Durchgriff und Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit: Unterschied zwischen den Seiten

Aus HWB-EuP 2009
(Unterschied zwischen Seiten)
 
 
Zeile 1: Zeile 1:
von ''[[Felix Steffek]]''
von ''[[Tobias Tröger]]''
== 1. Grundlagen ==
== 1. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen ==
=== a) Terminologie ===
Historisch nehmen Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit eine Sonderstellung unter den [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] ein, da sie erst spät zu vollwertigen, primärrechtlichen Liberalisierungsgeboten erhoben wurden. Ursprünglich begründete Art. 67(1) EWGV auch nach der Übergangszeit nur eine Verpflichtung, den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten soweit zu liberalisieren, wie dies für das „Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig“ war (vgl. EuGH Rs. 203/‌80 – ''Casati'', Slg. 1981, 2595, Rn. 10). Daher konnten zunächst nur sekundärrechtliche Maßnahmen zu über das Primärrecht hinausgehenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten führen, Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zu beseitigen. Allerdings trieb der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] auch unter diesen Rahmenbedingungen die Entwicklung in Richtung einer umfassenden Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit voran. Er erklärte den Liberalisierungsauftrag aus Art. 1 Kapitalverkehrs-RL (RL 88/‌361) für unmittelbar anwendbar (EuGH Rs. C-358/‌93 – ''Bordessa'', Slg. 1995, I-361, Rn. 33 ff.) und schuf so eine „sekundärrechtliche Grundfreiheit“. Die Entscheidung stimmte mit dem Willen der Mitgliedstaaten überein, die Kapitalverkehrsfreiheit im Vertrag von Maastricht in den Status einer primärrechtlichen Grundfreiheit mit unmittelbarem Liberalisierungsauftrag zu erheben (Art. 73b (1) EG a.F.). Im Zuge dieser Reform des Primärrechts wurde dabei auch die bis dahin in Art. 106 EWGV geregelte Zahlungsverkehrsfreiheit systematisch der Kapitalverkehrsfreiheit zugeschlagen (Art. 73b(2) EG a.F.) und so ihr Charakter als selbständige Grundfreiheit betont. Die Verträge von Amsterdam und Lissabon brachten gegenüber dem so erreichten Stand keine sachlichen Veränderungen.
Mit dem Schlagwort „Durchgriff“ werden Fälle bezeichnet, in denen die rechtliche Selbstständigkeit der juristischen Person Ausnahmen erfährt. Die Terminologie des Durchgriffs trägt in vielen europäischen Rechtsordnungen sehr bildhafte Züge. In der englischen Rechtssprache sind die Formeln „piercing the corporate veil“ und „lifting the corporate veil“ gebräuchlich. In Spanien hat sich der Ausdruck „levantamiento del velo de la persona jurídica“ durchgesetzt. In den Niederlanden spricht man von „doorbraak“, und in der französischen Rechtssprache ist die Wendung „la levée du voile social“ geläufig.


Die Metaphern „Durchgreifen“, „Durchstoßen“ und „Anheben des Vorhangs“ veranschaulichen zwar das Sachproblem, wonach die strikte Trennung der Rechtsbeziehungen der juristischen Person von den rechtlichen Verhältnissen ihrer Mitglieder in Ausnahmesituationen als unbefriedigend angesehen wird. Der Lösung der Durchgriffsproblematik förderlich ist allerdings eine funktionale Analyse im ersten Schritt, gefolgt von einer methodischen Stringenz im zweiten.
== 2. Kapitalverkehrsfreiheit ==
=== a) Ordnungspolitisches Anliegen ===
Die primärrechtliche Garantie der Freiheit des Kapitalverkehrs in Art. 56(1) EG/‌63(1) AEUV beruht auf fundamentalen, ordnungspolitischen Erwägungen. Sie entspringt der Überzeugung, dass die optimale Allokation der knappen Ressource Kapital in erster Linie durch dezentrale Entscheidungen von Marktakteuren gewährleistet wird. Einschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs führen daher grundsätzlich zu gesamtgesellschaftlich nicht wünschenswerten Wohlfahrtsverlusten. Die weitreichende wettbewerbspolitische Stoßrichtung der in Rede stehenden Grundfreiheit wird daran deutlich, dass über die Integration des [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarktes]] hinaus auch die Freiheit des Kapitalverkehrs mit Drittstaaten gewährleistet wird.


=== b) Funktionen ===
=== b) Begriffsbestimmung ===
Durchgriffsfälle werden ''funktional'' in zwei Kategorien eingeteilt: Haftungsdurchgriff und Zurechnungsdurchgriff. Beim ''Haftungsdurchgriff'' wird die Trennung des Vermögens der juristischen Person vom Privatvermögen ihrer Mitglieder ganz oder teilweise aufgehoben. Beim ''Zurechnungsdurchgriff'' wird die Unterscheidung der juristischen Person von ihren Mitgliedern insofern aufgegeben, als Umstände, welche die Rechtsperson betreffen, ausnahmsweise für die Rechtsverhältnisse der Mitglieder relevant sind (oder ''vice versa''). Beiden – hier funktional verstandenen Kategorien – ist gemein, dass das Prinzip der Trennung von Verband und Verbandsmitgliedern (''Trennungsprinzip'') ausnahmsweise durchbrochen wird. Der Haftungsdurchgriff betrifft die Trennung der Vermögensmassen, der Zurechnungsdurchgriff die Trennung der Rechtsverhältnisse und der ihnen zugrundeliegenden Umstände, ohne dass die Vermögenstrennung besonders berührt wird.
Aus Art. 57 EG/‌64 AEUV ist zu schließen, dass die Kapitalverkehrsfreiheit jedenfalls Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien sowie grenzüberschreitende Kapitalverschiebungen im Zusammenhang mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren umfasst. Bei der weiteren Konkretisierung des primärrechtlichen Begriffs kommt den in Annex I der Kapitalverkehrs-RL aufgeführten Transaktionen Hinweischarakter zu, jedoch kann das Richtlinienrecht den Inhalt der Grundfreiheit letztlich nicht determinieren. Erfasst sind vielmehr sämtliche Transfers von Bar- oder Sachkapital über die Grenzen eines Mitgliedstaates, wenn sie zu Investitionszwecken erfolgen.


Im Zentrum der Durchgriffsdiskussion steht die Haftung der Mitglieder einer haftungsbeschränkten Gesellschaft (''private company limited by shares ''(''[[Private Limited Company (in England und Wales)|Private Limited Company]]; ''nachfolgend:'' Limited''), [[Gesellschaft mit beschränkter Haftung]] (GmbH), ''société à responsabilité limitée'' (SARL), etc.) für die Schulden der insolventen Gesellschaft. Dabei handelt es sich zwar um die wichtigste Konstellation des Haftungsdurchgriffs, aber nicht um die einzige. Die Rechtspraxis beschäftigen auch Fälle, in denen Gläubiger eines Gesellschafters auf das Vermögen der Gesellschaft zugreifen wollen. In Ungarn können die Privatgläubiger eines Gesellschafters nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs dann in das Gesellschaftsvermögen der juristischen Person vollstrecken, wenn der Gesellschafter durch einen gläubigerschädigenden, Haftungsdeckung entziehenden Vertrag gemäß § 203 des ungarischen ZGB Privatvermögen auf die Gesellschaft überträgt (Rechtseinheitlichkeitsbeschluss 1/2002 PJE vom 25.6.2002).
Der eindeutige Wortlaut des Art. 56(1) EG/‌63 (1) AEUV und die Sonderregeln des Art. 57 EG/‌64 AEUV verdeutlichen, dass die Regelung über das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten hinauszielt und auch der freie Kapitalverkehr mit Drittstaaten gewährleistet wird. Auch deren Bürger können sich nach verbreiteter Meinung vor den Gerichten der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen.


Eine typische Konstellation eines Zurechnungsdurchgriffs behandelt die englische Entscheidung ''Re F.&nbsp;G. (Films) Ltd.''<nowiki> [1953] 1 WLR 483). Um in den Genuss rechtlicher Vorteile zu kommen, welche nur britischen Filmproduzenten zustanden, hatte eine US-amerikanische Gesellschaft eine englische </nowiki>''Limited ''gegründet. Die Finanzierung des Films übernahm die US-amerikanische Gesellschaft; auch die Verträge mit den Schauspielern und sonstigen Mitarbeitern wurden nicht durch die englische ''Limited'' abgeschlossen. Die zur Entscheidung berufene ''Chancery Division'' lehnte die Registrierung als britischen Film ab. Die das Ergebnis stützende Auslegung des ''Cinematograph Films Act 1938'' und ''1948'' begründete das Gericht vor allem damit, dass Finanzierung und Produktion in den Händen der US-amerikanischen Gesellschaft und nicht der ''Limited'' gelegen hätten.
=== c) Verhältnis zu anderen Grundfreiheiten ===
Das Verhältnis der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zu den anderen Grundfreiheiten spielt nicht nur im Hinblick auf die besonderen Beschränkungsmöglichkeiten im Steuerrecht eine große Rolle, vgl. Art.&nbsp;58(1)(a) EG/‌63(1)(a) AEUV. Sie ist auch noch nach der Nivellierung des ursprünglichen Liberalisierungsgefälles für das Privatrecht von erheblicher Bedeutung. Dies folgt in erster Linie daraus, dass die Rechtfertigung privatrechtlicher Beschränkungen von Grundfreiheiten trotz abstrakt gleichförmiger Legitimitätsvoraussetzungen nicht zuletzt dadurch präjudiziert wird, welches Liberalisierungsgebot konkret als einer Beschränkung unterworfen betrachtet wird. Insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Freiheitsbeeinträchtigung kann stets nur im Kontext der betroffenen Gemeinschaftspolitik beurteilt werden.


=== c) Methoden ===
Im Ausgangspunkt kommt es darauf an, ob die grenzüberschreitende Kapitalbewegung Anlage- bzw. Investitionszwecken dient oder ob mit ihr andere Ziele verfolgt werden. Zahlungen mit Vergütungscharakter im Rahmen von Transaktionen auf dem Gebiet der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit unterfallen daher nicht der Kapitalverkehrsfreiheit (EuGH verb. Rs. 286/‌82 und 26/‌83 – ''Luisi und Carbone'', Slg.&nbsp;1984, 377, Rn.&nbsp;21&nbsp;f.; EuGH verb. Rs.&nbsp;C-163/‌94, C-165/‌94 und C-250/‌94 – ''Sanz de Lera'', Slg.&nbsp;1995, I-4821, Rn.&nbsp;17). Überschneidungen mit anderen Grundfreiheiten sind aber denkbar, weil Investitionen nicht selten der Inanspruchnahme anderer, primärrechtlich garantierter Freiheiten dienen werden. Die Investition in Wertpapiere kann beispielsweise das durch die [[Niederlassungsfreiheit]] geschützte Ziel haben, eine ausländische Tochtergesellschaft zu erwerben oder dem durch die [[Dienstleistungsfreiheit]] garantierten Zweck entsprechen, als Wertpapierhändler aufzutreten.
Bei der Durchgriffsmethode handelt es sich im Unterschied zur funktionalen Analyse der wirtschaftlichen Durchgriffsfolgen um die ''Rechtstechnik'', mit der das Trennungsprinzip überwunden wird. In der rechtsvergleichenden Umschau ergibt sich diesbezüglich ein uneinheitliches Bild. Zudem ist in vielen europäischen Rechtsordnungen, darunter die deutsche, englische und französische, eine endgültige Klärung der Durchgriffsdogmatik noch nicht gelungen. Im deutschen Recht lässt sich dies an der unsteten Dogmatik der gesellschafterlichen Existenzvernichtungshaftung im Verlauf der vergangenen Jahre nachvollziehen, insbes. an der Entwicklung der Rechtsprechung von einer gesellschaftsrechtlichen Strukturhaftung zu einer Deliktshaftung gemäß §&nbsp;826 BGB.


Neben der gesetzlichen Anordnung eines funktionalen Durchgriffs sind häufige Durchgriffsmethoden die extensive bzw. restriktive Anwendung von Rechtsnormen (Gesetz, Vertrag) sowie die vollständige oder teilweise Missachtung der Selbstständigkeit der juristischen Person. Ein Beispiel für die gesetzliche Anordnung eines funktionalen Haftungsdurchgriffs ist die neue Haftung der GmbH-Gesellschafter bei Führungslosigkeit und materieller [[Insolvenz der Kapitalgesellschaft|Insolvenz]] gemäß §&nbsp;823 Abs.&nbsp;2 BGB i.V.m. §&nbsp;15a Abs.&nbsp;3 InsO für die Schulden der haftungsbeschränkten Gesellschaft. ''Gilford Motor Company Ltd v. Horne''<nowiki> [1933] Ch 935 (CA) ist ein Fall der extensiven Anwendung eines Vertrages. Das Gericht erstreckte die Anwendung eines dienstvertraglichen Wettbewerbsverbots auf eine durch Strohmänner des Unterlassungsverpflichteten gehaltene und geleitete Gesellschaft. Bei funktionaler Betrachtung wurde so ein Zurechnungsdurchgriff erreicht. Die französische, auf Richterrecht beruhende Doktrin der Vermögensvermischung (</nowiki>''confusion des patrimoines'') illustriert schließlich, wie Gerichte die Selbstständigkeit der juristischen Person nicht anerkennen und so einen funktionalen Haftungsdurchgriff herbeiführen. Danach haftet der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, wenn sein Vermögen mit dem Vermögen der Gesellschaft untrennbar vermischt ist.
<nowiki>Kommt es zu einer gleichzeitigen Betroffenheit von Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit (wie z.B. bei Beschränkungen des grenzüberschreitenden Erwerbs von Betriebsgrundstücken oder maßgeblichen Unternehmensbeteiligungen im Gegensatz zu reinen Finanzbeteiligungen [Portfolioinvestitionen]) geht der </nowiki>[[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] in seiner jüngeren Rechtsprechung ausdrücklich von einer kumulativen Anwendbarkeit der Art.&nbsp;43, 48 EG/‌49, 54 AEUV und Art.&nbsp;56(1) EG/‌63(1) AEUV aus (Rs.&nbsp;C-302/‌97 – ''Konle'', Slg. 1999, I-3099, Rn.&nbsp;22). Der Niederlassungsfreiheit kommt auch dann kein Vorrang zu, wenn die Direktinvestition in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt, um dort einer selbständigen wirtschaftlichen Betätigung nachzugehen. Der EuGH sieht sich lediglich durch die festgestellte Verletzung einer Grundfreiheit von der detaillierten Prüfung der anderen entbunden (Rs.&nbsp;C-483/‌99 – ''Kommission/‌‌Frankreich'', Slg. 2002, I-4781, Rn.&nbsp;56; Rs.&nbsp;C-98/‌01 – ''Kommission/‌Vereinigtes Königreich'', Slg.&nbsp;2003, I-4641, Rn.&nbsp;52; Rs.&nbsp;C-463/‌00 – ''Kommission/‌‌Spanien'', Slg.&nbsp;2003, I-4581, Rn.&nbsp;86). Allerdings kann eine zulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht wegen Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verworfen werden, Art.&nbsp;58(2) EG/‌65(2) AEUV.


=== d) Durchgriff bei Personengesellschaften und Durchgriff auf den Geschäftsleiter ===
Sowohl die Definitionsnorm des Art.&nbsp;50(1) EG/‌57(1) AEUV als auch das Abstimmungsgebot in Art.&nbsp;51(2) EG/‌58(2) AEUV lassen sich dahin verstehen, dass die Kapitalverkehrsfreiheit für Finanzdienstleistungen ein Sonderregime begründet, hinter dem die Garantie der Dienstleistungsfreiheit zurücktritt. In der Tat hat der EuGH, sowohl vor als auch nach der vollständigen Liberalisierung, in einigen Entscheidungen einen solchen Vorrang der Regelungen zum Kapitalverkehr angenommen (Rs.&nbsp;267/‌86 – ''ASPA'', Slg.&nbsp;1988, 4769, Rn.&nbsp;22–25; Rs.&nbsp;C-222/‌99 – ''Parodi'', Slg.&nbsp;1997, I-3899, Rn.&nbsp;9; Rs.&nbsp;C-222/‌97 – ''Trummer und Mayer'', Slg.&nbsp;1999, I-1661). Seine Rechtsprechung folgt allerdings nicht einheitlich dieser Linie, sondern wendet in einzelnen Entscheidungen beide Grundfreiheiten parallel an (Rs.&nbsp;C-484/‌93 – ''Svensson und Gustavsson'', Slg.&nbsp;1995, I-3955, Rn.&nbsp;10&nbsp;f.; Rs.&nbsp;C-118/‌96 – ''Safir'', Slg.&nbsp;1998, I-1897, Rn.&nbsp;35; Rs.&nbsp;C-410/‌96 – ''Ambry'', Slg.&nbsp;1998, I-7875, Rn.&nbsp;40). Dabei ist freilich zu betonen, dass die praktische Relevanz der unterschiedlichen dogmatischen Ansätze begrenzt ist. In den Fällen der kumulativen Anwendung der Grundfreiheiten ging die Rechtsprechung nämlich stets – implizit oder ausdrücklich – von einem gleichzeitigen Verstoß der jeweiligen Hoheitsakte gegen Art. 49(1) EG/‌56(1) AEUV und Art. 56(1) EG/‌63 (1) AEUV aus. Die Sachentscheidungen hätten also auch bei Annahme eines Subsidiaritätsverhältnisses nicht anders gelautet.
Bislang war vom Durchgriff nur im Kontext der juristischen Person und ihrer Anteilseigner die Rede. Indes besteht die Durchgriffsproblematik bei allen Rechtssubjekten, die keine natürlichen Personen sind, darunter vor allem bei den rechtsfähigen Personenhandelsgesellschaften. So hatte der Bundesgerichtshof (BGH 12.11.1984, BGHZ 93, 146) über einen Fall zu entscheiden, in dem die Gesellschafter einer GmbH & Co. KG ihr Privatvermögen mit dem Vermögen der KG vermischt hatten. Der Verständlichkeit wegen und der praktischen Relevanz entsprechend wird im Folgenden allerdings nur von der juristischen Person die Rede sein.


Zwar nicht im deutschen, aber etwa im englischen und französischen Recht bekannt, ist die Figur des Haftungsdurchgriffs auf den ''Geschäftsleiter''. Geht man davon aus, dass die Organe beim Handeln für die Gesellschaft nur die Gesellschaft und nicht sich selbst verpflichten, ist diese Figur unter funktionalen Gesichtspunkten erhellend. Die Haftung eines Geschäftsleiters für die Gesellschaftsschulden stellt sich in funktionaler Perspektive ebenso als Haftungsdurchgriff dar wie die Haftung des Gesellschafters für die Gesellschaftsverbindlichkeiten.
=== d) Reichweite des Beschränkungsverbots ===
Der EuGH hat bisher abstrakt-generelle Aussagen zum Begriff der Beschränkung im Rahmen des Art.&nbsp;56(1) EG/‌63(1) AEUV vermieden und die Frage im Wesentlichen einzelfallbezogen judiziert. Neben den die Rechtsprechung immer wieder beschäftigenden steuer- und devisenverkehrsrechtlichen Regelungen sind Beschränkungen mit privatrechtlicher Relevanz insbesondere angenommen worden bei Genehmigungs-, Anzeige- und Erklärungspflichten vor dem Kauf von Grundstücken durch Bürger anderer Mitgliedstaaten (z.B. EuGH Rs.&nbsp;C-423/‌98 – ''Albore'', Slg.&nbsp;2000, I-5965, Rn.&nbsp;16) oder bei entsprechenden Pflichten im Fall des Erwerbs von Beteiligungen an Unternehmen (EuGH Rs.&nbsp;C-54/‌99 – ''Scientology'', Slg.&nbsp;2000, I-1335, Rn.&nbsp;14&nbsp;f.). Neben derartigen unmittelbaren Eingriffen in den Kapitalverkehr sind aber auch nur indirekt wirkende Maßnahmen, die einen grenzüberschreitenden Kapitaltransfer unattraktiver gestalten, als relevante Beschränkungen behandelt worden, z.B. im Fall von staatlichen Zinsvergünstigungen, die an den Sitz der kreditgebenden Bank im Inland anknüpften (EuGH Rs.&nbsp;484/‌93 – ''Svensson und Gustavsson'', Slg.&nbsp;1995, I-3955, Rn.&nbsp;10). Gleichsinnig wurden gesellschaftsrechtliche Regelungen als Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit beurteilt, die in bestimmten Wirtschaftsbereichen Sonderrechte zugunsten des Staates begründeten und durch die resultierende asymmetrische Verteilung der Anteilseignerrechte von grenzüberschreitenden Investitionen abzuhalten geeignet waren (vgl. ausführlich unten f)). In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der EuGH anerkannt hat, dass auch die Kapitalverkehrsfreiheit über die ausdrücklichen Ausnahmen des Primärrechts hinaus zum Schutz zwingender Gründe des Allgemeininteresses beschränkt werden kann (Rs.&nbsp;C-35/‌98 – ''Verkooijen'', Slg.&nbsp;2000, I-4071, Rn.&nbsp;46&nbsp;ff.; implizit bereits EuGH Rs.&nbsp;C-148/‌91 – ''Veronica'', Slg.&nbsp;1993, 487, Rn.&nbsp;9, 13, 15). Diese Rechtsprechung lehnt sich erkennbar an die ''Cassis-de-Dijon''-Formel an (EuGH, Rs.&nbsp;120/‌78 – ''Cassis de Dijon'', Slg.&nbsp;1979, 649). Diese ist aber ihrerseits nur als Gegenstück zu dem weit interpretierten Beschränkungsbegriff unter der ''Dassonville''-Formel zu verstehen (EuGH Rs.&nbsp;8/‌74 – ''Dassonville'', Slg.&nbsp;1974, 837). Daraus kann geschlossen werden, dass sich auch die Kapitalverkehrsfreiheit in die sich verstärkt ausbildende, allgemeine Dogmatik der Grundfreiheiten einfügt und eine Beschränkung des Kapitalverkehrs vorliegt, wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen unmittelbar oder mittelbar, aktuell oder potentiell den grenzüberschreitenden Kapitalfluss behindern, begrenzen oder untersagen. Es liegt auf der Linie dieser Entwicklung, auch die ''Keck''-Rechtsprechung (EuGH verb. Rs.&nbsp;C-267 und C-268/‌91 – ''Keck'', Slg.&nbsp;1993, I-6097) für die Kapitalverkehrsfreiheit fruchtbar zu machen und auf diese Weise unterschiedslose Maßnahmen, die lediglich die Modalitäten für Investitionen regeln, wie z.B. Beurkundungspflichten, Publizitätsvorschriften etc., aus dem Eingriffsbegriff von vornherein auszunehmen.


Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die ''wrongful trading''-Haftung der Direktoren nach sec. 214 des englischen ''Insolvency Act 1986'' in der 8.&nbsp;Auflage des ''Gower & Davies'' unter der Überschrift „Exceptions to Limited Liability“ (Ausnahmen von der Haftungsbeschränkung) geführt und die französische Haftung der formellen und de facto Direktoren gemäß Art. L.&nbsp;651-2 ''Code de Commerce'' (''responsabilité pour insuffisance d’actif'') als Ausnahme von der Haftungsbeschränkung verstanden wird.
=== e) Rechtfertigung von Beschränkungen ===
<nowiki>Für bestimmte Aspekte des Kapitalverkehrs mit Drittländern erlaubt Art.&nbsp;57 EG/‌64 AEUV weitergehende Beschränkungen als sie im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander gerechtfertigt sind. Abs.&nbsp;1 legitimiert die Beibehaltung der Beschränkungen gegenüber Drittstaaten, die am 31.12.1993 in Kraft waren, und beinhaltet somit im Umkehrschluss ein Verschlechterungsverbot. Der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten soll so die Beibehaltung von Reziprozitätsvorschriften ermöglicht werden (z.B. Art.&nbsp;41 Börsenzulassungs-RL [RL&nbsp;2001/‌34]), um letztlich im Verhandlungsweg eine vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs zu erreichen. Art.&nbsp;57(2) EG/‌64(2) AEUV erweitert die Handlungsoptionen gegenüber Drittstaaten und ermöglicht so eine flexible und robuste Verhandlungsführung. Die Bestimmung erlaubt der Gemeinschaft, aber nicht den Mitgliedstaaten, den Kapitalverkehr mit Drittstaaten auch durch neue Rechtsakte zu beschränken und dabei sogar hinter den erreichten Liberalisierungsstand zurückzugehen.</nowiki>


Klärungsbedürftig ist in beiden Fällen allerdings die Auffassung, dass es sich dabei um einen Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter handele, sofern dieser als faktischer Geschäftsleiter in die Haftung genommen werde. Richtig ist vielmehr, dass es sich um einen funktionalen Haftungsdurchgriff auf einen Geschäftsleiter handelt. Dieses Verständnis vermag zum einen die Anwendung von Normen der Geschäftsleiterhaftung zwanglos erklären und erleichtert zum anderen die Bestimmung der Tatbestandsvoraussetzungen: Die Haftung greift, wenn der Gesellschafter funktional als Geschäftsleiter handelt. Auch der Durchgriff auf den Geschäftsleiter bleibt im Folgenden aus Platzgründen außen vor.
Im Übrigen sind Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten – aber auch gegenüber Drittstaaten – zulässig, wenn sie auf der Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften beruhen, die eine unterschiedliche Behandlung von Steuerpflichtigen an den Wohn- oder Kapitalanlageort knüpfen (Art.&nbsp;58(1)(a) EG/‌ Art. 65(1)(a) AEUV. Entsprechende Regelungen müssen aber zum Rechtsbestand der Mitgliedstaaten Ende 1993 gehört haben (vgl. die verbindliche Erklärung zu Art.&nbsp;73d EG des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen des Vertrags über die Europäische Union vom 7.2.1992) und tatsächlich miteinander objektiv nicht vergleichbare Konstellationen erfassen (EuGH Rs.&nbsp;C-35/‌98 – ''Verkooijen'', Slg.&nbsp;2000, I-4071, Rn.&nbsp;43). Darüber hinaus können unerlässliche Kontrollmaßnahmen und Meldeverfahren sowie Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Kapitalverkehrsfreiheit rechtmäßig beschränken (Art.&nbsp;58(1)(b) EG/‌65 Abs.&nbsp;(1)(b) AEUV. Bei letzterer Bestimmung handelt es sich um eine spezielle Ausprägung der Gemeinwohlerwägungen, die als „zwingende Erfordernisse“ im Sinne der ''Cassis''-Rechtsprechung unterschiedslose Beschränkungen der anderen Grundfreiheiten rechtfertigen können. Der EuGH formuliert daher auch ganz allgemein, nicht diskriminierende Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit könnten rechtmäßig „aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ erfolgen (z.B. Rs.&nbsp;C-174/‌04 – ''Kommission/‌Italien'', Slg.&nbsp;2005, I-4933, Rn.&nbsp;35). Als solche anerkannt wurden z.B. die Kohärenz der Steuergesetzgebung (EuGH Rs.&nbsp;C-319/‌02 – ''Manninen'', Slg.&nbsp;2004, I-7498, Rn.&nbsp;28) oder der Schutz eines pluralistischen, nicht-kommerziellen Rundfunksystems (EuGH Rs.&nbsp;C-148/‌91 – ''Veronica'', Slg.&nbsp;1993, 487, Rn.&nbsp;10). Verworfen wurde demgegenüber die Verfolgung allgemein wirtschaftspolitischer Ziele (EuGH Rs.&nbsp;C-35/‌98 – ''Verkooijen'', Slg.&nbsp;2000, I-4071, Rn. 48).


== 2. Haftungsdurchgriff ==
Verboten sind jedenfalls willkürlich diskriminierende oder verschleiert beschränkende Maßnahmen. Im Licht der ihrerseits bereits anerkennenswerte sachliche Gründe und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme erfordernden Rechtfertigungstatbestände kommt der ausdrücklichen Untersagung des Art.&nbsp;58(3) EG/‌65(3) AEUV allerdings wenig eigenständige Bedeutung zu.
=== a) Funktionale Definition ===
Angesichts der dargestellten, verschiedenen Rechtstechniken mittels derer in den europäischen Rechtsordnungen eine Gesellschafterhaftung für die Schulden der haftungsbeschränkten Rechtsperson erreicht wird, stellt sich das Problem, welche Normen die Grundlage eines Vergleichs des Haftungsdurchgriffs in Europa bilden. Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt sich die Orientierung an einer funktionalen Definition des Haftungsdurchgriffs. Mit ihrer Hilfe lassen sich diejenigen Normen identifizieren, die in einen solchen Vergleich mit einzubeziehen sind.


Ein funktionaler Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter einer haftungsbeschränkten Gesellschaft liegt unter zwei Bedingungen vor: eine Person muss (1)&nbsp;in ihrer ''Funktion als Gesellschafter'' (2)&nbsp;''mehr Risikokapital'' beitragen ''als ex ante betragsmäßig begrenzt versprochen''.
=== f) Problematik der „Goldenen Aktien“ et al. ===
Die primärrechtliche Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit hat zuletzt besondere Brisanz im Hinblick auf das Verbandsrecht der Mitgliedstaaten erlangt, soweit dieses Sonderrechte zugunsten von Hoheitsträgern bei ehemaligen Staatsunternehmen in zwischenzeitlich privatisierten Wirtschaftssektoren vorsah („Goldene Aktien“). Die Kapitalverkehrsfreiheit kann hierdurch in verschiedenster Weise betroffen sein. Offensichtlich ist dies im Fall direkter Beschränkungen, etwa wenn der Erwerb von stimmberechtigten Anteilen ab dem Überschreiten bestimmter Schwellenwerte von einer Genehmigung abhängig gemacht, mit einem Vetorecht belastet oder gar vollständig untersagt wird (EuGH Rs.&nbsp;C-367/‌98 – ''Kommission/‌Portugal'', Slg.&nbsp;2002, I-4731, Rn.&nbsp;13&nbsp;f.; EuGH Rs.&nbsp;C-483/‌99 – ''Kommission/‌Frankreich'', Slg.&nbsp;2002, I-4781, Rn. 39&nbsp;ff., 46&nbsp;ff.). Darüber hinaus sind aber auch indirekte Beschränkungen des Anteilserwerbs an der primärrechtlichen Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen, da die grenzüberschreitende Investition in Wertpapiere potentiell auch dadurch behindert wird, dass der rechtlich unbeschränkt mögliche Erwerb der Anteile tatsächlich unattraktiv erscheint. Dies kann darauf beruhen, dass zugunsten einzelner Aktionäre bzw. staatlicher Stellen bei strategischen Leitungsmaßnahmen Alleinentscheidungs- oder Vetorechte vorgesehen sind (EuGH Rs.&nbsp;C-503/‌99 – ''Kommission/‌Belgien'', Slg.&nbsp;2002, I-4809, Rn.&nbsp;40&nbsp;f.; EuGH Rs.&nbsp;C-463/‌00 – ''Kommission/‌Spanien'', Slg.&nbsp;2003, I-4581, Rn.&nbsp;9, 11) oder ihnen bei der Beschlussfassung überproportionales Stimmgewicht zukommt bzw. sie überproportional in den Aufsichtsgremien repräsentiert sind (EuGH Rs.&nbsp;C-174/‌04 – ''Kommission/‌Italien'', Slg.&nbsp;2005, I-4933, Rn.&nbsp;34&nbsp;ff., 40; EuGH Rs.&nbsp;C-112/‌05 – ''Kommission/‌Deutschland'', Slg.&nbsp;2007, I-8995, Rn. 59&nbsp;ff.). Aus der Entscheidung zum VW-Gesetz kann aber nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass der EuGH Sonderregelungen (konkret: Höchststimmrecht kombiniert mit erhöhtem Quorum für Satzungsänderungen) stets als Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit ansieht, auch wenn sie jeden Anteilseigner gleichermaßen beträfen, also keine alleinige Begünstigung des Staates darstellten. Die historischen Bedingungen der VW-Privatisierung rechtfertigten nämlich aus Sicht des EuGH die Annahme einer de facto Privilegierung von Hoheitsträgern (EuGH Rs.&nbsp;C-112/‌05 – ''Kommission/‌Deutschland'', Slg.&nbsp;2007, I-8995, Rn.&nbsp;48&nbsp;f.). Auf dieser Linie liegt es auch, wenn die Kommission (IP/‌08/‌1797) nunmehr das verbliebene qualifizierte Mehrheitserfordernis für Satzungsänderungen im reformierten VW-Gesetz als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit angreift, weil es faktisch das Land Niedersachsen begünstigt. Demgegenüber ist die umstrittene Frage weiterhin offen, ob und inwieweit letztlich das gesamte mitgliedstaatliche Organisationsrecht potentiell auf dem Prüfstand steht, soweit es privaten Akteuren gestattet, den grenzüberschreitenden Anteilserwerb zu beschränken oder unattraktiver zu machen, z.B. durch die Zulassung statutarischer Höchststimmrechte, die Gestattung drastischer Verteidigungsmaßnahmen im [[Übernahmerecht]] etc.


Der erste Teil der Definition stellt sicher, dass nur Haftungsnormen erfasst werden, welche funktionales Gesellschafterverhalten betreffen. Dieses ist anhand der klassischen Vermögens- und Verwaltungsrechte und &#8209;pflichten abzugrenzen. Beispiele sind die Beteiligung am Jahresüberschuss und am Liquidationserlös sowie das Stimmrecht und Informationsrechte. Daraus folgt, dass ein Gesellschafter, der als faktischer Geschäftsleiter wegen Insolvenzverschleppung haftet, nicht in seiner Funktion als Gesellschafter, sondern in seiner Funktion als Geschäftsleiter in die Haftung genommen wird. Grundlage der Haftung ist ja die Übernahme der Geschäftsleitung und nicht eine Ausübung von Gesellschafterrechten.
Im Hinblick auf die Rechtfertigung von Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit durch Sonderrechte ist zum einen zu beachten, dass struktur- und sonstige wirtschaftspolitische Erwägungen keine hinreichenden Rechtfertigungsgründe liefern. Aber selbst wo solche eingreifen (z.B. Sicherung der Energieversorgung), ist zu gewährleisten, dass die Beschränkung verhältnismäßig ist, d.h. insbesondere an präzise formulierte und nachprüfbare, objektive Kriterien geknüpft ist (vgl. EuGH Rs.&nbsp;C-503/‌99 – ''Kommission/‌Belgien'', Slg.&nbsp;2002, I-4809, Rn.&nbsp;48&nbsp;ff. einerseits; EuGH Rs.&nbsp;C-483/‌99 – ''Kommission/‌Frankreich'', Slg.&nbsp;2002, I-4781, Rn.&nbsp;50&nbsp;ff. andererseits).


Der zweite Teil der Definition erschließt sich aus einem ökonomischen Verständnis der Haftungsbeschränkung. Wirtschaftlich bewirkt die Haftungsbeschränkung, dass ein Gesellschafter nicht mehr Kapital zu einer Gesellschaft beitragen muss, als er vor seiner Beteiligung versprochen hat. Zweck der Haftungsbeschränkung ist, die empirisch nachgewiesene Sorge der Kapitaleigner vor einem Verlust des Privatvermögens infolge der Realisierung unternehmerischer Risiken zu beheben, um so unternehmerische Risikokapitalinvestitionen zu fördern. Eine Ausnahme davon – d.h. ein funktionaler Haftungsdurchgriff – liegt vor, wenn ein Gesellschafter durch die Rechtsordnung gezwungen wird, mehr als den ex ante zugesagten, höhenmäßig beschränkten Betrag einzubringen.
== 3. Zahlungsverkehrsfreiheit ==
 
Die in Art.&nbsp;56(2) EG/‌63(2) AEUV garantierte Freiheit des Zahlungsverkehrs dient in erster Linie einer Absicherung der übrigen Marktfreiheiten („Annexfreiheit“). Von deren Wahrnehmung soll nicht dadurch abgeschreckt werden, dass dem grenzüberschreitend Waren, Dienstleistungen etc. Nachfragenden bzw. Anbietenden bei der Abwicklung im weitesten Sinne (z.B. der Erfüllung von Gegenleistungspflichten, der Befriedigung von Schadensersatzansprüchen, der Auszahlung von Versicherungsleistungen etc.) Hindernisse in den Weg gelegt werden, die bereits im Vorfeld von grenzüberschreitenden Aktivitäten abschrecken können (vgl. EuGH Rs.&nbsp;C-412/‌97 – ''ED Srl'', Slg.&nbsp;1999 I-3845, Rn.&nbsp;17). Erfasst wird lediglich der grenzüberschreitende Transfer von Zahlungsmitteln. Hinsichtlich der Beschränkungsmöglichkeiten gilt das zur Kapitalverkehrsfreiheit Gesagte. Zu beachten ist, dass der EuGH Regelungen zur Erzwingung grenzüberschreitender Zahlungen (Mahnverfahren) als „Verfahrensmodalitäten“ betrachtet, deren Ausgestaltung die Zahlungsverkehrsfreiheit nicht berührt (Rs.&nbsp;C-412/‌97 – ''ED Srl'', Slg.&nbsp;1999, I-3845, Rn.&nbsp;17).
Wendet man diese Definition des funktionalen Haftungsdurchgriffs auf Haftungsnormen an, welche Gesellschafter treffen können, ergibt sich folgendes Bild. Kein funktionaler Haftungsdurchgriff liegt in denjenigen Fällen vor, in denen die Rechtsordnung Gesellschafter wirtschaftlich zur Restitution zwingt. Wenn also sec. 847 Abs. 3 des englischen ''Companies Act 2006'', §&nbsp;83 Abs.&nbsp;1 des österreichischen oder §&nbsp;31 Abs.&nbsp;1 des deutschen GmbHG die Rückzahlung widerrechtlicher Ausschüttungen an die Gesellschafter anordnen, findet funktional kein Haftungsdurchgriff statt. Der Gesellschafter muss hier nur zurückgeben, was er empfangen hat, ein Risikokapitalbeitrag über den ''ex ante'' versprochenen findet nicht statt. Demgegenüber liegt ein funktionaler Haftungsdurchgriff vor, wenn das deutsche Recht gemäß §&nbsp;826 BGB für den Fall existenzvernichtender Eingriffe durch einen Gesellschafter Schadensersatz anordnet oder das französische Recht bei Vermögensvermischung (''confusion des patrimoines'') den Gläubigern der insolventen Gesellschaft den Zugriff auf das Gesellschaftervermögen gestattet. In beiden Fällen wird der Gesellschafter durch das Recht gezwungen, im Saldo mehr als seinen ''ex ante'' zugesagten Kapitalbeitrag beizutragen.
 
=== b) Entwicklung in den europäischen Gesellschaftsrechten ===
Die Geschichte der juristischen Person und der Haftung ihrer Gesellschafter in Europa lehrt, dass die Figur der juristischen Person nicht notwendig mit dem Prinzip der Haftungsbeschränkung einhergehen muss. Der englische ''Joint Stock Companies Act 1844'' ermöglichte zwar die Gründung einer rechtsfähigen und mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Kapitalgesellschaft. Die Gesellschafter hafteten nach der Grundanlage des Gesetzes zunächst jedoch ohne Beschränkung; erst der ''Limited Liability Act 1855'' führte die Haftungsbeschränkung ausdrücklich ein.
 
In der rechtsgeschichtlichen Entwicklung fällt weiterhin auf, dass die gesetzliche Anordnung der Haftungsbeschränkung zur Folge hatte, dass die haftungsrechtliche Freistellung der Gesellschafter in der Insolvenz für einen längeren Zeitraum fraglos anerkannt wurde. In England dauerte es über vierzig Jahre, bis das Verlangen eines ausgefallenen Gläubigers nach Zugriff auf das Gesellschaftervermögen im Jahre 1896 das ''House of Lords'' erreichte (''Salomon v. Salomon & Co. Ltd. ''<nowiki>[1897] AC 22). In Deutschland hatte das Reichsgericht zum ersten Mal im sog. </nowiki>''Tivoli-Theater''-Fall im Jahr 1934 zu entscheiden, ob ein Gläubiger, dessen Forderung im Konkurs der GmbH ausgefallen war, trotz §&nbsp;13 Abs.&nbsp;2 des GmbHG aus dem Jahre 1892 stattdessen Befriedigung von einem Gesellschafter fordern durfte (RG JW 1935, 52).
 
Heute ergibt sich in Europa ein uneinheitliches Bild des Haftungsdurchgriffs. Das gilt sowohl bei dogmatischer als auch bei funktionaler Betrachtung. Insbesondere über die Durchgriffsmethode hat sich kein Konsens zwischen den Rechtsordnungen entwickelt. Manche Jurisdiktionen versuchen, die Durchgriffsproblematik eher im Wege eines richterrechtlichen, echten Durchgriffs, d.h. durch das Beiseiteschieben der juristischen Person, zu lösen. Wie sich an den Leiturteilen ''Salomon v. Salomon & Co. Ltd. ''<nowiki>[1897] AC 22 des </nowiki>''House of Lords'' und der Entscheidung des ''Tribunal Supremo'' vom 28.5.1984 ablesen lässt, gehören dazu England und Spanien. In anderen Ländern greift die Rechtsprechung dogmatisch zwar auch auf den echten Haftungsdurchgriff zurück, löst die Haftungsfrage daneben aber auch durch extensive oder restriktive Normanwendung. Das ist beispielsweise in Frankreich und Deutschland der Fall, wobei in der deutschen Rechtsprechung bei der Existenzvernichtungshaftung angesichts des Übergangs von einer Durchgriffs- zu einer Normanwendungslösung (§&nbsp;826 BGB) eine Tendenz zur Normanwendung zu beobachten ist.
 
Unterschiede weisen die Rechtsordnungen auch auf dem im Fokus des Haftungsdurchgriffs stehenden Gebiet der Konzernhaftung auf. ''Cum grano salis'' lässt sich sagen, dass sich in Europa eine Strukturhaftung im Sinne einer Parallelität von Herrschaft und Haftung nicht durchsetzen konnte. Entsprechend wird die Haftung der Muttergesellschaft für die Schulden ihrer insolventen Tochter von den Gerichten in England, Frankreich und Deutschland nicht pauschal, sondern unter Anwendung spezifischer Normen im Einzelfall ermittelt. Demgegenüber ist im spanischen Recht eine Einheitsbetrachtung anzutreffen, wonach Konzerngesellschaften den Gläubigern einer anderen Konzerngesellschaft haften können, wenn der Konzern nach außen ein gewisses Maß an Geschlossenheit und Einheit an den Tag legt.
 
Bei funktionaler Betrachtung ergibt sich ebenfalls ein uneinheitliches Bild. Die Haftungsbeschränkung der juristischen Person erweist sich mit Blick auf das Gesetzes- und Richterrecht in Europa als nicht überall gleich beständig. In England gilt bis zum heutigen Tag die äußerst restriktive Linie, welche das ''House of Lords'' in ''Salomon v. Salomon'' vor über 100&nbsp;Jahren für den Haftungsdurchgriff vorgegeben und die der ''Court of Appeal'' in ''Adams v. Cape Industries Plc''<nowiki> [1990] Ch 433) im Jahr 1989 für Konzernsachverhalte fortgeführt hat. Ein funktionaler Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter aufgrund Gesetzes- oder Richterrechts findet im englischen Recht bis heute nicht statt. Anderslautende Einschätzungen in der Literatur treffen nicht zu. Sie erklären sich daraus, dass die englische Rechtssprache den Begriff </nowiki>''piercing the corporate veil'' auch für den Zurechnungsdurchgriff verwendet und die Figuren des ''de facto director'' (des faktischen Geschäftsleiters) und des ''shadow director'' (des Schattendirektors) in der Rechtspraxis bislang nur dafür verwendet wurden, Gesellschaftern die Tätigkeit als Geschäftsleiter zu verbieten (Disqualifizierung), und nicht dafür, eine Insolvenzhaftung zu begründen. Die englische Rechtspraxis reagiert auf das Ausbleiben eines funktionalen Haftungsdurchgriffs damit, dass vergleichsweise häufig Gesellschaftersicherheiten verlangt werden.
 
Demgegenüber gibt es im deutschen Recht zahlreiche Fälle eines auf Gesetz oder Richterrecht basierenden ''funktionalen'' Haftungsdurchgriffs (i.S.d. oben eingeführten Definition) auf den Gesellschafter. Rechtsgrundlagen dafür sind beispielsweise die Existenzvernichtungshaftung gemäß §&nbsp;826 BGB, der generelle Nachrang von Gesellschafterdarlehen gemäß §&nbsp;39 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;5 InsO, die Insolvenzverschleppungshaftung der Gesellschafter bei Führungslosigkeit gemäß §&nbsp;823 Abs.&nbsp;2 BGB, §&nbsp;15a Abs.&nbsp;3 InsO und die Gründerhaftung in ihrer Ausprägung als Verlustdeckungshaftung oder Vorbelastungshaftung. Die im Vergleich höhere Bereitschaft des Gesetzgebers und der Gerichte, die Gesellschafter trotz Haftungsbeschränkung in die Haftung zu nehmen, wirkt auch in Deutschland auf die Rechtspraxis zurück. Im Vergleich zu englischen ''Limiteds'' werden bei deutschen GmbHs von Banken deutlich weniger persönliche Sicherheiten gefordert. Empirisch betrachtet liegt das Verhältnis bei 1 (GmbHs) zu mindestens 2,5 (''Limiteds'').
 
== 3. Zurechnungsdurchgriff ==
Die Dogmatik des Zurechnungsdurchgriffs wird im Vergleich der europäischen Rechtsordnungen von ähnlichen Unterschieden und Lösungsansätzen bestimmt wie diejenige des Haftungsdurchgriffs. Dem Normanwendungsansatz (so die Tendenz in Deutschland) steht die echte Zurechnungsdurchgriffslösung (so eher in Spanien) gegenüber. Allerdings werden beide Ansätze nicht selten innerhalb einer Rechtsordnung kombiniert. Dem Zurechnungsdurchgriff wird im Vergleich zum Haftungsdurchgriff weniger Aufmerksamkeit zuteil; rechtsvergleichend ist er kaum erforscht. Allerdings lässt sich soviel sagen, dass in den Rechtsordnungen kein notwendiger Gleichlauf zwischen Haftungs- und Zurechnungsdurchgriff besteht. Wie am oben vorgestellten, englischen Fall ''Re'' ''F.G. Films'' ersichtlich, kennt das englische Recht durchaus den Zurechnungsdurchgriff, obwohl ein Haftungsdurchgriff aufgrund Gesetzes oder Richterrechts bei funktionaler Betrachtung nicht vorkommt.
 
== 4. Regelungsstrukturen im Einheitsrecht ==
In den vergangenen Jahren wurden einige Versuche unternommen, das Durchgriffsrecht auf europäischer Ebene in Teilbereichen zu vereinheitlichen. Dazu zählen der Entwurf einer 9.&nbsp;Richtlinie von 1984 (Konzern-RL), die Vorschläge des ''Forum Europaeum'' Konzernrecht, die Entwurfsfassung der Einpersongesellschafts-RL (die Haftung der 100%igen Konzernmutter gemäß Art.&nbsp;2(3) der Entwurfsfassung fand in den endgültigen Text keinen Eingang), die Vorschläge der ''High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework'' und der Aktionsplan der Kommission zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der ''[[Corporate Governance]]'' in der Europäischen Union. Eine verbindliche Regelung steht bislang jedoch noch aus und ist gegenwärtig nicht abzusehen.
 
Aus dem Jahr 1995 stammt der Vorschlag des ''Institute of International Law'' mit dem Titel „Obligations of Multinational Enterprises and their Member Companies“. Er betrifft die Haftung im Konzern und sieht unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung kontrollierender Gesellschaften für die Schulden einer anderen Konzerngesellschaft vor.
 
== 5. Durchgriff im internationalen Privatrecht ==
Die Rom&nbsp;II-VO über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (VO 864/2007) findet gemäß Art.&nbsp;1(2)(d) auf die persönliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten einer juristischen Person keine Anwendung. Der deutsche Referentenentwurf zum internationalen Gesellschaftsrecht vom 7.1.2008, der auf die Vorschläge der Spezialkommission Internationales Gesellschaftsrecht des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht zurückgeht, sieht daher eine neue Regelung für das deutsche EGBGB vor. Gemäß Art.&nbsp;10 Abs.&nbsp;1, Abs.&nbsp;2 Nr.&nbsp;7 des Entwurfs ist auf die Haftung der Mitglieder der juristischen Person das Recht desjenigen Staates anzuwenden, in dem sie in ein öffentliches Register eingetragen ist, und mangels Eintragung das Recht desjenigen Staates, nach dem sie organisiert ist. Was den Haftungsdurchgriff angeht, hat man sich hier gegen eine Sonderanknüpfung an den Handlungsort entschieden, womit eine Herauslösung aus dem Gesellschaftsstatut verbunden gewesen wäre.
 
Eine Systematisierung des Zurechnungsdurchgriffs im internationalen Privatrecht ist bisher nicht erfolgt und ist wegen der mannigfaltigen sachrechtlichen Ansätze mit besonderen Problemen verbunden.


==Literatur==
==Literatur==
''Ulrich'' ''Drobnig'', Haftungsdurchgriff bei Kapitalgesellschaften, 1959; ''Andrew'' ''Muscat'', The Liability of the Holding Company for the Debts of Its Insolvent Subsidiaries, 1996; ''Ulrich'' ''Ehricke'', Zur Begründbarkeit der Durchgriffshaftung in der GmbH, insbesondere aus methodischer Sicht, Archiv für die civilistische Praxis 199 (1999) 257&nbsp;ff.; ''Georg'' ''Bitter'', Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000; ''Brigitte Haar'', Piercing the Corporate Veil and Shareholders’ Product and Environmental Liability in American Law as Remedies for Capital Market Failures: New Developments and Implications for European and German Law after “Centros”, European Business Organization Law Review 2000, 317&nbsp;ff.; ''Justus'' ''Meyer'', Haftungsbeschränkung im Recht der Handelsgesellschaften, 2000; ''Maria I.'' ''Haas'', Der Durchgriff im deutschen und spanischen Gesellschaftsrecht, 2003; ''Hans Christoph'' ''Grigoleit'', Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH: Dezentrale Gewinnverfolgung als Leitprinzip des dynamischen Gläubigerschutzes, 2006; ''Karen'' ''Vandekerckhove'', Piercing the Corporate Veil, 2007; ''Paul L.'' ''Davies'', Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, 8.&nbsp;Aufl. 2008; ''Felix'' ''Steffek'', Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft: Krise und Insolvenz im englischen und deutschen Kapitalgesellschafts- und Insolvenzrecht, 2010; ''idem'', Der subjektive Tatbestand der Gesellschafterhaftung im Recht der GmbH, Juristenzeitung 2009, 77&nbsp;ff.
''Sideek Mohamed'', European Community Law on the Free Movement of Capital and EMU, 1999;'' Christoph Ohler'', Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, 2002; ''Ute Haferkamp'', Die Kapitalverkehrsfreiheit im System der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, 2003; ''Akos''.'' G''.'' Toth'', Free Movement of Capital, in: idem (Hg.), The Oxford Encyclopedia of European Community Law, Bd.&nbsp;2, 2005, 354&nbsp;ff.; ''Mads Andenas'','' Tillmann Gütt'','' Matthias Pannier'', Free Movement of Capital and National Company Law, European Business Law Review 16 (2005) 757&nbsp;ff.; ''Peter von Wilmowsky'', Freiheit des Kapital und Zahlungsverkehrs, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2.&nbsp;Aufl. 2005, 343&nbsp;ff.; ''Catherine Barnard'', The Substantive Law of the EU: The Four Freedoms, 2007, 537&nbsp;ff.; ''Gert-Jan Vossestein'', Volkswagen: the State of Affairs of Golden Shares, General Company Law and European Free Movement of Capital, European Company and Financial Law Review 5 (2008) 115&nbsp;ff.; ''John A. Usher'', The Evolution of the Free Movement of Capital, Fordham International Law Journal 31 (2008) 1533&nbsp;ff.; ''Georg Ress'','' Jörg Uckrow'', Art.&nbsp;56–58, in: Eberhard Grabitz, Meinhard Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd.&nbsp;II (Loseblatt).


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Piercing_the_Corporate_Veil]]
[[en.Free_Movement_of_Capital_and_Payments]]

Version vom 28. September 2021, 17:45 Uhr

von Tobias Tröger

1. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen

Historisch nehmen Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit eine Sonderstellung unter den Grundfreiheiten ein, da sie erst spät zu vollwertigen, primärrechtlichen Liberalisierungsgeboten erhoben wurden. Ursprünglich begründete Art. 67(1) EWGV auch nach der Übergangszeit nur eine Verpflichtung, den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten soweit zu liberalisieren, wie dies für das „Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig“ war (vgl. EuGH Rs. 203/‌80 – Casati, Slg. 1981, 2595, Rn. 10). Daher konnten zunächst nur sekundärrechtliche Maßnahmen zu über das Primärrecht hinausgehenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten führen, Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zu beseitigen. Allerdings trieb der EuGH auch unter diesen Rahmenbedingungen die Entwicklung in Richtung einer umfassenden Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit voran. Er erklärte den Liberalisierungsauftrag aus Art. 1 Kapitalverkehrs-RL (RL 88/‌361) für unmittelbar anwendbar (EuGH Rs. C-358/‌93 – Bordessa, Slg. 1995, I-361, Rn. 33 ff.) und schuf so eine „sekundärrechtliche Grundfreiheit“. Die Entscheidung stimmte mit dem Willen der Mitgliedstaaten überein, die Kapitalverkehrsfreiheit im Vertrag von Maastricht in den Status einer primärrechtlichen Grundfreiheit mit unmittelbarem Liberalisierungsauftrag zu erheben (Art. 73b (1) EG a.F.). Im Zuge dieser Reform des Primärrechts wurde dabei auch die bis dahin in Art. 106 EWGV geregelte Zahlungsverkehrsfreiheit systematisch der Kapitalverkehrsfreiheit zugeschlagen (Art. 73b(2) EG a.F.) und so ihr Charakter als selbständige Grundfreiheit betont. Die Verträge von Amsterdam und Lissabon brachten gegenüber dem so erreichten Stand keine sachlichen Veränderungen.

2. Kapitalverkehrsfreiheit

a) Ordnungspolitisches Anliegen

Die primärrechtliche Garantie der Freiheit des Kapitalverkehrs in Art. 56(1) EG/‌63(1) AEUV beruht auf fundamentalen, ordnungspolitischen Erwägungen. Sie entspringt der Überzeugung, dass die optimale Allokation der knappen Ressource Kapital in erster Linie durch dezentrale Entscheidungen von Marktakteuren gewährleistet wird. Einschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs führen daher grundsätzlich zu gesamtgesellschaftlich nicht wünschenswerten Wohlfahrtsverlusten. Die weitreichende wettbewerbspolitische Stoßrichtung der in Rede stehenden Grundfreiheit wird daran deutlich, dass über die Integration des europäischen Binnenmarktes hinaus auch die Freiheit des Kapitalverkehrs mit Drittstaaten gewährleistet wird.

b) Begriffsbestimmung

Aus Art. 57 EG/‌64 AEUV ist zu schließen, dass die Kapitalverkehrsfreiheit jedenfalls Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien sowie grenzüberschreitende Kapitalverschiebungen im Zusammenhang mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren umfasst. Bei der weiteren Konkretisierung des primärrechtlichen Begriffs kommt den in Annex I der Kapitalverkehrs-RL aufgeführten Transaktionen Hinweischarakter zu, jedoch kann das Richtlinienrecht den Inhalt der Grundfreiheit letztlich nicht determinieren. Erfasst sind vielmehr sämtliche Transfers von Bar- oder Sachkapital über die Grenzen eines Mitgliedstaates, wenn sie zu Investitionszwecken erfolgen.

Der eindeutige Wortlaut des Art. 56(1) EG/‌63 (1) AEUV und die Sonderregeln des Art. 57 EG/‌64 AEUV verdeutlichen, dass die Regelung über das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten hinauszielt und auch der freie Kapitalverkehr mit Drittstaaten gewährleistet wird. Auch deren Bürger können sich nach verbreiteter Meinung vor den Gerichten der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen.

c) Verhältnis zu anderen Grundfreiheiten

Das Verhältnis der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zu den anderen Grundfreiheiten spielt nicht nur im Hinblick auf die besonderen Beschränkungsmöglichkeiten im Steuerrecht eine große Rolle, vgl. Art. 58(1)(a) EG/‌63(1)(a) AEUV. Sie ist auch noch nach der Nivellierung des ursprünglichen Liberalisierungsgefälles für das Privatrecht von erheblicher Bedeutung. Dies folgt in erster Linie daraus, dass die Rechtfertigung privatrechtlicher Beschränkungen von Grundfreiheiten trotz abstrakt gleichförmiger Legitimitätsvoraussetzungen nicht zuletzt dadurch präjudiziert wird, welches Liberalisierungsgebot konkret als einer Beschränkung unterworfen betrachtet wird. Insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Freiheitsbeeinträchtigung kann stets nur im Kontext der betroffenen Gemeinschaftspolitik beurteilt werden.

Im Ausgangspunkt kommt es darauf an, ob die grenzüberschreitende Kapitalbewegung Anlage- bzw. Investitionszwecken dient oder ob mit ihr andere Ziele verfolgt werden. Zahlungen mit Vergütungscharakter im Rahmen von Transaktionen auf dem Gebiet der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit unterfallen daher nicht der Kapitalverkehrsfreiheit (EuGH verb. Rs. 286/‌82 und 26/‌83 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 21 f.; EuGH verb. Rs. C-163/‌94, C-165/‌94 und C-250/‌94 – Sanz de Lera, Slg. 1995, I-4821, Rn. 17). Überschneidungen mit anderen Grundfreiheiten sind aber denkbar, weil Investitionen nicht selten der Inanspruchnahme anderer, primärrechtlich garantierter Freiheiten dienen werden. Die Investition in Wertpapiere kann beispielsweise das durch die Niederlassungsfreiheit geschützte Ziel haben, eine ausländische Tochtergesellschaft zu erwerben oder dem durch die Dienstleistungsfreiheit garantierten Zweck entsprechen, als Wertpapierhändler aufzutreten.

Kommt es zu einer gleichzeitigen Betroffenheit von Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit (wie z.B. bei Beschränkungen des grenzüberschreitenden Erwerbs von Betriebsgrundstücken oder maßgeblichen Unternehmensbeteiligungen im Gegensatz zu reinen Finanzbeteiligungen [Portfolioinvestitionen]) geht der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung ausdrücklich von einer kumulativen Anwendbarkeit der Art. 43, 48 EG/‌49, 54 AEUV und Art. 56(1) EG/‌63(1) AEUV aus (Rs. C-302/‌97 – Konle, Slg. 1999, I-3099, Rn. 22). Der Niederlassungsfreiheit kommt auch dann kein Vorrang zu, wenn die Direktinvestition in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt, um dort einer selbständigen wirtschaftlichen Betätigung nachzugehen. Der EuGH sieht sich lediglich durch die festgestellte Verletzung einer Grundfreiheit von der detaillierten Prüfung der anderen entbunden (Rs. C-483/‌99 – Kommission/‌‌Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rn. 56; Rs. C-98/‌01 – Kommission/‌Vereinigtes Königreich, Slg. 2003, I-4641, Rn. 52; Rs. C-463/‌00 – Kommission/‌‌Spanien, Slg. 2003, I-4581, Rn. 86). Allerdings kann eine zulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht wegen Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verworfen werden, Art. 58(2) EG/‌65(2) AEUV.

Sowohl die Definitionsnorm des Art. 50(1) EG/‌57(1) AEUV als auch das Abstimmungsgebot in Art. 51(2) EG/‌58(2) AEUV lassen sich dahin verstehen, dass die Kapitalverkehrsfreiheit für Finanzdienstleistungen ein Sonderregime begründet, hinter dem die Garantie der Dienstleistungsfreiheit zurücktritt. In der Tat hat der EuGH, sowohl vor als auch nach der vollständigen Liberalisierung, in einigen Entscheidungen einen solchen Vorrang der Regelungen zum Kapitalverkehr angenommen (Rs. 267/‌86 – ASPA, Slg. 1988, 4769, Rn. 22–25; Rs. C-222/‌99 – Parodi, Slg. 1997, I-3899, Rn. 9; Rs. C-222/‌97 – Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661). Seine Rechtsprechung folgt allerdings nicht einheitlich dieser Linie, sondern wendet in einzelnen Entscheidungen beide Grundfreiheiten parallel an (Rs. C-484/‌93 – Svensson und Gustavsson, Slg. 1995, I-3955, Rn. 10 f.; Rs. C-118/‌96 – Safir, Slg. 1998, I-1897, Rn. 35; Rs. C-410/‌96 – Ambry, Slg. 1998, I-7875, Rn. 40). Dabei ist freilich zu betonen, dass die praktische Relevanz der unterschiedlichen dogmatischen Ansätze begrenzt ist. In den Fällen der kumulativen Anwendung der Grundfreiheiten ging die Rechtsprechung nämlich stets – implizit oder ausdrücklich – von einem gleichzeitigen Verstoß der jeweiligen Hoheitsakte gegen Art. 49(1) EG/‌56(1) AEUV und Art. 56(1) EG/‌63 (1) AEUV aus. Die Sachentscheidungen hätten also auch bei Annahme eines Subsidiaritätsverhältnisses nicht anders gelautet.

d) Reichweite des Beschränkungsverbots

Der EuGH hat bisher abstrakt-generelle Aussagen zum Begriff der Beschränkung im Rahmen des Art. 56(1) EG/‌63(1) AEUV vermieden und die Frage im Wesentlichen einzelfallbezogen judiziert. Neben den die Rechtsprechung immer wieder beschäftigenden steuer- und devisenverkehrsrechtlichen Regelungen sind Beschränkungen mit privatrechtlicher Relevanz insbesondere angenommen worden bei Genehmigungs-, Anzeige- und Erklärungspflichten vor dem Kauf von Grundstücken durch Bürger anderer Mitgliedstaaten (z.B. EuGH Rs. C-423/‌98 – Albore, Slg. 2000, I-5965, Rn. 16) oder bei entsprechenden Pflichten im Fall des Erwerbs von Beteiligungen an Unternehmen (EuGH Rs. C-54/‌99 – Scientology, Slg. 2000, I-1335, Rn. 14 f.). Neben derartigen unmittelbaren Eingriffen in den Kapitalverkehr sind aber auch nur indirekt wirkende Maßnahmen, die einen grenzüberschreitenden Kapitaltransfer unattraktiver gestalten, als relevante Beschränkungen behandelt worden, z.B. im Fall von staatlichen Zinsvergünstigungen, die an den Sitz der kreditgebenden Bank im Inland anknüpften (EuGH Rs. 484/‌93 – Svensson und Gustavsson, Slg. 1995, I-3955, Rn. 10). Gleichsinnig wurden gesellschaftsrechtliche Regelungen als Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit beurteilt, die in bestimmten Wirtschaftsbereichen Sonderrechte zugunsten des Staates begründeten und durch die resultierende asymmetrische Verteilung der Anteilseignerrechte von grenzüberschreitenden Investitionen abzuhalten geeignet waren (vgl. ausführlich unten f)). In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der EuGH anerkannt hat, dass auch die Kapitalverkehrsfreiheit über die ausdrücklichen Ausnahmen des Primärrechts hinaus zum Schutz zwingender Gründe des Allgemeininteresses beschränkt werden kann (Rs. C-35/‌98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rn. 46 ff.; implizit bereits EuGH Rs. C-148/‌91 – Veronica, Slg. 1993, 487, Rn. 9, 13, 15). Diese Rechtsprechung lehnt sich erkennbar an die Cassis-de-Dijon-Formel an (EuGH, Rs. 120/‌78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649). Diese ist aber ihrerseits nur als Gegenstück zu dem weit interpretierten Beschränkungsbegriff unter der Dassonville-Formel zu verstehen (EuGH Rs. 8/‌74 – Dassonville, Slg. 1974, 837). Daraus kann geschlossen werden, dass sich auch die Kapitalverkehrsfreiheit in die sich verstärkt ausbildende, allgemeine Dogmatik der Grundfreiheiten einfügt und eine Beschränkung des Kapitalverkehrs vorliegt, wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen unmittelbar oder mittelbar, aktuell oder potentiell den grenzüberschreitenden Kapitalfluss behindern, begrenzen oder untersagen. Es liegt auf der Linie dieser Entwicklung, auch die Keck-Rechtsprechung (EuGH verb. Rs. C-267 und C-268/‌91 – Keck, Slg. 1993, I-6097) für die Kapitalverkehrsfreiheit fruchtbar zu machen und auf diese Weise unterschiedslose Maßnahmen, die lediglich die Modalitäten für Investitionen regeln, wie z.B. Beurkundungspflichten, Publizitätsvorschriften etc., aus dem Eingriffsbegriff von vornherein auszunehmen.

e) Rechtfertigung von Beschränkungen

Für bestimmte Aspekte des Kapitalverkehrs mit Drittländern erlaubt Art. 57 EG/‌64 AEUV weitergehende Beschränkungen als sie im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander gerechtfertigt sind. Abs. 1 legitimiert die Beibehaltung der Beschränkungen gegenüber Drittstaaten, die am 31.12.1993 in Kraft waren, und beinhaltet somit im Umkehrschluss ein Verschlechterungsverbot. Der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten soll so die Beibehaltung von Reziprozitätsvorschriften ermöglicht werden (z.B. Art. 41 Börsenzulassungs-RL [RL 2001/‌34]), um letztlich im Verhandlungsweg eine vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs zu erreichen. Art. 57(2) EG/‌64(2) AEUV erweitert die Handlungsoptionen gegenüber Drittstaaten und ermöglicht so eine flexible und robuste Verhandlungsführung. Die Bestimmung erlaubt der Gemeinschaft, aber nicht den Mitgliedstaaten, den Kapitalverkehr mit Drittstaaten auch durch neue Rechtsakte zu beschränken und dabei sogar hinter den erreichten Liberalisierungsstand zurückzugehen.

Im Übrigen sind Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten – aber auch gegenüber Drittstaaten – zulässig, wenn sie auf der Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften beruhen, die eine unterschiedliche Behandlung von Steuerpflichtigen an den Wohn- oder Kapitalanlageort knüpfen (Art. 58(1)(a) EG/‌ Art. 65(1)(a) AEUV. Entsprechende Regelungen müssen aber zum Rechtsbestand der Mitgliedstaaten Ende 1993 gehört haben (vgl. die verbindliche Erklärung zu Art. 73d EG des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen des Vertrags über die Europäische Union vom 7.2.1992) und tatsächlich miteinander objektiv nicht vergleichbare Konstellationen erfassen (EuGH Rs. C-35/‌98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rn. 43). Darüber hinaus können unerlässliche Kontrollmaßnahmen und Meldeverfahren sowie Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Kapitalverkehrsfreiheit rechtmäßig beschränken (Art. 58(1)(b) EG/‌65 Abs. (1)(b) AEUV. Bei letzterer Bestimmung handelt es sich um eine spezielle Ausprägung der Gemeinwohlerwägungen, die als „zwingende Erfordernisse“ im Sinne der Cassis-Rechtsprechung unterschiedslose Beschränkungen der anderen Grundfreiheiten rechtfertigen können. Der EuGH formuliert daher auch ganz allgemein, nicht diskriminierende Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit könnten rechtmäßig „aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ erfolgen (z.B. Rs. C-174/‌04 – Kommission/‌Italien, Slg. 2005, I-4933, Rn. 35). Als solche anerkannt wurden z.B. die Kohärenz der Steuergesetzgebung (EuGH Rs. C-319/‌02 – Manninen, Slg. 2004, I-7498, Rn. 28) oder der Schutz eines pluralistischen, nicht-kommerziellen Rundfunksystems (EuGH Rs. C-148/‌91 – Veronica, Slg. 1993, 487, Rn. 10). Verworfen wurde demgegenüber die Verfolgung allgemein wirtschaftspolitischer Ziele (EuGH Rs. C-35/‌98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rn. 48).

Verboten sind jedenfalls willkürlich diskriminierende oder verschleiert beschränkende Maßnahmen. Im Licht der ihrerseits bereits anerkennenswerte sachliche Gründe und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme erfordernden Rechtfertigungstatbestände kommt der ausdrücklichen Untersagung des Art. 58(3) EG/‌65(3) AEUV allerdings wenig eigenständige Bedeutung zu.

f) Problematik der „Goldenen Aktien“ et al.

Die primärrechtliche Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit hat zuletzt besondere Brisanz im Hinblick auf das Verbandsrecht der Mitgliedstaaten erlangt, soweit dieses Sonderrechte zugunsten von Hoheitsträgern bei ehemaligen Staatsunternehmen in zwischenzeitlich privatisierten Wirtschaftssektoren vorsah („Goldene Aktien“). Die Kapitalverkehrsfreiheit kann hierdurch in verschiedenster Weise betroffen sein. Offensichtlich ist dies im Fall direkter Beschränkungen, etwa wenn der Erwerb von stimmberechtigten Anteilen ab dem Überschreiten bestimmter Schwellenwerte von einer Genehmigung abhängig gemacht, mit einem Vetorecht belastet oder gar vollständig untersagt wird (EuGH Rs. C-367/‌98 – Kommission/‌Portugal, Slg. 2002, I-4731, Rn. 13 f.; EuGH Rs. C-483/‌99 – Kommission/‌Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rn. 39 ff., 46 ff.). Darüber hinaus sind aber auch indirekte Beschränkungen des Anteilserwerbs an der primärrechtlichen Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen, da die grenzüberschreitende Investition in Wertpapiere potentiell auch dadurch behindert wird, dass der rechtlich unbeschränkt mögliche Erwerb der Anteile tatsächlich unattraktiv erscheint. Dies kann darauf beruhen, dass zugunsten einzelner Aktionäre bzw. staatlicher Stellen bei strategischen Leitungsmaßnahmen Alleinentscheidungs- oder Vetorechte vorgesehen sind (EuGH Rs. C-503/‌99 – Kommission/‌Belgien, Slg. 2002, I-4809, Rn. 40 f.; EuGH Rs. C-463/‌00 – Kommission/‌Spanien, Slg. 2003, I-4581, Rn. 9, 11) oder ihnen bei der Beschlussfassung überproportionales Stimmgewicht zukommt bzw. sie überproportional in den Aufsichtsgremien repräsentiert sind (EuGH Rs. C-174/‌04 – Kommission/‌Italien, Slg. 2005, I-4933, Rn. 34 ff., 40; EuGH Rs. C-112/‌05 – Kommission/‌Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rn. 59 ff.). Aus der Entscheidung zum VW-Gesetz kann aber nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass der EuGH Sonderregelungen (konkret: Höchststimmrecht kombiniert mit erhöhtem Quorum für Satzungsänderungen) stets als Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit ansieht, auch wenn sie jeden Anteilseigner gleichermaßen beträfen, also keine alleinige Begünstigung des Staates darstellten. Die historischen Bedingungen der VW-Privatisierung rechtfertigten nämlich aus Sicht des EuGH die Annahme einer de facto Privilegierung von Hoheitsträgern (EuGH Rs. C-112/‌05 – Kommission/‌Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rn. 48 f.). Auf dieser Linie liegt es auch, wenn die Kommission (IP/‌08/‌1797) nunmehr das verbliebene qualifizierte Mehrheitserfordernis für Satzungsänderungen im reformierten VW-Gesetz als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit angreift, weil es faktisch das Land Niedersachsen begünstigt. Demgegenüber ist die umstrittene Frage weiterhin offen, ob und inwieweit letztlich das gesamte mitgliedstaatliche Organisationsrecht potentiell auf dem Prüfstand steht, soweit es privaten Akteuren gestattet, den grenzüberschreitenden Anteilserwerb zu beschränken oder unattraktiver zu machen, z.B. durch die Zulassung statutarischer Höchststimmrechte, die Gestattung drastischer Verteidigungsmaßnahmen im Übernahmerecht etc.

Im Hinblick auf die Rechtfertigung von Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit durch Sonderrechte ist zum einen zu beachten, dass struktur- und sonstige wirtschaftspolitische Erwägungen keine hinreichenden Rechtfertigungsgründe liefern. Aber selbst wo solche eingreifen (z.B. Sicherung der Energieversorgung), ist zu gewährleisten, dass die Beschränkung verhältnismäßig ist, d.h. insbesondere an präzise formulierte und nachprüfbare, objektive Kriterien geknüpft ist (vgl. EuGH Rs. C-503/‌99 – Kommission/‌Belgien, Slg. 2002, I-4809, Rn. 48 ff. einerseits; EuGH Rs. C-483/‌99 – Kommission/‌Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rn. 50 ff. andererseits).

3. Zahlungsverkehrsfreiheit

Die in Art. 56(2) EG/‌63(2) AEUV garantierte Freiheit des Zahlungsverkehrs dient in erster Linie einer Absicherung der übrigen Marktfreiheiten („Annexfreiheit“). Von deren Wahrnehmung soll nicht dadurch abgeschreckt werden, dass dem grenzüberschreitend Waren, Dienstleistungen etc. Nachfragenden bzw. Anbietenden bei der Abwicklung im weitesten Sinne (z.B. der Erfüllung von Gegenleistungspflichten, der Befriedigung von Schadensersatzansprüchen, der Auszahlung von Versicherungsleistungen etc.) Hindernisse in den Weg gelegt werden, die bereits im Vorfeld von grenzüberschreitenden Aktivitäten abschrecken können (vgl. EuGH Rs. C-412/‌97 – ED Srl, Slg. 1999 I-3845, Rn. 17). Erfasst wird lediglich der grenzüberschreitende Transfer von Zahlungsmitteln. Hinsichtlich der Beschränkungsmöglichkeiten gilt das zur Kapitalverkehrsfreiheit Gesagte. Zu beachten ist, dass der EuGH Regelungen zur Erzwingung grenzüberschreitender Zahlungen (Mahnverfahren) als „Verfahrensmodalitäten“ betrachtet, deren Ausgestaltung die Zahlungsverkehrsfreiheit nicht berührt (Rs. C-412/‌97 – ED Srl, Slg. 1999, I-3845, Rn. 17).

Literatur

Sideek Mohamed, European Community Law on the Free Movement of Capital and EMU, 1999; Christoph Ohler, Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, 2002; Ute Haferkamp, Die Kapitalverkehrsfreiheit im System der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, 2003; Akos. G. Toth, Free Movement of Capital, in: idem (Hg.), The Oxford Encyclopedia of European Community Law, Bd. 2, 2005, 354 ff.; Mads Andenas, Tillmann Gütt, Matthias Pannier, Free Movement of Capital and National Company Law, European Business Law Review 16 (2005) 757 ff.; Peter von Wilmowsky, Freiheit des Kapital und Zahlungsverkehrs, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, 343 ff.; Catherine Barnard, The Substantive Law of the EU: The Four Freedoms, 2007, 537 ff.; Gert-Jan Vossestein, Volkswagen: the State of Affairs of Golden Shares, General Company Law and European Free Movement of Capital, European Company and Financial Law Review 5 (2008) 115 ff.; John A. Usher, The Evolution of the Free Movement of Capital, Fordham International Law Journal 31 (2008) 1533 ff.; Georg Ress, Jörg Uckrow, Art. 56–58, in: Eberhard Grabitz, Meinhard Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II (Loseblatt). en.Free_Movement_of_Capital_and_Payments

Abgerufen von Durchgriff – HWB-EuP 2009 am 24. April 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).