Gesetzesumgehung und Gesetzgebungskompetenz der EG/‌EU: Unterschied zwischen den Seiten

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== 1. Begriff ==
== 1. Auftrag und Zuständigkeit ==


Eine Gesetzesumgehung (''fraus legis'', ''evasion of the law'', ''fraude à la loi'', ''frode alla legge'', ''fraude de ley'') liegt dann vor, wenn man sich entweder eines Gesetzes für Zwecke bedient, für die das Gesetz nicht erlassen worden ist (Gesetzeserschleichung, ''evasion''), oder wenn man das Eingreifen eines anwendbaren Gesetzes dadurch vermeiden will, dass man dessen geschriebene Anwendungsvoraussetzungen absichtlich nicht erfüllt (Gesetzesvermeidung, ''avoidance''). Beide Fälle laufen im Ergebnis auf die Frage hinaus, ob eine gesetzliche Vorschrift auch dann gelten will, wenn man nur ihre formalen Voraussetzungen erfüllt oder gerade eben nicht erfüllt. Das Problem der Gesetzesumgehung ist also im Wesentlichen ein Problem der [[Auslegung von Rechtsnormen]], in aller Regel der Interpretation zwingender gesetzlicher Vorschriften.  
In den Verfassungen föderaler Gemeinwesen finden sich regelmäßig Vorschriften, in denen die Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf einzelne Rechtsgebiete dem Bund oder den Teileinheiten zugewiesen wird. So liegt die Gesetzgebungskompetenz für das Zivilrecht in den deutschsprachigen Staaten beim Bund, siehe Art. 74 Nr. 1 dt. GG, Art. 122 Abs. 1 schweiz. Bundesverfassung und Art. 10 Abs. 1 Nr. 6 österr. Bundes-Verfassungsgesetz. Damit ist zunächst nur indiziert, dass der Gesetzgeber der Zentraleinheit die Befugnis hat, tätig zu werden. Ob er tatsächlich Gesetze erlässt, bleibt seinem politischen Ermessen überlassen. Die römischen Verträge von 1957 haben die [[Europäische Gemeinschaft]] ganz anders konzipiert. Danach wurden der Gemeinschaft Ziele gesetzt wie beispielsweise die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes oder die Einführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik. Den Organen der Gemeinschaft wurde für die einzelnen Politikbereiche der Auftrag erteilt, Schritte zur Verwirklichung der Ziele zu unternehmen. Aus dem Auftrag ergab sich dann auch die Verbandskompetenz der Europäischen Gemeinschaft. Ein politisches Ermessen wurde der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]] nicht eingeräumt, auch wenn es mit der tatsächlichen Ausführung des Vertrages unvermeidlich verbunden war. Die Kommission konnte sich aber bei ihren Gesetzgebungsinitiativen gegenüber den Mitgliedstaaten stets darauf stützen, dass sie nicht nur befugt, sondern verpflichtet war, die Ziele des Vertrages zu verwirklichen.  


a) Ein allgemeines geschriebenes Verbot der Gesetzesumgebung'' ''enthalten die wenigsten Rechtsordnungen. Ein solches Verbot enthält jedoch der spanische ''[[Código civil]]'' in seinem Art. 6 Nr. 4. Dort heisst es: „Los actos realizados al amparo del texto de una norma que persigan un resultado prohibido por el ordenamiento jurídico, o contrario a él, se considerarán ejecutados en fraude de ley y no impedirán la debida aplicación de la norma que se hubiere tratado de eludir.” Zu Deutsch: “Handlungen, die gestützt auf den Wortlaut einer Norm vorgenommen worden sind und die ein Ergebnis verfolgen, das von der Rechtsordnung verboten ist oder ihr zuwiderläuft, gelten als in Gesetzesumgehung begangen und hindern nicht die gebotene Anwendung der Norm, die man zu umgehen versucht hat.“ Die meisten Rechtsordnungen verzichten auf ein solches generelles Verbot und begnügen sich mit spezifischen Hinweisen darauf, wann eine spezielle Norm oder ein spezielles Normengefüge selbst dann gelten soll, wenn diese Vorschriften durch besondere Gestaltungen umgangen werden (s.u. 2.).  
Die Rivalität der Gesetzgebungskompetenz zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten trat in den gemeinschaftspolitischen Diskussionen schon bald hervor. Eine erste rechtliche Verankerung erhielt sie mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips durch den Vertrag von Maastricht. In Art. 5(2) EG (siehe Art. 5(3) EU 2007) war erstmalig auch von einer ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft die Rede. Auf welche Rechtsgebiete und Handlungsfelder sie sich erstreckt, blieb freilich höchst umstritten. Erst der Vertrag von Lissabon bringt hierzu wünschenswerte Klärung. Die Art. 3 und 4 AEUV enthalten jeweils Listen von Bereichen ausschließlicher Gemeinschaftszuständigkeit und Bereichen, in denen sich Gemeinschaft und Mitgliedstaaten die Zuständigkeit teilen. Für das Privatrecht relevant ist dabei die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft für die [[Wettbewerb im Binnenmarkt|Wettbewerbsregeln]] und die Währungspolitik ([[Währung]]; [[Europäische Zentralbank]]) in den Ländern der Euro-Zone. Unter den geteilten Zuständigkeiten des Art. 4 sind für das Privatrecht besonders bedeutsam die Kompetenzen für den [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]], die Sozialpolitik, die Umwelt, den [[Verbraucher und Verbraucherschutz|Verbraucherschutz]], den Verkehr und den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Auf diesen Feldern nehmen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 2(2)2 „ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat“.


b) Auffallend ist, dass die Gesetzesumgehung ein Institut des Privatrechts zu sein scheint; denn – abgesehen vor allem vom Steuerrecht mit dem Problem des Steuerbetrugs und der Steuervermeidung (vgl. z.B. § 42 dt. Abgabenordnung) – begegnet man im öffentlichen Recht der Gesetzesumgehung in geringerem Maße. Das hat folgende Ursachen. Gegenüber dem Staat gilt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, d.h. der Staat darf nur dann die Freiheit seiner Bürger einschränken, wenn ein Gesetz ihn dazu ermächtigt und dieses Gesetz klar und deutlich genug diese Beschränkung ausspricht. Wo der Wortlaut einer Norm eine solche Einschränkung nicht deutlich genug ausspricht, ist eine sinngemäße oder analoge Anwendung dieser Norm in aller Regel ausgeschlossen. Dagegen werden häufig öffentlich-rechtliche Vorteile (z.B. des Ausländerrechts) durch Missbrauch privatrechtlicher'' ''Vorgänge (Heirat, Adoption, Kindesanerkennung) erschlichen. Um dies zu verhindern, sollte man entweder weniger öffentlich-rechtliche Vorteile an privatrechtliche Vorgänge knüpfen oder die privatrechtlichen Vorgänge als Gesetzesumgehung negieren.  
Aus der vorstehend genannten Aufzählung ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zu den anfangs zitierten Kompetenzregeln in Bundesstaaten: Während jene sich auf ganze Rechtsgebiete beziehen, geht es in den Gründungsverträgen um Politikfelder. Die oben angeführten Verfassungen beziehen sich auf eine gesamtheitliche Rechtssystematik, innerhalb derer die Gesetzgebungszuständigkeit für jedes Teilrechtsgebiet der Zentrale oder einer Teileinheit zugewiesen wird, je nachdem, wo diese Zuständigkeit nach Auffassung der Verfassungsgeber besser angesiedelt ist. Der [[EG-Vertrag]] setzt der Gemeinschaftspolitik demgegenüber Ziele, die mit den Mitteln ganz verschiedener Rechtsgebiete erreicht werden können. So wird man beispielsweise den Schutz der [[Verbraucher und Verbraucherschutz|Verbraucher]] vor gefährlichen Produkten sowohl durch eine verwaltungsrechtliche Zulassungsregelung wie auch durch eine präventiv wirkende scharfe Haftung des Produzenten verbessern können. Aus der Sicht der mitgliedstaatlichen Verfassungen würden Maßnahmen der ersteren Art von der Bundeskompetenz für das Zivilrecht nicht erfasst. Anders verhält es sich mit der Gemeinschaftskompetenz für den Verbraucherschutz gemäß Art. 153, 95 EG/‌169, 114 AEUV: Diese Kompetenz deckt den Erlass von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Schutzmaßnahmen gleichermaßen. Dies erklärt die höchst unscharfe Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht in der Gemeinschaft; eine Fülle von Rechtsakten enthält Vorschriften aus beiden Rechtsgebieten.


<nowiki>Dieser Gegensatz zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht lässt sich auch so ausdrücken: Während im Privatrecht der Richter ein unzulängliches oder fehlendes Gesetz sinngemäß auslegen oder durch Richterrecht ersetzen kann, wo also „den Richtern … eine größere und bessere Rechtseinsicht zugemuthet und zugetraut [wird] als dem Gesetzgebungspersonal“ (</nowiki>''Oskar Bülow''), gilt im öffentlichen Recht der Satz: Wo das Gesetzgebungspersonal keine genügende Rechtseinsicht hatte, hat der Richter dies nicht etwa zu korrigieren, muss vielmehr eine größere und bessere Einsicht beim Gesetzgebungspersonal anmahnen.
== 2. Bedeutung der Gesetzgebungszuständigkeiten der Gemeinschaft ==


c)&nbsp;Die Gesetzesumgehung unterscheidet sich vom [[Rechtsmissbrauch]] (''abus de droit'', ''abuso del diritto'', ''misbruik van rechten'', ''abuso del derecho'') dadurch, dass bei der Gesetzesumgehung ein vollwirksames Recht gar nicht besteht, während beim Rechtsmissbrauch ein durchaus vollgültig bestehendes Recht über seinen normalen Inhalt hinaus funktionswidrig ausgeübt wird. Manche Rechtsordnungen verbieten den Rechtsmissbrauch ganz allgemein (z.B. Art.&nbsp;2 Abs.&nbsp;2 schweiz. ZGB) oder begnügen sich mit speziellen Verboten bei Rechten, die angeblich besonders anfällig für einen Missbrauch sind (z.B. §&nbsp;1353 Abs.&nbsp;2 BGB: Missbrauch ehelicher Rechte). Im Übrigen verstößt ein Rechtsmissbrauch gegen Treu und Glauben (§&nbsp;242 BGB) und kann als Delikt zu Schadensersatz verpflichten (§&nbsp;1295 Abs.&nbsp;2 ABGB).  
Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wird die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die ihr durch die Gründungsverträge übertragen worden sind, siehe Art.&nbsp;5(1) EG/‌Art.&nbsp;5(2) EU (2007). Eine Besinnung auf die Gesetzgebungsgrundlage ist daher vor jedem Erlass eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes erforderlich. Sie ist darüber hinaus auch deshalb unverzichtbar, weil die einzelnen Ermächtigungsgrundlagen des Vertrages oft spezifische Regelungen für das Gesetzgebungsverfahren aufstellen, die insbesondere die Art der Beteiligung des Europäischen Parlaments und die erforderliche Abstimmungsmehrheit im Rat betreffen. Während für die meisten Politikbereiche nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren des Art.&nbsp;251 EG/‌294 AEUV eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat und eine gemeinsame Annahme von Rechtsakten durch Rat und Parlament vorgesehen ist, hat das Parlament im Bereich der Wettbewerbspolitik gemäß Art.&nbsp;83 EG/‌103 AEUV nach wie vor nur ein Anhörungsrecht. Das Anhörungsrecht, das bislang auch für Maßnahmen der Antidiskriminierungspolitik gemäß Art.&nbsp;13 EG und subsidiäre Maßnahmen gemäß Art.&nbsp;308 EG vorgesehen war, ist dort nun zu einem Zustimmungsvorbehalt erstarkt, vgl. Art. 19 und Art. 352, 353 AEUV; in beiden Bereichen ist für die Beschlussfassung im Rat nach wie vor Einstimmigkeit vorgeschrieben. Wegen der Bedeutung der Ermächtigungsgrundlage für das Gesetzgebungsverfahren kommt ihrer genauen Bezeichnung im Rahmen der Begründungspflicht des Art. 253 EG/‌296 AEUV große Bedeutung zu, siehe EuGH Rs. 45/‌86 – ''Kommission/‌Rat'', Slg. 1987, 1493, Rn.&nbsp;8&nbsp;f.; Rs. C-300/‌89 – ''Kommission/‌Rat'','' „Titandioxid“ ''Slg. 1991, I-2867, Rn.&nbsp;10&nbsp;ff.


d)&nbsp;Wer ein Gesetz umgehen will, möchte wirksam handeln und kein Scheingeschäft (''simulation'', ''simulazione'', ''sham transaction'') abschließen. Ein Scheingeschäft soll nämlich nur ein gültiges Geschäft vortäuschen, obwohl es gar nicht gewollt ist. Es ist nichtig (vgl. z.B. §&nbsp;117 Abs.&nbsp;1 BGB, Art.&nbsp;138 griech. ZGB; Art.&nbsp;1414 Abs.&nbsp;1 ''Codice civile'', §&nbsp;916 Abs.&nbsp;1 S.&nbsp;1 ABGB).
Auf die präzise Auswahl und Angabe der Ermächtigungsgrundlage kommt es nicht zuletzt auch wegen der Art des Rechtsakts an. So lässt etwa Art.&nbsp;44(1)/‌50(1) AEUV für die Verwirklichung der [[Niederlassungsfreiheit]], beispielsweise durch Angleichung des [[Gesellschaftsrecht]]s, nur den Erlass von Richtlinien zu, während für die Verwirklichung des Binnenmarkts im Übrigen gemäß Art 95 EG/‌Art. 114 AEUV „Maßnahmen“, also auch Verordnungen zu Gebote stehen.


e)&nbsp;Rechtsgeschäfte, die ein Gesetz umgehen wollen, sind nichtig (vgl. z.B. §&nbsp;134 BGB: Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt; Art.&nbsp;1344 ''Codice civile'': ''contratto in frode alla legge'').
Die Wahl der Ermächtigungsgrundlage hat aber auch eine politische Dimension. Da der Vertrag der Gemeinschaft in erster Linie Aufträge zur Gestaltung der Integration erteilt, ist das mit ihrer Durchführung betraute Organ, also die Kommission, auch in entsprechender Weise organisiert. Den einzelnen Generaldirektionen obliegt regelmäßig die Verwirklichung einer sektoralen Politik, so dass mit der Identifizierung einer Kompetenzgrundlage der Gemeinschaft regelmäßig auch die Zuweisung des betreffenden Themas an eine Dienststelle der Kommission verbunden ist, die damit auch zum Ansprechpartner der interessierten Gruppen und Verbände wird.


== 2. Nationales Sachrecht ==
== 3.&nbsp;Für das Privatrecht bedeutsame Gesetzgebungskompetenzen ==


Wohl jede Rechtsordnung verbietet die Gesetzesumgehung ([[Rechtsmissbrauch]], ''fraude à la loi'', ''frode alla legge'', ''misbruik van rechten'', ''fraude de ley''). Manche Rechtsordnungen formulieren selbständige allgemeine Gesetzesvorschriften und sehen vor: „Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz“ (Art.&nbsp;2 Abs.&nbsp;2 schweiz. ZGB; ähnlich Art.&nbsp;6 Abs.&nbsp;4 span. ''Código civil''). Andere Rechtsordnungen begnügen sich mit der Regelung bestimmter Einzelfälle des Rechtsmissbrauchs (§&nbsp;1353 Abs.&nbsp;2 BGB: Missbrauch ehelicher Rechte; §&nbsp;306 lit.&nbsp;a, §&nbsp;312 lit.&nbsp;f S.&nbsp;2, §&nbsp;487 S.&nbsp;2, §&nbsp;506 S.&nbsp;2 und 655 lit.&nbsp;e Abs.&nbsp;1 S.&nbsp;2 BGB: Verbot, AGB und Verbraucherschutzbestimmungen zu umgehen; Art.&nbsp;3:13 Abs.&nbsp;1 und 3:44 Abs.&nbsp;4 BW: Missbrauch von Rechten oder Rechtsituationen; Art.&nbsp;1344 ''Codice civile'': Vertrag über Gesetzesumgehung; §&nbsp;1295 Abs.&nbsp;2 ABGB: Rechtsmissbrauch als Delikt), und für wieder? andere ist der Rechtsmissbrauch als treuwidriges Verhalten, also als Verstoß gegen das Gebot von [[Treu und Glauben]] (§&nbsp;242 BGB), zu werten und deshalb untersagt.  
Die politisch-finale Zuständigkeitsordnung des EG-Vertrags bringt es mit sich, dass ganz verschiedene primärrechtliche Grundlagen für den Erlass privatrechtlicher Rechtsakte in Betracht kommen. So sind manche arbeitsrechtlichen Rechtsakte wie etwa die RL über Massenentlassungen (RL&nbsp;98/‌59) auf die Binnenmarktkompetenz der Art.&nbsp;94 und 95 EG/‌115, 114 AEUV gestützt, andere wie die RL über Mutterschutz (RL&nbsp;92/‌85) auf die besondere arbeitsrechtliche Kompetenz gemäß Art.&nbsp;137(2)/‌153(2) AEUV; für den arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutz der RL&nbsp;2000/‌78 und 2006/‌54 wurden zum einen Art.&nbsp;13 EG/‌19 AEUV und zum anderen Art.&nbsp;141 EG/‌134 AEUV herangezogen. Die Entsende-RL (RL&nbsp;96/‌71) ist als Maßnahme des Dienstleistungsverkehrs aufgrund der Art.&nbsp;47 und 55 EG/‌53 und 62 AEUV erlassen worden. Die Vielzahl der Kompetenzgrundlagen ist zum Teil auf die Veränderungen der Gründungsverträge im Laufe der Jahrzehnte zurückzuführen. Jedenfalls schafft sie aber viele Überlappungen. Das Desiderat des [[Europäischer Gerichtshof|Europäischen Gerichtshof]]es, wonach die Ermächtigungsgrundlage eines Rechtsakts nach objektiven Kriterien zu bestimmen sei, ist in der praktischen Gesetzgebung nicht voll verwirklicht. Die für das Privatrecht wichtigsten Ermächtigungsgrundlagen finden sich in Art.&nbsp;44 EG/‌50 AEUV für das [[Gesellschaftsrecht]], in Art.&nbsp;65 EG/‌81 AEUV für das [[Internationales Privatrecht|internationale Privat-]] und Zivilprozessrecht, in Art.&nbsp;95 EG/‌114 AEUV für die Verwirklichung des Binnenmarkts, in Art.&nbsp;153 EG/‌169 AEUV für den Verbraucherschutz und – für alle Rechtsgebiete subsidiär – in Art.&nbsp;308 EG/‌352, 353 AEUV. Der Vertrag von Lissabon hat in Art.&nbsp;118 AEUV für das geistige Eigentum eine neue Ermächtigungsgrundlage geschaffen, die künftig Art. 352 AEUV vorgeht.


a)&nbsp;Dieser Überblick zeigt zunächst eines: Gesetzgeber scheuen sich offenbar, ein allgemeines Rechtsmissbrauchsverbot an den Anfang ihrer Kodifikationen zu stellen. Das hat wohl einen ganz bestimmten Grund; denn niemand kann genau definieren, wann ein Recht missbraucht oder ein Gesetz umgangen wird. Deshalb begnügen sich viele Rechtsordnungen damit, bei einzelnen typischen Fallsituationen Einschränkungen zu formulieren und sich im Übrigen auf eine Generalklausel des Verbotes treuwidrigen Verhaltens zu verlassen. Außerdem möchte der Gesetzgeber vermeiden, die von ihm zugestandenen Rechte gleich wieder einzuschränken und mit unklaren Vorbehalten zu versehen. Wer ein Recht hat und das Gesetz gibt ihm dieses, darf es auch wahrnehmen und durchsetzen. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen des treuwidrigen Verhaltens darf er das nicht tun.
=== a) Gesellschaftsrecht ===


b)&nbsp;Hier einige typische Fälle des Rechtsmissbrauchs und der Gesetzesumgehung.  
''Art.&nbsp;44(2)(g) EG/‌50(2)(g) AEUV'' gibt der Gemeinschaft die Befugnis, den im nationalen Recht vorgesehenen Schutz von Gesellschaftern und Dritten zu koordinieren und gleichwertig zu gestalten. Diese Ermächtigung beruht auf der Erwägung, dass eine Gesellschaft, die nach dem für sie maßgeblichen Recht beispielsweise geringen Publizitätsanforderungen unterliegt, in einem anderen Mitgliedstaat mit höheren Publizitätsanforderungen möglicherweise in ihrer Tätigkeit behindert wird. Solchen Beeinträchtigungen der [[Niederlassungsfreiheit]] kann eine Rechtsangleichung entgegenwirken. Die Rechtsangleichung ist gemäß Art.&nbsp;44(1) EG/‌50(1) AEUV nur mit dem Mittel der Richtlinie möglich, und ein Dutzend gesellschaftsrechtlicher Richtlinien belegt die Bedeutung dieser Ermächtigungsgrundlage. Ihre Tragweite endet freilich dort, wo es um die Funktionsbedingungen des Kapitalmarkts geht. Eine konsistente Abgrenzung gibt es aber hierzu bis heute nicht. So ist die Bilanz-RL (RL&nbsp;78/‌660) auf Art.&nbsp;44 gestützt, die VO&nbsp;1606/‌ 2002 über die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards dagegen auf die Binnenmarktkompetenz des Art.&nbsp;95 EG/‌114 AEUV. Von Art.&nbsp;44 EG/‌50 AEUV nicht erfasst sind auch die eigenständigen Gesellschaftsformen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die SE, deren Statut auf Art.&nbsp;308 EG/‌352, 353 AEUV beruht, siehe unten.


(1)&nbsp;Im schweizerischen Recht ist das Sicherungseigentum unbekannt; denn mit ihm wird das Faustpfandprinzip des Mobiliarsachenrechts umgangen. Derjenige, der sich Eigentum zur Sicherheit übertragen lässt und den Besitz beim Schuldner lässt, umgeht das Faustpfandprinzip und verletzt damit das Recht.
=== b) Internationales Privat- und Zivilprozessrecht ===


(2)&nbsp;In vielen Rechtsordnungen werden [[Ehe]]n in der Absicht geschlossen, keine Ehe zu führen und die Verpflichtung eines Ehegatten zu übernehmen, sondern um öffentlich-rechtliche Vorteile durch die Ehe mit einem Inländer zu erhalten. Solche Ehen sind aufhebbar bzw. ungültig (vgl. z.B. §&nbsp;1314 Nr.&nbsp;5 BGB; Art.&nbsp;105 Nr.&nbsp;4 schweiz. ZGB).  
Mit ''Art.&nbsp;65 EG/‌81 AEUV'' hat der Vertrag von Amsterdam erst 1997 eine selbständige Gemeinschaftskompetenz für die Regelung der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug geschaffen. Zwar hat die Gemeinschaft auch schon vorher vereinzelt Regelungen zum [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrecht]] auf anderweitiger Grundlage erlassen. Erst aufgrund des Vertrages von Amsterdam ist es aber zu einem umfassenden rechtspolitischen Aktionsplan der Gemeinschaftsorgane auf diesem Gebiet gekommen (ABl. 1999 C 19/‌1, Rn. 40&nbsp;f.). Da die Gemeinschaft nach Art. 65 „Maßnahmen“ treffen kann, kann sie auch Verordnungen erlassen und hat von dieser Möglichkeit bereits mehrfach Gebrauch gemacht. Die Bedeutung der Rechtsakte für den Binnenmarkt ist nach dem Vertrag von Lissabon nicht mehr eine notwendige Voraussetzung für den Erlass. Die Vorschriften können sich auf das internationale Zivilprozessrecht [[Europäisches Zivilprozessrecht]]) beziehen, aber auch die Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen zum Gegenstand haben; sie decken damit das internationale Privat- und Zivilprozessrecht weitgehend ab.  


(3)&nbsp;Wer als geschiedener Ehegatte nicht wieder heiratet, um den nachehelichen Unterhalt nicht zu verlieren (vgl. Art 130 Abs.&nbsp;2 schweiz. ZGB), verliert ihn dennoch, wenn er seit fünf Jahren in einer festen und stabilen nichtehelichen und nicht registrierten Partnerschaft (Konkubinat) lebt (BG 20.1.1983, BGE 109 II 188; BG 7.7.1988, BGE 114 II 295). Etwas anderes wäre offenbarer Rechtsmissbrauch (Art.&nbsp;2 Abs.&nbsp;2 schweiz. ZGB).
===c) Rechtsangleichung für den Binnenmarkt ===


c)&nbsp;Auffallend ist ferner, dass es im ''[[common law]]'' kein allgemeines Verbot der Gesetzesumgehung zu geben scheint. Der Ausdruck ''evasion of the law'' wird in einigen Fällen angewandt, in denen die Frage auftauchte, ob eine Partei durch ihr Handeln eine gesetzliche Vorschrift umgangen habe. Im Unterschied zu den meisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen ist man jedoch mit der Annahme einer Gesetzesumgehung sehr viel vorsichtiger. Dies scheint auf folgender Überlegung zu beruhen. Der Gesetzgeber, der das ''common law'' einschränkt, möge sich gefälligst klar ausdrücken und ausdrücklich vorsehen, dass auch vom Wortlaut eines Gesetzes nicht erfasste Tatumstände geregelt sind. Tut er das nicht, bleibt es beim ''common law''. Scheingeschäfte werden ebenfalls als ''sham transactions'' so durchgesetzt, wie sie die Parteien, zwar verschleiert, gewollt haben.  
Von zentraler Bedeutung für die privatrechtliche Gesetzgebung der Gemeinschaft ist ihre Binnenmarktkompetenz gemäß ''Art.&nbsp;94 und 95 EG/‌115'','' 114 AEUV''.'' ''Ursprünglich sah der EWG-Vertrag in Art.&nbsp;100 (Art.&nbsp;94 EG/‌115 AEUV) lediglich eine sehr eingeschränkte Möglichkeit zur Rechtsangleichung vor; insbesondere musste der Rat danach einstimmig entscheiden. Erst die einheitliche Europäische Akte hat zur Verwirklichung des Binnenmarkts in Art.&nbsp;95 EG/‌114 AEUV die Rechtsangleichung durch qualifizierte Ratsmehrheit ermöglicht. Für die Ausnahmebereiche Steuern, Freizügigkeit und Arbeitsrecht bleibt es jedoch beim Einstimmigkeitserfordernis. Gemäß Art.&nbsp;95 EG/‌114 AEUV kann die Gemeinschaft alle Arten von Maßnahmen erlassen, also auch Verordnungen; nach einer Protokollerklärung zur Einheitlichen Europäischen Akte sollen allerdings vorwiegend Richtlinien in Betracht kommen. Der Umfang dieser Gesetzgebungskompetenz im Privatrecht ist strittig. Wie der Gerichtshof in seinem ersten Urteil zur Tabakwerberichtlinie festgestellt hat, begründet Art.&nbsp;95 EG/‌ 114 AEUV keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarkts. Die „bloße Feststellung von Unterschieden zwischen den nationalen Vorschriften und die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen von Grundfreiheiten oder daraus möglicherweise entstehenden Wettbewerbsverzerrungen“ genügen nicht, siehe EuGH Rs. C-376/‌98 – ''Deutschland/‌Parlament und Rat'', Slg. 2000, I-8419, Rn. 84. Ob die Tragweite dieser Äußerungen über den konkret entschiedenen Fall – das Verbot von lokaler Plakatwerbung durch die Gemeinschaft – hinausgeht und etwa einer umfassenden Regelung des Zivilrechts durch die Gemeinschaft entgegensteht, ist zweifelhaft.


d)&nbsp;Im religiösen Recht des Judentums und des Islam wird göttliches Recht, sofern es sich um angeblich göttliches Recht handelt und eine Auslegung nach seinem Sinn und Zweck unmöglich ist, strikt nach seinem Wortlauf ausgelegt und eine Gesetzesumgehung für Sachverhalte, die durch den Wortlaut angeblich göttlichen Rechts nicht gedeckt sind, abgelehnt. Wegen dieser Starrheit greift häufig staatliches Recht ein und regelt für staatliche Instanzen diese Sachverhalte.
=== d) Verbraucherschutz ===


== 3. Internationales Privatrecht ==
''Art.&nbsp;153 EG/‌169 AEUV ''verleiht der Gemeinschaft eine Gesetzgebungskompetenz im Bereich des [[Verbraucher und Verbraucherschutz|Verbraucherschutz]]es. Soweit die Vorschrift lediglich auf Art.&nbsp;95 EG/‌114 AEUV verweist, erweitert sie die Kompetenzen der Gemeinschaft nicht, sondern erkennt lediglich an, dass Verbrauchermärkte ihrerseits Teil des Binnenmarktes sind. Im Übrigen ermöglich Art.&nbsp;153 EG/‌169 AEUV der Gemeinschaft den Erlass von Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten. Auch damit wird keine zusätzliche Rechtsangleichungskompetenz geschaffen. Vielmehr bleiben die Mitgliedstaaten in der Führungsrolle; der Gemeinschaft kommt lediglich eine unterstützende, ergänzende und überwachende Funktion zu. Die zahlreichen Richtlinien zum privatrechtlichen Verbraucherschutz sind denn auch durchgehend auf der Grundlage von Art.&nbsp;95 EG/‌114 AEUV erlassen worden, der die Gemeinschaftsorgane auf ein hohes Niveau des Verbraucherschutzes verpflichtet.


Nur sehr wenige [[Internationales Privatrecht|IPR]]-Gesetze kennen eine ausdrückliche Vorschrift über das Verbot der Gesetzesumgehung. Die modernste Version ist in Art.&nbsp;18 des belgischen ''Code de droit international privé'' enthalten: „Pour la détermination du droit applicable en une matière où les personnes ne disposent pas librement de leurs droit, il n’est pas tenu comte des faits et des actes constitués dans le seul but d’échapper à l’application du droit désigné par la présente loi.“ (Für die Bestimmung des anwendbaren Rechts bleiben bei Materien, die nicht zur freien Verfügung der beteiligten Personen stehen, die Tatsachen und Umstände unberücksichtigt, die allein deswegen vorgenommen wurden, um der Geltung des nach diesem Gesetz anwendbaren Rechts zu entgehen). Bekannt ist auch die Vorschrift des Art.&nbsp;21 des portugiesischen ''Código civil'' im allgemeinen Teil des IPR. Dort heisst es: „Na aplicação das normas de conflitos são irrelevantes as situações de facto ou de direito criadas com o intuito fraudulento de evitar a aplicabilidade da lei que, noutras circunstâncias, seria competente.“ (Bei Anwendung der Kollisionsnormen sind die tatsächlichen oder rechtlichen Gegebenheiten unbeachtlich, welche mit der Umgehungsabsicht geschaffen worden sind, die Anwendbarkeit desjenigen Rechts zu vermeiden, das unter anderen Umständen anwendbar wäre.) Dieselbe Formel findet man im IPR der früheren portugiesischen Kolonien Angola, (Art.&nbsp;21 ''Código civil'') und Mosambik (Art.&nbsp;21 ''Código civil''). Auch im frankophonen Afrika findet man ähnliche Vorschriften (Art.&nbsp;1011 des ''Code des personnes et de la famille ''von Burkina Faso; Art.&nbsp;829 des'' Code le la famille'' der Republik Kongo und Art.&nbsp;30 des tunesischen ''Code de droit international privé'') sowie in Iberoamerika (Art.&nbsp;15 Nr.&nbsp;1 des mexikanischen ''Código civil'' für den Bundesdistrikt; Art.&nbsp;VI Nr.&nbsp;22 des ''Código civil'' von Nicaragua). Die übrigen IPR-Rechtsordnungen begnügen sich pragmatisch mit Abwägungen im Einzelfall. Diese Einzelfälle sind allerdings verhältnismäßig spärlich. Das liegt vor allem an drei Regeln. (1)&nbsp;Wo konkurrierende Gerichtsstände vorgesehen sind, kann man sich einen Gerichtsstand aussuchen und nach dem IPR des gewählten Forums sein Recht suchen; man braucht es gar nicht künstlich zu wählen. (2)&nbsp;Die in diesem Gerichtsstand gefällten Urteile werden normalerweise in allen Staaten anerkannt, es sei denn, sie verletzten den inländischen ''[[ordre public]]''. Zu diesem Anerkennungshindernis gehört heute nicht mehr die Anwendung des Rechts, das im abwählten Forum maßgeblich gewesen wäre. (3)&nbsp;Wer trotzdem ein Anknüpfungsmoment künstlich manipulieren will, muss dies wirklich tun und nicht nur zum Schein. Wer seinen pflichtteilsberechtigten Erben entfliehen will, muss alle Zelte im Inland abbrechen und all sein inländisches Vermögen ins Ausland schaffen. Tut er das wirklich und gründet seinen Wohnsitz in einem Staat ohne Pflichtteilsrechte, so richtet sich die [[Erbfolge]] entweder nach ausländischem Recht, oder das nach dem inländischen IPR für maßgebend erklärte inländische Sachrecht bleibt im Ausland unbeachtlich.
=== e) Subsidiäre Ermächtigung ===


== 4. Europarecht ==
''Art.&nbsp;308 EG/‌352'','' 353 AEUV'' schafft eine subsidiäre Ermächtigungsgrundlage für Fälle, in denen Maßnahmen der Union erforderlich scheinen, aber im Vertrag keine besondere Kompetenz vorgesehen ist. Für das Privatrecht hat diese Vorschrift eine erhebliche praktische Bedeutung erlangt. Die Gemeinschaft hat vor allem im [[Gesellschaftsrecht]] und im Recht des [[Geistiges Eigentum (allgemein)|geistigen Eigentum]]s neben den Rechtsinstituten des nationalen Rechts ähnliche Rechtsinstitute des Gemeinschaftsrechts geschaffen, die den Marktbürgern optional als Alternativen zum nationalen Recht zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere für die Europäische Aktiengesellschaft (SE) gemäß VO&nbsp;2157/‌2001 und für die [[Gemeinschaftsmarke]] nach der VO&nbsp;40/‌94, konsolidiert durch VO&nbsp;207/‌2009. Diese Rechtsinstitute sind nicht aus einer Angleichung der nationalen Rechte hervorgegangen, für die Art.&nbsp;95 EG/‌114 AEUV die vorrangige Ermächtigungsgrundlage gewesen wäre. Für die Schaffung solcher zusätzlichen, optionalen Rechtsinstitute ist vielmehr Art.&nbsp;308 EG/‌352, 353 AEUV als Ermächtigungsgrundlage anerkannt. Nachdem der Vertrag von Lissabon die Beschränkung der Vorschrift auf marktrelevante Vorschriften beseitigt, kann ein optionales Instrument zum [[europäisches Privatrecht|europäischen Privatrecht]] auch hinsichtlich solcher Bestimmungen auf Art.&nbsp;308 EG/‌352, 353 AEUV gestützt werden, die keine Bedeutung für den Binnenmarkt, wohl aber für ein anderes Gemeinschaftsziel wie etwa die Schaffung eines Rechtsraumes haben. Andererseits hat der Vertrag von Lissabon die Tragweite des Art.&nbsp;308 EG/‌352, 353 AEUV insofern verringert, als für die Schaffung einheitlicher Schutzrechte des geistigen Eigentums nun mit Art.&nbsp;118 AEUV eine spezielle und damit vorrangige Ermächtigungsnorm besteht.
 
Kein Entwurf für ein Europäisches Privatrecht enthält bis jetzt eine Vorschrift über die Gesetzesumgehung. Die [[Principles of European Contract Law|PECL]] enthalten in Art. 1:201(1) die Vorschrift: „Each party must act in accordance with good faith and fair dealing.” Dasselbe sagt Art.&nbsp;1.7(1) UNIDROIT PICC. Ähnlich sieht auch der [[Common Frame of Reference|DCFR]] in Art.&nbsp;I.-1:102(3) vor: „In their [the rules’] interpretation and development regard should be had to the need to promote<nowiki> … </nowiki>(b) good faith and fair dealing …“. Der ''[[Code Européen des Contrats (Avant‑projet)]]'', ausgearbeitet von der Akademie europäischer Privatrechtswissenschaftler in Pavia, ist sehr viel genauer und erwähnt die Grenze von Treu und Glauben nur in einzelnen Artikeln. Diese Vorschriften über Treu und Glauben können auch eine Gesetzesumgehung verbieten; denn eine solche widerspricht Treu und Glauben.
 
Das europäische IPR der vertraglichen Schuldverhältnisse verbietet in gewissen Verbraucherschutz-Richtlinien bei bestimmten Konsumentenverträgen mit enger Beziehung zu einem Mitgliedstaat die Wahl eines außereuropäischen Rechts insoweit, als durch die Rechtswahl die international zwingenden Bestimmungen der EU zum Schutz einer Partei keine Anwendung finden würden. So sagt z.B. Art.&nbsp;6(2) der RL&nbsp;93/‌13 vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen Folgendes: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit der Verbraucher den durch diese Richtlinie gewährten Schutz nicht verliert, wenn das Recht eines Drittstaates als das auf den Vertrag anzuwendende Recht gewählt wurde und der Vertrag einen engen Zusammenhang mit dem Gebiet der Mitgliedstaaten aufweist.“ Diese und andere umgesetzte Regelungen zur Verhinderung einer Gesetzesumgehung finden sich heute z.B. in Art.&nbsp;29(a) EGBGB. Im ''Ingmar''-Fall hatte der EuGH (Rs.&nbsp;C-381/‌98, Slg. 2000, I-9305) selbst ohne eine solche ausdrückliche Regelung über den international zwingenden Charakter von Ausgleichsansprüchen von Handelsvertretern die Wahl eines ausländischen Recht, das diesen Schutz nicht kennt, für unwirksam gehalten.
 
== 5. Völkerrecht ==
 
Das Verbot des [[Rechtsmissbrauch]]s ist auch im Völkerrecht anerkannt. In verschiedenen Urteilen des Internationalen Gerichtshofes und des Internationalen Schiedsgerichtshofs wurde der Begriff „abus de droit“ „abuse of rights“ verwandt (z.B. ICJ 5.2.1970 – ''Barcelona Traction'', ICJ Reports 1970, 3&nbsp;ff. 17; ''Trail Smelter Arbitration'', Rep. Int. Arb. Awards 3 (1949) 1903&nbsp;ff). Außerdem sagt Art.&nbsp;300 des <nowiki>UN-Seerechtsübereinkommens von 1982, dass die Vertragsstaaten „Hoheitsbefugnisse und Freiheiten in einer Weise aus[üben], die keinen Rechtsmissbrauch darstellt“, also das, was als „general principles of law recognized by civilized nations“ i.S.d. Art.&nbsp;38(1)(c) des Statuts des IGH bereits Völkerrecht ist, nämlich die alte Maxime: </nowiki>''sic utere iure tuo ut alienum non laedas.''


==Literatur==
==Literatur==
''Gustav Römer'', Gesetzesumgehung im deutschen Internationalen Privatrecht, 1955; ''Bernard Audit'', La fraude à la loi, 1974; ''Okko Behrends'', Die fraus legis. Zum Gegensatz von Wortlaut- und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation, 1982; ''Jan Schröder'','' ''Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, 1985; ''Klaus Schurig'','' ''Die Gesetzesumgehung im Privatrecht. Eine Studie mit kollisionsrechtlichen und rechtsvergleichenden Aspekten, in: Festschrift für Murad Ferid, 1988, 375&nbsp;ff.; ''Alberto Sols Lucia'','' ''El Fraude a la Ley. Estudio analítico del Art.&nbsp;6.4.° del Código Civil en la Doctrina y Jurisprudencia, 1989; ''Alexandre Kiss'','' ''Abuse of Rights, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd.&nbsp;1, 1992; ''Oliver Heerder'', Fraus legis: Eine rechtsvergleichende Untersuchung über den Vorbehalt der Gesetzesumgehung in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und Belgien unter besonderer Berücksichtigung des Internationalen Privatrechts, 1998; ''Michael Rütten'','' ''Die Gesetzesumgehung im internationalen Privatrecht, 2003; ''Martina Benecke'', Gesetzesumgehung um Zivilrecht, 2004; ''Kerstin Henningsen'','' ''Die Umgehung im deutschen und englischen Privatrecht, 2007.
Siehe die Erläuterungen zu den einzelnen Vorschriften des EG-Vertrages, vor allem bei ''Hans von der'' ''Groeben'', ''Jürgen Schwarze'' (Hg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bde.&nbsp;1–4, 6. Aufl. ab 2003; siehe ferner ''Hans-W. Micklitz'', ''Norbert Reich'', Verbraucherschutz im Vertrag über die Europäische Union – Perspektiven für 1993, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1992, 593&nbsp;ff; ''Ivo Schwartz'', Perspektiven der Angleichung des Privatrechts in der Europäischen Gemeinschaft, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2 (1994) 559&nbsp;ff; ''Jürgen Basedow'', A Common Contract Law for the Common Market, Common Market Law Review 33 (1996) 1169&nbsp;ff; ''Walter van Gerven'', Coherence of Community and national laws. Is there a legal basis for a European Civil Code? European Review of Private Law 5 (1997) 465&nbsp;ff.; ''Ivo Schwartz'', Zuständigkeit der EG-Mitgliedstaaten zu völkerrechtlicher Verwirklichung von der Gemeinschaft gesetzten Zielen, in:'' ''Festschrift für Ulrich Drobnig, 1998, 163&nbsp;ff.; ''Christian Kohler'', Interrogation sur les sources du droit international privé européen après le traité d’Amsterdam, Revue critique de droit international privé 1999, 1&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'', The Communitarization of the Conflict of Laws Under the Treaty of Amsterdam, Common Market Law Review 37 (2000) 687&nbsp;ff.; ''Stefan Leible'', Die Mitteilung der Kommission zum europäischen Vertragsrecht – Startschuss für ein Europäisches Vertragsgesetzbuch? Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2001, 471&nbsp;ff.; ''Jürgen Basedow'', The Case for a European Contract Act, in: Stefan Grundmann, Jules Stryck (Hg.), An Academic Green Paper on European Contract Law, 2002, 147&nbsp;ff.


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Version vom 28. September 2021, 17:09 Uhr

von Jürgen Basedow

1. Auftrag und Zuständigkeit

In den Verfassungen föderaler Gemeinwesen finden sich regelmäßig Vorschriften, in denen die Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf einzelne Rechtsgebiete dem Bund oder den Teileinheiten zugewiesen wird. So liegt die Gesetzgebungskompetenz für das Zivilrecht in den deutschsprachigen Staaten beim Bund, siehe Art. 74 Nr. 1 dt. GG, Art. 122 Abs. 1 schweiz. Bundesverfassung und Art. 10 Abs. 1 Nr. 6 österr. Bundes-Verfassungsgesetz. Damit ist zunächst nur indiziert, dass der Gesetzgeber der Zentraleinheit die Befugnis hat, tätig zu werden. Ob er tatsächlich Gesetze erlässt, bleibt seinem politischen Ermessen überlassen. Die römischen Verträge von 1957 haben die Europäische Gemeinschaft ganz anders konzipiert. Danach wurden der Gemeinschaft Ziele gesetzt wie beispielsweise die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes oder die Einführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik. Den Organen der Gemeinschaft wurde für die einzelnen Politikbereiche der Auftrag erteilt, Schritte zur Verwirklichung der Ziele zu unternehmen. Aus dem Auftrag ergab sich dann auch die Verbandskompetenz der Europäischen Gemeinschaft. Ein politisches Ermessen wurde der Europäischen Kommission nicht eingeräumt, auch wenn es mit der tatsächlichen Ausführung des Vertrages unvermeidlich verbunden war. Die Kommission konnte sich aber bei ihren Gesetzgebungsinitiativen gegenüber den Mitgliedstaaten stets darauf stützen, dass sie nicht nur befugt, sondern verpflichtet war, die Ziele des Vertrages zu verwirklichen.

Die Rivalität der Gesetzgebungskompetenz zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten trat in den gemeinschaftspolitischen Diskussionen schon bald hervor. Eine erste rechtliche Verankerung erhielt sie mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips durch den Vertrag von Maastricht. In Art. 5(2) EG (siehe Art. 5(3) EU 2007) war erstmalig auch von einer ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft die Rede. Auf welche Rechtsgebiete und Handlungsfelder sie sich erstreckt, blieb freilich höchst umstritten. Erst der Vertrag von Lissabon bringt hierzu wünschenswerte Klärung. Die Art. 3 und 4 AEUV enthalten jeweils Listen von Bereichen ausschließlicher Gemeinschaftszuständigkeit und Bereichen, in denen sich Gemeinschaft und Mitgliedstaaten die Zuständigkeit teilen. Für das Privatrecht relevant ist dabei die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Wettbewerbsregeln und die Währungspolitik (Währung; Europäische Zentralbank) in den Ländern der Euro-Zone. Unter den geteilten Zuständigkeiten des Art. 4 sind für das Privatrecht besonders bedeutsam die Kompetenzen für den europäischen Binnenmarkt, die Sozialpolitik, die Umwelt, den Verbraucherschutz, den Verkehr und den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Auf diesen Feldern nehmen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 2(2)2 „ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat“.

Aus der vorstehend genannten Aufzählung ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zu den anfangs zitierten Kompetenzregeln in Bundesstaaten: Während jene sich auf ganze Rechtsgebiete beziehen, geht es in den Gründungsverträgen um Politikfelder. Die oben angeführten Verfassungen beziehen sich auf eine gesamtheitliche Rechtssystematik, innerhalb derer die Gesetzgebungszuständigkeit für jedes Teilrechtsgebiet der Zentrale oder einer Teileinheit zugewiesen wird, je nachdem, wo diese Zuständigkeit nach Auffassung der Verfassungsgeber besser angesiedelt ist. Der EG-Vertrag setzt der Gemeinschaftspolitik demgegenüber Ziele, die mit den Mitteln ganz verschiedener Rechtsgebiete erreicht werden können. So wird man beispielsweise den Schutz der Verbraucher vor gefährlichen Produkten sowohl durch eine verwaltungsrechtliche Zulassungsregelung wie auch durch eine präventiv wirkende scharfe Haftung des Produzenten verbessern können. Aus der Sicht der mitgliedstaatlichen Verfassungen würden Maßnahmen der ersteren Art von der Bundeskompetenz für das Zivilrecht nicht erfasst. Anders verhält es sich mit der Gemeinschaftskompetenz für den Verbraucherschutz gemäß Art. 153, 95 EG/‌169, 114 AEUV: Diese Kompetenz deckt den Erlass von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Schutzmaßnahmen gleichermaßen. Dies erklärt die höchst unscharfe Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht in der Gemeinschaft; eine Fülle von Rechtsakten enthält Vorschriften aus beiden Rechtsgebieten.

2. Bedeutung der Gesetzgebungszuständigkeiten der Gemeinschaft

Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wird die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die ihr durch die Gründungsverträge übertragen worden sind, siehe Art. 5(1) EG/‌Art. 5(2) EU (2007). Eine Besinnung auf die Gesetzgebungsgrundlage ist daher vor jedem Erlass eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes erforderlich. Sie ist darüber hinaus auch deshalb unverzichtbar, weil die einzelnen Ermächtigungsgrundlagen des Vertrages oft spezifische Regelungen für das Gesetzgebungsverfahren aufstellen, die insbesondere die Art der Beteiligung des Europäischen Parlaments und die erforderliche Abstimmungsmehrheit im Rat betreffen. Während für die meisten Politikbereiche nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren des Art. 251 EG/‌294 AEUV eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat und eine gemeinsame Annahme von Rechtsakten durch Rat und Parlament vorgesehen ist, hat das Parlament im Bereich der Wettbewerbspolitik gemäß Art. 83 EG/‌103 AEUV nach wie vor nur ein Anhörungsrecht. Das Anhörungsrecht, das bislang auch für Maßnahmen der Antidiskriminierungspolitik gemäß Art. 13 EG und subsidiäre Maßnahmen gemäß Art. 308 EG vorgesehen war, ist dort nun zu einem Zustimmungsvorbehalt erstarkt, vgl. Art. 19 und Art. 352, 353 AEUV; in beiden Bereichen ist für die Beschlussfassung im Rat nach wie vor Einstimmigkeit vorgeschrieben. Wegen der Bedeutung der Ermächtigungsgrundlage für das Gesetzgebungsverfahren kommt ihrer genauen Bezeichnung im Rahmen der Begründungspflicht des Art. 253 EG/‌296 AEUV große Bedeutung zu, siehe EuGH Rs. 45/‌86 – Kommission/‌Rat, Slg. 1987, 1493, Rn. 8 f.; Rs. C-300/‌89 – Kommission/‌Rat, „Titandioxid“ Slg. 1991, I-2867, Rn. 10 ff.

Auf die präzise Auswahl und Angabe der Ermächtigungsgrundlage kommt es nicht zuletzt auch wegen der Art des Rechtsakts an. So lässt etwa Art. 44(1)/‌50(1) AEUV für die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit, beispielsweise durch Angleichung des Gesellschaftsrechts, nur den Erlass von Richtlinien zu, während für die Verwirklichung des Binnenmarkts im Übrigen gemäß Art 95 EG/‌Art. 114 AEUV „Maßnahmen“, also auch Verordnungen zu Gebote stehen.

Die Wahl der Ermächtigungsgrundlage hat aber auch eine politische Dimension. Da der Vertrag der Gemeinschaft in erster Linie Aufträge zur Gestaltung der Integration erteilt, ist das mit ihrer Durchführung betraute Organ, also die Kommission, auch in entsprechender Weise organisiert. Den einzelnen Generaldirektionen obliegt regelmäßig die Verwirklichung einer sektoralen Politik, so dass mit der Identifizierung einer Kompetenzgrundlage der Gemeinschaft regelmäßig auch die Zuweisung des betreffenden Themas an eine Dienststelle der Kommission verbunden ist, die damit auch zum Ansprechpartner der interessierten Gruppen und Verbände wird.

3. Für das Privatrecht bedeutsame Gesetzgebungskompetenzen

Die politisch-finale Zuständigkeitsordnung des EG-Vertrags bringt es mit sich, dass ganz verschiedene primärrechtliche Grundlagen für den Erlass privatrechtlicher Rechtsakte in Betracht kommen. So sind manche arbeitsrechtlichen Rechtsakte wie etwa die RL über Massenentlassungen (RL 98/‌59) auf die Binnenmarktkompetenz der Art. 94 und 95 EG/‌115, 114 AEUV gestützt, andere wie die RL über Mutterschutz (RL 92/‌85) auf die besondere arbeitsrechtliche Kompetenz gemäß Art. 137(2)/‌153(2) AEUV; für den arbeitsrechtlichen Diskriminierungsschutz der RL 2000/‌78 und 2006/‌54 wurden zum einen Art. 13 EG/‌19 AEUV und zum anderen Art. 141 EG/‌134 AEUV herangezogen. Die Entsende-RL (RL 96/‌71) ist als Maßnahme des Dienstleistungsverkehrs aufgrund der Art. 47 und 55 EG/‌53 und 62 AEUV erlassen worden. Die Vielzahl der Kompetenzgrundlagen ist zum Teil auf die Veränderungen der Gründungsverträge im Laufe der Jahrzehnte zurückzuführen. Jedenfalls schafft sie aber viele Überlappungen. Das Desiderat des Europäischen Gerichtshofes, wonach die Ermächtigungsgrundlage eines Rechtsakts nach objektiven Kriterien zu bestimmen sei, ist in der praktischen Gesetzgebung nicht voll verwirklicht. Die für das Privatrecht wichtigsten Ermächtigungsgrundlagen finden sich in Art. 44 EG/‌50 AEUV für das Gesellschaftsrecht, in Art. 65 EG/‌81 AEUV für das internationale Privat- und Zivilprozessrecht, in Art. 95 EG/‌114 AEUV für die Verwirklichung des Binnenmarkts, in Art. 153 EG/‌169 AEUV für den Verbraucherschutz und – für alle Rechtsgebiete subsidiär – in Art. 308 EG/‌352, 353 AEUV. Der Vertrag von Lissabon hat in Art. 118 AEUV für das geistige Eigentum eine neue Ermächtigungsgrundlage geschaffen, die künftig Art. 352 AEUV vorgeht.

a) Gesellschaftsrecht

Art. 44(2)(g) EG/‌50(2)(g) AEUV gibt der Gemeinschaft die Befugnis, den im nationalen Recht vorgesehenen Schutz von Gesellschaftern und Dritten zu koordinieren und gleichwertig zu gestalten. Diese Ermächtigung beruht auf der Erwägung, dass eine Gesellschaft, die nach dem für sie maßgeblichen Recht beispielsweise geringen Publizitätsanforderungen unterliegt, in einem anderen Mitgliedstaat mit höheren Publizitätsanforderungen möglicherweise in ihrer Tätigkeit behindert wird. Solchen Beeinträchtigungen der Niederlassungsfreiheit kann eine Rechtsangleichung entgegenwirken. Die Rechtsangleichung ist gemäß Art. 44(1) EG/‌50(1) AEUV nur mit dem Mittel der Richtlinie möglich, und ein Dutzend gesellschaftsrechtlicher Richtlinien belegt die Bedeutung dieser Ermächtigungsgrundlage. Ihre Tragweite endet freilich dort, wo es um die Funktionsbedingungen des Kapitalmarkts geht. Eine konsistente Abgrenzung gibt es aber hierzu bis heute nicht. So ist die Bilanz-RL (RL 78/‌660) auf Art. 44 gestützt, die VO 1606/‌ 2002 über die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards dagegen auf die Binnenmarktkompetenz des Art. 95 EG/‌114 AEUV. Von Art. 44 EG/‌50 AEUV nicht erfasst sind auch die eigenständigen Gesellschaftsformen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die SE, deren Statut auf Art. 308 EG/‌352, 353 AEUV beruht, siehe unten.

b) Internationales Privat- und Zivilprozessrecht

Mit Art. 65 EG/‌81 AEUV hat der Vertrag von Amsterdam erst 1997 eine selbständige Gemeinschaftskompetenz für die Regelung der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug geschaffen. Zwar hat die Gemeinschaft auch schon vorher vereinzelt Regelungen zum internationalen Privatrecht auf anderweitiger Grundlage erlassen. Erst aufgrund des Vertrages von Amsterdam ist es aber zu einem umfassenden rechtspolitischen Aktionsplan der Gemeinschaftsorgane auf diesem Gebiet gekommen (ABl. 1999 C 19/‌1, Rn. 40 f.). Da die Gemeinschaft nach Art. 65 „Maßnahmen“ treffen kann, kann sie auch Verordnungen erlassen und hat von dieser Möglichkeit bereits mehrfach Gebrauch gemacht. Die Bedeutung der Rechtsakte für den Binnenmarkt ist nach dem Vertrag von Lissabon nicht mehr eine notwendige Voraussetzung für den Erlass. Die Vorschriften können sich auf das internationale Zivilprozessrecht Europäisches Zivilprozessrecht) beziehen, aber auch die Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen zum Gegenstand haben; sie decken damit das internationale Privat- und Zivilprozessrecht weitgehend ab.

c) Rechtsangleichung für den Binnenmarkt

Von zentraler Bedeutung für die privatrechtliche Gesetzgebung der Gemeinschaft ist ihre Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 94 und 95 EG/‌115, 114 AEUV. Ursprünglich sah der EWG-Vertrag in Art. 100 (Art. 94 EG/‌115 AEUV) lediglich eine sehr eingeschränkte Möglichkeit zur Rechtsangleichung vor; insbesondere musste der Rat danach einstimmig entscheiden. Erst die einheitliche Europäische Akte hat zur Verwirklichung des Binnenmarkts in Art. 95 EG/‌114 AEUV die Rechtsangleichung durch qualifizierte Ratsmehrheit ermöglicht. Für die Ausnahmebereiche Steuern, Freizügigkeit und Arbeitsrecht bleibt es jedoch beim Einstimmigkeitserfordernis. Gemäß Art. 95 EG/‌114 AEUV kann die Gemeinschaft alle Arten von Maßnahmen erlassen, also auch Verordnungen; nach einer Protokollerklärung zur Einheitlichen Europäischen Akte sollen allerdings vorwiegend Richtlinien in Betracht kommen. Der Umfang dieser Gesetzgebungskompetenz im Privatrecht ist strittig. Wie der Gerichtshof in seinem ersten Urteil zur Tabakwerberichtlinie festgestellt hat, begründet Art. 95 EG/‌ 114 AEUV keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarkts. Die „bloße Feststellung von Unterschieden zwischen den nationalen Vorschriften und die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen von Grundfreiheiten oder daraus möglicherweise entstehenden Wettbewerbsverzerrungen“ genügen nicht, siehe EuGH Rs. C-376/‌98 – Deutschland/‌Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 84. Ob die Tragweite dieser Äußerungen über den konkret entschiedenen Fall – das Verbot von lokaler Plakatwerbung durch die Gemeinschaft – hinausgeht und etwa einer umfassenden Regelung des Zivilrechts durch die Gemeinschaft entgegensteht, ist zweifelhaft.

d) Verbraucherschutz

Art. 153 EG/‌169 AEUV verleiht der Gemeinschaft eine Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Verbraucherschutzes. Soweit die Vorschrift lediglich auf Art. 95 EG/‌114 AEUV verweist, erweitert sie die Kompetenzen der Gemeinschaft nicht, sondern erkennt lediglich an, dass Verbrauchermärkte ihrerseits Teil des Binnenmarktes sind. Im Übrigen ermöglich Art. 153 EG/‌169 AEUV der Gemeinschaft den Erlass von Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten. Auch damit wird keine zusätzliche Rechtsangleichungskompetenz geschaffen. Vielmehr bleiben die Mitgliedstaaten in der Führungsrolle; der Gemeinschaft kommt lediglich eine unterstützende, ergänzende und überwachende Funktion zu. Die zahlreichen Richtlinien zum privatrechtlichen Verbraucherschutz sind denn auch durchgehend auf der Grundlage von Art. 95 EG/‌114 AEUV erlassen worden, der die Gemeinschaftsorgane auf ein hohes Niveau des Verbraucherschutzes verpflichtet.

e) Subsidiäre Ermächtigung

Art. 308 EG/‌352, 353 AEUV schafft eine subsidiäre Ermächtigungsgrundlage für Fälle, in denen Maßnahmen der Union erforderlich scheinen, aber im Vertrag keine besondere Kompetenz vorgesehen ist. Für das Privatrecht hat diese Vorschrift eine erhebliche praktische Bedeutung erlangt. Die Gemeinschaft hat vor allem im Gesellschaftsrecht und im Recht des geistigen Eigentums neben den Rechtsinstituten des nationalen Rechts ähnliche Rechtsinstitute des Gemeinschaftsrechts geschaffen, die den Marktbürgern optional als Alternativen zum nationalen Recht zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere für die Europäische Aktiengesellschaft (SE) gemäß VO 2157/‌2001 und für die Gemeinschaftsmarke nach der VO 40/‌94, konsolidiert durch VO 207/‌2009. Diese Rechtsinstitute sind nicht aus einer Angleichung der nationalen Rechte hervorgegangen, für die Art. 95 EG/‌114 AEUV die vorrangige Ermächtigungsgrundlage gewesen wäre. Für die Schaffung solcher zusätzlichen, optionalen Rechtsinstitute ist vielmehr Art. 308 EG/‌352, 353 AEUV als Ermächtigungsgrundlage anerkannt. Nachdem der Vertrag von Lissabon die Beschränkung der Vorschrift auf marktrelevante Vorschriften beseitigt, kann ein optionales Instrument zum europäischen Privatrecht auch hinsichtlich solcher Bestimmungen auf Art. 308 EG/‌352, 353 AEUV gestützt werden, die keine Bedeutung für den Binnenmarkt, wohl aber für ein anderes Gemeinschaftsziel wie etwa die Schaffung eines Rechtsraumes haben. Andererseits hat der Vertrag von Lissabon die Tragweite des Art. 308 EG/‌352, 353 AEUV insofern verringert, als für die Schaffung einheitlicher Schutzrechte des geistigen Eigentums nun mit Art. 118 AEUV eine spezielle und damit vorrangige Ermächtigungsnorm besteht.

Literatur

Siehe die Erläuterungen zu den einzelnen Vorschriften des EG-Vertrages, vor allem bei Hans von der Groeben, Jürgen Schwarze (Hg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bde. 1–4, 6. Aufl. ab 2003; siehe ferner Hans-W. Micklitz, Norbert Reich, Verbraucherschutz im Vertrag über die Europäische Union – Perspektiven für 1993, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1992, 593 ff; Ivo Schwartz, Perspektiven der Angleichung des Privatrechts in der Europäischen Gemeinschaft, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2 (1994) 559 ff; Jürgen Basedow, A Common Contract Law for the Common Market, Common Market Law Review 33 (1996) 1169 ff; Walter van Gerven, Coherence of Community and national laws. Is there a legal basis for a European Civil Code? European Review of Private Law 5 (1997) 465 ff.; Ivo Schwartz, Zuständigkeit der EG-Mitgliedstaaten zu völkerrechtlicher Verwirklichung von der Gemeinschaft gesetzten Zielen, in: Festschrift für Ulrich Drobnig, 1998, 163 ff.; Christian Kohler, Interrogation sur les sources du droit international privé européen après le traité d’Amsterdam, Revue critique de droit international privé 1999, 1 ff.; Jürgen Basedow, The Communitarization of the Conflict of Laws Under the Treaty of Amsterdam, Common Market Law Review 37 (2000) 687 ff.; Stefan Leible, Die Mitteilung der Kommission zum europäischen Vertragsrecht – Startschuss für ein Europäisches Vertragsgesetzbuch? Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2001, 471 ff.; Jürgen Basedow, The Case for a European Contract Act, in: Stefan Grundmann, Jules Stryck (Hg.), An Academic Green Paper on European Contract Law, 2002, 147 ff.