Code civil: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Gebhard Rehm

1. Bedeutung

Der französische Code civil (wegen der intensiven persönlichen Beteiligung Napoléon Bonapartes an seiner Abfassung und zeitweiligen offiziellen Geltung unter diesem Namen auch als Code Napoléon bekannt) ist bis heute das zentrale Gesetz des französischen Zivilrechts, wirkt aber über dieses in vieler Hinsicht hinaus. Nicht umsonst bezeichnete Carbonnier ihn als die „zivile Verfassung“ Frankreichs. Der Code civil zählt mit dem Code de Commerce (Handelsgesetzbuch), Code pénal (Strafgesetzbuch), Code de procédure civile (Zivilprozessordnung) und dem Code d’instruction criminelle (Strafprozessordnung) zu den sog. Grands Codes der napoleonischen Ära.

Historisch markiert der Code civil den endgültigen Übergang vom vorrevolutionären Ancien Régime zur Republik, ist er doch nur wenige Jahre nach der französischen Revolution in Kraft getreten: ihre Ideale, doch nicht ihre Exzesse aufnehmend. Das Freiheitsideal spiegelt sich in der Vertragsfreiheit und im Schutz von (bürgerlichen) Eigentumsrechten (Eigentum, Eigentumsschutz) ebenso wider wie der Gleichheitsgedanke in der Aufhebung adliger Vorrechte und der Anordnung gleicher Erbteile. Dennoch bricht der Code civil nicht mit dem bis zu seinem Inkrafttreten geltenden Recht, sondern führt geschickt die unterschiedlichen Traditionslinien des bis dahin zersplitterten französischen Rechts zusammen. Vermittels des Code civil spielen in der romanischen Rechtsfamilie fränkische Vorbilder stellenweise eine größere Rolle als in der germanischen Rechtsfamilie. Insofern sichert er mehr historische Beständigkeit, als aufgrund seines revolutionsbedingten Ausgangspunkts zunächst zu erwarten wäre.

Geistesgeschichtlich entstammt der Code civil der Aufklärung; er beruht auf der vernunftrechtlichen Annahme, der gesamte Rechtsstoff lasse sich in einer Kodifikation regeln, die das gesellschaftliche Zusammenleben rational ordne. In dieser geschichtlichen Bedeutung avancierte er nicht nur für die romanischen Rechtsordnungen, sondern auch zahlreiche andere Staaten zum Vorbild. Er beeinflusste und förderte die Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts nachhaltig, während die Ideen der Revolution nicht in allen Rezeptionsstaaten gleichermaßen auf Zustimmung stießen.

Trotz der nachhaltigen Veränderung der Lebensverhältnisse sind weite Teile dieses immerhin vor der industriellen Revolution verfassten Gesetzes heute nach wie vor in Kraft, selbst wenn viele Vorschriften ohne die sie erläuternde und verändernde Rechtsprechung den gegenwärtigen Rechtszustand kaum noch zutreffend beschreiben. Der Erfolg des Code civil in Frankreich wie im Ausland beruht neben seinen inhaltlich als gelungen empfundenen Regelungen und dem Versprechen von Freiheit und Gleichheit vor allem auch auf seiner viel gerühmten sprachlichen Qualität. Anders als bei der Redaktion des deutschen BGB ließen es sich die Verfasser angelegen sein, ein trotz komplexer Regelungsmaterie auch für den Normalbürger möglichst verständliches Gesetz zu formulieren, wenngleich sie sich bewusst waren, dass dieses Ideal in einer komplexen Gesellschaft wie der französischen kaum vollständig zu erreichen sein würde. Den Code civil, an dem etwa Stendhal nach eigenem Bekunden durch tägliche Lektüre seine Sprachfertigkeit schulte, kennzeichnet daher eine knappe, prägnante Sprache. Die in französischen Juristenkreisen stärker als in deutschen ausgeprägte Wertschätzung geradezu schriftstellerischer Formulierungskunst mag ihre Wurzel wie ihren Ausdruck in diesem Stil des Gesetzes finden. Gleichzeitig gehen die Neigung zu Allgemeinverständlichkeit und der Verzicht auf technisch komplizierte Formulierungen gelegentlich auf Kosten der Genauigkeit. Dies nahmen die Gesetzesverfasser bewusst in Kauf, um für den Richter Flexibilität im Einzelfall und Spielraum für Rechtsfortbildung zu schaffen.

2. Wurzeln und Geschichte

Zur Zeit der Revolution war Frankreich von einem einheitlichen Zivilrecht weit entfernt, wenngleich die Rechtszersplitterung nicht das gleiche Ausmaß wie etwa in Deutschland hatte. Eine Rechtseinheit hatten auch die Ordonnances nur teilweise und beschränkt auf einzelne Gebiete (insb. im Prozess- und Handelsrecht) herstellen können. Während in Nordfrankreich (einschließlich Paris) der fränkische-burgundische Einfluss selbst nach der Rezeption des römischen Rechts über die oberitalienischen Universitäten bedeutsam blieb (Coutumes, droit coutumier), hatte der Süden seit der Eroberung durch die Römer ohnehin stets die römisch-rechtliche Tradition gepflegt (droit écrit). Hinzu kamen zahlreiche weitere Unterschiede innerhalb dieser zwei grundsätzlichen Systeme. Ange- sichts von über 350 unterschiedlichen Coutumes générales und locales spottete Voltaire nicht ganz zu Unrecht, ein Reisender in Frankreich wechsle die Rechtsordnung ebenso häufig wie sein Pferd. Noch Montesquieu hielt eine vollständige Rechtseinheit angesichts der tiefgreifenden wirtschaftlichen und kulturellen Divergenzen für ausgeschlossen.

Nach der französischen Revolution geriet die Frage nach einem einheitlichen Zivilgesetzbuch früh in das Zentrum der Aufmerksamkeit – Rechtszersplitterung bewirkte Rechtsunsicherheit und hatte Spielräume für die korruptionsanfälligen Gerichte geschaffen. Diesen weidlich genutzten Freiheiten sollte durch eine einheitliche Kodifikation die Grundlage entzogen werden. Vorbereitet durch die sog. cahiers de doléance (Beschwerdehefte) von 1789 erklärte Art. 1 der Verfassung vom 3.9.1791 die Zivilrechtskodifikation (Code des lois civiles communes à tout le royaume) zum ausdrücklichen Ziel. Man wünschte sich ein einheitliches, einfaches und präzises Gesetz. Bis zur Machtübernahme Napoléons wurden indes nur miteinander unverbundene Rechtsakte (sog. droit intermédiaire) erlassen; ihre Vereinheitlichung – u.a. auf der Basis dreier von Cambacérès vorgelegter Entwürfe – gelang in den Wirren der unmittelbaren Nachrevolutionszeit nicht.

In dieser Situation erschien Napoléon die Rechtsvereinheitlichung durch ein Zivilgesetzbuch als sachliche Notwendigkeit, gleichzeitig aber auch als Mittel zur Stabilisierung seiner Herrschaft und Instrument der Aussöhnung. Im Exil auf St. Helena sollte er viele Jahre später resümieren, dass der Ruhm seiner 40 gewonnenen Schlachten durch die Niederlage bei Waterloo ausgelöscht, „sein Code civil“ aber ewig der Nachwelt erhalten bleiben werde. Maßgebliche Vorarbeiten zum Code civil leistete eine im August 1800 von Napoléon eingesetzte Kommission. Die Richter und Verwaltungsbeamten François Denis Tronchet, Jean Étienne Marie Portalis, Jacques Maleville und Félix Julien Jean Bigot de Préameneu legten bereits nach vier Monaten einen Entwurf vor (Napoléon hatte ihnen sechs Monate eingeräumt). Das war nur möglich, weil die Kommission aus reichen Vorarbeiten, insbesondere von Robert Joseph Pothier und Jean Domat schöpfen konnte. Seine endgültige Form und Fassung nahm das Gesetz nach der Verarbeitung von Anmerkungen der Cour de Cassation und der Berufungsgerichte (Cours d’Appel) in ausführlichen Beratungen im Conseil d’État an. Der etwa die Hälfte dieser Sitzungen leitende Nichtjurist Napoléon mahnte nachdrücklich pragmatische Lösungen und einfache Formulierungen an. Inhaltlich interessierte er sich eher für allgemeine Leitlinien als für technische Details, allerdings auch Einzelfragen wie die Rechtsstellung der Soldaten, der Bürger der Überseeterritorien, die Rechte von Ausländern in Frankreich oder die Voraussetzungen einer Scheidung. Nicht wenige vermuten, dass sein besonderes Interesse an einem liberalen Scheidungsrecht durchaus persönliche Gründe hatte: die von ihm bereits frühzeitig geplante Gründung einer Dynastie erforderte die Scheidung der kinderlos gebliebenen Ehe mit Joséphine, wäre aber unter den von vielen befürworteten, herkömmlich restriktiven Scheidungsvoraussetzungen nicht möglich gewesen. Zwischenzeitlich galt darum seine (besondere) Aufmerksamkeit auch dem Adoptionsrecht (Adoption). Seine Entschlossenheit und sein Durchsetzungsvermögen trugen jedenfalls insgesamt nicht unerheblich dazu bei, dass die Beratungen zügig zu einem Abschluss gelangten (René Savatier: „[Le Code civil]… est l’œuvre de la volonté d’un homme: Bonaparte“). Der endgültige Gesetzesentwurf wurde sodann in Einzelabschnitten dem für die Beratung von Gesetzesvorlagen der Regierung (allerdings ohne Abstimmungsrecht) zuständigen Tribunat zugeleitet. Das Tribunat und auf seine Empfehlung der Corps Législatif als eigentliche Gesetzgebungskammer (allerdings ohne Beratungsrecht) lehnten Ende 1801 bereits die ersten Teile des Entwurfs ab. Der Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass das Tribunat bislang weitgehend von der Erarbeitung der Gesetzentwürfe ausgeschlossen gewesen war, in der Demonstration eigener Macht (Gesetze konnten nur in toto angenommen oder abgelehnt werden), aber auch in inhaltlicher Kritik begründet (zu starke Rolle der Richter, die man im Ancien Régime als käuflich erlebt hatte; Ablehnung des Konzepts des Familienrechts, das zu wenig revolutionär erschien). Napoléon zog daraufhin den Entwurf am 3.1.1802 vollständig zurück, um auf einen positiver eingestellten Gesetzgeber zu warten. Nach dem (teilweise erzwungenen) Ausscheiden einiger „Obstruktionisten“ wurde der Entwurf dem Tribunat erneut zunächst vertraulich und inoffiziell, nach signalisierter Zustimmung dann auch offiziell zugeleitet. Von März 1803 bis März 1804 wurden die 36 Abschnitte des Gesetzes verabschiedet. Am 21.3.1804 trat das Gesetz insgesamt unter dem Namen Code civil des Français in Kraft und hob alle zuvor geltenden Regelungen der von ihm erfassten Materien auf.

3. Aufbau des Gesetzes

Der ursprünglich aus 2281 Artikeln bestehende Code civil nimmt systematisch die römisch-rechtliche Dreiteilung nach Personen, Sachen und Vermögensrechten auf. Das auf den sechs Artikel umfassenden Einführungsteil (Livre préliminaire) folgende Erste Buch, Des personnes (Art. 7-515), regelt die Staatsangehörigkeit (später ausgegliedert) und bruchstückhaft das Fremdenrecht. Letzteres wurde später von Rechtsprechung und Lehre zu einem geschlossenen System des internationalen Privat- und Verfahrensrechts ausgebaut. Außerdem finden sich im Ersten Buch Familien- und Eherecht (mit Ausnahme des Güterrechts) sowie Vormundschaftsrecht. Das Zweite Buch, Des biens et des différentes modifications de la propriété (Art. 516-710), kodifiziert das Sachenrecht, also das Eigentum (einschließlich der Enteignung) und beschränkte dingliche Rechte wie Nießbrauch, Nutzungen, Dienstbarkeiten etc. Das Dritte Buch schließlich widmet sich dem Eigentumserwerb in seinen unterschiedlichen Varianten: Des différentes manières dont on acquiert la propriété (Art. 711-2281). Neben dem Erbrecht zählt zu diesem bunten Kaleidoskop von Regelungen das Obligationenrecht (für den Eigentumserwerb gilt das reine Konsensualprinzip, Art. 1588 Code civil) samt vertraglichem Ehegüterrecht, Rechtsdurchsetzung und Verjährung.

Erst in jüngster Zeit hat der Code civil eine Ergänzung bzw. Neugliederung durch zwei weitere Bücher erfahren. Das 2007 in Kraft getretene Vierte Buch regelt die zuvor im Dritten Buch kodifizierten Personal- und Realsicherheiten, während seit 2006 das Fünfte Buch die differenzierte Anwendung des Gesetzes auf das französische Überseeterritorium Mayotte ausgestaltet.

4. Inhaltliche Leitlinien

Die Gesetzgebungskommission unter Tronchet und Portalis meinte, Recht nicht setzen zu können; Recht könne sich vielmehr nur im Laufe der Zeit entwickeln. Sie strebte an, eher „nützlich als originell“ zu sein und lehnte allzu radikale Gesetzesreformen zugunsten von Kompromiss und Ausgleich ab. Zusammengesetzt aus Verfechtern nordfranzösischer Coutumes wie aus Romanisten, orientierte die Kommission sich an den auf französischem Territorium vorgefundenen Rechtstraditionen. Während das weitgehend auf germanischen Traditionen beruhende französische Gewohnheitsrecht und die Ordonnances, soweit einschlägig, das Sachen-, Familien- und Erbrecht prägen, folgt das Obligationenrecht inhaltlich vor allem dank des Einflusses von Robert Joseph Pothier ebenso wie etwa das Ehegüter- und Testamentsrecht dem römischen Vorbild.

Die aufklärerischen Ideale von Freiheit und Gleichheit mündeten insbesondere in die umfassende Garantie von Privatautonomie, vor allem den Schutz des Eigentums (Art. 544; Eigentumsschutz) und der Vertragsfreiheit (Art. 1134), wenngleich diese subjektiven Rechte nur im Rahmen der Gesamtrechtsordnung ausgeübt werden dürfen. Der Freiheit entspricht die Verantwortung des Einzelnen für schuldhaftes Verhalten (Art. 1382, 1383). Eigentumsschutz, Vertragsfreiheit und allgemeine deliktische Verantwortung (Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia) halten viele spätere Kommentatoren für die eigentlichen, revolutionären Säulen des Code civil, obwohl die Gesetzesverfasser ihnen vermutlich weniger Bedeutung beimaßen (Alfons Bürge, James Gordley). Erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts mit seiner Betonung des Positivismus entstand der Mythos des Code civil als revolutionärem Gesetz, das allein aus sich selbst heraus auszulegen sei. Trotz reformatorischer Tendenzen brach das Gesetz aber in Wirklichkeit nicht mit der Vergangenheit. So erlitt z.B. der bestimmter, insbesondere politischer Straftaten Schuldige den „bürgerlichen Tod“, seine Frau wurde Witwe, er konnte selbst kein Eigentum inne haben, Verträge schließen, seine Kinder wurden Waisen. Erst 1854 wurde diese drastische Sanktion aus dem Gesetz verabschiedet. Hauptnutznießer der Mischung aus Konservierung des Althergebrachten, punktueller Liberalisierung und Individualisierung war – für jene Zeit in Europa immerhin eine beispiellose Tendenz – das liberale Bürgertum. Feudale Vorrechte etwa im Erb-, Grundstücks- und Jagdrecht wurden aufgehoben bzw. die entsprechenden Anordnungen des droit intermédiaire bestätigt, wenngleich mit der Einführung des Kaiserreichs bereits am 2.5.1804 der Adelsstand – nunmehr vom Kaiser gesteuert – zumindest für eine Übergangszeit wieder an Bedeutung gewann. Der Eigentumsschutz verstärkte den Gegensatz zwischen besitzenden und nicht-besitzenden Klassen. Das Arbeitsrecht blieb ungeregelt, Gewerkschaften und Streiks waren verboten. Im Familienrecht löste ein laizistisches System das bis dahin geltende kanonische bzw. gewohnheitsrechtliche Eherecht (Kanonisches Recht, Ehe) ab, ohne sich von dessen Inhalten grundsätzlich zu lösen. Selbst als auf Druck von Napoléon die Scheidung zugelassen wurde, erhöhten sich die Hürden gegenüber dem droit intermédiaire. Zwar galt grundsätzlich Gleichheit vor dem Gesetz, doch wurde dieser Grundsatz nicht im Sinne seines modernen Verständnisses vollständig umgesetzt: Frauen waren gegenüber der Rechtslage im Ancien Régime bessergestellt, doch noch keinesfalls den Männern gleichberechtigt. So schuldete die Ehefrau ihrem Mann Gehorsam (eine ebenfalls u.a. Napoléon und seinen Erfahrungen mit Joséphine zugeschriebene Regel), der Familienvater war zumindest in der Theorie berechtigt, das gemeinschaftliche und das Kindesvermögen zu verwalten und die Kindererziehung zu gestalten. Auch waren nicht-eheliche Kinder ehelichen (Kindern) nicht gleichgestellt und Ausländer genossen nicht die gleichen Bürgerrechte wie Franzosen.

Erst im Laufe der Zeit verließ der Code civil den von vielen als einseitig individualistisch bzw. das Bürgertum begünstigend angesehenen Pfad. Die industrielle Revolution brachte insbesondere im Delikts-, Arbeits- und Versicherungsrecht Gesetzeslücken zum Vorschein, die zunächst durch die Rechtsprechung gefüllt wurden. Insofern ist es ein Mythos, dass die Rechtsprechung in Frankreich kaum rechtsfortbildende Kraft entfaltet habe. Ursprünglich im Code civil enthaltene Rechtsmaterien wurden später in besondere Gesetzbücher ausgegliedert. Aus Rechtsprechung und Sondergesetzen entwickelten sich das gesonderte Arbeits-, Versicherungs- und Verbraucherschutzrecht. Nach 1945 wurden zahlreiche Teilbereiche reformiert. Grundbuchrecht, Adoptions- und Vormundschaftsrecht, Ehegüterrecht, Kindschaftsrecht, Scheidungsrecht und Verbraucherschutzrecht sind nur einige der Materien, die eine tiefgreifende Veränderung erfuhren. Gleichstellung von Mann und Frau, die Verbesserung der Stellung des nicht-ehelichen Kindes, die Gewährung von Arbeitnehmer- und Konsumentenschutz, kurz: eine „sozialere“ Gestaltung des Zivilrechts prägten die Reformen. Das europäische Recht wirkt nachhaltig auch auf den Code civil. Eine seit 2005 geplante umfassende Änderung des Schuld- und Verjährungsrechts („Projet Català“), das dem zunehmenden europarechtlichen Druck zur Vereinheitlichung des Vertragsrechts ein französisches Modell entgegensetzen soll, ist 2008 beschränkt auf das Verjährungsrecht (Verjährung) umgesetzt worden. Die Änderung des Vertragsrechts steht 2009 noch aus. Eine Reform des Deliktsrechts ist einstweilen aufgeschoben. Das Vormundschaftsrecht ist zum 1.1.2009 erneut reformiert worden.

Der Code civil hat zunächst insgesamt ein stabiles Gleichgewicht zwischen Bewahrung traditionellen Rechtsstoffs und Neuorientierung an Freiheit und Gleichheit gefunden, wie sein nachhaltiger Erfolg belegt. Gleichzeitig hat er sich im Lichte gesetzgeberischer Reformen für eine Weiterentwicklung und Lückenschließung durch die Rechtsprechung als hinreichend aufgeschlossen erwiesen, um auch nach 200 Jahren noch als zeitgemäße Grundlage des französischen Zivilrechts zu dienen. Die aktuellen bzw. geplante Reformen insbesondere im Schuldrecht sind einerseits vom Wunsch motiviert, die französischen Rechtstraditionen zu bewahren, sollen andererseits aber offenbar Frankreich auch ermöglichen, im Zuge der Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts eine moderne Lösung anzubieten.

5. Rezeption und internationale Wirkung

Dank der Vergrößerung des französischen Staatsgebiets unter Napoléon trat der Code civil in zahlreichen Gebieten, wie z.B. in den von Deutschland an Frankreich abgetretenen linksrheinischen Gebieten in Kraft. Einige Staaten, etwa das Großherzogtum Baden als Mitglied des Rheinbundes, übernahm den Code civil als „Badisches Landrecht“ freiwillig, wenngleich gewisse badische Rechtsbesonderheiten fortgalten. Diese Geltung im deutschsprachigen Raum hat – noch über das Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 hinaus – dem Code civil besondere Aufmerksamkeit in Deutschland gesichert und den deutsch-französischen Rechtsdialog befruchtet. Das sog. „Rheinische Recht“, die Geltung des Code civil in zahlreichen deutschen Gebieten teilweise bis zum Inkrafttreten des BGB, hat auf die deutsche Rechtsentwicklung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausgeübt. Der Code civil trat außerdem unmittelbar in Belgien und Luxemburg, die im Wiener Kongress an Frankreich gefallen waren, in Kraft, wo er noch heute – wenn auch in Luxemburg in erheblich größerem Umfang als in Belgien – weitgehend gilt. Für eine gewisse Zeit galt er auch in den Niederlanden und inspirierte den italienischen Codice civile von 1865, bis diese Staaten sich im 20. Jahrhundert aus dieser unmittelbaren französischen Rechtstradition lösten. Der Code civil wurde weitgehend in Rumänien (1863), Portugal (1867) und Spanien (1888/89) rezipiert. Über die iberischen Staaten gelangte er auch in zahlreiche lateinamerikanische Rechtsordnungen, bis diese sich ebenfalls an unterschiedlichen Rechtstraditionen zu orientieren begannen. Natürlichen Einfluss übte er auch in den französischen Kolonien und Mandatsgebieten aus (z.B. Ägypten, Syrien, Libanon, Indochina). Des weiteren beeinflusste er die Zivilgesetzbücher des US-Bundesstaates Louisiana und der kanadischen Provinz Québec. In beiden Rechtsordnungen ist in jüngerer Zeit allerdings deutlich die Überlagerung durch das (hier) fast „übermächtige“ common law zu verzeichnen. Insbesondere der neue Code civil von Québec (1994) markiert eine deutliche Abkehr von französischen Rechtsprinzipien.

Literatur

Société d’études législatives (Hg.), Le Code civil 1804-1904: livre du centenaire, 1904; René Savatier, L’art de faire les lois, Bonaparte et le Code civil, 1927; James Gordley, Myths of the French Civil Code, American Journal of Comparative Law 42 (1994) 459 ff.; Murad Ferid, Hans-Jürgen Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, Bd. 1, 1994, 1 A 201 ff., 1 A 30 ff.; Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, 2. Aufl. 1995; Reiner Schulze (Hg.), Rheinisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte, 1998; Dalloz, Litec (Hg.), Le Code Civil 1804–2004, 2004; Werner Schubert, Mathias Schmoeckel (Hg.), 200 Jahre Code civil, 2005; Hans-Jürgen Puttfarken, Judith Schnier, Der Code Napoléon damals und heute – eine Betrachtung aus deutscher Sicht, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaften 105 (2006) 223 ff.; François Terré (Hg.), Pour une réforme du droit des contrats, 2009.

Quellen

Die aktuelle Fassung des Code civil findet sich gedruckt etwa bei Alice Tisserand-Martin, Georges Wiederkehr, François Jakob, Xavier Henry, Guy Venandet, François Baraton (Hg.), Code civil, 108. Aufl. 2009; im Internet über http://www.legifrance.gouv.fr, dort unter http://www.legifrance.gouv.fr/telecharger_pdf.do?cidTexte=LEGITEXT000006070721 (Stand 1.6.2009); eine englische Übersetzung findet sich unter http://195.83.177.9/code/liste.phtml?lang=uk&c=22 (Englisch, Stand 4.4.2006); eine spanische Übersetzung findet sich unter http://195.83.177.9/code/liste.phtml?lang=esp&c=41 (Spanisch, Stand 4.4.2006); die Ursprungsfassung von 1804 ist am leichtesten zugänglich unter http://www.assemblee-nationale.fr/evenements/code-civil-1804-1.asp. Die Gesetzesmaterialien finden sich etwa bei P. Antoine Fenet, Recueil complet des travaux préparatoires du Code civil, 1827; ebenso bei Jean-Étienne-Marie Portalis, Discours préliminaire du premier projet de Code civil, 1801 (im Internet verfügbar unter http://classiques.uqac.ca/collection_documents/portalis/discours_1er_code_civil/discours_1er_code_civil.pdf.

Abgerufen von Code civil – HWB-EuP 2009 am 23. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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