Europäische Verfassung und Europäische Wirtschaftsverfassung: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Ninon Colneric]]''
von ''[[Ernst-Joachim Mestmäcker]]''
== 1. Der EG-Vertrag als Verfassungsurkunde und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ==
== 1. Überblick ==
Die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften ([[Europäische Gemeinschaft]] und EG-Vertrag) haben eine neue Rechtsordnung geschaffen, zu deren Gunsten die Staaten in immer weiteren Bereichen ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind (EuGH Rs. 26/62 – ''van Gend & Loos'', Slg. 1963, 1). Die wesentlichen Merkmale dieser so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft sind ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten (EuGH Rs. 6/64 – ''Costa'', Slg. 1964, 1141) und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen. Dem EuGH zufolge stellt der EWG-Vertrag deshalb, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft getroffen worden ist, die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar (EuGH Rs. 294/83 – ''Les Verts'', Slg. 1986, 1339;'' ''Gutachten 1/91 – ''Europäischer Wirtschaftsraum'', Slg. 1991, I-6079). Dasselbe gilt für den EG-Vertrag (EuGH Rs. 15/00 – ''Kommission/Europäische Investitionsbank'', Slg. 2003, I-7281). Der Begriff der Rechtsgemeinschaft bezeichnet in diesem Kontext eine Gemeinschaft, die auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit beruht. Dem EG-Vertrag liegt keine klassische Gewaltenteilung zugrunde. Er beinhaltet jedoch ein System gegenseitiger Kontrolle, durch das ein institutionelles Gleichgewicht geschaffen werden soll (EuGH Rs. 138/ 79 – ''Roquette Frères'', Slg 1980, 3333; EuGH Rs. C-70/88 – ''Parlament/Rat'', Slg. 1991, I-2041). Der grundlegende Status der Angehörigen der EG-Mitgliedstaaten ist der des Unionsbürgers. Er vermittelt im Anwendungsbereich des EG-Vertrages einen umfassenden Anspruch auf Nichtdiskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (EuGH Rs. C-184/99 – ''Grzelczyk'', Slg. 2001, I‑6193, [[Unionsbürgerschaft]]; [[Diskriminierungsverbot (allgemein)]])
Der Vertrag über die Europäische Union ([[Europäische Union|EU]]-Vertrag) bestätigt den Bestand der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]] und das durch den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft geprägte Gemeinschaftsrecht (Art. 43 EU (1992)/20 EU (2007)). Die EG verwirklicht ihre Aufgaben durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 2 EG/3 EU (2007)). Der Verfassungscharakter der EG folgt nach der Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] aus ihrer Rechtsordnung. Diese Verfassung ist eine Wirtschaftsverfassung, soweit sie Ziele und Mittel für die Ordnung des Wirtschaftsverkehrs im Geltungsbereich des EGV normiert. Der Gemeinsame Markt, der mit dem [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]] weitgehend übereinstimmt, ist Ziel ''und Mittel'' eines Wirtschaftsraums ohne Binnengrenzen. Im gleichen Maße, in dem die Binnengrenzen entfallen, besteht die Aufgabe der Gemeinschaft darin, die Binnenordnung, die durch Freiverkehr und Wettbewerb gekennzeichnet ist, auf Dauer zu gewährleisten und weiter zu entwickeln.


Im Wege der Rechtsfortbildung erkannte der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] ungeschriebene [[Allgemeine Rechtsgrundsätze]] an, die den Rang von primärem Gemeinschaftsrecht haben. In diese Kategorie fallen beispielsweise das inzwischen in Art. 5 EG/ersetzt durch Art. 3b EU (2007) verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip (EuGH Rs. 310/04 – ''Spanien/Rat'', Slg. 2006, I-7285; [[Verhältnismäßigkeit]])'' ''sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes (EuGH, a.a.O.) und des rechtlichen Gehörs (EuGH Rs. C-240/03 P – ''Comunità montana della Valnerina'', Slg. 2006, I-731).
Zu den Prinzipien, denen die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft verpflichtet sind und welche die Währungspolitik mitbestimmen, gehört eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 4(1) und (2) EG/119 AEUV, Art. 105(1) EG/127(1) AEUV). Das Prinzip begründet wegen seiner Allgemeinheit keine Pflichten der Mitgliedstaaten und keine Rechte der Einzelnen (EuGH Rs. 126/86 − ''Gimènez Zaera'', Slg. 1987, I-3697, Rn. 10). Gleichwohl kommt ihm aus ökonomischen und rechtlichen Gründen normative Bedeutung zu: Mit der Größe des Marktes nehmen die gesamtwirtschaftlichen Vorteile der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung zu; die dezentrale, über Märkte vermittelte Kooperation der Marktteilnehmer trägt zur Knappheit überwindenden Allokation der Ressourcen bei. Die marktwirtschaftliche Ordnung, die auch eine Voraussetzung für den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft ist, trägt zur Gewaltenteilung zwischen Staat und Wirtschaft bei, begrenzt den Kompetenzbedarf der Gemeinschaft und damit den Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten. Gemeinschaftsrechtlich steht sie einer Politik entgegen, welche die Ziele des Art. 2 EG/3 EU (2007) mit zentralen Plänen verwirklichen will.


Der EuGH zählte zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung er zu sichern habe, insbesondere die Grundrechte (EuGH Rs. 29/69 – ''Stauder'', Slg. 1969, 419). Die von ihm entwickelte Konzeption des Grundrechtsschutzes fand später ihren Niederschlag im EU-Vertrag (1992), dessen Art. 6(2) bestimmt, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts richten sich in erster Linie an die Organe der Gemeinschaft. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind jedoch auch Handlungen der Mitgliedstaaten an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen, wenn diese im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig werden, z.B. gemeinschaftsrechtliche Regeln durchführen (EuGH Rs. 5/88 – ''Wachauf'', Slg. 1989, 2609, und EuGH Rs. C-260/89 – ''ERT'', Slg. 1991, I-2025).
Die Ziele des Art. 2 EG/3 EU (2007) gewinnen normativen Gehalt ferner im Zusammenhang mit den vom EGV normierten Mitteln zu ihrer Verwirklichung. Daraus folgt ihre Bedeutung als Maßstab für die Rechtsauslegung. Der Zusammenhang von Ziel und Mittel kann so eng sein, dass einem Ziel selbst zwingende Geltung zukommt. Ein Mindestmaß an Wettbewerb ist eine faktische Voraussetzung für die praktische Wirksamkeit einer großen Zahl von Normen des Gemeinschaftsrechts. Deshalb sind Wettbewerbsbeschränkungen absolut verboten, die geeignet sind, den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt auszuschalten (EuGH Rs. 6/72 − ''Continental Can'', Slg. 1973, 215).


Gemäß einer vom EuGH im Fall ''Wachauf'' entwickelten Formel kann die Ausübung der von ihm anerkannten Grundrechte Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgen Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet. Für den Fall einer Kollision der Gemeinschaftsgrundrechte mit den [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] des EG-Vertrages hat der EuGH die folgenden Grundsätze aufgestellt: Da die Grundrechte sowohl von der Gemeinschaft als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten sind, stellt der Schutz dieser Rechte ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung der Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemeinschaftsrecht, auch kraft einer durch den EG-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit wie der des freien Warenverkehrs oder der Dienstleistungsfreiheit, bestehen (EuGH Rs. C-112/00 – ''Schmidberger'', Slg. 2003, I-5659; EuGH Rs. C-36/02 – ''Omega'', Slg. 2004, I-9609). Während es im Fall ''Schmidberger'' geheißen hatte, die bestehenden Interessen seien gegeneinander abzuwägen, ist in neueren Entscheidungen davon die Rede, dass die Ausübung der betroffenen Grundrechte mit den Erfordernissen der durch den EG-Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müsse (EuGH Rs. C-438/05 – ''Viking'', Slg. 2007, I-10779; EuGH Rs. 341/05 – ''Laval'', Slg. 2007, I-11767).
== 2. Verfasste Wirtschaftsfreiheiten ==
Die europäische Wirtschaftsverfassung wird häufig unter zustimmender und mehr noch unter kritischer Bezugnahme auf die deutsche Herkunft des Begriffs erörtert. Um formelle Wirtschaftsverfassungen handelt es sich, wenn sie Teil der politischen Verfassung sind und Grundsätze für die Gestaltung des Wirtschaftslebens normieren (Weimarer Reichsverfassung, 5. Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“; Verfassung der DDR). In dieser Tradition soll die Wirtschaftsverfassung den Vorrang der Politik für die Organisation und Lenkung der Wirtschaft legitimieren. Die Möglichkeit, Verfassungsprinzipien aus wirtschaftlichen Freiheitsrechten abzuleiten, kam nicht in den Blick oder wurde als in sich widersprüchlich verworfen. Dagegen wendet sich die Theorie der Wirtschaftsverfassung, die auf Prinzipien für eine wirtschaftliche Gesamtordnung beruht, in welcher die Freiheitsrechte der Einzelnen systembestimmend sind. Die Prinzipien folgen aus der Trennung von Staat und Wirtschaft, aus der Gewährleistung wirtschaftlicher Freiheitsrechte, der damit einhergehenden Begrenzung wirtschaftlicher Macht; und sie sind auf eine Wirtschaftspolitik gerichtet, die rationales Handeln der Einzelnen auf Wettbewerbsmärkten bei freier Preisbildung und auf der Grundlage einer stabilen Währung ermöglicht. Diese Leitideen haben die deutsche Nachkriegspolitik nachhaltig beeinflusst. Mit dem Vertrag von Rom (1958) wurden sie zu einer der Grundlagen der europäischen Wirtschaftsverfassung.


Im Juni 1999 beschloss der Europäische Rat auf seinem Gipfel in Köln, dass eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) erforderlich sei, um die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu machen. Ein Konvent, der aus persönlichen Beauftragten der Staats- und Regierungschefs, Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente sowie einem Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission bestand, wurde mit ihrer Erarbeitung beauftragt. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2000 C 364/1) wurde am 7.12.2000 in Nizza von Rat, Parlament und Kommission feierlich proklamiert und unterzeichnet, nachdem der Europäische Rat den Entwurf der Charta gebilligt hatte ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]). Die Mitgliedstaaten unterzeichneten sie nicht. Der EuGH ging am 27.6.2006 erstmals in einem Urteil auf die GRCh ein (EuGH Rs. C-540/03 – ''Parlament/Rat'', Slg. 2006, I-5769). Er führte zu ihrem juristischen Stellenwert aus, auch wenn es sich dabei nicht um ein bindendes Rechtsinstrument handele, habe der Gemeinschaftsgesetzgeber doch ihre Bedeutung anerkennen wollen, indem er in einer Begründungserwägung der streitigen Richtlinie ausgeführt habe, dass diese die in der GRCh anerkannten Grundsätze beachte. Im Übrigen werde mit der GRCh, wie sich aus ihrer Präambel ergebe, in erster Linie das Ziel verfolgt, die Rechte zu bekräftigen, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und den Gemeinschaftsverträgen, aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.
Die Idee verfasster Freiheit außerhalb oder neben der politischen Verfassung hat ihren Ursprung in der europäischen Aufklärung, in ihrer Anwendung auf die Wirtschaft hauptsächlich in Schottland. Die verfasste Freiheit (''constitutional liberty'') folgt – noch vor der Erklärung der Grund- und Menschenrechte in der französischen Revolution – aus gesellschaftlich respektierten Freiheitsbereichen der Einzelnen, insbesondere der Meinungsfreiheit, den wirtschaftlichen Freiheiten und dem allseitigen Respekt für Regeln gerechten Verhaltens (''rule of law''). In dieser Tradition wurde es möglich, die Wirtschaft als einen Teilbereich der Gesellschaft auf der Grundlage von Wirtschaftsfreiheiten, Wettbewerb und Regeln gerechten Verhaltens zu verfassen. Diese Regeln haben der Eigengesetzlichkeit des Rechts ebenso Rechnung zu tragen wie den Grenzen der Wirtschaftsfreiheiten, die sich aus den Erfordernissen wettbewerblicher Marktprozesse ergeben: Ohne die Institution des Wettbewerbs ist das Ertragstreben eine soziale Gefahr erster Ordnung (''Franz Böhm''). Staatliche wie unternehmerische Monopole oder Beschränkungen des Wettbewerbs können genutzt werden, um die Produktion zu Lasten der Allgemeinheit zu beschränken.


Weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane sind der Kontrolle darüber entzogen, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem EG-Vertrag, stehen. Die Beachtung der allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Grundrechte ist in diese Kontrolle miteinbezogen. Die Einzelnen müssen einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen können, die sich aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten (EuGH Rs. C-50/00 P – ''Unión de Pequeños Agricultores'', Slg. 2002, I-6677).
In der Gemeinschaft ist den Besonderheiten Rechnung zu tragen, dass die Mitgliedstaaten in der Wirtschafts- und Währungsunion ihre eigenen Wohlfahrtsagenden behalten. Die mit Binnenmarkt und Wettbewerbssystem in Konkurrenz stehenden Gemeinschaftspolitiken haben darin ihren Ursprung. Zu nennen sind die Industriepolitik, die Beschäftigungspolitik, transnationale Netze, die Sozialpolitik, der Umweltschutz, die Kultur- und die Gesundheitspolitik. Diese Lage ist für die Wirtschaftsverfassung mit besonderen Chancen und Risiken verbunden. Die besonderen Chancen folgen aus der gemeinschaftsrechtlichen Sonderstellung von Binnenmarkt und Wettbewerbssystem, deren zwingende Normen dem politischen Tauschhandel weitgehend entzogen sind. Die Risiken folgen bei den Wirtschaftspolitiken aus der Versuchung, protektionistische Ziele zu Lasten der Gesamtordnung zu verwirklichen. Im Übrigen gilt das Prinzip, dass konkurrierende Ziele der Gemeinschaft in den Grenzen zwingender Normen soweit wie möglich nebeneinander zu berücksichtigen und zu verwirklichen sind.


Gemäß Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 3a Abs. 3 EU (2007) treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgaben. Der EuGH hat u.a. aus dieser Bestimmung den Grundsatz der Haftung eines Mitgliedstaates für Schäden abgeleitet, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – ''Francovich u.a.'', Slg. 1991, I-5357; EuGH verb. Rs. C-46/93 und 48/93 – ''Brasserie du pêcheur ''und ''Factortame'', Slg. 1996, I-1029; EuGH Rs. C-224/01 – ''Köbler'', Slg. 2003, I-10239).
Regelgeleitete wirtschaftliche Handlungsfreiheiten führen unter Bedingungen wirksamen Wettbewerbs erfahrungsgemäß zu Ergebnissen, die den von der Gesamtordnung erwarteten positiven Wohlfahrtswirkungen entsprechen. Diese „Mustervoraussagen“, die sich am Wettbewerbsprozess orientieren, sind zu unterscheiden vom Utilitarismus und der sich daran anschließenden neoklassischen Wohlfahrtstheorie. Sie ermittelt gesamtwirtschaftlich optimale Ergebnisse oder die Tendenz zu solchen Ergebnissen auf der Grundlage von Konkurrenzmodellen (Pareto-Optimalität oder Kaldor-Hicks-Gleichgewicht). Die mit Hilfe solcher statischen Modelle dargestellten oder erwarteten Wohlfahrtsergebnisse gestatten aus ökonomischen und aus rechtlichen Gründen keinen Rückschluss auf die gemeinschaftsrechtliche Beurteilung der zugrunde liegenden wirtschaftlichen Verhaltensweisen von Staaten oder Unternehmen. Der wichtigste wirtschaftsverfassungsrechtliche Einwand folgt daraus, dass in den so begründeten ökonomischen Gesetzen kein Platz für subjektive Rechte ist. Ohne sie kann die europäische Wirtschaftsverfassung jedoch nicht verstanden werden.


== 2. Der EU-Vertrag (1992) ==
== 3. Institutionen ==
Anders als der EG-Vertrag ist der [[Europäische Union|EU]]-Vertrag vom EuGH bisher nicht als Verfassungsurkunde bezeichnet worden. Art. 6(1) EU (1992)/6 EU (2007) enthält ein Bekenntnis zu grundlegenden Verfassungsprinzipien. Er lautet: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.“ Die durch den EU-Vertrag (1992) geschaffene Rechtsordnung der EU kann jedoch nicht als eine der EG vergleichbare neue Rechtsordnung bezeichnet werden. Sie stellt nur eine Vorstufe hierzu da. Die Entscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (sog. zweite Säule) werden im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit getroffen. Dem EuGH sind in diesem Bereich keine Kompetenzen zugewiesen worden. Die Stellung, die der EU-Vertrag (1992) dem EuGH im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen (sog. dritte Säule) einräumt, bleibt hinter der, die er im EG-Vertrag innehat, erheblich zurück ([[Europäischer Gerichtshof]]).
Alle Institutionen der Gemeinschaft, Rat ([[Rat und Europäischer Rat]]), [[Europäische Kommission]], [[Europäisches Parlament]], [[Europäische Zentralbank]] (EZB) und Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) sind in der Erfüllung ihrer Aufgaben an das Gemeinschaftsrecht gebunden. Die verschiedenen Aufgaben fordern jedoch einen jeweils gesondert zu ermittelnden, rechtlich gebundenen Beurteilungsspielraum. Um eine primär am Gemeinschaftsinteresse orientierte, insbesondere vom politischen Einfluss der Mitgliedstaaten unabhängige Willensbildung zu gewährleisten, garantiert das Gemeinschaftsrecht die Unabhängigkeit der wirtschaftsverfassungsrechtlich besonders wichtigen Institutionen. Das versteht sich für die europäischen Gerichte von selbst, die „das Recht in der Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu wahren haben“ (Art. 220 EG/19(1) EU (2007)). Für die institutionelle Struktur der Gemeinschaft kennzeichnend ist die daneben bestehende Aufgabe der EG-Kommission „für die Anwendung dieses Vertrages sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrages getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen“ (Art. 211 EG/17 EU (2007)). Diese in Unabhängigkeit auszuübende Aufgabe behält trotz der regierungsähnlich gewordenen Rolle der Kommission ihre grundsätzliche Bedeutung.


== 3. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa ==
Das vorrangige Ziel der gemeinsamen Währungspolitik ist die Preisstabilität (Art. 4, 105 EG/119, 127 AEUV). Eine solche Politik fordert die Unabhängigkeit des ESZB und der EZB von den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsinstitutionen (Art. 108 EG/130 AEUV).
In der dem Vertrag von Nizza ([[Europäische Union|EU]]-Vertrag) beigefügten Erklärung Nr. 23 wurde zu einer eingehenderen und breiter angelegten Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union aufgerufen. Sie sollte vor allem vier Probleme behandeln: die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, der Status der GRCh, die Vereinfachung der Verträge und die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas. Im Dezember 2001 gab der Europäische Rat in seiner Erklärung von Laeken bekannt, dass ein Konvent zur Zukunft Europas einberufen werden sollte, zu dessen Vorsitzenden er ''Giscard d’Estaing'' ernannte. Die Zusammensetzung dieses Konvents lehnte sich an die des Grundrechtskonvents an. Es wurden jedoch auch die Bewerberländer einbezogen. Die Erklärung von Laeken enthielt einen langen Katalog von Einzelfragen, die den Inhalt der Diskussion abstecken sollten. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die erforderliche Vereinfachung und Neuordnung nicht zuletzt dazu führen sollte, dass in der Union ein Verfassungstext angenommen wird. Der Konvent arbeitete im Konsensverfahren den Entwurf einer Verfassung aus und legte ihn im Juli 2003 vor. Der Entwurf wurde von einer im Oktober 2003 einberufenen Regierungskonferenz überarbeitet. Am 29.10.2004 unterzeichneten die Mitgliedstaaten der EU, deren Zahl inzwischen auf 25 angewachsen war, in Rom den Vertrag über eine Verfassung für Europa (ABl. 2004 C 310/1).


Der Verfassungsvertrag beruht auf dem Konzept, den EU-Vertrag und den EG-Vertrag durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung „Verfassung“ zu ersetzen. Der Euratom-Vertrag bleibt als solcher bestehen, wird jedoch in einem Protokoll an die neue Verfassung angepasst.
Die Institutionen der EG sind in ihrem Verhältnis zueinander an die Kompetenzordnung und in der Verwirklichung ihrer Ziele an die gemeinschaftsrechtlich zugelassenen Mittel der Rechtsetzung, der Finanzierung, der Koordinierung oder der Empfehlung gebunden. Im Gegensatz zur Allzuständigkeit von Staaten wird die Gemeinschaft nur innerhalb der vertraglich normierten Befugnisse und Ziele tätig (Art. 5(1) EG/5(1) EU (2007)). Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten gilt das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 (2) EG/5(3) EU (2007)).


Der Verfassungsvertrag umfasst vier Hauptteile, die denselben rechtlichen Rang haben, und nicht weniger als 36 Protokolle. Eine Präambel konstitutionellen Charakters, die auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas Bezug nimmt, ist ihm vorgeschaltet. Der nicht mit einer Überschrift versehene Teil I des Vertrages enthält die Grundsätze, Zielsetzungen und institutionellen Bestimmungen der Europäischen Union. Teil II besteht aus der GRCh in einer überarbeiteten und durch die Unterscheidung zwischen Rechten und Grundsätzen abgeschwächten Fassung. Teil III, der den Titel „Die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union“ trägt, konkretisiert den Teil I und baut auf den Regelungen des EG-Vertrages und des EU-Vertrages auf. Teil IV enthält allgemeine und Schlussbestimmungen, darunter Vorschriften über Verfahren der Vertragsänderung.
== 4. Die Subjekte des Gemein­schaftsrechts ==
Von der Organisation der Gemeinschaft und ihren Handlungsformen zu unterscheiden sind die aus der Gemeinschaftsrechtsordnung folgenden Rechte und Pflichten der Gemeinschaftsinstitutionen, der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger. Nur die von einer Rechtsordnung anerkannten Rechtssubjekte können in ihr Rechte und Pflichten haben. Das Gemeinschaftsrecht beruht auf völkerrechtlichen Verträgen. Rechtssubjekte des Völkerrechts sind grundsätzlich nur die Staaten. Mit der Entscheidung des EuGH, dass Rechtssubjekte der Gemeinschaft außer den Mitgliedstaaten auch die Einzelnen sind, hat die Gemeinschaft ihren rein völkerrechtlichen Charakter überwunden (EuGH Rs. 26/62 – ''Van Gend & Loos'', Slg. 1963, 1). Der EuGH verbindet die Eigenschaft der Einzelnen als Rechtssubjekte mit der Begründung subjektiver Rechte. Solche Rechte begründet das Gemeinschaftsrecht nicht nur in Fällen von Normen, die „ihrer Natur nach unmittelbar zwischen den Einzelnen gelten“, wie es für die Wettbewerbsregeln zutrifft. Vielmehr begründet das Gemeinschaftsrecht subjektive Rechte überall dort, wo es den Einzelnen, den Mitgliedstaaten oder den Organen der Gemeinschaft „eindeutige Verpflichtungen“ auferlegt. Eindeutige Verpflichtungen, die ohne Vorbehalt gelten, haben unmittelbare Wirkung und sind von Gerichten und Behörden der Mitgliedstaaten anzuwenden. Die Anwendung dieser justiziablen Normen können die Einzelnen durch die mit dem subjektiven Recht verbundene Klagebefugnis erzwingen. Das subjektive Recht folgt aus gemeinschaftsrechtlich geschützten Interessen und ist unabhängig von einem zusätzlichen subjektiven Schutzzweck. Der wichtigste Anwendungsbereich dieser subjektiven Rechte sind die Grundfreiheiten und die Wettbewerbsregeln.


Der Verfassungsvertrag sieht insbesondere die folgenden Neuerungen vor: Er verleiht der GRCh rechtliche Bindungswirkung und ordnet den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten an. Der Union erkennt er die bis dahin streitige Rechtspersönlichkeit zu. Der Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten wird im Vertragstext festgeschrieben. Ein Artikel ist den Symbolen der Union gewidmet. Die verschiedenen Arten von Zuständigkeiten werden im Vertragstext in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH definiert und zwischen Union und Mitgliedstaaten ohne größere Veränderungen aufgeteilt. Die Typologie der Rechtsakte umfasst nur noch sechs Instrumente, darunter das Europäische Gesetz und das Europäische Rahmengesetz, deren Definitionen sich im Wesentlichen mit den Definitionen der Verordnung und der Richtlinie im EG-Vertrag decken. Der Rat tagt öffentlich, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät oder abstimmt. Eine Solidaritätsklausel regelt das gemeinsame Handeln bei Terroranschlägen und Katastrophen. Der Verfassungsvertrag definiert die demokratischen Grundlagen der Union und führt die Möglichkeit eines Bürgerbehrens ein. Er erkennt ein Recht auf freiwilligen Austritt aus der Union an.
Eine Wirtschaftsverfassung, die auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruht, setzt die Handlungs- und Planungsfreiheit der Wirtschaftsteilnehmer voraus. Deshalb gehört das wirtschaftlich erhebliche Privatrecht in den Mitgliedstaaten, die Vertragsfreiheit wie die wirtschaftlich erheblichen Vermögensrechte, zum Substrat der EG. Dieser funktionale Zusammenhang des Gemeinschaftsrechts mit den Privatrechtsordnungen ist unabhängig von einer vorausgehenden Harmonisierung. Die subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts sind nicht privatnützig und nicht gegen das Gemeinschaftsinteresse gerichtet. Daraus folgt ein wichtiger Gegensatz zum deutschen öffentlichen Recht, wo die privatnützigen subjektiven Rechte gegen das öffentliche Interesse des Staates durchzusetzen sind. In der Gemeinschaft folgen die subjektiven Rechte der Einzelnen aus ihren gemeinschaftsrechtlich geschützten Interessen und tragen zur praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bei. Sie ergänzen oder ersetzen die den Institutionen der Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Verfahren und Sanktionen zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten.


Die Höchstzahl der Sitze im Europäischen Parlament wird auf 750 festgelegt. Für ihre Verteilung ist eine degressiv proportionale Vertretung der Bürgerinnen und Bürger vorgeschrieben. Die im halbjährigen Rhythmus wechselnde Präsidentschaft im Europäischen Rat wird abgeschafft. An der Spitze des Europäischen Rats steht ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Präsident. Ab 2014 soll die Zahl der Kommissare nur noch zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten betragen. Jede der aufeinander folgenden Kommissionen muss so besetzt sein, dass das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten auf zufrieden stellende Weise zum Ausdruck kommt. Der Präsident der Kommission wird auf Grund eines Vorschlags des Europäischen Rats vom Europäischen Parlament gewählt. Der Europäische Rat ernennt einen Außenminister der Union. Dieser tritt an die Stelle des bisherigen Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und ist gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Kommission sowie Kommissar für Außenbeziehungen. Er wird von einem Europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt.
== 5. Grundfreiheiten ==
Die [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] prägen in Verbindung mit den Wettbewerbsregeln die verfassungsmäßige Ordnung des Binnenmarktes ([[Wettbewerb im Binnenmarkt]]). Die dynamische Entwicklung der einzelnen Grundfreiheiten des Warenverkehrs ([[Warenverkehrsfreiheit]]), der Dienstleistungen ([[Dienstleistungsfreiheit]]), des Personenverkehrs, der Niederlassung ([[Niederlassungsfreiheit]]) und des Kapitalverkehrs ([[Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit]]) ist gekennzeichnet durch das Fortschreiten des Diskriminierungsverbots zum Beschränkungsverbot ([[Diskriminierungsverbot (allgemein)]]) und vom Bestimmungslandprinzip zum [[Herkunftslandprinzip]]. Diese Konvergenz der Grundfreiheiten schließt verschiedene Interessenkonflikte und Wertungsprobleme in Abhängigkeit von den Eigenarten der betroffenen Grundfreiheiten nicht aus. Ihre fortdauernde Eigenbedeutung folgt nicht zuletzt aus den verschiedenen, für sie geltenden Ausnahmen.


Als qualifizierte Mehrheit gilt einer neuen Definition zufolge eine Mehrheit von mindestens 55 % der Mitglieder des Rats, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmachen. Für eine Sperrminorität sind mindestens vier Mitglieder des Rats erforderlich, anderenfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als erreicht. Der Anwendungsbereich für die Abstimmung im Rat mit qualifizierter Mehrheit wird erneut ausgeweitet, das Mitentscheidungsverfahren zum Regelfall erhoben. Die Union erhält Kompetenzen für weitere Politikbereiche. Den nationalen Parlamenten wird im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ein Verfahren eingeräumt, das es ihnen ermöglicht, aus ihrer Sicht bestehende Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips zu beanstanden.
Die wichtigste allgemein geltende Ausnahme des primären Gemeinschaftsrechts gilt für Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen (Art. 86(2), 16 EG/106(2), 14 AEUV). Zu prüfen ist, ob die Anwendung des Gemeinschaftsrechts die Erfüllung der diesen Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Bisher ist es den Mitgliedstaaten nicht gelungen, einen Souveränitätsvorbehalt für diese öffentlichen Dienste anlässlich von Änderungen des Vertragsrechts durchzusetzen. Kommission und Rechtsprechung prüfen nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, ob die in Anspruch genommene Ausnahme auf das unerlässliche Maß begrenzt ist.


Der Verfassungsvertrag schafft die Pfeilerstruktur der EU ab. Er enthält jedoch Sonderregeln für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die als integraler Bestandteil dieser Politik aufgefasste Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Europäische Gesetze und Rahmengesetze sind in diesem Bereich ausgeschlossen. Dem Europäischen Parlament wird nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Der Verfassungsvertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Er sieht die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsagentur vor. Als spezielle Form der verstärkten Zusammenarbeit wird eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit ermöglicht, für die militärische Kriterien maßgeblich sind. Die Unionsgerichtsbarkeit ist für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik grundsätzlich nicht zuständig. Im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen enthält der Verfassungsvertrag ebenfalls einige Sonderregelungen, z.B. ein Initiativrecht der Mitgliedstaaten und einen besonderen Mechanismus für eine Verstärkte Zusammenarbeit. Die Rolle von Europol und Eurojust wird ausgeweitet, die Möglichkeit der Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft eröffnet.  
Die Grundfreiheiten konkretisieren das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EG/18 AEUV. Rechtfertigend wirken nur solche Ausnahmen, die im EGV ausdrücklich vorgesehen sind.


Der Vertrag über eine Verfassung für Europa sollte bei planmäßigem Verlauf des Ratifizierungsprozesses am 1.11.2006 in Kraft treten. In Frankreich wurde er am 29.5.2005 in einem Referendum abgelehnt. Keine Mehrheit fand er auch bei einer Volksbefragung, die am 1.6.2005 in den Niederlanden stattfand. Auf der Tagung des Europäischen Rats vom 16./17.6.2005 wurde daraufhin eine Reflexionsphase beschlossen.
Das Diskriminierungsverbot erfasst solche Hindernisse für den Freiverkehr nicht, die aus inhaltlich verschiedenen mitgliedstaatlichen Maßnahmen folgen. Auch solche nichtdiskriminierenden Maßnahmen können jedoch den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr behindern. Sie können durch ungeschriebene Ausnahmen gerechtfertigt sein, wenn und soweit sie notwendig sind, um „zwingenden Erfordernissen“ mitgliedstaatlicher öffentlicher Interessen Rechnung zu tragen (EuGH Rs. 120/78 – ''Cassis de Dijon'', Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8). Rechtfertigend wirken solche Maßnahmen nur, soweit sie im Hinblick auf den legitimen Zweck geeignet und verhältnismäßig sind.


== 4. Der Vertrag von Lissabon ==
Soweit keine Ausnahme eingreift, sind Waren und Dienstleistungen, die in irgendeinem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr kommen, im ganzen Binnenmarkt verkehrsfähig. Dieser Übergang vom Bestimmungsland zum Herkunftslandprinzip kann zur Koexistenz verschiedener staatlicher Regulierungen führen. Der Begriff des Systemwettbewerbs hat darin seinen Ursprung.
Im Juni 2007 erteilte der Europäische Rat ein detailliertes Mandat für die Einberufung einer Regierungskonferenz, die an Stelle einer Verfassung einen Reformvertrag ausarbeiten sollte. Diese Initiative führte zu dem als Mantelvertrag ausgestalteten Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (ABl. 2007 C 306/1), den die Mitgliedstaaten am 13.12.2007 unterzeichneten. Der Vertrag von Lissabon übernimmt in der technischen Form bloßer Vertragsänderungen, die mit einer Umnummerierung verbunden sind, wesentliche Elemente des Vertrages über eine Verfassung für Europa. Dem Vertragswerk sind 13 Protokolle und eine Übereinstimmungstabelle beigefügt. Der EG-Vertrag wird in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenannt, die Bezeichnung „Gemeinschaft“ durchgängig durch „Union“ ersetzt. Der AUEV regelt die Arbeitsweise der Union und legt die Bereiche, die Abgrenzung und die Einzelheiten der Ausübung ihrer Zuständigkeiten fest. Der [[Europäische Union|EU]]-Vertrag (2007) und der AEUV ([[EG-Vertrag]]) sind rechtlich gleichrangig. Sie bilden die neue Grundlage der Europäischen Union. Die EU tritt an die Stelle der EG, deren Rechtsnachfolgerin sie wird.


Inhaltlich sind gegenüber dem Verfassungsvertrag insbesondere die folgenden Unterschiede zu verzeichnen: Der Begriff „Verfassung“ wird nicht verwandt. Die Bestimmung über den Vorrang des Unionsrechts ist gegen eine bloße Erklärung, die auf die Rechtsprechung des EuGH verweist, ausgetauscht worden. Es gibt keine Vorschrift über die Symbole der Union. Die Bezeichnungen „Europäisches Gesetz“ und „Europäisches Rahmengesetz“ werden wieder durch die Termini „[[Verordnung]]“ und „[[Richtlinie]]“ ersetzt. Die Benennung „Außenminister der Union“ wird zugunsten der Bezeichnung „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ aufgegeben. Statt einer Integration der GRCh in den Vertragstext verweist Art. 6 Abs. 1 EU (2007) auf die GRCh (in einer Fassung vom 12.12.2007) und misst ihr den gleichen Rang wie dem EU- und dem EG-Vertrag zu. Kraft einer Sonderregelung für Polen und das Vereinigte Königreich bewirkt die Charta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der EU oder eines Gerichts dieser Mitgliedstaaten zu der Feststellung, dass ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Verwaltungspraxis oder Maßnahmen nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang steht. Die Übereinkunft über den Beitritt der Union zur EMRK bedarf eines einstimmigen, von den Mitgliedstaaten zu ratifizierenden Beschlusses des Rats. Die neue Definition der qualifizierten Mehrheit im Rat gilt erst am November 2014. Bis März 2017 kann ein Mitgliedstaat darüber hinaus im Einzelfall eine Abstimmung nach dem bisherigen Verfahren beantragen. Den nationalen Parlamenten wird bei der Kontrolle über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips eine stärkere Rolle zuerkannt. In dem Artikel über die Ziele der Union ist nach dem Wort „Binnenmarkt“ der Zusatz „mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ gestrichen worden. Andererseits wurde ein Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb angenommen, in dem es heißt, dass der Binnenmarkt ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt. Als umweltpolitisches Ziel wird die Bekämpfung des Klimawandels genannt. Mehrere Bestimmungen tragen dem Gedanken der Energiesolidarität Rechnung. Es wird klargestellt, dass die der Union übertragenen Zuständigkeiten im Änderungsverfahren auch verringert werden können. Die Kriterien für den Beitritt zur Union sind verschärft worden.
Nach Gemeinschaftsrecht ergeben sich daraus für die Mitgliedstaaten die folgenden Optionen:


Im Hinblick auf die im Juni 2009 anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament wurde ein Inkrafttreten des Vertrages am 1.1.2009 angestrebt. Der Vertrag fand jedoch bei einem Referendum in Irland am 12.6.2008 keine Zustimmung. Auf der Tagung des Europäischen Rates am 11./12.12.2008 wurde ein Kompromiss beschlossen: Jeder Mitgliedstaat soll weiterhin einen Kommissar stellen können. Irland werden rechtliche Garantien angeboten, wonach die Zuständigkeit seiner Regierung in den Bereichen militärische Neutralität, Steuerpolitik und Abtreibungspolitik unberührt bleibt. Die irische Regierung erklärte sich im Gegenzug bereit, vor November 2009 ein neues Referendum abzuhalten.  
(a) die Hinnahme der Koexistenz verschiedener staatlicher Regelungen mit der Folge, dass die eigenen Unternehmen an strengere Regeln gebunden sind als ihre Wettbewerber aus anderen Mitgliedstaaten;
 
(b) die Anpassung der eigenen Regelung, um eine gleichwertige Regelung im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten herzustellen;
 
(c) die Teilnahme an der Rechtsangleichung nach Art. 95(1) EG/114(1) AEUV, vor allem im Hinblick auf solche mitgliedstaatlichen Regulierungen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Schutz zwingender Erfordernisse gerechtfertigt sind und dadurch den Freiverkehr behindern;
 
(d) im Falle von Mehrheitsentscheidungen im Rat (Art. 95(4) EG/114(4) AEUV), das Recht, fortbestehende Hindernisse aufrechtzuerhalten, die durch Art. 30 EG/36 AEUV oder durch Gründe der Arbeit, Umwelt und des Umweltschutzes gerechtfertigt sind.
 
Im Wettbewerb der Regulierungssysteme sind es allein die Staaten, die politisch reagieren können. Der Mitgliedstaat, für dessen Angehörige strengere Vorschriften gelten, muss entscheiden, ob er den Systemwettbewerb zulassen, sein eigenes Recht autonom ändern oder auf Gemeinschaftsebene die Rechtsangleichung betreiben will. Das Herkunftslandprinzip fördert mithin nicht nur den ökonomischen Wettbewerb, es dynamisiert zugleich die politischen Prozesse in der Gemeinschaft.
 
Eine Begleiterscheinung gemeinschaftsrechtlicher Marktöffnung bei fortbestehenden unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Regulierungen ist die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum streitig erörterte „umgekehrte Diskriminierung“. Das Gemeinschaftsrecht zwingt die Mitgliedstaaten nicht, eine Schlechterstellung ihrer eigenen Staatsangehörigen abzustellen.
 
Besonderheiten gelten für die seit der Wirtschafts- und Währungsunion auch im Verhältnis zu Drittstaaten geltende Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EG/63 AEUV). Für das Privatrecht ist die Geltung der Kapitalverkehrsfreiheit von potentiell besonders weittragender Bedeutung, weil sie u.a. auf solche mitgliedstaatlichen Regelungen anwendbar ist, die geeignet sind, den Erwerb von Anteilen an einem Unternehmen zu verhindern oder Anleger aus anderen Mitgliedstaaten abzuschrecken (EuGH Rs. C 112/05 – ''Kommission/Bundesrepublik'', Slg. 2007, I-8995). Auch hier können „zwingende Erfordernisse“ in den Mitgliedstaaten rechtfertigend wirken. Die überaus weitreichende Frage, ob zwingende Normen des unterschiedslos anwendbaren nationalen Gesellschaftsrechts beschränkend wirken können und gegebenenfalls zu rechtfertigen sind, ist bisher nicht entschieden.
 
== 6. Verfassungsmäßige Ordnung der Wirtschaft ==
Die verfassungsmäßige Ordnung der Wirtschaft ist in der Gemeinschaft gekennzeichnet durch den systematischen Zusammenhang von Binnenmarkt und Wettbewerbssystem. Den Mitgliedstaaten ist die Herrschaft über den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr entzogen. Wirtschaftspolitische Ziele der Mitgliedstaaten begründen keine Ausnahmen vom Freiverkehr. Die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung zugrunde gelegte systematische Einheit der wettbewerblichen Gesamtordnung trifft mit Überschneidungen in den Anwendungsbereichen der verschiedenen Normen und mit der Differenzierung in der Rechtstellung der Normadressaten zusammen. Die Maßstäbe, die in solchen Fällen übergreifend für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts bei Konflikten mit dem Recht der Mitgliedstaaten oder innerhalb des Gemeinschaftsrechts gelten, sind ein Prüfstein für die Wirtschaftsverfassung.
 
Das Verhältnis der staatsbezogenen zu den unternehmensbezogenen Normen des Gemeinschaftsrechts wird geprägt durch seine Unabhängigkeit von dem in den Mitgliedstaaten vorgefundenen Gegensatz von öffentlichem Recht und Privatrecht. Die gleichmäßige und effektive Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verbindet sich mit der Konkretisierung privatrechtlicher Ordnungsprinzipien, die den wettbewerblichen Austauschprozess kennzeichnen. Angebot und Nachfrage begegnen sich nicht in einem rechtsfreien Raum. Die Teilnehmer kooperieren durch privatrechtliche Verträge, die ihrerseits Teil des Wettbewerbsprozesses sind. Die folgenden notwendig beispielhaften Tatbestandsgruppen sind repräsentativ für diesen Zusammenhang.
 
Der EG-Vertrag lässt die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten unberührt (Art. 295 EG/345 AEUV). Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Normen des Gemeinschaftsrechts trotzdem auf die Ausübung von Eigentumsrechten durch private Rechtsinhaber (gewerbliche Schutzrechte) wie auf den Staat als Eigentümer öffentlicher Unternehmen anwendbar. Über den Charakter der Wirtschaftsordnung entscheidet nicht das Eigentum an Produktionsmitteln, sondern das Koordinationsprinzip des Wettbewerbs.
 
Adressaten der Wettbewerbsregeln sind Unternehmen. Die funktionale Interpretation des Unternehmensbegriffs führt dazu, dass die Wettbewerbsregeln auf den Staat als solchen, auf seine Untergliederungen und auf öffentlich-rechtliche Organisationen immer dann anwendbar sind, wenn sie am Wirtschaftsverkehr teilnehmen.
 
Das aus den Grundfreiheiten abgeleitete Vergaberecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihr Beschaffungswesen so zu organisieren, dass es der privaten wettbewerblichen Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen möglichst nahekommt. Die Bieter werden durch zwingend gebotenen Rechtsschutz vor Diskriminierungen und der Willkür der staatlichen oder staatlich beeinflussten Nachfrager geschützt. Die Wettbewerbsregeln sind neben dem regulierten Vergabeverfahren ([[Vergaberecht]]) anwendbar.
 
Ist auf die Kapitalbeteiligung des Staates an privaten Unternehmen das Verbot wettbewerbsverfälschender Beihilfen anwendbar, so ist zu prüfen, ob die Bedingungen denen entsprechen, die auch ein privater Kapitalgeber auf dem Markt akzeptiert haben würde (''market economy investor principle'').
 
Soweit die Marktstrukturen, z.B. in der Telekommunikation oder in der leitungsgebundenen Energiewirtschaft, die Herstellung von Wettbewerb nicht ermöglichen, orientieren sich die notwendig bleibenden Regulierungen auf Gemeinschaftsebene und in den Mitgliedstaaten am Ordnungsprinzip des Wettbewerbs.


==Literatur==
==Literatur==
''Armin von Bogdandy'' (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003; ''Ingolf Pernice'', Fondement du droit constitutionnel européen, 2004; ''Roberto Bin'', Profili costituzionali dell’ Unione europea: cinquanti’anni di processo costituente, 2005; ''Rudolf Streinz'','' Christoph Ohler'','' Christoph Hermann'', Die neue Verfassung für Europa, 2005; Teoría y Realidad Constitucional (Sonderheft): El tratado por el que se establece una Constitución para Europa, 2005; ''Klaus-Dieter Borchardt'', Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 3. Aufl. 2006; ''Jean-Claude Piris'', The Constitution for Europe: A legal analysis, 2006; ''Franz C. Mayer'', Die Rückkehr zur Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2007, 1141 ff.; ''Vanessa Hellmann'', Der Vertrag von Lissabon: Vom Verfassungsvertrag zur Änderung der bestehenden Verträge, 2008; ''Nicolas Moussis'', Le Traité de Lisbonne: une constitution sans en avoir le titre, Revue du Marché commun et de l’Union européene 2008, 161 ff.
''Franz Böhm'', Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950;'' Jürgen Basedow'','' ''Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992;'' Peter Behrens'','' ''Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: Gert Brüggemeier (Hg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, 73 ff;'' Frank H. Knight'', The Ethics of Competition, 1997; ''Peter-Christian Müller-Graff'', Die wettbewerbsverfasste Marktwirtschaft als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip? Europarecht 1997, 433 ff.; ''Werner Mussler'', Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998;'' Viktor J. Vanberg'', Konstitutionenökonomische Überlegungen zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit, ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 52 (2001) 37 ff.;'' Armin Hatje'', Wirtschaftsverfassung, in: Armin von Bogdandy (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 683 ff.;'' Walter Eucken'', Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Aufl. 2004, 291 ff.;'' Amartya Sen'', On Ethics and Economics, 2005;'' Ernst-Joachim Mestmäcker'', Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006; ''Andreas Kellerhals'', Wirtschaftsrecht und europäische Integration, 2006; ''Peter Badura'','' ''Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 3. Aufl. 2008.


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[[Kategorie:A–Z]]
[[en:European_Constitution]]
[[en:European_Economic_Constitution]]

Version vom 28. September 2021, 16:04 Uhr

von Ernst-Joachim Mestmäcker

1. Überblick

Der Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) bestätigt den Bestand der Europäischen Gemeinschaft und das durch den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft geprägte Gemeinschaftsrecht (Art. 43 EU (1992)/20 EU (2007)). Die EG verwirklicht ihre Aufgaben durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion (Art. 2 EG/3 EU (2007)). Der Verfassungscharakter der EG folgt nach der Rechtsprechung des EuGH aus ihrer Rechtsordnung. Diese Verfassung ist eine Wirtschaftsverfassung, soweit sie Ziele und Mittel für die Ordnung des Wirtschaftsverkehrs im Geltungsbereich des EGV normiert. Der Gemeinsame Markt, der mit dem europäischen Binnenmarkt weitgehend übereinstimmt, ist Ziel und Mittel eines Wirtschaftsraums ohne Binnengrenzen. Im gleichen Maße, in dem die Binnengrenzen entfallen, besteht die Aufgabe der Gemeinschaft darin, die Binnenordnung, die durch Freiverkehr und Wettbewerb gekennzeichnet ist, auf Dauer zu gewährleisten und weiter zu entwickeln.

Zu den Prinzipien, denen die Tätigkeiten der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft verpflichtet sind und welche die Währungspolitik mitbestimmen, gehört eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 4(1) und (2) EG/119 AEUV, Art. 105(1) EG/127(1) AEUV). Das Prinzip begründet wegen seiner Allgemeinheit keine Pflichten der Mitgliedstaaten und keine Rechte der Einzelnen (EuGH Rs. 126/86 − Gimènez Zaera, Slg. 1987, I-3697, Rn. 10). Gleichwohl kommt ihm aus ökonomischen und rechtlichen Gründen normative Bedeutung zu: Mit der Größe des Marktes nehmen die gesamtwirtschaftlichen Vorteile der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung zu; die dezentrale, über Märkte vermittelte Kooperation der Marktteilnehmer trägt zur Knappheit überwindenden Allokation der Ressourcen bei. Die marktwirtschaftliche Ordnung, die auch eine Voraussetzung für den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft ist, trägt zur Gewaltenteilung zwischen Staat und Wirtschaft bei, begrenzt den Kompetenzbedarf der Gemeinschaft und damit den Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten. Gemeinschaftsrechtlich steht sie einer Politik entgegen, welche die Ziele des Art. 2 EG/3 EU (2007) mit zentralen Plänen verwirklichen will.

Die Ziele des Art. 2 EG/3 EU (2007) gewinnen normativen Gehalt ferner im Zusammenhang mit den vom EGV normierten Mitteln zu ihrer Verwirklichung. Daraus folgt ihre Bedeutung als Maßstab für die Rechtsauslegung. Der Zusammenhang von Ziel und Mittel kann so eng sein, dass einem Ziel selbst zwingende Geltung zukommt. Ein Mindestmaß an Wettbewerb ist eine faktische Voraussetzung für die praktische Wirksamkeit einer großen Zahl von Normen des Gemeinschaftsrechts. Deshalb sind Wettbewerbsbeschränkungen absolut verboten, die geeignet sind, den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt auszuschalten (EuGH Rs. 6/72 − Continental Can, Slg. 1973, 215).

2. Verfasste Wirtschaftsfreiheiten

Die europäische Wirtschaftsverfassung wird häufig unter zustimmender und mehr noch unter kritischer Bezugnahme auf die deutsche Herkunft des Begriffs erörtert. Um formelle Wirtschaftsverfassungen handelt es sich, wenn sie Teil der politischen Verfassung sind und Grundsätze für die Gestaltung des Wirtschaftslebens normieren (Weimarer Reichsverfassung, 5. Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“; Verfassung der DDR). In dieser Tradition soll die Wirtschaftsverfassung den Vorrang der Politik für die Organisation und Lenkung der Wirtschaft legitimieren. Die Möglichkeit, Verfassungsprinzipien aus wirtschaftlichen Freiheitsrechten abzuleiten, kam nicht in den Blick oder wurde als in sich widersprüchlich verworfen. Dagegen wendet sich die Theorie der Wirtschaftsverfassung, die auf Prinzipien für eine wirtschaftliche Gesamtordnung beruht, in welcher die Freiheitsrechte der Einzelnen systembestimmend sind. Die Prinzipien folgen aus der Trennung von Staat und Wirtschaft, aus der Gewährleistung wirtschaftlicher Freiheitsrechte, der damit einhergehenden Begrenzung wirtschaftlicher Macht; und sie sind auf eine Wirtschaftspolitik gerichtet, die rationales Handeln der Einzelnen auf Wettbewerbsmärkten bei freier Preisbildung und auf der Grundlage einer stabilen Währung ermöglicht. Diese Leitideen haben die deutsche Nachkriegspolitik nachhaltig beeinflusst. Mit dem Vertrag von Rom (1958) wurden sie zu einer der Grundlagen der europäischen Wirtschaftsverfassung.

Die Idee verfasster Freiheit außerhalb oder neben der politischen Verfassung hat ihren Ursprung in der europäischen Aufklärung, in ihrer Anwendung auf die Wirtschaft hauptsächlich in Schottland. Die verfasste Freiheit (constitutional liberty) folgt – noch vor der Erklärung der Grund- und Menschenrechte in der französischen Revolution – aus gesellschaftlich respektierten Freiheitsbereichen der Einzelnen, insbesondere der Meinungsfreiheit, den wirtschaftlichen Freiheiten und dem allseitigen Respekt für Regeln gerechten Verhaltens (rule of law). In dieser Tradition wurde es möglich, die Wirtschaft als einen Teilbereich der Gesellschaft auf der Grundlage von Wirtschaftsfreiheiten, Wettbewerb und Regeln gerechten Verhaltens zu verfassen. Diese Regeln haben der Eigengesetzlichkeit des Rechts ebenso Rechnung zu tragen wie den Grenzen der Wirtschaftsfreiheiten, die sich aus den Erfordernissen wettbewerblicher Marktprozesse ergeben: Ohne die Institution des Wettbewerbs ist das Ertragstreben eine soziale Gefahr erster Ordnung (Franz Böhm). Staatliche wie unternehmerische Monopole oder Beschränkungen des Wettbewerbs können genutzt werden, um die Produktion zu Lasten der Allgemeinheit zu beschränken.

In der Gemeinschaft ist den Besonderheiten Rechnung zu tragen, dass die Mitgliedstaaten in der Wirtschafts- und Währungsunion ihre eigenen Wohlfahrtsagenden behalten. Die mit Binnenmarkt und Wettbewerbssystem in Konkurrenz stehenden Gemeinschaftspolitiken haben darin ihren Ursprung. Zu nennen sind die Industriepolitik, die Beschäftigungspolitik, transnationale Netze, die Sozialpolitik, der Umweltschutz, die Kultur- und die Gesundheitspolitik. Diese Lage ist für die Wirtschaftsverfassung mit besonderen Chancen und Risiken verbunden. Die besonderen Chancen folgen aus der gemeinschaftsrechtlichen Sonderstellung von Binnenmarkt und Wettbewerbssystem, deren zwingende Normen dem politischen Tauschhandel weitgehend entzogen sind. Die Risiken folgen bei den Wirtschaftspolitiken aus der Versuchung, protektionistische Ziele zu Lasten der Gesamtordnung zu verwirklichen. Im Übrigen gilt das Prinzip, dass konkurrierende Ziele der Gemeinschaft in den Grenzen zwingender Normen soweit wie möglich nebeneinander zu berücksichtigen und zu verwirklichen sind.

Regelgeleitete wirtschaftliche Handlungsfreiheiten führen unter Bedingungen wirksamen Wettbewerbs erfahrungsgemäß zu Ergebnissen, die den von der Gesamtordnung erwarteten positiven Wohlfahrtswirkungen entsprechen. Diese „Mustervoraussagen“, die sich am Wettbewerbsprozess orientieren, sind zu unterscheiden vom Utilitarismus und der sich daran anschließenden neoklassischen Wohlfahrtstheorie. Sie ermittelt gesamtwirtschaftlich optimale Ergebnisse oder die Tendenz zu solchen Ergebnissen auf der Grundlage von Konkurrenzmodellen (Pareto-Optimalität oder Kaldor-Hicks-Gleichgewicht). Die mit Hilfe solcher statischen Modelle dargestellten oder erwarteten Wohlfahrtsergebnisse gestatten aus ökonomischen und aus rechtlichen Gründen keinen Rückschluss auf die gemeinschaftsrechtliche Beurteilung der zugrunde liegenden wirtschaftlichen Verhaltensweisen von Staaten oder Unternehmen. Der wichtigste wirtschaftsverfassungsrechtliche Einwand folgt daraus, dass in den so begründeten ökonomischen Gesetzen kein Platz für subjektive Rechte ist. Ohne sie kann die europäische Wirtschaftsverfassung jedoch nicht verstanden werden.

3. Institutionen

Alle Institutionen der Gemeinschaft, Rat (Rat und Europäischer Rat), Europäische Kommission, Europäisches Parlament, Europäische Zentralbank (EZB) und Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) sind in der Erfüllung ihrer Aufgaben an das Gemeinschaftsrecht gebunden. Die verschiedenen Aufgaben fordern jedoch einen jeweils gesondert zu ermittelnden, rechtlich gebundenen Beurteilungsspielraum. Um eine primär am Gemeinschaftsinteresse orientierte, insbesondere vom politischen Einfluss der Mitgliedstaaten unabhängige Willensbildung zu gewährleisten, garantiert das Gemeinschaftsrecht die Unabhängigkeit der wirtschaftsverfassungsrechtlich besonders wichtigen Institutionen. Das versteht sich für die europäischen Gerichte von selbst, die „das Recht in der Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu wahren haben“ (Art. 220 EG/19(1) EU (2007)). Für die institutionelle Struktur der Gemeinschaft kennzeichnend ist die daneben bestehende Aufgabe der EG-Kommission „für die Anwendung dieses Vertrages sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrages getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen“ (Art. 211 EG/17 EU (2007)). Diese in Unabhängigkeit auszuübende Aufgabe behält trotz der regierungsähnlich gewordenen Rolle der Kommission ihre grundsätzliche Bedeutung.

Das vorrangige Ziel der gemeinsamen Währungspolitik ist die Preisstabilität (Art. 4, 105 EG/119, 127 AEUV). Eine solche Politik fordert die Unabhängigkeit des ESZB und der EZB von den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsinstitutionen (Art. 108 EG/130 AEUV).

Die Institutionen der EG sind in ihrem Verhältnis zueinander an die Kompetenzordnung und in der Verwirklichung ihrer Ziele an die gemeinschaftsrechtlich zugelassenen Mittel der Rechtsetzung, der Finanzierung, der Koordinierung oder der Empfehlung gebunden. Im Gegensatz zur Allzuständigkeit von Staaten wird die Gemeinschaft nur innerhalb der vertraglich normierten Befugnisse und Ziele tätig (Art. 5(1) EG/5(1) EU (2007)). Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten gilt das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 (2) EG/5(3) EU (2007)).

4. Die Subjekte des Gemein­schaftsrechts

Von der Organisation der Gemeinschaft und ihren Handlungsformen zu unterscheiden sind die aus der Gemeinschaftsrechtsordnung folgenden Rechte und Pflichten der Gemeinschaftsinstitutionen, der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger. Nur die von einer Rechtsordnung anerkannten Rechtssubjekte können in ihr Rechte und Pflichten haben. Das Gemeinschaftsrecht beruht auf völkerrechtlichen Verträgen. Rechtssubjekte des Völkerrechts sind grundsätzlich nur die Staaten. Mit der Entscheidung des EuGH, dass Rechtssubjekte der Gemeinschaft außer den Mitgliedstaaten auch die Einzelnen sind, hat die Gemeinschaft ihren rein völkerrechtlichen Charakter überwunden (EuGH Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1). Der EuGH verbindet die Eigenschaft der Einzelnen als Rechtssubjekte mit der Begründung subjektiver Rechte. Solche Rechte begründet das Gemeinschaftsrecht nicht nur in Fällen von Normen, die „ihrer Natur nach unmittelbar zwischen den Einzelnen gelten“, wie es für die Wettbewerbsregeln zutrifft. Vielmehr begründet das Gemeinschaftsrecht subjektive Rechte überall dort, wo es den Einzelnen, den Mitgliedstaaten oder den Organen der Gemeinschaft „eindeutige Verpflichtungen“ auferlegt. Eindeutige Verpflichtungen, die ohne Vorbehalt gelten, haben unmittelbare Wirkung und sind von Gerichten und Behörden der Mitgliedstaaten anzuwenden. Die Anwendung dieser justiziablen Normen können die Einzelnen durch die mit dem subjektiven Recht verbundene Klagebefugnis erzwingen. Das subjektive Recht folgt aus gemeinschaftsrechtlich geschützten Interessen und ist unabhängig von einem zusätzlichen subjektiven Schutzzweck. Der wichtigste Anwendungsbereich dieser subjektiven Rechte sind die Grundfreiheiten und die Wettbewerbsregeln.

Eine Wirtschaftsverfassung, die auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruht, setzt die Handlungs- und Planungsfreiheit der Wirtschaftsteilnehmer voraus. Deshalb gehört das wirtschaftlich erhebliche Privatrecht in den Mitgliedstaaten, die Vertragsfreiheit wie die wirtschaftlich erheblichen Vermögensrechte, zum Substrat der EG. Dieser funktionale Zusammenhang des Gemeinschaftsrechts mit den Privatrechtsordnungen ist unabhängig von einer vorausgehenden Harmonisierung. Die subjektiven Rechte des Gemeinschaftsrechts sind nicht privatnützig und nicht gegen das Gemeinschaftsinteresse gerichtet. Daraus folgt ein wichtiger Gegensatz zum deutschen öffentlichen Recht, wo die privatnützigen subjektiven Rechte gegen das öffentliche Interesse des Staates durchzusetzen sind. In der Gemeinschaft folgen die subjektiven Rechte der Einzelnen aus ihren gemeinschaftsrechtlich geschützten Interessen und tragen zur praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bei. Sie ergänzen oder ersetzen die den Institutionen der Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Verfahren und Sanktionen zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten.

5. Grundfreiheiten

Die Grundfreiheiten prägen in Verbindung mit den Wettbewerbsregeln die verfassungsmäßige Ordnung des Binnenmarktes (Wettbewerb im Binnenmarkt). Die dynamische Entwicklung der einzelnen Grundfreiheiten des Warenverkehrs (Warenverkehrsfreiheit), der Dienstleistungen (Dienstleistungsfreiheit), des Personenverkehrs, der Niederlassung (Niederlassungsfreiheit) und des Kapitalverkehrs (Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit) ist gekennzeichnet durch das Fortschreiten des Diskriminierungsverbots zum Beschränkungsverbot (Diskriminierungsverbot (allgemein)) und vom Bestimmungslandprinzip zum Herkunftslandprinzip. Diese Konvergenz der Grundfreiheiten schließt verschiedene Interessenkonflikte und Wertungsprobleme in Abhängigkeit von den Eigenarten der betroffenen Grundfreiheiten nicht aus. Ihre fortdauernde Eigenbedeutung folgt nicht zuletzt aus den verschiedenen, für sie geltenden Ausnahmen.

Die wichtigste allgemein geltende Ausnahme des primären Gemeinschaftsrechts gilt für Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen (Art. 86(2), 16 EG/106(2), 14 AEUV). Zu prüfen ist, ob die Anwendung des Gemeinschaftsrechts die Erfüllung der diesen Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Bisher ist es den Mitgliedstaaten nicht gelungen, einen Souveränitätsvorbehalt für diese öffentlichen Dienste anlässlich von Änderungen des Vertragsrechts durchzusetzen. Kommission und Rechtsprechung prüfen nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, ob die in Anspruch genommene Ausnahme auf das unerlässliche Maß begrenzt ist.

Die Grundfreiheiten konkretisieren das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EG/18 AEUV. Rechtfertigend wirken nur solche Ausnahmen, die im EGV ausdrücklich vorgesehen sind.

Das Diskriminierungsverbot erfasst solche Hindernisse für den Freiverkehr nicht, die aus inhaltlich verschiedenen mitgliedstaatlichen Maßnahmen folgen. Auch solche nichtdiskriminierenden Maßnahmen können jedoch den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr behindern. Sie können durch ungeschriebene Ausnahmen gerechtfertigt sein, wenn und soweit sie notwendig sind, um „zwingenden Erfordernissen“ mitgliedstaatlicher öffentlicher Interessen Rechnung zu tragen (EuGH Rs. 120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8). Rechtfertigend wirken solche Maßnahmen nur, soweit sie im Hinblick auf den legitimen Zweck geeignet und verhältnismäßig sind.

Soweit keine Ausnahme eingreift, sind Waren und Dienstleistungen, die in irgendeinem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr kommen, im ganzen Binnenmarkt verkehrsfähig. Dieser Übergang vom Bestimmungsland zum Herkunftslandprinzip kann zur Koexistenz verschiedener staatlicher Regulierungen führen. Der Begriff des Systemwettbewerbs hat darin seinen Ursprung.

Nach Gemeinschaftsrecht ergeben sich daraus für die Mitgliedstaaten die folgenden Optionen:

(a) die Hinnahme der Koexistenz verschiedener staatlicher Regelungen mit der Folge, dass die eigenen Unternehmen an strengere Regeln gebunden sind als ihre Wettbewerber aus anderen Mitgliedstaaten;

(b) die Anpassung der eigenen Regelung, um eine gleichwertige Regelung im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten herzustellen;

(c) die Teilnahme an der Rechtsangleichung nach Art. 95(1) EG/114(1) AEUV, vor allem im Hinblick auf solche mitgliedstaatlichen Regulierungen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Schutz zwingender Erfordernisse gerechtfertigt sind und dadurch den Freiverkehr behindern;

(d) im Falle von Mehrheitsentscheidungen im Rat (Art. 95(4) EG/114(4) AEUV), das Recht, fortbestehende Hindernisse aufrechtzuerhalten, die durch Art. 30 EG/36 AEUV oder durch Gründe der Arbeit, Umwelt und des Umweltschutzes gerechtfertigt sind.

Im Wettbewerb der Regulierungssysteme sind es allein die Staaten, die politisch reagieren können. Der Mitgliedstaat, für dessen Angehörige strengere Vorschriften gelten, muss entscheiden, ob er den Systemwettbewerb zulassen, sein eigenes Recht autonom ändern oder auf Gemeinschaftsebene die Rechtsangleichung betreiben will. Das Herkunftslandprinzip fördert mithin nicht nur den ökonomischen Wettbewerb, es dynamisiert zugleich die politischen Prozesse in der Gemeinschaft.

Eine Begleiterscheinung gemeinschaftsrechtlicher Marktöffnung bei fortbestehenden unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Regulierungen ist die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum streitig erörterte „umgekehrte Diskriminierung“. Das Gemeinschaftsrecht zwingt die Mitgliedstaaten nicht, eine Schlechterstellung ihrer eigenen Staatsangehörigen abzustellen.

Besonderheiten gelten für die seit der Wirtschafts- und Währungsunion auch im Verhältnis zu Drittstaaten geltende Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EG/63 AEUV). Für das Privatrecht ist die Geltung der Kapitalverkehrsfreiheit von potentiell besonders weittragender Bedeutung, weil sie u.a. auf solche mitgliedstaatlichen Regelungen anwendbar ist, die geeignet sind, den Erwerb von Anteilen an einem Unternehmen zu verhindern oder Anleger aus anderen Mitgliedstaaten abzuschrecken (EuGH Rs. C 112/05 – Kommission/Bundesrepublik, Slg. 2007, I-8995). Auch hier können „zwingende Erfordernisse“ in den Mitgliedstaaten rechtfertigend wirken. Die überaus weitreichende Frage, ob zwingende Normen des unterschiedslos anwendbaren nationalen Gesellschaftsrechts beschränkend wirken können und gegebenenfalls zu rechtfertigen sind, ist bisher nicht entschieden.

6. Verfassungsmäßige Ordnung der Wirtschaft

Die verfassungsmäßige Ordnung der Wirtschaft ist in der Gemeinschaft gekennzeichnet durch den systematischen Zusammenhang von Binnenmarkt und Wettbewerbssystem. Den Mitgliedstaaten ist die Herrschaft über den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr entzogen. Wirtschaftspolitische Ziele der Mitgliedstaaten begründen keine Ausnahmen vom Freiverkehr. Die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung zugrunde gelegte systematische Einheit der wettbewerblichen Gesamtordnung trifft mit Überschneidungen in den Anwendungsbereichen der verschiedenen Normen und mit der Differenzierung in der Rechtstellung der Normadressaten zusammen. Die Maßstäbe, die in solchen Fällen übergreifend für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts bei Konflikten mit dem Recht der Mitgliedstaaten oder innerhalb des Gemeinschaftsrechts gelten, sind ein Prüfstein für die Wirtschaftsverfassung.

Das Verhältnis der staatsbezogenen zu den unternehmensbezogenen Normen des Gemeinschaftsrechts wird geprägt durch seine Unabhängigkeit von dem in den Mitgliedstaaten vorgefundenen Gegensatz von öffentlichem Recht und Privatrecht. Die gleichmäßige und effektive Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verbindet sich mit der Konkretisierung privatrechtlicher Ordnungsprinzipien, die den wettbewerblichen Austauschprozess kennzeichnen. Angebot und Nachfrage begegnen sich nicht in einem rechtsfreien Raum. Die Teilnehmer kooperieren durch privatrechtliche Verträge, die ihrerseits Teil des Wettbewerbsprozesses sind. Die folgenden notwendig beispielhaften Tatbestandsgruppen sind repräsentativ für diesen Zusammenhang.

Der EG-Vertrag lässt die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten unberührt (Art. 295 EG/345 AEUV). Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Normen des Gemeinschaftsrechts trotzdem auf die Ausübung von Eigentumsrechten durch private Rechtsinhaber (gewerbliche Schutzrechte) wie auf den Staat als Eigentümer öffentlicher Unternehmen anwendbar. Über den Charakter der Wirtschaftsordnung entscheidet nicht das Eigentum an Produktionsmitteln, sondern das Koordinationsprinzip des Wettbewerbs.

Adressaten der Wettbewerbsregeln sind Unternehmen. Die funktionale Interpretation des Unternehmensbegriffs führt dazu, dass die Wettbewerbsregeln auf den Staat als solchen, auf seine Untergliederungen und auf öffentlich-rechtliche Organisationen immer dann anwendbar sind, wenn sie am Wirtschaftsverkehr teilnehmen.

Das aus den Grundfreiheiten abgeleitete Vergaberecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihr Beschaffungswesen so zu organisieren, dass es der privaten wettbewerblichen Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen möglichst nahekommt. Die Bieter werden durch zwingend gebotenen Rechtsschutz vor Diskriminierungen und der Willkür der staatlichen oder staatlich beeinflussten Nachfrager geschützt. Die Wettbewerbsregeln sind neben dem regulierten Vergabeverfahren (Vergaberecht) anwendbar.

Ist auf die Kapitalbeteiligung des Staates an privaten Unternehmen das Verbot wettbewerbsverfälschender Beihilfen anwendbar, so ist zu prüfen, ob die Bedingungen denen entsprechen, die auch ein privater Kapitalgeber auf dem Markt akzeptiert haben würde (market economy investor principle).

Soweit die Marktstrukturen, z.B. in der Telekommunikation oder in der leitungsgebundenen Energiewirtschaft, die Herstellung von Wettbewerb nicht ermöglichen, orientieren sich die notwendig bleibenden Regulierungen auf Gemeinschaftsebene und in den Mitgliedstaaten am Ordnungsprinzip des Wettbewerbs.

Literatur

Franz Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950; Jürgen Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992; Peter Behrens, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: Gert Brüggemeier (Hg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, 73 ff; Frank H. Knight, The Ethics of Competition, 1997; Peter-Christian Müller-Graff, Die wettbewerbsverfasste Marktwirtschaft als gemeineuropäisches Verfassungsprinzip? Europarecht 1997, 433 ff.; Werner Mussler, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998; Viktor J. Vanberg, Konstitutionenökonomische Überlegungen zum Konzept der Wettbewerbsfreiheit, ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 52 (2001) 37 ff.; Armin Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: Armin von Bogdandy (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 683 ff.; Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 7. Aufl. 2004, 291 ff.; Amartya Sen, On Ethics and Economics, 2005; Ernst-Joachim Mestmäcker, Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2006; Andreas Kellerhals, Wirtschaftsrecht und europäische Integration, 2006; Peter Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 3. Aufl. 2008.