Gemeinschaftsgeschmacksmuster

Aus HWB-EuP 2009

von Annette Kur

1. Gegenstand und Zweck; systematische Stellung

Der Begriff „Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ bezeichnet einen gemeinschaftsunmittelbaren, durch die VO 6/‌2002 (Gemeinschaftsgeschmacksmuster-VO, GGV) geschaffenen Rechtstitel, der einen immaterialgüterrechtlichen Schutz für die Erscheinungsform von Erzeugnissen verleiht. In den wesentlichen inhaltlichen Aspekten – Schutzgegenstand, Schutzvoraussetzungen, Schutzumfang und Schutzschranken – stimmen die materiellen Regelungen der GGV mit denjenigen der RL 98/‌71 (Geschmacksmuster-RL, GMRL) überein und entsprechen somit dem in Deutschland wie auch in anderen Mitgliedstaaten der EU geltenden Geschmacksmusterrecht.

Die Schaffung eines einheitlichen, gemeinschaftsweit gültigen Rechtstitels im Bereich des Geschmacksmusterrechts bezweckt die Überwindung der Territorialität nationaler Schutzrechte und wirkt dadurch der Aufspaltung des Gemeinsamen Marktes entgegen. Ferner wird auf diese Weise übernational tätigen Unternehmen ein attraktiver, weitreichender Schutz zur Verfügung gestellt. Durch eine besonders einfache, benutzerfreundliche Gestaltung des Eintragungsverfahrens soll ein Anreiz geschaffen werden, in großem Umfang von dieser Schutzmöglichkeit Gebrauch zu machen. Soweit dennoch Schutzlücken verbleiben, da die Eintragung von Geschmacksmustern auf nationaler oder Gemeinschaftsebene für bestimmte, stark modeabhängige Zweige designorientierter Industrien nicht als lohnend erscheint, wurde mit dem Rechtsinstitut des nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters ein Auffangtatbestand vorgesehen, der für innerhalb der Europäischen Gemeinschaft veröffentlichte, musterfähige Gestaltungen einen kurzfristigen Schutz gegen Nachahmung verleiht.

Ebenso wie das Gemeinschaftsmarkenrecht (Gemeinschaftsmarke) koexistiert das Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht mit den auf nationaler Ebene fortbestehenden Schutzsystemen. Der Schutzerwerb kann auf beiden Ebenen parallel erfolgen. Geschmacksmuster, die lediglich national geschützt werden, und die im Zuge des Rechtserwerbs öffentlich zugänglich gemacht werden, führen automatisch zur Entstehung eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters und genießen daher zumindest für dessen Laufzeit Nachahmungsschutz in allen anderen Mitgliedsländern.

Auf Gemeinschaftsebene können Formgebungen und graphische Symbole außer durch das Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht auch als Gemeinschaftsmarke geschützt werden; die inhaltliche Ausrichtung der Rechte sowie die Schutzvoraussetzungen und das Eintragungsverfahren weisen allerdings erhebliche Unterschiede auf. Auf der Ebene des nationalen Rechts werden Konkurrenz- und Abgrenzungsfragen vor allem im Verhältnis zwischen dem nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster und den Regelungen zum Schutz gegen unlauteren Wettbewerb oder entsprechenden Rechtsgrundsätzen akut. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob nach Ablauf des kurz bemessenen, gemeinschaftsrechtlichen Schutzes die Nachahmung der ursprünglich geschützten Form generell als zulässig gelten muss oder ob auf die Grundsätze des wettbewerbsrechtlichen Nachahmungsschutzes zurückgegriffen werden kann. Nach BGH 15.9.2005 – Jeans, GRUR 2006, 79 ist letzteres zumindest dann möglich, wenn die Unlauterkeit der Nachahmungshandlung nicht in der Übernahme der werthaltigen („eigenartigen“) Form, sondern in deren Kennzeichnungseignung begründet liegt, so dass unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die Schutzgewährung maßgeblich sind.

2. Das Gemeinschafts­ge­schmacksmuster im Einzelnen

Für die Einzelheiten des materiellen Schutzes von Gemeinschaftsgeschmacksmustern kann auf die insoweit übereinstimmenden Ausführungen zum Geschmacksmusterrecht verwiesen werden. Einzugehen ist daher lediglich auf diejenigen Aspekte des Gemeinschaftsgeschmacksmusterrechts, die – wie insbesondere das Eintragungsverfahren – in der GGV im Gegensatz zur GMRL explizit geregelt sind.

Die Anmeldung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern erfolgt beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM), das bei Schaffung des Gemeinschaftsmarkensystems als gemeinschaftsunmittelbare Behörde mit Sitz in Alicante gegründet wurde. Anmeldungen können entweder direkt beim HABM oder über die nationalen Patentämter eingereicht werden; in letzterem Fall leiten die Ämter die Anmeldeunterlagen unmittelbar, ohne eigene Prüfung, an das HABM weiter. Die Anmeldung muss Angaben zur Identität des Anmelders sowie eine reproduktionsfähige Wiedergabe der Gestaltung enthalten, für die Schutz begehrt wird („Muster“); anzugeben sind ferner auch die Erzeugnisse, in die das Muster aufgenommen oder für die es verwendet werden soll (Art. 36 GGV). Das HABM stellt fest, ob der angemeldete Gegenstand der Definition in Art. 4 GGV entspricht und nicht wegen Sittenwidrigkeit vom Schutz ausgeschlossen ist; im Übrigen beschränkt sich die Prüfung auf die formellen Erfordernisse – Vollständigkeit der Pflichtangaben, Entrichtung der fälligen Gebühren (Art. 45 GGV). Soweit mehrere Muster geschützt werden sollen, lassen sich Kostenvorteile durch die Zusammenfassung in einer Sammelanmeldung erzielen. Voraussetzung ist, dass die Erzeugnisse, in die die Muster aufgenommen werden sollen, derselben Klasse des vom HABM verwendeten, internationalen Klassifizierungssystems angehören (Art. 37 GGV). Der Anmelder kann ferner beantragen, dass die bildliche Bekanntmachung des Musters für einen Zeitraum von bis zu 30 Monaten aufgeschoben wird; auch dadurch verringern sich die Gebühren für die Anmeldung. Nach Ablauf des Aufschiebungszeitraums müssen die für die Veröffentlichung fälligen Gebühren nachentrichtet werden, wenn das Recht aufrechterhalten werden soll; anderenfalls verfällt es (Art. 50 GGV).

Nach der Eintragung werden Gemeinschaftsgeschmacksmuster im Amtsblatt des HABM veröffentlicht; bei Aufschiebung der Bildbekanntmachung beschränkt sich die Veröffentlichung auf die Daten zur Identität des Anmelders (Art. 49; Art. 50(3) GGV) Die Eintragung begründet die Vermutung der Rechtsgültigkeit des Gemeinschaftsgeschmacksmusters (Art. 85(1)). Dritte, die Einwände gegen die Rechtsgültigkeit geltend machen wollen, können die Nichtigkeitsabteilungen des HABM anrufen (Art. 52 GGV); daran schließt sich der Rechtszug zu den Beschwerdekammern des HABM sowie zum EuG und gegebenenfalls zum EuGH an (Art. 55 ff. GGV). Die mangelnde Rechtsgültigkeit kann ferner auch in Form der Widerklage im Rahmen von Verletzungsverfahren geltend gemacht werden. Zuständig sind insoweit die nationalen Gerichte, die von den Mitgliedstaaten als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte benannt worden sind (Art. 80, 81 GGV).

Eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster werden für fünf Jahre, berechnet ab dem Zeitpunkt der Anmeldung, geschützt. Der Schutz kann bis zu einer Gesamtdauer von 25 Jahren um jeweils fünf Jahre verlängert werden (Art. 12 GGV). Er richtet sich gegen jede innerhalb des Schutzbereichs liegende Erscheinungsform, ungeachtet dessen, ob das verletzende Muster in Kenntnis der geschützten Gestaltung erzeugt wurde (Art. 10 GGV). Ausnahmen von diesem Grundsatz bestehen in zwei Fällen: Solange die Bildbekanntmachung des Gemeinschaftsgeschmacksmusters aufgeschoben ist, ist der Schutz auf Nachahmungen beschränkt (Art. 19(3) GGV). Ferner bleibt derjenige, der zum Zeitpunkt der Anmeldung des Gemeinschaftsgeschmacksmusters (oder, bei Inanspruchnahme von Priorität nach Art. 4 PVÜ, zum maßgeblichen Prioritätszeitpunkt) bereits ein übereinstimmendes Muster gutgläubig in Benutzung genommen oder wesentliche Vorkehrungen dazu getroffen hat, berechtigt, das Muster auch weiterhin im bisherigen Umfang zu benutzen (Vorbenutzungsrecht, Art. 22 GGV).

Außer durch die Eintragung beim HABM kann ein Geschmacksmusterrecht auf Gemeinschaftsebene auch durch die Benutzung oder sonstige Zugänglichmachung erworben werden (nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster). Damit wurde erstmals ein Gemeinschaftstitel geschaffen, der keine Eintragung in einem zentralen Register voraussetzt. Um geschützt zu werden, muss das Muster die allgemeinen Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen; ferner muss die Benutzung oder Zugänglichmachung innerhalb der Gemeinschaft erfolgt sein (Art. 11 i.V.m. Art. 110a(5) GGV). Die Dauer des Schutzes beträgt drei Jahre ohne Verlängerungsmöglichkeit; er richtet sich gegen Nachahmungen, d.h., der Verletzer muss das Muster nachweislich gekannt haben (Art. 19(2) GGV).

Im Übrigen ist der Umfang des Schutzes eingetragener und nicht eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster der gleiche und entspricht damit auch den aufgrund der GMRL vereinheitlichten Bestimmungen des nationalen Rechts. Im Gegensatz zur GMRL, die diese Frage weitgehend dem nationalen Recht überlässt, sieht Art. 110 GGV vor, dass bis zum Inkrafttreten einer endgültigen, gemeinschaftsweiten Lösung der Schutz von Teilen komplexer Erzeugnisse nicht gegen deren Herstellung und Vertrieb zu Reparaturzwecken durchgesetzt werden kann, soweit die Teile notwendigerweise exakt nachgebaut werden müssen, um die Erscheinungsform des Originalprodukts wieder herzustellen.

Gemeinschaftsgeschmacksmuster können Gegenstand einfacher oder ausschließlicher Lizenzen sein; sie können ferner verpfändet werden und Gegenstand sonstiger dinglicher Rechte sein (Art. 29, 32 GGV). Bei einer Übertragung eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters wird der Rechtsübergang im Verhältnis zu Dritten erst wirksam, wenn eine entsprechende Eintragung im Gemeinschaftsgeschmacksmusterregister erfolgt ist (Art. 28(b) GGV). Entsprechendes gilt für Lizenzen und andere dingliche Rechte, die sich auf eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster beziehen, soweit nicht der Dritte beim Zeitpunkt des Rechtserwerbs Kenntnis von der Rechtshandlung hatte (Art. 33(2) GGV).

Für Klagen wegen Verletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern sind die von den Mitgliedstaaten benannten Gerichte als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte zuständig (Art. 80, 81 GGV). Soweit eine bereits erfolgte oder drohende Verletzung festgestellt wird, sieht die GGV folgende Sanktionen vor: Anordnung der Untersagung; Anordnung der Beschlagnahme der nachgeahmten Erzeugnisse sowie der Materialien und Werkzeuge, die vorwiegend zu deren Herstellung benutzt worden sind; Anordnung anderer, den Umständen angemessenen Sanktionen, die in der Rechtsordnung einschließlich des internationalen Privatrechts des Mitgliedstaates vorgesehen sind, in dem die Verletzungshandlungen vorgenommen wurden oder drohen (Art. 89(1)(a)-(d) GGV).

Literatur

Alexander Bulling, Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 2003; Catherine Jenewein, Europäischer Designschutz durch nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 2003; Ulrike Koschtial, Das Gemeinschaftsgeschmacksmuster: Die Kriterien der Eigenart, Sichtbarkeit und Funktionalität, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil 2003, 973 ff.; Peter Schramm, Der europaweite Schutz des Produktdesigns, 2005; Eckhart Gottschalk, Sylvia Gottschalk, Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil 2006, 461 ff.; Oliver Rühl, Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 2007; Birgit Reinisch, Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster und sein Verhältnis zum wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz, 2008; Nils Weber, Entscheidungspraxis des HABM zur Nichtigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 2008, 115 ff.

Abgerufen von Gemeinschaftsgeschmacksmuster – HWB-EuP 2009 am 19. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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