Vertrieb

Aus HWB-EuP 2009

von Knut B. Pißler

1. Gegenstand und Zweck

Unter Vertrieb oder den synonym verwendeten Begriffen Absatz und Distribution werden alle Handlungen, Vorgänge und Verhältnisse verstanden, die den Weg eines Produkts vom Produzenten bis zur endgültigen produktiven oder konsumtiven Verwendung betreffen. Ein Unternehmen kann alle oder zumindest den überwiegenden Teil seiner Vertriebsaufgaben durch eigene, rechtlich und wirtschaftlich unselbständige Absatzorgane durchführen (direkter Vertrieb) oder die entsprechenden Funktionen zur Gänze oder überwiegend auf fremde, rechtlich und wirtschaftlich selbständige Absatzmittler übertragen (indirekter Vertrieb). Das Vertriebsrecht findet im Bereich des indirekten Vertriebs im Sinne eines Absatzmittlungsrechts seinen Schwerpunkt; hier geht es um das Recht der Vertriebsverträge von Belieferungs- und den Fachhändlerverträgen über die Vertragshändler-, Kommissionsagenten- und Handelsvertreterverträge (Handelsvertreter) bis hin zu Franchiseverträgen (Franchising). Der Direktabsatz über eigene Filialen oder Verkaufsangestellte (Reisende) ist seltener geworden, während neue Vertriebsformen wie der Vertrieb über so genannte Factory Outlet Centers oder das Teleshopping und der Internetvertrieb entstanden sind, bei denen sich insbesondere Fragen des Verbraucherschutzes (Verbraucher und Verbraucherschutz) stellen. Zu erwähnen ist auch der Strukturvertrieb (Multi-Level-Marketing), bei dem Endabnehmer und auch andere verkaufswillige Dritte aktiv in die Absatzstrategie des Unternehmens einbezogen werden. Der Strukturvertrieb ist von den so genannten Pyramiden- und Schneeballsystemen abzugrenzen, bei denen es nicht um den Verkauf von vertriebenen Waren oder Dienstleistungen geht, sondern ganz überwiegend um die Anwerbung weiterer Käufer als neue Mitglieder in der Vertriebsorganisation. Zivilrechtlich geht es bei diesen Vertriebsformen wegen des Einsatzes von Laienwerbung und progressiver Kundenwerbung vor allem um Fragen des unlauteren Wettbewerbs und der Sittenwidrigkeit (Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen).

Das Vertriebsrecht ist in Deutschland von der Zeit geprägt, in der es entstand. Ende des 19. Jahrhunderts lag in den allermeisten Branchen die Situation eines Verkäufermarkts vor, in dem die Hersteller keine Probleme mit dem Verkauf ihrer Waren hatten, sondern vielmehr damit, wie sie möglichst schnell und möglichst viel der begehrten Güter herstellen konnten. Die Hersteller handelten daher konsequenterweise produkt- und nicht absatzorientiert, da in der Situation des Verkäufermarktes die Produktion den maßgeblichen Engpassfaktor darstellte. Auf die Struktur des Handels hatte diese Wirtschaftsstruktur natürlich auch Auswirkungen: Der Handel war relativ einfach und undifferenziert, das Sortiment der angebotenen Waren war eng, da es relativ wenige Anbieter und mangels Sättigung der Konsumenten auch kein Bedürfnis nach mehr Differenzierung gab. Dementsprechend einfach ist das Vertriebsrecht des deutschen Handelsgesetzbuches aufgebaut, was sich insbesondere daran zeigt, dass allein die Figur des Handelsvertreters als dauerhaft in eine Absatzkooperation einbezogenen Absatzmittlers gesetzlich geregelt ist und als Leitbild des Vertriebsrechts gilt. Im Vertriebsrecht geht es um die Regelungsfragen, die auch im Handelsvertreterrecht eine wichtige Rolle spielen: Da Absatzmittler, insbesondere Vertragshändler und Franchisenehmer, zu Beginn der Absatztätigkeit für den Unternehmer zum Teil erhebliche Investitionen tätigen müssen und erst allmählich einen eigenen Kundenstamm aufbauen, besteht ein Bedürfnis nach einem Schutzmechanismus vor Abschluss und bei Beendigung der Verträge.

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

In keinem europäischen Rechtssystem gibt es eine gesetzliche Regelung für alle Formen des Vertriebs. Anwendung finden vielmehr die allgemeinen Vorschriften des jeweiligen Vertragsrechts, soweit es um das Zustandekommen, die Wirksamkeit und die Durchführung von Vertriebsverträgen geht. Hinzu kommen im Hinblick auf Vertriebsformen, bei denen der Absatzmittler in das Absatzsystem des Unternehmers stark einbezogen ist, Fragen des Schutzes des Absatzmittlers vor Abschluss des Vertriebsvertrages (vorvertragliche Informationspflichten) und bei der Beendigung von Vertriebsverträgen (Kündigungsschutz und Kundschaftsentschädigung).

Dementsprechend existierten in vielen Mitgliedstaaten zwingende Vorschriften zum Schutz des Handelsvertreters. Da andere Mitgliedstaaten die Vertragsfreiheit der Parteien und vor allem die des Unternehmers in der Ausgestaltung der Vertretungsverträge nicht einschränkten, kam es zu Wettbewerbsverzerrungen, so dass das Handelsvertreterrecht durch die Handelsvertreter-RL (RL 86/653) vom 18.12.1986 harmonisiert wurde.

Auch das Franchiserecht ist in Frankreich, Spanien, Italien und zuletzt in Belgien vor allem im Hinblick auf vorvertragliche Informationspflichten normiert worden, während die in den Mitgliedstaaten unterschiedlich beantwortete Frage nach einer Kundschaftsentschädigung bei Beendigung des Vertrags nicht Gegenstand der Regelungen ist. Rechtsprechung und Lehre diskutieren eine entsprechende Anwendung der Kundschaftsentschädigung des Handelsvertreterrechts, wobei eine klare Tendenz in den Mitgliedstaaten nicht auszumachen ist. Für die Frage, ob der Franchisenehmer einen Ausgleichsanspruch oder einen Schadensersatzanspruch gegen den Franchisegeber geltend machen kann, kommt es vielmehr auf die konkrete Ausgestaltung des Franchisevertrages und die Umstände bei der Kündigung desselben an.

Diese Fragen stellen sich auch im Recht des Vertragshändlers, welches in den Mitgliedstaaten kaum spezialgesetzlich geregelt ist. Belgien hat als einziger europäischer Staat einen spezifischen gesetzlichen Schutz des Vertragshändlers für den Fall der Beendigung eines Vertragshändlervertrags geschaffen (Gesetz vom 27.7. 1961 betreffend die einseitige Beendigung von exklusiven Vertragshändlerverträgen, abgeändert durch das Gesetz vom 13.4.1971). Alleinvertriebsverträge, die für unbestimmte Zeit abgeschlossen sind, können von beiden Seiten nur unter Wahrung einer angemessenen Kündigungsfrist oder unter Zahlung einer angemessenen Entschädigung beendet werden. Unabhängig von dieser Entschädigung kann der Vertragshändler eine zusätzliche Entschädigung in Form eines Ausgleichsanspruchs verlangen.

In den übrigen europäischen Staaten ist die Rechtslage uneinheitlich und nur schwer überschaubar. Im österreichischen Recht wird die analoge Anwendung des Handelsvertreterrechts auf Vertragshändler in unterschiedlichem Ausmaß befürwortet. Der handelsvertreterrechtliche Ausgleichsanspruch ist auf Vertragshändler nach ständiger Rechtsprechung dann analog anzuwenden, wenn sein Vertrag im Innenverhältnis den wesentlichen Merkmalen des Handelsvertretervertrags derart angenähert ist, dass dessen Elemente überwiegen und die Verwehrung des Ausgleichsanspruchs den Zielsetzungen des österreichischen Handelsvertretergesetzes zuwiderliefe, was vor allem für Kfz-Vertriebshändler im Regelfall angenommen wird. In Frankreich ist kein besonderer Kündigungsschutz für Vertragshändler vorgesehen. Statt eines Ausgleichsanspruches gewährt das französische Recht dem Vertragshändler in bestimmten Fällen (Missachtung einer vertraglichen Kündigungsfrist [rupture brusque] oder missbräuchliche Kündigung [rupture abusive]) einen Schadensersatzanspruch. In Spanien können Vertragshändlerverträge, die auf unbestimmte Zeit abgeschlossen wurden, auch ohne wichtigen Grund gekündigt werden, wobei dies allerdings nur in den Grenzen von Treu und Glauben zulässig ist, insbesondere muss die Kündigung unter Einhaltung einer angemessenen Frist angekündigt werden. Einen Ausgleichsanspruch gewährt die spanische Rechtsprechung bei Vertragshändlerverträgen nur bei rechtsmissbräuchlicher Kündigung sowie in dem Fall, dass als Folge der Kündigung für eine Partei die Möglichkeit entsteht, von der Arbeit der anderen Partei unangemessen zu profitieren. In den Niederlanden beruht das Kündigungsrecht für Vertragshändler allein auf der Heranziehung der Grundsätze von Angemessenheit und Billigkeit, wobei sich keine allgemeingültigen Regeln aus der Rechtsprechung ableiten lassen. Auch im Hinblick auf das Recht des Vertragshändlers auf Entschädigung bei Beendigung des Vertragshändlervertrages und hat gibt es bislang keine gefestigten Rechtsgrundsätze in den Niederlanden. Auch in Dänemark hat sich bislang keine einheitliche Rechtsprechung zum Kündigungsschutz des Vertragshändlers herausbilden können, während die Gerichte einen Ausgleichsanspruch im Einzelfall gewährt haben. In der Schweiz gewährt die Rechtsprechung Vertragshändlern einen Kündigungsschutz, während sie einen Ausgleichsanspruch grundsätzlich ablehnt, aber nicht für alle Fälle ausschließt. Im englischen Recht können auf unbestimmte Zeit abgeschlossene Vertragshändlerverträge unter Einhaltung einer angemessenen Frist gekündigt werden. Ein Ausgleich für den Verlust von Goodwill oder von künftigen Geschäften wird nicht gewährt. In Finnland, Norwegen und Schweden ist der Vertragshändler nicht besonders geschützt.

Ein wichtiges Problem beim Vertrieb jedenfalls durch Vertragshändler sind wettbewerbsbeschränkende Klauseln, deren Zulässigkeit nach dem nationalen und europäischen Kartellrecht zu prüfen ist. Es stellt sich dabei zunächst die Frage der Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auf den betreffenden Absatzmittler (Wettbewerbsregeln, Anwendbarkeit). Für die Freistellung vertikaler Vertriebsvereinbarungen (Vertikalvereinbarungen), die wettbewerbsbeschränkende Klauseln enthalten, ist die Gruppenfreistellungs-VO (VO 2790/1999) (Gruppenfreistellungsverordnungen) maßgeblich. Darüber hinaus hat die Kommission die Anwendung des Art. 81 EG/101 AEUV auf Vertriebsvereinbarungen in den Leitlinien für vertikale Beschränkungen näher konkretisiert.

3. Vereinheitlichungsprojekte

Im DCFR werden der Handelsvertreter, das Franchising und der Vertragshändler in einem eigenen Abschnitt geregelt. In einem allgemeinen Teil (Art. IV.E.-1:101 bis IV.E.-2:402) werden Pflichten der Vertragsparteien und Regelungen bei Vertragsbeendigung und Kündigung für alle drei Vertriebsformen festgelegt. Dort werden nicht abbedingbare vorvertragliche Informationspflichten, die vor allem für das Franchiserecht typisch sind, auf Unternehmer im Vertragshändler- und Handelsvertreterrecht ausgedehnt. Art. IV.E.-4:102 DCFR konkretisiert diese Informationspflichten inhaltlich aber besonders für den Franchisevertrag. Wegen der Rechtsfolge wird auf die Regelungen zum Irrtum im 7. Abschnitt des 2. Buches des DCFR verwiesen.

Die Regelung der Kündigungsfrist bei einseitiger Beendigung eines auf unbestimmte Zeit geschlossenen Vertrags in Art. IV.E.-2:302 DCFR lehnt sich stark an die entsprechende Regelung in der Handelsvertreterrichtlinie an und sieht zwingende Mindestfristen vor, die sich nach der Länge der Laufzeit des Vertrags richten. Eine Kundschaftsentschädigung wird zwar im allgemeinen Teil des DCFR normiert, ist jedoch vertraglich abdingbar und soll nur für den Handelsvertreter nach Art. IV.E.-3:312 DCFR zwingend gelten.

Literatur

Wolfram Küstner, Karl-Heinz Thume, Handbuch des gesamten Außendienstrechts, Bd. 3: Vertriebsrecht, 2. Aufl. 1998; Geert Bogaert, Ulrich Lohmann, Commercial Agency and Distribution Agreements, 3. Aufl. 2000; Michael Martinik, Franz-Jörg Semler, Stefan Habermeier (Hg.), Handbuch des Vertriebsrechts, 2. Aufl. 2003.

Abgerufen von Vertrieb – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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