um den Zugang zu Beweismitteln zu verbessern, wird im Weißbuch in Fortführung des der RL 2004/‌48 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums zugrunde liegenden Ansatzes (Geistiges Eigentum (Durchsetzung)) ein Verfahren zur Offenlegung von Beweismitteln zwischen den Parteien eines Rechtsstreits unter Aufsicht des Gerichts vorgeschlagen.

Kollektiver Rechtsschutz: Um Defizite im kollektiven Rechtsschutz (Verbandsklage) auszugleichen, die insbesondere bei relativ geringwertigen Streuschäden einer wirksamen Entschädigung entgegenstehen und darüberhinaus zu prozessökonomischen Ineffizienzen führen, werden im Weißbuch die Einführung von Verbandsklagen durch besonders qualifizierte Einrichtungen sowie opt-in-Gruppenklagen vorgeschlagen, zu denen sich einzelne Opfer ausdrücklich zusammenschließen, um ihre jeweiligen Schadenersatzansprüche in einer einzigen Klage zusammenzufassen.

Verhältnis zwischen Kronzeugenprogrammen und Schadenersatzklagen: Die Kommission und fast alle nationalen Wettbewerbsbehörden verfügen über Kronzeugenprogramme, in deren Rahmen Unternehmen ihre Beteiligung an einem Kartell anzeigen und die Behörde bei dessen Aufklärung und Ahndung unterstützen können. Im Gegenzug erhalten sie unter bestimmten Voraussetzungen einen Bußgelderlass oder eine Bußgeldermäßigung (Kartellverfahrensrecht). Kronzeugenprogramme haben sich als sehr erfolgreiches Mittel zur Aufdeckung von Kartellen erwiesen. Uneinigkeit besteht darüber, ob und inwieweit eine Stärkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung die Wirksamkeit solcher Programme gefährdet, indem sie potentielle Kronzeugen von einer Selbstanzeige abhält. Kronzeugen würden sich dem Risiko aussetzen, zwar ein Bußgeld abzuwenden, aber gleichzeitig die Grundlage für die eigene zivilrechtliche Inanspruchnahme zu schaffen. Ob die Sorge um die fortwährende Attraktivität von Kronzeugenprogrammen berechtigt ist, hängt zum einen davon ab, ob die destabilisierende Wirkung, die diese Programme auf Kartelle haben sollen, durch die Stärkung eines separaten Sanktionenregimes tatsächlich gemindert wird. Zum anderen ist die Justierung des Zusammenspiels von Kronzeugenprogrammen und privater Durchsetzung von Bedeutung, wie sie etwa durch eine haftungsrechtliche Privilegierung von Kronzeugen und Beschränkungen des Zugangs zu Kronzeugenanträgen erfolgen kann. So schlägt die Kommission in ihrem Weißbuch vor, dass Kronzeugenanträge gegen Offenlegung im Zivilprozess geschützt werden müssen.

Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden: Dem Modell des dt. § 33 Abs. 4 GWB folgend, schlägt das Weißbuch eine Bindungswirkung bestandskräftiger Entscheidungen von mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden in kartellrechtlichen Schadensersatzprozessen vor. Stellt eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV bestandskräftig fest, soll kein nationales Gericht – desselben oder eines anderen Mitgliedstaates – eine dieser Feststellung zuwiderlaufende Entscheidung treffen dürfen. Das Recht bzw. die Pflicht, ein Vorlageverfahren nach Art. 234 EG/‌267 AEUV anzustrengen, soll unberührt bleiben. Das Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden würde damit dem zwischen nationalen Gerichten und Kommission weitgehend nachgebildet (vgl. Art. 16(1) VO 1/‌2003).

3. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Auf europäischer Ebene sind potenziell gegenläufige Entwicklungen zu beobachten. Die Bemühungen um eine Stärkung der privaten Durchsetzung gehen einher mit einer zunehmend ökonomisch geprägten Auslegung des Kartellrechts, die eine komplexere Prüfung der Auswirkungen des fraglichen Marktverhaltens erforderlich macht, bevor es als Kartellrechtsverstoß qualifiziert werden kann (Wettbewerb im Binnenmarkt; Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung). Die für eine solche Prüfung erforderlichen ökonomischen Daten können private Prozessparteien vor kaum zu überwindende Schwierigkeiten stellen.

Die Entwicklung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ist durch legislative Reformen in den Mitgliedstaaten, eine anwachsende Judikatur nationaler Gerichte und die Diskussion um eine sekundärrechtliche Harmonisierungsmaßnahme auf Gemeinschaftsebene geprägt. Eine solche Maßnahme, die grundsätzlich auf Art. 83 oder 95 EG/‌103 oder 114 AEUV gestützt werden könnte, stellt ob der vielen Bezüge des Kartelldeliktsrechts zum allgemeinen Delikts- und Schadensrecht sowie zum Zivilprozessrecht eine Herausforderung dar. Diese Schwierigkeit geht mit dem Potenzial einher, als Impuls für eine über die europäische Kartellrechtsdurchsetzung hinausgehende de facto Harmonisierung zu wirken. Das gilt zum einen in Bezug auf die private Durchsetzung des nationalen Kartellrechts und zum anderen für die Erstreckung und Verallgemeinerung von Regelungen. So könnten etwa Vorgaben zum kollektiven Rechtsschutz durch Mitgliedstaaten nicht nur für kartellrechtliche Verfahren, sondern mit einem breiteren Anwendungsbereich umgesetzt werden. Die Vielzahl der Bezüge zu anderen Rechtsgebieten bedeutet aber auch, dass die private Durchsetzung des europäischen Kartellrechts selbst nach einer sekundärrechtlichen Maßnahme nicht ohne Rückgriff auf die nationalen Rechte auskommen dürfte.

Literatur

Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977; Wolfgang Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, 2003; Jürgen Basedow, Die Durchsetzung des Kartellrechts im Zivilverfahren, in: Carl Baudenbacher (Hg.), Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht, 2006, 353 ff.; Friedrich Wenzel Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006; Josef Drexl, Zur Schadensersatzberechtigung unmittelbarer und mittelbarer Abnehmer im europäisierten Kartelldeliktsrecht, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. I, 2007, 1339 ff.; Jürgen Basedow (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 2007; Thomas M.J. Möllers, Andreas Heinemann (Hg.), The Enforcement of Competition Law in Europa, 2007; Assimakis P. Komninos, EC Private Antitrust Enforcement: Decentralised Application of EC Competition Law by National Courts, 2008; Jacqueline Riffault-Silk, Private enforcement of European competition law: a short review of national judicial decisions, Revue Lamy de la concurrence 2008, 93 ff.; Friedrich Wenzel Bulst, Of Arms and Armour – The European Commission’s White Paper on Damages Actions for Breach of EC Antitrust Law, Bucerius Law Journal 2008, 81 ff.