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Aktuelle Version vom 29. September 2021, 11:57 Uhr

von Filippo Ranieri

1. Die gemeinrechtlichen Wurzeln

Historischer Ausgangspunkt dieses zentralen Prinzips der kontinentalen Rechtstradition war die römische bona fides. Es handelt sich dabei um eine sozial-normative Wertvorstellung, die bereits das klassische römische Recht zutiefst geprägt hat. Die romanischen Übersetzungen davon, bonne foi bzw. buona fede oder buena fé, stehen in sprachlicher Kontinuität dazu und enthalten zugleich eine sprachliche Ambivalenz, da sie zugleich auch den subjektiven guten Glauben (etwa des Besitzers) bezeichnen. In diesem subjektiven Sinne erscheint die bona fides erst in den Justinianischen Rechtsquellen und bei den mittelalterlichen Glossatoren. Die Funktion des Prinzips der bona fides wird aus den prozessualen Strukturen des klassischen römischen Rechts verständlich.

Historischer Ausgangspunkt war die prozessuale Behandlung im Formularprozess der Stipulationsverpflichtung, eine bestimmte Sache zu geben (obligatio dandi certam rem). Es handelte sich dabei um eine actio stricti iuris. Bereits in seiner früheren Phase kennt das römische Recht hier eine strikte objektive Haftung des säumigen Schuldners. Zentrales Instrument zur Korrektur dieser Strenge war die exceptio doli. Einerseits stellte die exceptio doli praeteriti einen Einwand des Beklagten dar, wodurch dieser einen bestimmten einzelnen Tatbestand, etwa eine arglistige Täuschung, zum Zwecke der Abweisung des Anspruchs des Klägers geltend machen konnte. Damit bezog sich die exceptio doli praeteriti auf die Vergangenheit, d.h. auf den Zeitpunkt der Entstehung des geltend gemachten Anspruchs. Dagegen war die exceptio doli praesentis gegen die Klageerhebung selbst gerichtet und diente somit auch demjenigen Beklagten, gegen den der Kläger die Klage trotz Kenntnis von der Rechtsmissbräuchlichkeit seines Verhaltens erhob. In diesem letzteren Sinne diente die exceptio doli den römischen Juristen als ein prozessuales Mittel, um die Härte des ius civile bei wörtlich verpflichtenden Geschäften zu mildern und unbillige Rechtsfolgen zu korrigieren (exceptio pacti seu doli, etwa Ulp. D. 2,14,7,7; Ulp. D. 2,14,16pr.).

Anders gestaltet sich die Rechtslage bei den Konsensualverträgen, die bereits im Formularprozess zu den iudicia bonae fidei gehören. Hier ist erst prozessual festzustellen, was der Schuldner im Einzelfall nach der bona fides leisten muss (dare facere oportet ex fide bona). Der Schuldner hat also nicht nur die geschuldete Leistung zu erbringen, sondern auch alles Übrige zu tun, was zur Erreichung des Vertragszwecks erforderlich ist und alles zu unterlassen, was dem zuwiderläuft. Das Kriterium der bona fides wird demnach der zentrale Gesichtspunkt bei der prozessualen Ausgestaltung der iudicia bonae fidei und damit mittelbar des Rechts der Konsensualverträge. Bei Konsensualverträgen, etwa im Kaufvertrag, brauchte die exceptio doli nämlich als Konkretisierung der bona fides nicht formell im Prozess erhoben zu werden. Es galt hier die Regel exceptio doli, metus, pacti … iudiciis bonae fidei insunt (Pomp. D. 19,1,6,9).

Mit dem Untergang des Formularprozesses verliert die exceptio doli ihre ursprüngliche Funktion. Als Verteidigungsmittel des Beklagten blieb sie allerdings im technischen Sprachgebrauch der römischen Rechtsquellen bestehen (Ulp. D. 44,4,2,5). Im römisch-gemeinen Recht spricht man hier seit dem Mittelalter von der sog. exceptio doli praesentis seu generalis. Die Bezeichnung generalis erscheint erstmals in der akkursischen Glossa generalis zu D. 44,4,4,33. Auf der Grundlage dieses Textes tritt die Rechtsfigur in den argumentativen Haushalt des europäischen ius commune ein. Die Autoren des französischen ancien droit betonen seit dem 16. Jahrhundert, dass alle Verträge nunmehr bonae fidei sind. Sie verlieren deshalb bereits im 17. Jahrhundert das Verständnis für die Lösungen ope exceptionis in den römischen Quellen. Diese werden als subtilitates iuris romani qualifiziert. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die exceptio doli generalis aus dem Sprachgebrauch der französischen Juristen seit dem 17. Jahrhundert verschwindet. Die Autoren der deutschen Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert erwähnen sie noch, obwohl in dieser Epoche die Lösungen ope exceptionis aus der Kasuistik der römischen Quellen bereits materiellrechtlich verstanden wurden. Die deutsche gemeinrechtliche Rechtsprechung jener Jahrzehnte kennt deshalb viele Beispiele für die Anwendung der exceptio doli.

2. Die deutsche Rechtsprechung

Die römische bona fides lebt in der deutschen Kodifikation von 1900 fort, vor allem in der richterlichen Anwendung der Generalklauseln von §§ 242 und 157 BGB. Bereits unmittelbar nach der Kodifikation knüpfte das Reichsgericht an die frühere gemeinrechtliche Judikatur zur exceptio doli an und setzte diese fort. Typisches Beispiel für diese Rechtsfortbildung ist etwa die Entwicklung des Rechtsinstituts der Verwirkung, wonach derjenige, der sein Recht längere Zeit nicht ausübt, sein Recht verliert, wenn die Gegenseite nach Treu und Glauben darauf vertrauen darf, das Recht werde in Zukunft nicht mehr ausgeübt. Umgekehrt kann ebenso auf der Grundlage des allgemeinen Prinzips von „Treu und Glauben“ auch der Gläubiger selbst den Einwand der Arglist gegenüber dem Schuldner geltend machen. So ist bereits in der Rechtsprechung des Reichsgerichts angenommen worden, dass demjenigen ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden kann, der sich auf eine zwischenzeitlich eingetretene Verjährung beruft, obwohl er bei der Gegenseite ein schutzwürdiges Vertrauen darauf erweckt hat, er werde die Verjährungseinrede nicht mehr erheben. Derselbe Rechtsgedanke wurde auch herangezogen, um in Einzelfällen bei der Nichtbeachtung der gesetzlichen Formerfordernisse die strenge Sanktion der Nichtigkeit des Vertrages (§ 125 BGB) zu vermeiden. Von den deutschen Gerichten wurde zunächst versucht, diese Anwendungsfälle der exceptio doli auf die gesetzliche Basis des § 826 BGB (sittenwidrige vorsätzliche Schädigung) zurückzuführen. Ende der 1920er Jahre berief sich das Reichsgericht immer öfter auf das allgemeine Prinzip von „Treu und Glauben“, dem man eine selbständige normative Reichweite zubilligte, und das man gesetzlich in der Vorschrift des § 242 BGB verankert sah. In den 1930er Jahren ordnete dann Wolfgang Siebert (1905–1959) diese Kasuistik aus der Rechtsprechung in die Kategorie der „unzulässigen Rechtsausübung“ ein: eine dogmatische Einordnung, die bis heute allgemein akzeptiert wird. Das Reichsgericht hat solche Lösungen zunächst weit ausgedehnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die deutsche Rechtsprechung hier allerdings zurückhaltender geworden. Heute ist der Bundesgerichtshof erst dann bereit, eine solche Korrektur gesetzlicher Vorschriften vorzunehmen, wenn das Ergebnis im Einzelfall nicht nur hart, sondern „schlechthin untragbar“ ist. In der deutschen Rechtsprechung hat sich demnach heute der Rechtsgedanke durchgesetzt, dass die treuwidrige Geltendmachung einer Rechtsposition ein venire contra factum proprium und folglich, nach dieser dogmatischen Einordnung, einen Rechtsmissbrauch darstellt.

Die beschriebenen Anwendungen des Grundsatzes von „Treu und Glauben“ stellen nur einige klassische Fallkonstellationen dar, bei denen bereits die Rechtsprechung des Reichsgerichts auf § 242 zurückgegriffen hat. Exemplarisch ist auch die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg der Lehre des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Im Jahre 1963 gab Karl Larenz (1903–1993) dieser Lehre den endgültigen dogmatischen Standort im deutschen Recht als Anwendungsfall von § 242 BGB. Die von der deutschen Rechtsprechung entwickelten Prinzipien sind bei der Reform des Schuldrechts im Jahre 2002 in § 313 BGB nunmehr kodifiziert worden. Damit erlaubt es der Grundsatz von „Treu und Glauben“ dem deutschen Richter, gleichsam als Gesetzgeber zu operieren, indem ihm die Möglichkeit eröffnet wird, neue Rechtssätze zu schaffen, um unbillige gesetzliche oder vertragliche Härten abzumildern. Insoweit stellt die Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben von § 242 BGB häufig nur eine Durchgangsstation dar, bis sich eigenständige Rechtsfiguren (etwa des Wegfalls der Geschäftsgrundlage oder der Verwirkung) gebildet haben (so Jürgen Schmidt und später Martijn Hesselink).

3. Das deutsche Recht als kontinentales Modell

Gerade die Sorge um eine allzu starke Richterposition führte in Frankreich und in Italien Mitte des 20. Jahrhunderts in Doktrin und Rechtsprechung zu einer sehr skeptischen Haltung gegenüber solchen Entwicklungen im deutschen Recht. Das von den deutschen Gerichten entwickelte Prinzip des Verbots eines treuwidrigen Verhaltens hat dagegen in anderen kontinentalen Rechtssystemen – insbesondere bei der schweizerischen und, später, bei der österreichischen und niederländischen Rechtsprechung – als Modell gedient. Das schweizerische Zivilgesetzbuch von 1912 bestimmt ausdrücklich in Art. 2 das Gebot der Ausübung eines Rechts nach den Grundsätzen von „Treu und Glauben“, aber auch, dass der „offenbare Missbrauch“ eines Rechts keinen Rechtsschutz findet. In Anwendung dieser Norm kennt das schweizerische Bundesgericht seit langem Lösungen, die mit der beschriebenen deutschen Judikatur zum Teil vergleichbar sind. So kennt die schweizerische Rechtsprechung beispielsweise die Lehre der Verwirkung. Sie akzeptiert jedoch die Rechtsfigur des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ in weit engeren Grenzen als der deutsche Bundesgerichtshof. In besonders großem Umfang beobachtet man eine solche Rezeption in der niederländischen Rechtsprechung, und zwar bereits unter dem Burgerlijk Wetboek von 1838. Der niederländische Gesetzgeber von 1992 hat diese Rechtsentwicklung in Art. 6:2 BW verankert. Demnach ist eine gesetzliche oder eine vertragliche Norm dann nicht vom Richter zu beachten, wenn sie zu Ergebnissen führt, die mit der Billigkeit und mit der Redlichkeit unvereinbar sind. Eine solche Grenze für eine treuwidrige Rechtsausübung haben ausdrücklich auch – offenbar ebenfalls unter dem Einfluss des deutschen und des schweizerischen Rechts – das griechische Zivilgesetzbuch von 1940/‌1946, in Art. 281, und der neue portugiesische Código civil von 1966, in Art. 303–334, vorgesehen. Dasselbe gilt für Art. 7 der neuen Fassung aus dem Jahre 1974 des titulo preliminar zum spanischen Código civil und zuletzt für § 6 des estnischen Obligationenrechts von 2002.

Die Praxis in anderen kontinentalen Rechtsordnungen ist dagegen bis heute weit zurückhaltender geblieben. Besonders zurückhaltend scheint die Rechtsprechung der französischen Cour de Cassation zu sein, die bis heute den Rechtsgedanken der bonne foi contractuelle (Art. 1134 Abs. 3 Code civil) nur auf vertragliche Beziehungen beschränkt sehen will. Die französische Rechtsprechung hat bisher auf diese Norm relativ selten zurückgegriffen. Ein Eingreifen des Richters in vertragliche Beziehungen wird in vergleichbaren Fallkonstellationen wie bei der deutschen Lehre des Wegfalls der Geschäftsgrundlage im französischen Recht durchweg abgelehnt. Der Rechtsgedanke des Verbots eines treuwidrigen venire contra factum proprium wird in der französischen Judikatur nur indirekt herangezogen, häufig versteckt in der Fiktion eines Verzichtswillens des Rechtsinhabers. Ähnlich war bis vor einigen Jahren die Zurückhaltung im spanischen und im italienischen Recht. Das italienische Kassationsgericht hat unter dem Einfluss der jüngsten italienischen Doktrin neuerdings seine Haltung geändert. Eine Vielzahl von Entscheidungen greift auf den allgemeinen Grundsatz der buona fede zurück, die in Art. 1375 Codice civile als verankert angesehen wird. Die konkreten italienischen Anwendungen dieser Rechtsgedanken bei der Inhaltskontrolle von vertraglichen Klauseln oder bei der Heranziehung von gesetzlichen Normen stehen allerdings hinter der deutschen und schweizerischen oder auch niederländischen Judikatur weit zurück. Eine grundlegende Wandlung zeichnet sich inzwischen auch im französischen Recht ab. Art. 8 des im Sommer 2008 vorgelegten Projet de Réforme du droit des contrats verankert nunmehr den allgemeinen Grundsatz: „chacune des parties est tenue d’agir de bonne foi.

4. Good faith im englischen Recht

Das englische common law kennt bis heute keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien, sich bei der Durchführung des Vertrags an ein generelles Prinzip von Treu und Glauben (good faith) zu halten. „We in England find it difficult to adopt a general concept of good faith“ so bezeichnenderweise vor wenigen Jahren der englische Rechtslehrer Royston Goode. „(…) The predictability of the legal outcome of a case – schreibt er fort – ist more important than absolute justice. (…) The last thing that we want to do is to drive business away by vague concepts of fairness which make judicial decisions unpredictable, and if that means that the outcome of disputes is sometimes hard on a party we regard that as an acceptable price to pay in the interest of the great majority of business litigants.” Im historischen common law hat der Gedanke der römischen bona fides keine Rolle gespielt. Im 18. Jahrhundert hat eine solche Möglichkeit allerdings durchaus bestanden. Lord Mansfield war derjenige, der diesen Rechtsgedanken in das damalige englische Handelsrecht einzuführen versuchte. Berühmt blieben insbesondere seine Aussagen im versicherungsrechtlichen Fall Carter v. Boehm [1766] 97 ER 1162. Das englische common law hat allerdings die Ansicht von Lord Mansfield im Wesentlichen nicht über den Ausgangspunkt des Versicherungsvertrages hinaus weiter entwickelt. Die ueberrima fides ist bis heute im englischen Recht nur im Versicherungsrecht ein Merkmal der duty to disclose geblieben. Dennoch werden auch im englischen Recht heute bei bestimmten Fallkonstellationen mit Hilfe anderer Rechtsfiguren Lösungen erzielt, die auch mit dem kontinentalen Rechtsgedanken von Treu und Glauben begründet werden könnten. Zu erwähnen ist z.B. die Rechtsfigur des promissory estoppel und des estoppel by acquiescence, wonach eine Person einen möglichen Rechtsstandpunkt nicht mehr einnehmen kann, wenn sie sich durch ihr früheres Verhalten gebunden hat. Dies entspricht etwa der Lehre der Verwirkung und des Verbotes des venire contra factum proprium im kontinentalen Recht.

Das Verständnis des englischen good faith bleibt dennoch bis heute psychologisch-subjektiv gefärbt i.S. also des subjektiven guten Glaubens und insoweit recht verschieden von den kontinentalen buona fede, bonne foi oder Treu und Glauben. Im Wesentlichen bleibt die Haltung der englischen Juristen den beschriebenen kontinentalen Rechtsentwicklungen gegenüber skeptisch. Sie lehnen insbesondere entschieden die kontinentale Idee ab, dem Richter eine weitgehende Kontroll- und Gestaltungsbefugnis der vertraglichen Rechtsbeziehungen einzuräumen. So wird etwa eine allgemeine Haftung aus culpa in contrahendo auf der Grundlage eines allgemeinen Prinzips von Treu und Glauben bis heute abgelehnt (Lord Ackner in Walford v. Miles [1992] 2 AC 128, 138 (HL): „A duty to negotiate in good faith is as unworkable in practice as it is inherently inconsistent with the position of the negotiating parties“. Dieser Befund rechtfertigt die Skepsis derjenigen, die sich fragen, „ob die britischen Richter, wenn ein europäisches Vertragsrecht mitsamt einer Treu- und Glauben-Klausel in Kraft getreten ist, alle jene überkommenen Regeln aus ihren Nischen im case law hervorsuchen und gerade so anwenden dürfen, als sei nichts gewesen, sofern nur klar ist, was immer klar sein durfte: nämlich dass diese Regeln mit dem Wortlaut der Treu- und Glauben-Klausel vereinbar sind“ (Hein Kötz). Die europäische Klausel-RL (RL 93/‌13) hat übrigens im Jahre 1993 in ihrem Art. 3 auch im englischen Recht den Begriff der „good faith“ bzw. „bonne foi“ oder Treu und Glauben als Kriterium einer Inhaltskontrolle von [Allgemeinen Geschäftsbedingungen eingeführt und die hier aufgeworfene Frage aktuell gemacht. Das House of Lords hat allerdings in seiner grundlegenden Entscheidung Director General of Fair Trading v. First National Bank [2001] 3 WLR 1297 deutlich gemacht, dass das englische Recht auch in diesem Bereich nicht bereit ist, das kontinentale Verständnis einer solchen Generalklausel über den Umweg des europäischen Gemeinschaftsprivatrechts zu akzeptieren.

5. Das Europäische Privatrecht

Die ausdrückliche Anerkennung eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben entspricht heute, wenigstens aus kontinentaler Sicht, einer gesamteuropäischen Überzeugung. Dieser allgemeine Rechtsgedanke hat deshalb zuletzt Eingang in Art. 1:201 PECL gefunden. Fraglich bleibt allerdings, ob er im gleichen Umfang auch in das heutige Gemeinschaftsprivatrecht/‌ Unionsprivatrecht Eingang gefunden hat. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat es bis heute vermieden, einen solchen Grundsatz als allgemeines Rechtsprinzip des Europäischen Gemeinschaftsprivatrechts ausdrücklich anzuerkennen. In der Richtliniengesetzgebung wird das Wort hingegen mehrfach verwendet. Exemplarisch ist hier der bereits erwähnte Art. 3(1) der Klausel-RL (RL 93/‌13). Der europäische Gesetzgeber greift auf diese Regel bei der Verankerung des Kriteriums der „Missbräuchlichkeit“ in der Klausel-RL zurück. Bereits die sprachliche Fassung der Klausel-RL lautet allerdings unterschiedlich. In der deutschen Fassung wird in Art. 3(1) vom „Gebot von Treu und Glauben“ gesprochen. Für die deutschen Juristen bestehen hier keine Zweifel, dass es sich dabei um denselben Rechtsgedanken wie in § 242 BGB und in dessen judizieller deutscher Konkretisierung handelt. Die englische Fassung lautet: „requirement of good faith“, in der französischen ist von „exigence de bonne foi“ die Rede, in der italienischen spricht man wiederum von „clausole che, malgrado la buona fede, determinano … “. Die nationalen Rechtstraditionen verstehen allerdings darunter nicht immer dasselbe. Wie bereits erwähnt, ordnet die deutsche Judikatur unter die Kategorie von „Treu und Glauben“ im Sinne von § 242 BGB eine Verhaltens- und Auslegungsnorm zur Inhaltskontrolle von vertraglichen Bestimmungen ein. Die bonne foi des französischen Rechts, ebenso wie die buona fede im italienischen Recht oder die goede trouw des niederländischen Rechts indizieren dagegen nicht nur diesen objektiven Sinn, sondern auch eine subjektive Bedeutung hinsichtlich des psychologischen Wissens oder Nichtwissens eines Rechtssubjekts. Auch das englische Recht versteht unter good faith primär das subjektive Wissen oder Nichtwissen der Kontrahenten und intendiert darunter keinesfalls eine objektive Auslegungsanweisung für den Richter zur Inhaltskontrolle einer vertraglichen Abrede. In diesem Zusammenhang wird deshalb verständlich, warum in der französischen Umsetzung der fraglichen Norm (Art. L.132-1 Code de la consommation) der Gesetzgeber bewusst von der Verwendung der Formulierung bonne foi abgesehen hat.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist bis heute zu dieser Frage uneinheitlich. Im Jahre 2000 sah er sich in einem spanischen Fall dazu berufen, unmittelbar eine Vertragsklausel, die eine auch für den Verbraucher verbindliche Regelung des Gerichtsstandes enthielt, im Einzelnen als missbräuchlich zu qualifizieren (EuGH Rs. C-240/‌98 bis 244/‌98– Océano grupo, Slg. 2000, I-4941). Vier Jahre später, auf eine Vorlage des deutschen Bundesgerichtshofs hin, erklärte sich das Gericht überraschend für unzuständig. Ob eine Vertragsklausel dem Gebot von Art. 3(1) der Klausel-RL im Einzelnen widerspreche, falle in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts (EuGH Rs. C-237/‌02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I–3403). Es ist allerdings den zahlreichen Kritikern der Entscheidung zuzugeben, dass der Gerichtshof, nachdem er sich ausdrücklich vorbehalten hat, die Anwendungsbedingungen der Richtlinien zu präzisieren, dem nationalen Gericht einige Anhaltspunkte zur Auslegung der Begriffe „Treu und Glauben“ und „missbräuchlich“ in Art. 3(1) der Klausel-RL hätte an die Hand geben können.

Die Geltung und die Einführung eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben im Europäischen Gemeinschaftsprivatrecht, „… la bête noire des juristes anglais“, bleiben bis heute auf der rechtspolitischen Tagesordnung. Der im Jahre 2007 vorgelegte wissenschaftliche Entwurf zu den Acquis Principles, der zugleich auch eine der wesentlichen Grundlagen des Draft DCFR zum derzeitigen Europäischen Gemeinschaftsprivatrecht bildet, bleibt hier ambivalent. Nach Ansicht der Redaktoren, die sich streng auf den vorhandenen acquis communautaire beschränkt haben, bietet das gegenwärtige Gemeinschaftsprivatrecht keinen hinreichenden Anhaltspunkt für einen umfassenden Grundsatz von Treu und Glauben. Der Entwurf verzichtet deshalb darauf, eine allgemeine Generalklausel vorzuschlagen. Das Prinzip von Treu und Glauben wird stattdessen in einzelnen Zusammenhängen erwähnt, so als Pflicht bei den vorvertraglichen Verhandlungen und als Maßstab bei der Klauselkontrolle. Eine allgemein lautende Generalklausel zum Grundsatz von Treu und Glauben soll dagegen in das Dritte Buch des DCFR (Art. III-1:103 DCFR) aufgenommen werden, wobei allerdings auch hier in einem dritten Absatz die eindeutige normative Aussage von Art. 1:201 PECL eingeschränkt werden soll.

Literatur

Franz Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung von § 242 BGB, 1956; Royston Goode, The Concept of “Good Faith” in English Law, 1992; Antonio Menezes-Cordeiro, Da boa fé no direito civil, 1984, Bde. I-II, 2. Aufl. 1997; Hein Kötz, Towards a European Civil Code: The Duty of Good Faith, in: Peter Cane (Hg.), The Law of Obligations: Essays in celebration of John Fleming, 1998, 243 ff.; Martijn Hesselink, De redelijkheid en billijkheid in het europese privaatrecht: Good Faith in European Private Law, 1999; Reinhard Zimmermann, Simon Whittaker (Hg.), Good Faith in European Contract Law, 2000; Béatrice Jaluzot, La bonne foi dans les contrats, 2001; Benedicte Fauvarque-Cosson (Hg.), La confiance légitime et l’estoppel, 2007; Christian Eckl, Treu und Glauben im spanischen Vertragsrecht, 2007; Filippo Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, 3. Aufl. 2009, 1801 ff.

Abgerufen von Treu und Glauben – HWB-EuP 2009 am 23. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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