Kartellrecht, private Durchsetzung: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 8. September 2021, 11:39 Uhr

von Friedrich Wenzel Bulst

1. Gegenstand und Zweck

Die Grundnormen des europäischen Kartellrechts (Kartellverbot und Freistellung; Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung; Wettbewerb im Binnenmarkt), die Art. 81(1), 82 EG/‌101, 102 AEUV, sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH unmittelbar anwendbar. Seit Inkrafttreten der VO 1/‌2003 am 1.5.2004 gilt das auch für Art. 81(3) EG/‌101(3) AEUV (Kartellverbot und Freistellung; Kartellverfahrensrecht). Die VO 1/‌2003 sollte die Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV durch eine verstärkte Einbindung der Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten dezentralisieren. Zuvor wurden beide Artikel in erster Linie durch die Europäische Kommission und in geringerem Umfang auch durch nationale Wettbewerbsbehörden durchgesetzt (Kartellverfahrensrecht; Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen). Die nationalen Gerichte, die Foren der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, hingegen spielten bei der Anwendung des EG-Kartellrechts eine untergeordnete Rolle.

Bei privaten Kartellrechtsstreitigkeiten ist zu unterscheiden zwischen vertraglichen Auseinandersetzungen, in denen sich eine der Vertragsparteien auf die Kartellrechtswidrigkeit und Nichtigkeit einer Vereinbarung (Kartellverbot und Freistellung; Vertikalvereinbarungen; Kartellrecht, Rechtsfolgen von Verstößen) beruft sowie gegebenenfalls Schadensersatz verlangt, und nichtvertraglichen Auseinandersetzungen, in denen Dritte gegen Wettbewerbsverstöße von Unternehmen mit Unterlassungs- und Schadensersatzklagen vorgehen. Innerhalb dieser Verfahrensart ist zu unterscheiden zwischen Klagen, die im Nachgang zu einer Behördenentscheidung, mit der ein Kartellrechtsverstoß festgestellt wurde, erhoben werden (sog. Folgeklagen), und von Verwaltungsverfahren unabhängigen Klagen. Schadensersatzklagen beider Spielart sind in der Gemeinschaft bis zum Jahre 2005 kaum bekannt geworden. Auch wenn die Zahl von Folgeklagen in einigen Mitgliedstaaten seitdem deutlich angestiegen ist, bleiben kartellrechtliche Schadensersatzklagen in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten die Ausnahme, obwohl nach allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen grundsätzlich ein deliktischer Anspruch (Deliktsrecht) auf Ersatz von durch Kartellrechtsverstöße verursachten Schäden besteht.

Es besteht eine gewisse Spannung zwischen dieser rechtstatsächlichen Lage und dem Urteil in der Rechtssache Courage, in dem der EuGH die Bedeutung privater Schadensersatzklagen gegen Kartellanten für die wirksame Durchsetzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV hervorgehoben hat. Hiernach wäre die volle Wirksamkeit des Art. 81 EG/‌101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des Verbots des Art. 81 (1) EG/‌101(1) AEUV beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Verstoß gegen diese Vorschrift entstanden ist (EuGH Rs. C-453/‌99 – Courage Ltd/‌Crehan, Slg. 2001, I-6297, Rn. 26; bestätigt durch EuGH Rs. C-295/‌04-C-298/‌04 – Manfredi, Slg. 2006, I-6619, Rn. 60). Für Art. 82 EG/‌102 AEUV dürfte der EuGH zu derselben Einschätzung gelangen, böte sich die Gelegenheit.

Das Courage-Urteil, mehr noch als die VO 1/‌ 2003, hat der privaten Durchsetzung viel Aufmerksamkeit beschert. In einigen Mitgliedstaaten, wie Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Ungarn, haben die Gesetzgeber seit 2002 Maßnahmen ergriffen, um die private Kartellrechtsdurchsetzung zu stärken. In allen diesen Mitgliedstaaten soll die private die öffentlichrechtliche Durchsetzung ergänzen, nicht ersetzen. Dasselbe Ziel verfolgt die Kommission. Im Dezember 2005 veröffentlichte sie ein Grünbuch (KOM(2005) 672 endg.) und im April 2008 ein Weißbuch (KOM(2008) 165 endg.) zu Schadensersatzklagen wegen Verletzung der Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV, jeweils begleitet von einem ausführlichen Arbeitspapier. Darin werden verschiedene Regelungsoptionen (Grünbuch) bzw. Vorschläge (Weißbuch) zur Stärkung der privaten Durchsetzung vorgestellt. Das Weißbuch fasst zudem den bereits erreichten acquis communautaire aus Sicht der Kommission zusammen.

Im Grünbuch wurde unter anderem ein über die bloße Kompensation entstandener Schäden hinausgehendes und dezidiert auf Abschreckung von Kartellrechtsverstößen gerichtetes Schadensersatzregime erwogen. Diese Überlegungen sind im Weißbuch weitestgehend zugunsten einer Beschränkung auf primär kompensatorisch wirkende Vorschläge aufgegeben worden, die Abschreckung nur als Nebeneffekt verfolgen. Ob der EuGH in Courage und später Manfredi vor allem die kompensatorische Wirkung von Schadensersatzklagen, also den effektiven Individualrechtschutz, oder aber ihre abschreckende Wirkung, also die effektive Durchsetzung von Verbotsnormen, vor Augen hatte, wird kontrovers diskutiert.

In der rechtspolitischen Diskussion wird jedoch auch die grundsätzlichere Frage gestellt, ob die private Kartellrechtsdurchsetzung überhaupt, d.h. selbst in ihrer kompensatorischen Funktion, gestärkt werden soll. Umstritten ist gleichermaßen, ob eine Stärkung durch eine Gemeinschaftsmaßnahme erfolgen sollte. Die Positionierung in dieser politischen Debatte folgt weithin den wirtschaftlichen Interessen ihrer Protagonisten.

2. Einzelaspekte

a) Rechtliche Grundlage

Die Diskussion um die rechtliche Grundlage von Schadensersatzansprüchen für Verstöße gegen das Gemeinschaftskartellrecht hat in den Schlussanträgen des Generalanwalts Walter van Gerven in der Rechtssache Banks und den Anmerkungen dazu einen ersten Höhepunkt gefunden (Rs. C-128/‌92, Slg. 1994, I-1209, Rn. 36 ff.), bevor sie durch das Courage-Urteil wieder neu beflügelt wurde. Es ist nach wie vor umstritten, ob sich solche Ansprüche allein auf die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV stützen lassen (so van Gerven) oder sich innerhalb der Grenzen europarechtlicher Vorgaben nach nationalem Recht richten. Der EuGH zitiert in Courage zwar das Urteil des EuGH in der Rechtssache Francovich (Rs. C-6/‌90 und C-9/‌90, Slg. 1991, 5357) und damit die Leitentscheidung für den eindeutig auf dem Gemeinschaftsrecht fußenden staatshaftungsrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht verletzen, bezeichnet die Sanktion des Schadensersatzes in Courage anders als in Francovich aber nicht ausdrücklich als einen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz. Die Frage ist nahezu ohne praktische Bedeutung. Da das Gemeinschaftsrecht die Voraussetzungen des Anspruchs unstreitig nur in Ansätzen subsumtionsfähig regelt, sind diese dem nationalen Recht zu entnehmen, das insoweit den Anforderungen des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitäts- und des Äquivalenzprinzips genügen muss. Beide Ansätze nehmen damit in der Praxis das nationale Recht zum Ausgangspunkt und bestimmen bei Bedarf sowohl seine Korrekturbedürftigkeit als auch das Korrekturergebnis anhand des Effektivitäts- und des Äquivalenzprinzips.

Den Urteilen Courage und Manfredi und der Rechtsprechung des EuGH zur Staats- und Gemeinschaftshaftung sowie zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben können bereits grobe Konturen einer dem Effektivitätsprinzip genügenden Ausgestaltung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches entnommen werden.

b) Acquis communautaire

Anspruchsberechtigung: Was die Anspruchsberechtigung angeht, kann nach der Rechtsprechung des EuGH in Courage und Manfredi als gesicherter acquis communautaire gelten, dass jeder Geschädigte anspruchsberechtigt ist, wenn zwischen seinem Schaden und dem Kartellrechtsverstoß eine hinreichend unmittelbare (s.u.) kausale Beziehung besteht. Damit sind nicht nur die direkten Abnehmer eines gegen das Kartellrecht verstoßenden Unternehmens anspruchsberechtigt, sondern zum Beispiel auch die Abnehmer des Abnehmers, sog. Folgeabnehmer. Ein Folgeabnehmer kann geschädigt sein, wenn der Direktabnehmer eines Kartellanten oder Marktbeherrschers einen kartellrechtswidrig überhöhten Preis auf den Folgeabnehmer abwälzt (Schadensabwälzung).

Schadensersatz: Nach der Rechtsprechung des EuGH steht als acquis communautaire zum ersatzfähigen Schaden fest, dass ein Geschädigter Ersatz des Vermögensschadens (damnum emergens), des entgangenen Gewinns (lucrum cessans) und die Zahlung von Zinsen verlangen können muss. Der EuGH entnimmt diese Vorgaben in Manfredi dem Effektivitätsprinzip, nach dem insbesondere Ersatz für entgangenen Gewinn nicht vollständig ausgeschlossen werden darf, da anderenfalls insbesondere bei Rechtsstreitigkeiten kommerzieller Natur ein Ersatz der tatsächlich entstandenen wirtschaftlichen Beeinträchtigung nicht gewährleistet werden könne. Die Mitgliedstaaten dürfen nicht a priori eine absolute Anspruchsobergrenze vorsehen. Es ist ihnen jedoch unbenommen, dafür Sorge zu tragen, dass der Schadensersatz nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Geschädigten führt. Nach dem Äquivalenzprinzip sind auch besondere Arten des Schadensersatzes zu gewähren, wie insbesondere Strafschadensersatz, sofern ein entsprechender Anspruch bei Verstößen gegen nationales Kartellrecht besteht. Erwartungen, in England würden im Rahmen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung exemplary damages gewährt, haben sich bislang nicht bestätigt. Für Folgeklagen wurden solche Ansprüche sogar ausdrücklich ausgeschlossen.

Bei Kartellrechtsverstößen, die zu höheren als sich bei Wettbewerb bildenden Preisen führen, bedeuten diese Grundsätze, dass einem Abnehmer jedenfalls die Differenz zwischen dem gezahlten, rechtswidrig überhöhten Preis und dem hypothetischen Wettbewerbspreis zu ersetzen ist. Bei Abnehmern, die das von dem Verstoß betroffene Gut weiterverkaufen, also Zwischenhändlern, stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem Ersatz eines entgangenen Gewinns. Ohne die Zuwiderhandlung hätte der Zwischenhändler regelmäßig nicht nur pro Einheit günstiger, sondern auch mehr Einheiten des fraglichen Gutes erworben. Darin zeigt sich die angebotsverknappende Wirkung des Wettbewerbsverstoßes (dead weight loss). Das heißt, in Bezug auf die kartellbedingt nicht erworbenen Einheiten des Gutes kann dem Zwischenhändler eine Marge entgangen sein. Dieser Gewinnentgang muss nach dem acquis ebenfalls ersetzt werden. Er ließe sich einerseits als Schadensposten zur Preisdifferenz hinzuaddieren. Andererseits ließe sich aber auch der gesamte Schaden des Zwischenhändlers nur als Gewinnentgang betrachten, d.h. als die Differenz zwischen dem Gewinn, den er mit dem fraglichen Gut ohne den Verstoß erwirtschaftet hätte und dem tatsächlich erwirtschafteten Gewinn. Welche Betrachtung sachgerecht ist, ergibt sich vor allem aus der Behandlung des sog. Einwands der Schadensabwälzung.

Schadensabwälzung: So wie sich klagende Folgeabnehmer auf eine Schadensabwälzung durch den Zwischenabnehmer auf sie berufen, behaupten Beklagte häufig, die sie in Anspruch nehmenden (Direkt‑)Abnehmer hätten selbst keinen Schaden erlitten, sondern den kartellrechtswidrigen Preisaufschlag an ihre Abnehmer weitergegeben. Hält man diesen Einwand für unbeachtlich, kann es zu einer Mehrfachhaftung des Kartellanten oder Marktbeherrschers für denselben Schadensposten kommen, wenn sowohl Direkt- als auch Folgeabnehmer klagen. Erklärt man den Einwand aber für beachtlich, werden Direktabnehmerklagen – je nach Beweislastverteilung hinsichtlich der Abwälzung – deutlich erschwert mit dem Ergebnis, dass eine private Kartellrechtsdurchsetzung unter Umständen nicht stattfindet. Folgeabnehmer gelten nämlich, weil sie oft nur Streuschäden erleiden, als weniger klagebereit als Direktabnehmer. Zudem wird es ihnen wegen der geringeren Nähe zum Verstoß häufig schwerer fallen, diesen und ihren kausalen Schaden zu beweisen.

Wie eine Rechtsordnung das Abwälzungsproblem löst, sagt viel darüber aus, ob sie in erster Linie das Ziel verfolgt, den Schädiger um die Früchte seines Verstoßes zu bringen und dadurch ggf. eine Abschreckungswirkung zu erzielen, oder ob sie vor allem die Opfer von Verstößen entschädigen soll. Soweit sich hierzu bereits ein acquis communautaire formulieren lässt, ergibt er sich außer aus Courage und Manfredi aus der EuGH-Rechtsprechung zur Rückerstattung europarechtswidriger Abgaben (EuGH Rs. C-147/‌01 – Weber's Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 95 ff.). Danach erscheint die Berücksichtigung des Abwälzungseinwands insoweit zulässig, als sie eine Bereicherung des Anspruchstellers verhindert und der Schädiger die Beweislast für die erfolgte Abwälzung trägt. Die Beachtlichkeit des Einwands ist gemeinschaftsrechtlich jedoch nur erlaubt, nicht geboten.

Nach dem Weißbuch soll die beklagte Partei das Recht haben, den Schadensabwälzungseinwand geltend zu machen, muss die Abwälzung aber beweisen. Folgeabnehmer sollen sich auf eine widerlegliche Vermutung berufen können, dass der kartellrechtswidrige Preisaufschlag in vollem Umfang auf sie abgewälzt wurde.

Kausalität: Der EuGH hat in Manfredi explizit auf das Kausalitätserfordernis als Anspruchsvoraussetzung hingewiesen. Der Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung kann vor allem entnommen werden, dass das Effektivitätsprinzip eine kausale Zurechnung nur bei hinreichender Unmittelbarkeit zwischen einem Verstoß und seinen Folgen gebietet (EuGH verb. Rs. 64/‌76 – Durmotier Frères, Slg. 1979, 3091, Rn. 21).

Verschulden: Uneinheitlich beurteilt wird die Reichweite des acquis zu der Frage, ob nationales Recht das Bestehen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruches an den Nachweis eines Verschuldens knüpfen darf, wie es die Mehrheit der mitgliedstaatlichen Haftungsregime tut. Dem Weißbuch zufolge ist nur ein auf sehr spezifische und außerordentliche Umstände begrenztes Verschuldenserfordernis mit dem Effektivitätsprinzip vereinbar. Die Urteile Courage und Manfredi sowie die Rechtsprechung zur Staats- und Gemeinschaftshaftung lassen sich jedoch auch offener interpretieren. Unbestritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht kein Verschuldenserfordernis vorschreibt.

Verjährung: Dem Urteil in Manfredi lässt sich mit dem Weißbuch entnehmen, dass das Effektivitätsprinzip verletzt wird, wenn eine kurze Verjährungsfrist (Verjährung) bereits mit der ersten Verwirklichung eines Kartells zu laufen beginnt und nicht unterbrochen werden kann. Bei fortgesetzten oder wiederholten Zuwiderhandlungen droht dann nämlich ein Verjährungsende noch vor Beendigung des Verstoßes.

Beweislast: Die Beweislast für einen Verstoß gegen Art. 81(1), 82 EG/‌101(1), 102 AEUV trägt gemäß Art. 2 VO 1/‌2003 die Partei, die sich darauf beruft. Für die Voraussetzungen des Art. 81 (3) EG/‌101(3) AEUV gilt nach Art. 2 VO 1/‌2003 dasselbe.

Anwendbares Recht: Gemäß Art. 6(3)(a) und den Erwägungsgründen 22 und 23 der Rom II-VO (VO 864/‌2007) wird das auf kartelldeliktsrechtliche Ansprüche anwendbare Recht grundsätzlich nach dem Marktortprinzip bestimmt, d.h. es ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird. Wird der Markt in mehr als einem Staat beeinträchtigt, gilt die differenzierte Regelung des Art. 6(3)(b) Rom II-VO.

c) Das Weißbuch der Kommission

Die Kommission schlägt in ihrem Weißbuch neben einer klarstellenden Kodifizierung der wesentlichen Elemente des bisherigen acquis eine Reihe von Regelungen vor, um den privaten Kartelldeliktsschutz wirksamer zu gestalten.

Zugang zu Beweismitteln: In Kartellrechtsfällen befinden sich die für den Beweis (Beweisrecht) der Zuwiderhandlung oder die Bezifferung eines Schadens nötigen Unterlagen oft im Besitz der des Verstoßes verdächtigten Partei. Um den Zugang zu Beweismitteln zu verbessern, wird im Weißbuch in Fortführung des der RL 2004/‌48 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums zugrunde liegenden Ansatzes (Geistiges Eigentum (Durchsetzung)) ein Verfahren zur Offenlegung von Beweismitteln zwischen den Parteien eines Rechtsstreits unter Aufsicht des Gerichts vorgeschlagen.

Kollektiver Rechtsschutz: Um Defizite im kollektiven Rechtsschutz (Verbandsklage) auszugleichen, die insbesondere bei relativ geringwertigen Streuschäden einer wirksamen Entschädigung entgegenstehen und darüberhinaus zu prozessökonomischen Ineffizienzen führen, werden im Weißbuch die Einführung von Verbandsklagen durch besonders qualifizierte Einrichtungen sowie opt-in-Gruppenklagen vorgeschlagen, zu denen sich einzelne Opfer ausdrücklich zusammenschließen, um ihre jeweiligen Schadenersatzansprüche in einer einzigen Klage zusammenzufassen.

Verhältnis zwischen Kronzeugenprogrammen und Schadenersatzklagen: Die Kommission und fast alle nationalen Wettbewerbsbehörden verfügen über Kronzeugenprogramme, in deren Rahmen Unternehmen ihre Beteiligung an einem Kartell anzeigen und die Behörde bei dessen Aufklärung und Ahndung unterstützen können. Im Gegenzug erhalten sie unter bestimmten Voraussetzungen einen Bußgelderlass oder eine Bußgeldermäßigung (Kartellverfahrensrecht). Kronzeugenprogramme haben sich als sehr erfolgreiches Mittel zur Aufdeckung von Kartellen erwiesen. Uneinigkeit besteht darüber, ob und inwieweit eine Stärkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung die Wirksamkeit solcher Programme gefährdet, indem sie potentielle Kronzeugen von einer Selbstanzeige abhält. Kronzeugen würden sich dem Risiko aussetzen, zwar ein Bußgeld abzuwenden, aber gleichzeitig die Grundlage für die eigene zivilrechtliche Inanspruchnahme zu schaffen. Ob die Sorge um die fortwährende Attraktivität von Kronzeugenprogrammen berechtigt ist, hängt zum einen davon ab, ob die destabilisierende Wirkung, die diese Programme auf Kartelle haben sollen, durch die Stärkung eines separaten Sanktionenregimes tatsächlich gemindert wird. Zum anderen ist die Justierung des Zusammenspiels von Kronzeugenprogrammen und privater Durchsetzung von Bedeutung, wie sie etwa durch eine haftungsrechtliche Privilegierung von Kronzeugen und Beschränkungen des Zugangs zu Kronzeugenanträgen erfolgen kann. So schlägt die Kommission in ihrem Weißbuch vor, dass Kronzeugenanträge gegen Offenlegung im Zivilprozess geschützt werden müssen.

Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden: Dem Modell des dt. § 33 Abs. 4 GWB folgend, schlägt das Weißbuch eine Bindungswirkung bestandskräftiger Entscheidungen von mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden in kartellrechtlichen Schadensersatzprozessen vor. Stellt eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen die Art. 81, 82 EG/‌101, 102 AEUV bestandskräftig fest, soll kein nationales Gericht – desselben oder eines anderen Mitgliedstaates – eine dieser Feststellung zuwiderlaufende Entscheidung treffen dürfen. Das Recht bzw. die Pflicht, ein Vorlageverfahren nach Art. 234 EG/‌267 AEUV anzustrengen, soll unberührt bleiben. Das Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden würde damit dem zwischen nationalen Gerichten und Kommission weitgehend nachgebildet (vgl. Art. 16(1) VO 1/‌2003).

3. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Auf europäischer Ebene sind potenziell gegenläufige Entwicklungen zu beobachten. Die Bemühungen um eine Stärkung der privaten Durchsetzung gehen einher mit einer zunehmend ökonomisch geprägten Auslegung des Kartellrechts, die eine komplexere Prüfung der Auswirkungen des fraglichen Marktverhaltens erforderlich macht, bevor es als Kartellrechtsverstoß qualifiziert werden kann (Wettbewerb im Binnenmarkt; Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung). Die für eine solche Prüfung erforderlichen ökonomischen Daten können private Prozessparteien vor kaum zu überwindende Schwierigkeiten stellen.

Die Entwicklung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ist durch legislative Reformen in den Mitgliedstaaten, eine anwachsende Judikatur nationaler Gerichte und die Diskussion um eine sekundärrechtliche Harmonisierungsmaßnahme auf Gemeinschaftsebene geprägt. Eine solche Maßnahme, die grundsätzlich auf Art. 83 oder 95 EG/‌103 oder 114 AEUV gestützt werden könnte, stellt ob der vielen Bezüge des Kartelldeliktsrechts zum allgemeinen Delikts- und Schadensrecht sowie zum Zivilprozessrecht eine Herausforderung dar. Diese Schwierigkeit geht mit dem Potenzial einher, als Impuls für eine über die europäische Kartellrechtsdurchsetzung hinausgehende de facto Harmonisierung zu wirken. Das gilt zum einen in Bezug auf die private Durchsetzung des nationalen Kartellrechts und zum anderen für die Erstreckung und Verallgemeinerung von Regelungen. So könnten etwa Vorgaben zum kollektiven Rechtsschutz durch Mitgliedstaaten nicht nur für kartellrechtliche Verfahren, sondern mit einem breiteren Anwendungsbereich umgesetzt werden. Die Vielzahl der Bezüge zu anderen Rechtsgebieten bedeutet aber auch, dass die private Durchsetzung des europäischen Kartellrechts selbst nach einer sekundärrechtlichen Maßnahme nicht ohne Rückgriff auf die nationalen Rechte auskommen dürfte.

Literatur

Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977; Wolfgang Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, 2003; Jürgen Basedow, Die Durchsetzung des Kartellrechts im Zivilverfahren, in: Carl Baudenbacher (Hg.), Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht, 2006, 353 ff.; Friedrich Wenzel Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006; Josef Drexl, Zur Schadensersatzberechtigung unmittelbarer und mittelbarer Abnehmer im europäisierten Kartelldeliktsrecht, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. I, 2007, 1339 ff.; Jürgen Basedow (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 2007; Thomas M.J. Möllers, Andreas Heinemann (Hg.), The Enforcement of Competition Law in Europa, 2007; Assimakis P. Komninos, EC Private Antitrust Enforcement: Decentralised Application of EC Competition Law by National Courts, 2008; Jacqueline Riffault-Silk, Private enforcement of European competition law: a short review of national judicial decisions, Revue Lamy de la concurrence 2008, 93 ff.; Friedrich Wenzel Bulst, Of Arms and Armour – The European Commission’s White Paper on Damages Actions for Breach of EC Antitrust Law, Bucerius Law Journal 2008, 81 ff.

Abgerufen von Kartellrecht, private Durchsetzung – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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