Common law: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 8. September 2021, 11:31 Uhr
von Stefan Vogenauer
1. Begriff
Der Begriff common law hat vier verschiedene Bedeutungen, die sich jeweils im Gegensatz zu anderen Gegenständen entwickelten. Ursprünglich bezeichnete er das „gemeine“, also in ganz England geltende Recht, das die königlichen Richter im Mittelalter unter allmählicher Verdrängung der lokalen Rechte schufen. Später verstand man darunter allgemeiner die Summe der Rechtssätze des Richterrechts im Gegensatz zum Gesetzes- und Gewohnheitsrecht. Im Bereich des Fallrechts bezeichnet der Begriff common law im engeren Sinne auch die von den königlichen Gerichten in Westminster (den sogenannten common law courts) entwickelten Rechtssätze im Gegensatz zu den Rechtsnormen der equity, die aus der eigenständigen Gerichtsbarkeit des Lordkanzlers hervorgingen. Letztere entstanden ursprünglich als Korrektiv zur einzelfallorientierten Abmilderung von Härten des formstrengen common law im Namen der Billigkeit, verfestigten sich aber später zu generell-abstrakten Regeln. Heute ist die Unterscheidung von common law und equity im englischen Recht nur noch von historischem Interesse.
Für die Entwicklung des europäischen Privatrechts ist lediglich die vierte Bedeutung des Begriffs common law relevant. Darin bezeichnet er die Gesamtheit der Rechtsordnungen, die sich auf das englische Recht zurückführen lassen. Aufgrund der imperialen Eroberungspolitik der Krone gerieten seit der frühen Neuzeit große Teile der Erdoberfläche unter englische Herrschaft. Dazu gehörten etwa Irland, die heutigen USA (ohne Louisiana), das heutige Kanada (ohne Quebec), Australien, Neuseeland, Jamaika, Indien und weitere asiatische, karibische und afrikanische Kolonien. In diesen Territorien wurde umgehend die Geltung des englischen Rechts begründet. In der Regel galt es zwar nur für bestimmte Rechtsgebiete, etwa das Handelsrecht, oder nur für die westliche Oberschicht, etwa im Familien- und Erbrecht. Dennoch prägte das englische Recht im Laufe der Zeit den Rechtsstil dieser Jurisdiktionen. Gegen Entscheidungen ihrer obersten Gerichte bestand der Rechtszug zum Privy Council in London, der eine weitgehende Einheitlichkeit des common law im gesamten Commonwealth sicherstellte. Diese anglo-amerikanische Rechtsfamilie wird im englischsprachigen Sprachraum gewöhnlich der kontinentaleuropäischen Rechtstradition des civil law gegenübergestellt.
2. Europäisches Privatrecht und die Dichotomie von common law und civil law
Die Existenz zweier Rechtstraditionen in Europa gilt vielen als Haupthindernis für jegliche Rechtsvereinheitlichung oder ‑harmonisierung in Europa, auch und gerade im Bereich des Privatrechts. Dabei ist die schlagwortartige Verwendung der Ausdrücke common und civil law zumindest ungenau. Erstens verbergen sich hinter dem Sammelbegriff civil law ganz unterschiedliche Rechtstraditionen, die kontinentale Rechtsvergleicher in der Regel in den romanischen, den germanischen und den nordischen Rechtskreis unterteilen. Auch diese Rechtstraditionen weisen untereinander erhebliche Unterschiede auf, die manchmal größer sind als die jeweiligen Divergenzen zum common law. Darüber hinaus umfasst das civil law auch außereuropäische Rechtsordnungen, vor allem die lateinamerikanischen Rechte. Zweitens sind die Rechtsordnungen des common law ebenfalls kein monolithischer Block. Als Faustformel darf gelten, dass die Rechte der ehemaligen Kolonien umso stärker vom englischen Recht abweichen, je länger ihre Unabhängigkeit zurückliegt und je früher sie den Rechtszug zum Privy Council abgeschafft haben. Das Recht der USA etwa weist heute derart viele, auch tiefliegende strukturelle Unterschiede zum englischen Recht auf, dass es zwar noch möglich scheint, aus historischer Perspektive von einer anglo-amerikanischen Rechtstradition zu sprechen, nicht aber im Hinblick auf die Gegenwart von „anglo-amerikanischem Recht“ zu reden. Ohnehin ist England die einzige nennenswerte Rechtsordnung des common law in Europa. Selbst das schottische Privatrecht, das jahrhundertelang von kontinentalen Rechtsentwicklungen geprägt und erst nach der politischen Vereinigung mit England im Jahre 1707 zunehmend vom englischen Recht beeinflusst wurde, gilt nicht als Rechtsordnung des common law im eigentlichen Sinne, sondern als Mischrechtsordnung, die zahlreiche Elemente des civil law aufweist. Im Hinblick auf das europäische Privatrecht sollten daher richtigerweise nicht common law und civil law, sondern englisches Recht und kontinentale Rechte einander gegenübergestellt werden.
3. Stilprägende Elemente des englischen Rechts
Ein unübersehbares Hindernis für die Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts sind zunächst die sogenannten „stilprägenden Rechtsinstitute“ des englischen Rechts, etwa der trust (Trust und Treuhand) oder die Lehre von der consideration (Seriositätsindizien). Weitaus gewichtiger sind aber die tiefer liegenden, strukturellen Besonderheiten, die sich aus der englischen Rechtsgeschichte erklären lassen. So ist das englische Recht traditionell Richterrecht. Jahrhundertelang wurden die gesetzgebenden Organe nur sporadisch tätig und überließen die Rechtserzeugung den Gerichten. Bis heute gelten daher auch die Richter, und nicht etwa die Professoren, als die tonangebende und angesehenste Berufsgruppe („Rechtshonorationen“) des englischen Rechts. Das lange Zeit geringe Ansehen der Rechtsgelehrten lässt sich auch darauf zurückführen, dass das englische Recht über Jahrhunderte nicht an den Universitäten gelehrt, sondern in den Londoner Zünften, den Inns of Court, von Richtern und Anwälten an die nachwachsenden Juristengenerationen weitergegeben wurde. Es zeichnet sich daher traditionell durch eine relativ geringere Verwissenschaftlichung und hohe Praxisnähe aus.
Wenig ausgeprägt ist demgemäß auch der Gedanke, das Recht stelle ein in sich geordnetes, geschlossenes und harmonisches Ganzes, ein „System“ dar. Lange Zeit standen einzelne Rechtsmassen, etwa common law und equity, unverbunden nebeneinander, und noch heute werden Bezüge zwischen verschiedenen Rechtsgebieten nicht besonders herausgestellt. Der juristische Denkstil besteht eher in einem induktiven Vorantasten von Fall zu Fall als in deduktiver Ableitung aus allgemeinen Prinzipien. Bekanntestes Beispiel im Privatrecht ist das Fehlen eines allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben, aus dem sich Handlungsanweisungen für den Einzelfall ableiten ließen. An seiner Stelle findet sich eine Vielzahl einzelner Rechtsfiguren, die mit Teilaspekten des Prinzips von Treu und Glauben funktionsäquivalent sind. Übersehen wird freilich häufig, dass auch das englische Recht mit weitgespannten Rechtsprinzipien operiert. So ist etwa das Vertragsrecht ganz vom Grundsatz der Vertragsfreiheit dominiert. Überhaupt betont das englische Privatrecht, insofern noch immer in einer langen liberalen Tradition stehend, ganz überwiegend die individuelle Freiheit der Rechtsunterworfenen und steht sozialstaatlichem Denken eher skeptisch gegenüber. Damit im Zusammenhang steht die starke Betonung der Rechtssicherheit. Sie ist der zentrale Rechtswert des englischen Privatrechts, selbst wenn sich dies im Einzelfall auf Kosten der materiellen Gerechtigkeit auswirken sollte. Hierbei spielt sicherlich eine Rolle, dass sich das englische Privatrecht zunächst hauptsächlich in den besonders rechtssicherheitsorientierten Gebieten des Immobiliarsachenrechts und des Handelsrechts entwickelte.
4. Konvergenz von common law und civil law?
Im Hinblick auf diese und andere stilprägende Elemente des englischen Rechts wird gelegentlich behauptet, die Mentalitätsunterschiede zwischen englischen und kontinentaleuropäischen Juristen seien unüberbrückbar. In der neueren Forschung wird diese Behauptung in zunehmendem Maße in Frage gestellt und die idealtypische Gegenüberstellung von common law und civil law als „überholte Unterscheidung“ bezeichnet (James Gordley). Dabei lassen sich drei Argumentationsstränge unterscheiden. Erstens hat vor allem Reinhard Zimmermann darauf hingewiesen, dass sich das englische Recht, anders als lange angenommen, nicht in völliger Isolierung vom kontinentalen ius commune entwickelte. Zwar wurde das römische Recht nie umfassend rezipiert. Doch gab es bis weit in das 18. Jahrhundert hinein zahlreiche Einfallstore für kontinentales Rechtsdenken. Zweitens entfaltet heute das Recht der Europäischen Gemeinschaft durch Rechtsangleichung weiter Gebiete eine zumindest oberflächlich nivellierende Tendenz. Drittens haben sowohl das englische Recht als auch die kontinentalen Rechtsordnungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschiedene Rechtsentwicklungen erfahren, durch die eine gewisse Annäherung erfolgt ist. So hat sich etwa das englische Recht durch den starken Aufschwung der Rechtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten zu einem gewissen Grade verwissenschaftlicht. Dagegen sind der Einfluss und die stilbildende Kraft der Rechtswissenschaft auf dem Kontinent stetig zurückgegangen, während die Rechtsprechung einen enormen Bedeutungsgewinn erfahren hat. Ferner kann das civil law nicht mehr einfach mit Gesetzesrecht und das common law nicht mehr ohne weiteres mit Richterrecht gleichgesetzt werden. Die Rechtsquellenlage ist auf beiden Seiten des Kanals wesentlich komplexer. Das bedeutet nicht, dass zwischen dem englischen Recht und den kontinentalen Rechtsordnungen keine signifikanten Unterschiede bestehen würden. Gleichzeitig erscheint jedoch die These der Unmöglichkeit eines europäischen Privatrechts aufgrund unüberbrückbarer Mentalitätsunterschiede als unhaltbar.
Literatur
Theodore F.T. Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956; Reinhard Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts: Historische Verbindungen zwischen civil law und common law, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 4 ff.; James Gordley, Common law und Civil law: Eine überholte Unterscheidung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 1 (1993) 498 ff.; Konrad Zweigert, Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl. 1996, 177 ff.; John H. Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002; Roger Cotterrell, The Politics of Jurisprudence, 2. Aufl. 2003, Kap. 2; Mathias Reimann, Die Erosion der klassischen Formen: Rechtskulturelle Wandlungen des Civil Law und Common Law im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 28 (2006) 209 ff.; H. Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, 3. Aufl. 2007, 227 ff.