Europäischer Gerichtshof: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Jörg Pirrung

1. Aufgabe

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) sichert im Rahmen seiner Zuständigkeiten die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrags und des Euratom-Vertrags sowie des Sekundärrechts der Gemeinschaften, Art. 220(1) EG/ im Wesentlichen ersetzt durch Art. 9f EU (2007), 136(1) EuratomV (als im Folgenden nicht mehr ausdrücklich erwähnte Parallelvorschrift). Er ist der Sache nach das „Verfassungsgericht“ der Gemeinschaften. Seine wichtigsten Aufgaben sind die Behandlung von Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte der Mitgliedstaaten über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts und die Gültigkeit von Akten der Gemeinschaftsorgane, von Vertragsverletzungsverfahren, von Klagen der Organe gegeneinander, Art. 226 ff. EG/258 ff. AEUV, und die Erstellung von Gutachten über die Vereinbarkeit von geplanten Übereinkünften mit dem EG-Vertrag nach Art. 300(6) EG/218(11) AEUV. Er ist die letzte Instanz in der Gemeinschaftsrechtsprechung: Gegen jede Entscheidung des Gerichts erster Instanz der EG (EuG) kann bei ihm ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel eingelegt werden, Art. 225(1)(I)2 EG/256(1)(I)2 AEUV; selbst wenn das EuG als Rechtsmittelgericht (gegen Entscheidungen des Gerichts für den öffentlichen Dienst der EU) oder gegebenenfalls auf einigen besonderen Gebieten in Zukunft als Vorabentscheidungsgericht urteilt, kann er ausnahmsweise (von seinem Ersten Generalanwalt) gegen solche Urteile angerufen werden, wenn die Einheit oder Kohärenz des Gemeinschaftsrechts ernsthaft gefährdet erscheint, Art. 225(2)2, (3)2 EG/256(2)2, (3)2 AEUV.

Der EuGH hat seine Arbeit 1952 als Gericht des (50 Jahre später ausgelaufenen) EGKS-Vertrags in Luxemburg mit sieben Richtern und einem Generalanwalt aufgenommen. Zum 1.1. 1958 kamen die Zuständigkeiten nach EWG-Vertrag und Euratom-Vertrag hinzu. Bis 1989 war er das einzige Gericht der Gemeinschaften und damit auch für Verwaltungs- (einschließlich EG-Beamten‑) und Zivilsachen zuständig; seitdem hat er immer mehr verwaltungs- und zivilgerichtliche Zuständigkeiten an das EuG abgegeben. Er bleibt aber das zentral für Grundsatzfragen und die eventuelle Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts sowie für dessen Auslegung insbesondere auch im vereinheitlichten Zivilrecht verantwortliche Gericht. Eine große Herausforderung auch für ihn war die Erweiterung der EU von 2004/2007 um 12 neue Mitgliedstaaten.

2. Organisation

Dem EuGH gehört ein Richter je Mitgliedstaat an, Art. 221(1) EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 9f(2)(II) EU (2007); er hat daher seit 1.1.2007 27 richterliche Mitglieder und (weiterhin) acht Generalanwälte, Art. 222 EG/252 AEUV. Aufgabe der Generalanwälte ist es, in voller Unabhängigkeit Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen ein Generalanwalt nach der Satzung des EuGH mitzuwirken hat. Solche Schlussanträge ergehen auf gleicher Grundlage wie die Entscheidungen des EuGH selbst, in der Regel einige Wochen nach der mündlichen Verhandlung. Sie sind umfassende Gutachten zur Sach- und Rechtslage und enden mit einem tenorartigen Vorschlag für die Entscheidung des EuGH. Dass der EuGH den Schlussanträgen in etwa 80 % der Fälle folgt, ist nicht mehr als eine Faustregel. Richter und Generalanwälte müssen jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sein. Vor ihrem Mandat beim EuGH waren die meisten hohe Ministerialbeamte, Politiker, Richter, Professoren oder Anwälte. Die Regierungen der Mitgliedstaaten ernennen sie im gegenseitigen Einvernehmen jeweils für sechs Jahre mit teilweiser Neubesetzung alle drei Jahre; sie können, auch mehrfach, wieder ernannt werden. Die durchschnittliche Amtszeit beträgt etwas über neun Jahre. Vier Mitglieder des EuGH waren nacheinander Generalanwalt und Richter, sieben vorher Richter am EuG.

Die Organisation des EuGH ist im Protokoll über seine Satzung und in einer Verfahrensordnung geregelt, die der Gerichtshof mit Genehmigung des Rates erlässt, für die eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, Art. 223(6) EG/253(6) AEUV. Die Richter wählen in einer Vollversammlung den Präsidenten des Gerichtshofs für drei Jahre bei zulässiger Wiederwahl. Die bisherigen Präsidenten waren der Italiener Massimo Pilotti (1952-1958), der Niederländer Andreas Matthias Donner (1958-1964), der Luxemburger Charles Leon Hammes (1964-1967), der Franzose Robert Lecourt (1967-1976), der Deutsche Hans Kutscher (1976-1980), der Belgier Josse J. Mertens de Wilmars (1980-1984), der Brite Alexander J. Mackenzie Stuart (1984-1988), der Däne Ole Due (1988-1994) und der Spanier Gil Carlos Rodrigues Iglésias (1994-2003). Seit Oktober 2003 ist es der Grieche Vassilios Skouris.

Die Richter wählen auch den Kanzler des Gerichtshofs, der für die Verwaltung des EuGH verantwortlich ist, für eine verlängerbare Amtszeit von sechs Jahren. Ihm unterstehen u.a. vier Generaldirektionen, die für Personal und Finanzen/Infrastrukturen/Bibliothek, Wissenschaftlichen Dienst und Dokumentation/Übersetzung zuständig sind, und zwar auch, soweit diese für EuG und Gericht für den öffentlichen Dienst arbeiten. Der Wissenschaftliche Dienst hat u.a. die Aufgabe, auf Anforderung durch die Spruchkörper der drei Gerichte bzw. das jeweilige Plenum rechtsvergleichende Zusammenstellungen zu erarbeiten, deren Ergebnisse nach außen meist allenfalls im Rahmen von Hinweisen in Schlussanträgen der Generalanwälte erkennbar werden. Dem Übersetzungsdienst gehört zusammen mit dem Dolmetscherdienst mehr als die Hälfte des Personals des EuGH an.

Nach Art. 221(2), (3) EG/251(1), (2) AEUV, Art. 16 der Satzung tagt der EuGH regelmäßig in Kammern von fünf oder – in weniger bedeutsamen Angelegenheiten – drei Richtern. In besonders wichtigen Sachen oder auf Antrag eines Mitgliedstaats oder eines Gemeinschaftsorgans entscheidet die Große Kammer mit 13 Richtern unter dem Vorsitz des Präsidenten des EuGH; ihr gehören alle Vorsitzenden der Kammern mit fünf Richtern, der Berichterstatter und weitere anhand einer im Voraus bestimmten Liste ausgewählte Richter an. Bei Verfahren über Pflichtverletzungen von Kommissaren und Amtsenthebung von Mitgliedern des Rechnungshofs oder der Europäischen Kommission sowie des Bürgerbeauftragten und über die (Einstimmigkeit ohne den Betroffenen erfordernde) Amtsenthebung von Richtern entscheidet das Plenum, Art. 6, 16 der Satzung. Alle 27 Richter wählen aus ihrer Mitte die Kammervorsitzenden, diejenigen der „erweiterten“ Kammern mit fünf Richtern für drei Jahre mit einmaliger Wiederwahlmöglichkeit. Zu den vier erweiterten Kammern, denen je sechs oder sieben Richter zugewiesen sind, kommen vier Kammern, die in 3er-Besetzung entscheiden und denen jeweils die fünf bzw. sechs Beisitzer der vier erweiterten Kammern angehören; von diesen nimmt einer jeweils für ein Jahr die Aufgaben des Vorsitzenden wahr. Welche beisitzenden Richter in den einzelnen Verfahren mitwirken, bestimmt sich nach einer im Amtsblatt veröffentlichten Liste. Der Vorbericht des vom Präsidenten des EuGH ausgewählten Berichterstatters ist der Generalversammlung vorzulegen, die aufgrund der Vorschläge des Berichterstatters über die Zuweisung der Sache an die erweiterte Kammer, der dieser angehört, oder an eine Kammer mit anderer Richterzahl entscheidet.

3. Verfahren

Die Vorschriften über das Verfahren finden sich in den Gründungsverträgen (insbesondere Art. 230 ff. EG/263 ff. AEUV), in der diesen als Protokoll beigefügten Satzung des Gerichtshofs und in der Verfahrensordnung des EuGH. Die wichtigste Verfahrensart vor dem EuGH ist das Vorlageverfahren nach Art. 234 EG/267 AEUV, 23 der Satzung, das knapp die Hälfte der vom EuGH zu behandelnden Sachen ausmacht. Stellt sich vor einem Gericht eines Mitgliedstaats in einem anhängigen Verfahren eine Frage zur Auslegung des EG-Vertrags bzw. von auf seiner Grundlage erlassenem Sekundärrecht oder der Gültigkeit von Akten der Gemeinschaftsorgane und hält das Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es die Frage dem EuGH vorlegen. Eine Ausnahme macht Art. 68(1) EG/aufgehoben (durch den Vertrag von Lissabon), der die Vorlagebefugnis insbesondere in Fällen der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen letztinstanzlichen Gerichten vorbehält. Falls seine Entscheidung selbst nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, also insbesondere wenn es als Revisionsgericht entscheidet, muss ein Gericht (auch nach Art. 68 EG/aufgehoben) den EuGH anrufen. Das in der Sprache des vorlegenden Gerichts verfasste Ersuchen muss den Gegenstand des Ursprungsverfahrens darstellen und die aufzuwerfenden Fragen enthalten; es sollte das Vorbringen der Parteien des Ausgangsverfahrens dazu mitteilen und die Vorlage begründen, braucht jedoch keinen Vorschlag für die Antwort des EuGH zu machen; zu beachten sind auch die Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen von 2005. Das Ersuchen wird den Mitgliedstaaten in der Originalsprache, die Verfahrenssprache ist, mit einer Übersetzung (gegebenenfalls nur einer Zusammenfassung der wesentlichen Elemente) in ihre Amtssprachen zugestellt, Art. 104 § 1 der Verfahrensordnung. Sie haben, ebenso wie die Kommission sowie das Organ, das den fraglichen Akt erlassen hat, und die Parteien des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit, binnen zwei Monaten zu dem Ersuchen Stellung zu nehmen. Bei schon früher vom EuGH beantworteten Fragen oder solchen, deren Beantwortung keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, kann der EuGH durch Beschluss entscheiden. Sonst ist grundsätzlich eine mündliche Verhandlung vorgesehen. Auf sie kann der EuGH aber nach Unterrichtung der Beteiligten auch verzichten (durch Beschluss nach Art. 44a der Verfahrensordnung). In bestimmten Fällen dürfen sich die EWR-Staaten (und nach Art. 23(4) der Satzung auch andere Drittstaaten) an Verfahren beteiligen.

Der EuGH erlässt sein Urteil in der Sprache des ersuchenden Gerichts auf der Grundlage der schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen und der einige Wochen nach der Sitzung zu stellenden Schlussanträge des Generalanwalts, der auch eine andere als die Verfahrenssprache verwenden kann. Der EuGH kann in diesem Zwischenverfahren nur Rechtsfragen beantworten, aber nicht über das Ausgangsverfahren selbst entscheiden. Sein Urteil bindet das anfragende Gericht in der Vorlagesache; dieses kann jedoch gegebenenfalls ergänzende Fragen in einem neuen Ersuchen stellen. In anderen Angelegenheiten oder vor anderen Gerichten gibt es zwar keine förmliche Bindung an die Auslegungs- oder Gültigkeitsentscheidung des EuGH. Vom Inhalt seiner Entscheidung dürfen die Gerichte der Mitgliedstaaten aber nach dem Zweck des Verfahrens nicht abweichen; sie können gegebenenfalls nur versuchen, den EuGH im Rahmen eines neuen Vorabentscheidungsverfahrens durch neue Argumente umzustimmen, was aber bisher kaum jemals gelungen ist. Da das Vorlageverfahren schon von seiner Anlage her und wegen der Übersetzungsnotwendigkeiten trotz seines Charakters als bloßes Zwischenverfahren regelmäßig deutlich länger als eineinhalb Jahre dauert, entspricht es dem Bedürfnis nach schneller Entscheidung vor allem in Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit bei Scheidungs- und Sorgerechtssachen oder Strafsachen nach Art. 35(1) EU (1992)/aufgehoben (durch den Vertrag von Lissabon) nicht immer. Für solche Fälle sehen Art. 104a, 104b der Verfahrensordnung ein beschleunigtes sowie neuestens ein Eilverfahren vor, in denen von den allgemeinen Vorschriften abgewichen werden kann.

Unter den Direktklagen sind die Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Mitgliedstaaten nach Art. 226 EG/258 AEUV die bei weitem häufigsten, meist wegen nicht ordnungsgemäßer, insbesondere nicht rechtzeitiger Umsetzung von Richtlinien und daher oft nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Die meisten Nichtigkeitsklagen fallen in die Zuständigkeit des EuG. Rechtsmittelverfahren machen etwa ein Achtel der Fälle vor dem EuGH aus; angefochten wird etwa jede vierte Entscheidung des EuG, davon wiederum etwa jede vierte Entscheidung mit (einem gewissen) Erfolg. Gutachten nach Art. 300(6) EG/218(11) AEUV sind sehr selten zu erstatten, etwa 0,2 % aller Fälle vor dem EuGH, aber regelmäßig sehr bedeutsam. Einstweiligen Rechtsschutz nach Art. 242 f. EG/278 f. AEUV gewährt der Präsident des EuGH als Einzelrichter.

Zum Ablauf des Verfahrens, vor allem bei Direktklagen, in denen sich private Parteien durch vor mitgliedstaatlichen Gerichten zugelassene Rechtsanwälte vertreten lassen müssen, sind auch die Dienstanweisung für den Kanzler des EuGH und die praktischen Hinweise für die Parteien zu beachten. Die Mitgliedstaaten und die Organe der Gemeinschaften werden durch Bedienstete als im Einzelfall Bevollmächtigte vertreten, können aber auch im Beistand von Rechtsanwälten auftreten. Klagen gegen Mitgliedstaaten oder Angehörige eines Mitgliedstaats sind in deren Amtssprachen zu erheben. Die Mitgliedstaaten bedienen sich im Übrigen auch als Verfahrensbeteiligte ihrer eigenen Sprache. Der Berichterstatter erstellt in allen Verfahren mit Hilfe seiner Referenten (je Richter drei wissenschaftliche Mitarbeiter) nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens (Klagebeantwortung sowie gegebenenfalls Erwiderung und Gegenerwiderung) einen internen Vorbericht mit Vorschlägen für verfahrensleitende Maßnahmen und einen Sitzungsbericht für die mündliche Verhandlung.

4. Wichtige Beiträge des EuGH zur Entwicklung des Gemeinschaftsrechts

Besonders in Zeiten relativen Stillstands bei der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten hat sich der EuGH als Motor für eine Verbesserung und Vertiefung des Gemeinschaftsrechts erwiesen. Seine Auslegung der Kompetenzregelungen der Gemeinschaften im Verhältnis zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist allerdings nicht ohne Kritik geblieben; nicht zuletzt Vorstellungen in der Nähe des Subsidiaritätsgrundsatzes hätten bei einigen Verfahren auch zu weniger „gemeinschaftsfreundlicher“ Auslegung führen können, etwa in den Urteilen zu den Vorlagesachen EuGH Rs. C-285/98 – Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69 und EuGH Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981. Insgesamt aber ist allein die Existenz des EuGH und damit einer gemeinschaftsweit für einheitliches Rechtsverständnis im Europarecht sorgenden Institution ein so bedeutsames Element der europäischen Einigungsbewegung, dass selbst einzelne vielleicht nicht über jedes Bedenken erhabene Entscheidungen im Interesse der Einheitsidee hingenommen werden müssen.

Schon früh hat der EuGH entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht unmittelbar auch zugunsten des einzelnen Rechtsunterworfenen gilt, nicht nur für die Mitgliedstaaten (EuGH Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1), und zwar mit Anwendungsvorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht (EuGH Rs. 6/64 – Costa/ E.N.E.L., Slg. 1964, 1251). Der Bürger hat Anspruch auf Schadensersatz für gesetzgeberisches Unterlassen (EuGH Rs. C-6/90, 9/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357) und richterliches Fehlverhalten (EuGH Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10290) in den Mitgliedstaaten bei der (Nicht‑) Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Er kann sich in Grenzen auf nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinien berufen.

Der EuGH hat die vier Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts in vielen Urteilen konkretisiert, so die Warenverkehrsfreiheit (EuGH Rs. 120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649; EuGH Rs. C-267/91, 268/91 – Keck, Slg. 1993, I-6097), die Kapitalverkehrsfreiheit (Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit) (EuGH Rs. C-302/97 – Konle, Slg. 1999, I-3122), die Dienstleistungsfreiheit (EuGH Rs. C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931) und die Freizügigkeit (EuGH Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921) bzw. die Niederlassungsfreiheit juristischer Personen (EuGH Rs. C-212/97 – Centros, Slg. 1999 I-1459; EuGH Rs. C-208/00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH Rs. C-167/01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155). Ähnliches gilt für das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, z.B. beim deutschen Arrestverfahren (§ 917 Abs. 2 ZPO, EuGH Rs. C-398/92 – Mund & Fester, Slg. 1994, I-474) (Diskriminierungsverbot (allgemein)). Sein Gutachten zum neuen Lugano-Übereinkommen (vom 7.2.2006 – Gutachten 1/03, Slg. 2006, I-1145) hat die Grenzen der Kompetenzen der Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit klargestellt. In über 150 Entscheidungen hat der EuGH die Begriffe des Brüsseler EWG-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen bzw. der das Übereinkommen ersetzenden Brüssel I-VO (VO 44/2001) ausgefüllt und ist dabei weit überwiegend dem Grundsatz international einheitlicher Auslegung gefolgt, zuerst zum Begriff der Zivil- und Handelssache selbst (EuGH Rs. 29/76 – LTU/Eurocontrol, Slg. 1976, 1541). Unglücklich war allerdings, dass an den sachlich nicht zu kritisierenden Urteilen zur Unzulässigkeit von forum non conveniens-Überlegungen gegenüber Zuständigkeiten nach dem Übereinkommen (EuGH Rs. C-281/02 – Owusu, Slg. 2005, I-1383) und zur anti-suit injunction gegenüber Verfahren in anderen Staaten (EuGH Rs. C-159/02 – Turner, Slg. 2004, I-3565) kein Richter aus einem common law-Mitgliedstaat beteiligt war.

5. Reformtendenzen

Die immer stärker werdende Konzentration auf Aufgaben, die denen eines „Verfassungsgerichts“ der EU entsprechen, wird sich fortsetzen. Ein besonderes Kompetenzentscheidungsorgan neben dem EuGH, wie es in der deutschen Reformdiskussion von politischer Seite gefordert worden ist, würde den EuGH schwächen und damit den acquis der europäischen Gerichtsbarkeit beeinträchtigen. Immer schwieriger allerdings wird es werden, die Rechtsordnungen aller heute 27, aber voraussichtlich in nicht allzu ferner Zukunft über 30 Mitgliedstaaten in Grundsatzfragen angemessen zu berücksichtigen. Zumindest ein Teil der Vertragsverletzungsverfahren könnte an das EuG abgegeben werden, sobald dieses, z.B. durch Vermehrung der Richterzahl (die es beim EuGH selbst nicht geben darf, Art. 224 EG/254 AEUV) mehr Kapazitäten erhält; ähnliches gilt für Vorabentscheidungsersuchen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen, wobei bei den zuletzt genannten die Beschränkungen durch Art. 68 EG entfallen müssten, wie dies auch der Vertrag von Lissabon vorsieht. Wenn der Weg der beschleunigten und Eilverfahren sich auch weiterhin besonders in Scheidungs- und Sorgerechtssachen sowie bei anderen schnell zu erledigenden Vorabentscheidungsverfahren zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bewährt, könnte hiermit bereits ein Weg zu effektiverem Rechtsschutz beschritten sein. Die neuesten Erfahrungen sind ermutigend: In einem ersten Eilverfahren, an dem sich fünf Regierungen von Mitgliedstaaten beteiligt haben, hat die Große Kammer des EuGH am 11.7.2008 (EuGH Rs. C 195/08 PPU – Rinau, NJW 2008, 2973) weniger als zwei Monate nach Eingang des litauischen Vorabentscheidungsersuchens ein wichtiges Urteil über Grundfragen der Brüssel IIa-VO (VO 2201/2003) zur Durchsetzung von Entscheidungen über die Rückführung eines widerrechtlich in einem anderen Mitgliedstaat zurückgehaltenen Kindes gefällt. Und unmittelbar darauf hat ebenfalls die Große Kammer des EuGH mit Urteil vom 25.7.2008 (EuGH Rs. C-127/08 – Metock/Minister for Justice, Equality and Law Reform, EuLF (Section I) 2008, 227) vier Monate nach Eingang des Ersuchens in einem beschleunigten Verfahren mit vielen Parteien und mit Erklärungen von zehn Regierungen wichtige Fragen zur RL 2004/38 – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten; Familienangehörige mit Staatsangehörigkeit eines Drittlands, die vor ihrer Eheschließung mit einem Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind – entschieden.

Literatur

Mark Brealey, Mark Hoskins, Remedies in EC Law: Law and Practice in the English and EC Courts, 2. Aufl. 1998; Irene Klauer, Die Europäisierung des Privatrechts, 1998; Joël Rideau, Fabrice Picod, Code des procédures juridictionnelles de l'Union européenne, 2. Aufl. 2002; Hans-Werner Rengeling, Andreas Middeke, Martin Gellermann (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2003; Waltraud Hakenberg, Christine Stix-Hackl, Handbuch zum Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, Bd. 1, 3. Aufl. 2005; Koen Lenaerts, Dirk Arts, Ignace Maselis, Robert Bray (Hg.), Procedural Law of the European Union, 2. Aufl. 2006; Matthias Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, 3. Aufl. 2007; Karol P.E. Lasok, Lasok's European Court Practice and Procedure, 3. Aufl. 2008; Ulrich Everling, Zur verfehlten Forderung nach einem Kompetenzgericht der Europäischen Union, in: Festschrift für Günter Hirsch, 2008, 63 ff.; Heinz-Peter Mansel, Karsten Thorn, Rolf Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2008: Fundamente der Europäischen IPR-Kodifikation, Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2009, 1 ff.; Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Jahresberichte (zuletzt für 2008, 2009).

Abgerufen von Europäischer Gerichtshof – HWB-EuP 2009 am 23. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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