Rechtsmissbrauch und Durchgriff: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Filippo Ranieri]]''
von ''[[Felix Steffek]]''
== 1. Die Rechtsfigur des abus du droit ==
== 1. Grundlagen ==
Die Rechtsfigur des ''abus du droit'' erscheint erstmals im Argumentationshaushalt der kontinentaleuropäischen Rechtswissenschaft in der französischen Rechtsprechung der zweiten Hälfte des 19.&nbsp;Jahrhunderts. Bei der Anwendung der deliktischen Generalklausel des Art.&nbsp;1382 ''Code civil'' galt seit den ersten Kommentierungen zunächst der Grundsatz, dass eine deliktische Haftung ausgeschlossen ist, wenn jemand von seinem Recht Gebrauch macht. Die französische Rechtsprechung führte allerdings seit Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts Ausnahmen dazu ein: Man sei dennoch schadensersatzpflichtig, wenn man zwar von seinem Recht Gebrauch gemacht, dieses jedoch missbraucht habe. Die französische und später auch die italienische Doktrin kennen seit Anfang des 20.&nbsp;Jahrhunderts eine reichhaltige Literatur zu diesem Thema. Die dogmatische und rechtstheoretische Einordnung des Problems blieb trotz des Umfangs des vorhandenen Schrifttums im Ergebnis relativ unscharf. So wurde von einigen an die Rechtsfigur der ''aemulatio vicini'' in den römischen Quellen angeknüpft (''Vittorio'' ''Scialoja''<nowiki> [1856–1933]). Andere Autoren ordneten die neue Rechtsfigur im Rahmen </nowiki>des Konflikts zwischen Recht und Moral ein (''René'' ''Savatier''<nowiki> [1892–1984]), wieder andere knüpften an eine anomale Rechtsausübung an: Von einem „abus de droit“ sei zu sprechen, wenn ein subjektives Recht jenseits seines wirtschaftlichen und sozialen Zwecks ausgeübt werde (</nowiki>''Raymond'' ''Saleilles''<nowiki> [1855–1912]). Es fehlte auch nicht an kategorischen Ablehnungen dieser Rechtsfigur: Von einem Rechtsmissbrauch zu sprechen, sei eine logische Kontradiktion an sich; Recht und Unrecht könnten nicht koexistieren (so </nowiki>''Marcel Planiol ''<nowiki>[1853–1931] in Frankreich und </nowiki>''Mario Rotondi''<nowiki> [1900–1984] in Italien). In der französischen Doktrin setzte sich vor allem die Lehre von </nowiki>''Étienne-Louis Josserand'' (1868–1941) durch, der zwischen einer subjektiven und einer objektiven Seite des ''abus de droit'' unterscheidet. Subjektiv sei der Rechtsmissbrauch, wenn eine Rechtsposition aus einer subjektiv verwerflichen Absicht in Anspruch genommen wird. Von einem objektiven Rechtsmissbrauch sei dagegen – unabhängig von der psychologischen Seite des Rechtsinhabers – zu sprechen, wenn eine Rechtsposition zweckwidrig in Anspruch genommen wird. Derselbe Rechtsgedanke blieb und bleibt dagegen bis heute dem englischen ''[[common law]]'' an sich unbekannt. So gilt heute weiterhin das berühmte dictum von ''Lord Halsbury'' in ''The Mayor'','' Alderman and Burgesses of the Borough of Bradford v. Pickles''<nowiki> [1895] AC 587 (ebenso bereits </nowiki>''Chasemoze v. Richards''<nowiki> [1859] 7 HL Cases 349): “If it was a lawful act, however ill the motive, he had a right to do it”. </nowiki>Auch im [[schottisches Privatrecht|schottischen Privatrecht]] scheint die römische Lehre der ''aemulatio vicini'' damals bedeutungslos geworden zu sein (so ''Lord Watson'' in ''The Mayor'', 598). Ob dieser Standpunkt das gegenwärtige englische Recht wiedergibt wird allerdings in der angloamerikanischen Doktrin heute zunehmend bezweifelt.
=== a) Terminologie ===
Mit dem Schlagwort „Durchgriff“ werden Fälle bezeichnet, in denen die rechtliche Selbstständigkeit der juristischen Person Ausnahmen erfährt. Die Terminologie des Durchgriffs trägt in vielen europäischen Rechtsordnungen sehr bildhafte Züge. In der englischen Rechtssprache sind die Formeln „piercing the corporate veil“ und „lifting the corporate veil“ gebräuchlich. In Spanien hat sich der Ausdruck „levantamiento del velo de la persona jurídica“ durchgesetzt. In den Niederlanden spricht man von „doorbraak“, und in der französischen Rechtssprache ist die Wendung „la levée du voile social“ geläufig.


== 2. Die Lehre des Rechtsmissbrauchs ==
Die Metaphern „Durchgreifen“, „Durchstoßen“ und „Anheben des Vorhangs“ veranschaulichen zwar das Sachproblem, wonach die strikte Trennung der Rechtsbeziehungen der juristischen Person von den rechtlichen Verhältnissen ihrer Mitglieder in Ausnahmesituationen als unbefriedigend angesehen wird. Der Lösung der Durchgriffsproblematik förderlich ist allerdings eine funktionale Analyse im ersten Schritt, gefolgt von einer methodischen Stringenz im zweiten.
In der damaligen deutschen Doktrin erfuhren diese Lehren zunächst keinen Widerhall. Das Reichsgericht knüpfte in seiner Rechtsprechung auch nach der Kodifikation von 1900 an die gemeinrechtliche Anwendung der ''exceptio doli generalis'' an. Diese wurde zunächst auf §&nbsp;826 BGB, später auf den Grundsatz von [[Treu und Glauben]] (§&nbsp;242 BGB) gestützt. Die deutsche Zivilrechtskodifikation von 1900 hatte zwar in §&nbsp;226 BGB ein Schikaneverbot eingeführt. In ihrem subjektiven Tatbestand stellte diese Norm allerdings sehr hohe Hürden für deren Anwendung auf. Faktisch erlangte §&nbsp;226 BGB deshalb in der deutschen Rechtsprechung kaum Bedeutung. Fallkonstellationen einer missbräuchlichen Rechtsausübung wurden in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor allem nach dem Ersten Weltkrieg unter dem allgemeinen Prinzip von Treu und Glauben (§&nbsp;242 BGB) eingeordnet. Exemplarisch war hier vor allem die Entwicklung der Lehre der [[Verwirkung]]. Ebenso exemplarisch ist die Judikatur des Reichsgerichts zum Missbrauch der Mehrheit im Kapitalgesellschaftsrecht oder im Wettbewerbsrecht. Mitte der 1930er Jahre wurde diese Judikatur in die Kategorie der „unzulässigen Rechtsausübung“ eingeordnet. Maßgebend war hier eine Monographie von ''Wolfgang Siebert'' (1905–1959), der im Wesentlichen die Ideen von ''Josserand'' in die deutsche Literatur rezipierte. Wesentliche Unterschiede trennen hier jedoch die französische von der deutschen Rechtsentwicklung. Die Theorie des „''abus du droit''“ wurde in den Rahmen der deliktischen Haftung ([[Deliktsrecht: Allgemeines und lex Aquilia|Deliktsrecht]]) eingeordnet. Dagegen stellte die Rechtsfigur der unzulässigen Rechtsausübung nach der deutschen Doktrin ein klassisches Anwendungsgebiet des Grundsatzes von [[Treu und Glauben]] dar. Anders als in der französischen Doktrin entwickelte ''Siebert'' zudem durch die Theorie der unzulässigen Rechtsausübung auch eine theoretische Rechtfertigung für eine richterliche Korrektur des Inhalts von subjektiven Rechtspositionen, was zu einer beträchtlichen Relativierung von gesetzlichen und vertraglichen Normen führen kann. Neuere rechtshistorische Forschungen haben die rechtspolitischen und rechtsideologischen Hintergründe dieser Theorie Mitte der 1930er Jahre und ihre Verbindungen zur nationalsozialistischen Ideologie deutlich herausgestellt.


== 3. Die kontinentale Rezeption ==
=== b) Funktionen ===
Die Rechtsfigur des Rechtsmissbrauchs wurde in zahlreichen Zivilrechtskodifikationen des 20.&nbsp;Jahrhunderts rezipiert. Die Väter des deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] lehnten die [[Kodifikation]] dieses Rechtsgedankens noch ab. Sie knüpften vielmehr an die ''aemulatio vicini'' der römischen Rechtsquellen an und kodifizierten sie, allerdings folgenlos, im Schikaneverbot des §&nbsp;226 BGB. Das schweizerische Zivilgesetzbuch von 1912 bestimmte dagegen ausdrücklich in Art.&nbsp;2 das Gebot der Ausübung eines Rechts nach den Grundsätzen von „Treu und Glauben“, aber auch, dass der „offenbare Missbrauch“ eines Rechts keinen Rechtsschutz findet. Diese Norm war Vorbild für entsprechende Bestimmungen in einigen späteren kontinentalen Zivilrechtskodifikationen. Erwähnt sei hier Art.&nbsp;74 des italo-französischen Obligationenrechtsentwurfs von 1927. Eine gleichlautende Norm war auch im letzten Entwurf zum Vierten Buch des neuen italienischen Zivilgesetzbuchs vorgesehen. Der italienische Gesetzgeber von&nbsp;1942 verzichtete allerdings darauf, eine solche Bestimmung einzuführen. Der ''[[Codice civile]]'' enthält nur im Sachenrecht ein Verbot der schikanösen Rechtsausübung (Art.&nbsp;833). Nach dem Vorbild des italo-französischen Obligationenrechtsentwurfs von 1927 wurde das Verbot des Rechtsmissbrauchs auch in Art.&nbsp;135 des poln. Obligationenrechts von 1933 normiert. Dasselbe gilt für §&nbsp;281 des [[Griechisches Zivilgesetzbuch|griech. Zivilgesetzbuchs]] von 1941/‌46. Auch einige Zivilrechtskodifikationen nach dem Zweiten Weltkrieg kennen entsprechende Bestimmungen. Genannt sei Art.&nbsp;5 des poln. ''Kodeks Zywilny'' ([[Polnisches Zivilgesetzbuch]]) von 1964, wobei diese Bestimmung im Jahre 1990 neu formuliert wurde. Ein Verbot einer treuwidrigen und missbräuchlichen Rechtsausübung wurde in Art.&nbsp;334 des neuen portug. ''Código civil'' von 1966 ebenso wie in Art.&nbsp;7 der neuen Fassung aus dem Jahre 1974 des „Titulo preliminar“ des span. ''[[Código civil]]'' kodifiziert. Erwähnt seien noch §&nbsp;4 Abs.&nbsp;1 des ungar. ZGB, eingefügt durch das Reformgesetz Nr.&nbsp;XIV im Jahre 1991 sowie zuletzt §&nbsp;6 des estnischen Obligationenrechts von 2002. Zuletzt genannt seien §&nbsp;1:6 (Verbot des Rechtsmissbrauchs) im ungarischen Vorentwurf vom Jahre 2006 und §&nbsp;1465 des tschechischen Vorentwurfs von 2005 zu einem neuen Zivilgesetzbuch. Wichtig scheint hier die Beobachtung zu sein, dass die meisten dieser neueren Bestimmungen das Verbot eines Rechtsmissbrauchs nicht nach dem Vorbild des französischen Rechts in Verbindung mit der deliktischen Haftung definieren, sondern nach deutschem und schweizerischem Vorbild im Zusammenhang mit dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben normieren.
Durchgriffsfälle werden ''funktional'' in zwei Kategorien eingeteilt: Haftungsdurchgriff und Zurechnungsdurchgriff. Beim ''Haftungsdurchgriff'' wird die Trennung des Vermögens der juristischen Person vom Privatvermögen ihrer Mitglieder ganz oder teilweise aufgehoben. Beim ''Zurechnungsdurchgriff'' wird die Unterscheidung der juristischen Person von ihren Mitgliedern insofern aufgegeben, als Umstände, welche die Rechtsperson betreffen, ausnahmsweise für die Rechtsverhältnisse der Mitglieder relevant sind (oder ''vice versa''). Beiden – hier funktional verstandenen Kategorien – ist gemein, dass das Prinzip der Trennung von Verband und Verbandsmitgliedern (''Trennungsprinzip'') ausnahmsweise durchbrochen wird. Der Haftungsdurchgriff betrifft die Trennung der Vermögensmassen, der Zurechnungsdurchgriff die Trennung der Rechtsverhältnisse und der ihnen zugrundeliegenden Umstände, ohne dass die Vermögenstrennung besonders berührt wird.


Im italienischen Recht sprach sich die ältere Doktrin entschieden gegen den Rechtsgedanken einer richterlichen Kontrolle der Rechtsausübung aus. Abgelehnt wurde hier insbesondere eine vergleichbare Entwicklung wie in der deutschen Rechtsprechung unter dem Vorzeichen von §&nbsp;242 BGB. Auch unter der Geltung des neuen ''Codice civile'' von 1942 blieb bis vor etwa zwei Jahrzehnten diese Haltung im Wesentlichen unverändert. Die italienische Doktrin und ebenso die italienische Judikatur lehnten es also zunächst insbesondere ab, aus vereinzelten gesetzlichen Vorschriften der neuen Kodifikation ein allgemeines Prinzip abzuleiten. Seit den letzten Jahren kann man in der italienischen Doktrin eine entschieden neue Haltung zu dieser Frage feststellen. Insbesondere hat die Formel, nach der das Prinzip von Treu und Glauben eine allgemeine Grenze für die Rechtsausübung darstellt, hier einen einzigartigen Erfolg gehabt. Im Vordergrund steht Art.&nbsp;1375 ''Codice civile''. Dieser Neuorientierung ist in den letzten Jahren auch das italienische Kassationsgericht gefolgt. Man spricht insoweit im italienischen Recht heute nicht vom Verbot des Rechtsmissbrauchs, sondern vielmehr von einer Verletzung des Grundsatzes der ''buona fede'' und von einer Anwendung der ''exceptio doli generalis''. Ähnlich ist die Entwicklung im niederländischen Recht, wo dieser Rechtsgedanke im ''[[Burgerlijk Wetboek]]'' von 1992 in Art.&nbsp;3:2 kodifiziert wurde. Bezeichnenderweise lautet diese Bestimmung, dass eine für die Parteien an sich geltende Rechtsnorm nicht anwendbar sein soll, wenn dies nach den Maßstäben von Redlichkeit und Billigkeit unannehmbar wäre. Auch in der jüngeren Judikatur des [[Europäischer Gerichtshof|Europäischen Gerichtshof]]es sind etliche Entscheidungen zu lesen, in denen ein offenkundiger Missbrauch einer gemeinschaftsrechtlichen Rechtsposition sanktioniert wird. So hat der EuGH bereits in der Rechtssache C-33/‌74 – ''Van Binsbergen'', Slg. 1974, 1299 die missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht sanktioniert, wenn diese mit dem Ziel geschieht, sich der Anwendbarkeit des nationalen Rechts zu entziehen (ebenso EuGH Rs.&nbsp;C-115/‌78 – ''Knoors'', Slg 1979, 399, Rn.&nbsp;24; EuGH Rs.&nbsp;C-370/‌90 – ''Singh'', Slg 1992, I-4265). Dasselbe gilt für die missbräuchliche oder betrügerische Ausübung von Rechten, die vom Gemeinschaftsrecht verliehen werden (erstmals in EuGH Rs.&nbsp;C-110/‌99 – ''Emsland-Stärke GmbH'', Slg 2000, I-11569). In Anbetracht der beschriebenen gesamteuropäischen Entwicklung ist es mehr als konsequent, dass der Rechtsgedanke, dass der Grundsatz von Treu und Glauben als Grenze für die Rechtsausübung verstanden werden soll, auch Eingang in Art.&nbsp;1:201 PECL gefunden hat.
Im Zentrum der Durchgriffsdiskussion steht die Haftung der Mitglieder einer haftungsbeschränkten Gesellschaft (''private company limited by shares ''(''[[Private Limited Company (in England und Wales)|Private Limited Company]]; ''nachfolgend:'' Limited''), [[Gesellschaft mit beschränkter Haftung]] (GmbH), ''société à responsabilité limitée'' (SARL), etc.) für die Schulden der insolventen Gesellschaft. Dabei handelt es sich zwar um die wichtigste Konstellation des Haftungsdurchgriffs, aber nicht um die einzige. Die Rechtspraxis beschäftigen auch Fälle, in denen Gläubiger eines Gesellschafters auf das Vermögen der Gesellschaft zugreifen wollen. In Ungarn können die Privatgläubiger eines Gesellschafters nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs dann in das Gesellschaftsvermögen der juristischen Person vollstrecken, wenn der Gesellschafter durch einen gläubigerschädigenden, Haftungsdeckung entziehenden Vertrag gemäß §&nbsp;203 des ungarischen ZGB Privatvermögen auf die Gesellschaft überträgt (Rechtseinheitlichkeitsbeschluss 1/2002 PJE vom 25.6.2002).
 
Eine typische Konstellation eines Zurechnungsdurchgriffs behandelt die englische Entscheidung ''Re F.&nbsp;G. (Films) Ltd.''<nowiki> [1953] 1 WLR 483). Um in den Genuss rechtlicher Vorteile zu kommen, welche nur britischen Filmproduzenten zustanden, hatte eine US-amerikanische Gesellschaft eine englische </nowiki>''Limited ''gegründet. Die Finanzierung des Films übernahm die US-amerikanische Gesellschaft; auch die Verträge mit den Schauspielern und sonstigen Mitarbeitern wurden nicht durch die englische ''Limited'' abgeschlossen. Die zur Entscheidung berufene ''Chancery Division'' lehnte die Registrierung als britischen Film ab. Die das Ergebnis stützende Auslegung des ''Cinematograph Films Act 1938'' und ''1948'' begründete das Gericht vor allem damit, dass Finanzierung und Produktion in den Händen der US-amerikanischen Gesellschaft und nicht der ''Limited'' gelegen hätten.
 
=== c) Methoden ===
Bei der Durchgriffsmethode handelt es sich im Unterschied zur funktionalen Analyse der wirtschaftlichen Durchgriffsfolgen um die ''Rechtstechnik'', mit der das Trennungsprinzip überwunden wird. In der rechtsvergleichenden Umschau ergibt sich diesbezüglich ein uneinheitliches Bild. Zudem ist in vielen europäischen Rechtsordnungen, darunter die deutsche, englische und französische, eine endgültige Klärung der Durchgriffsdogmatik noch nicht gelungen. Im deutschen Recht lässt sich dies an der unsteten Dogmatik der gesellschafterlichen Existenzvernichtungshaftung im Verlauf der vergangenen Jahre nachvollziehen, insbes. an der Entwicklung der Rechtsprechung von einer gesellschaftsrechtlichen Strukturhaftung zu einer Deliktshaftung gemäß §&nbsp;826 BGB.
 
Neben der gesetzlichen Anordnung eines funktionalen Durchgriffs sind häufige Durchgriffsmethoden die extensive bzw. restriktive Anwendung von Rechtsnormen (Gesetz, Vertrag) sowie die vollständige oder teilweise Missachtung der Selbstständigkeit der juristischen Person. Ein Beispiel für die gesetzliche Anordnung eines funktionalen Haftungsdurchgriffs ist die neue Haftung der GmbH-Gesellschafter bei Führungslosigkeit und materieller [[Insolvenz der Kapitalgesellschaft|Insolvenz]] gemäß §&nbsp;823 Abs.&nbsp;2 BGB i.V.m. §&nbsp;15a Abs.&nbsp;3 InsO für die Schulden der haftungsbeschränkten Gesellschaft. ''Gilford Motor Company Ltd v. Horne''<nowiki> [1933] Ch 935 (CA) ist ein Fall der extensiven Anwendung eines Vertrages. Das Gericht erstreckte die Anwendung eines dienstvertraglichen Wettbewerbsverbots auf eine durch Strohmänner des Unterlassungsverpflichteten gehaltene und geleitete Gesellschaft. Bei funktionaler Betrachtung wurde so ein Zurechnungsdurchgriff erreicht. Die französische, auf Richterrecht beruhende Doktrin der Vermögensvermischung (</nowiki>''confusion des patrimoines'') illustriert schließlich, wie Gerichte die Selbstständigkeit der juristischen Person nicht anerkennen und so einen funktionalen Haftungsdurchgriff herbeiführen. Danach haftet der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, wenn sein Vermögen mit dem Vermögen der Gesellschaft untrennbar vermischt ist.
 
=== d) Durchgriff bei Personengesellschaften und Durchgriff auf den Geschäftsleiter ===
Bislang war vom Durchgriff nur im Kontext der juristischen Person und ihrer Anteilseigner die Rede. Indes besteht die Durchgriffsproblematik bei allen Rechtssubjekten, die keine natürlichen Personen sind, darunter vor allem bei den rechtsfähigen Personenhandelsgesellschaften. So hatte der Bundesgerichtshof (BGH 12.11.1984, BGHZ 93, 146) über einen Fall zu entscheiden, in dem die Gesellschafter einer GmbH & Co. KG ihr Privatvermögen mit dem Vermögen der KG vermischt hatten. Der Verständlichkeit wegen und der praktischen Relevanz entsprechend wird im Folgenden allerdings nur von der juristischen Person die Rede sein.
 
Zwar nicht im deutschen, aber etwa im englischen und französischen Recht bekannt, ist die Figur des Haftungsdurchgriffs auf den ''Geschäftsleiter''. Geht man davon aus, dass die Organe beim Handeln für die Gesellschaft nur die Gesellschaft und nicht sich selbst verpflichten, ist diese Figur unter funktionalen Gesichtspunkten erhellend. Die Haftung eines Geschäftsleiters für die Gesellschaftsschulden stellt sich in funktionaler Perspektive ebenso als Haftungsdurchgriff dar wie die Haftung des Gesellschafters für die Gesellschaftsverbindlichkeiten.
 
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die ''wrongful trading''-Haftung der Direktoren nach sec. 214 des englischen ''Insolvency Act 1986'' in der 8.&nbsp;Auflage des ''Gower & Davies'' unter der Überschrift „Exceptions to Limited Liability“ (Ausnahmen von der Haftungsbeschränkung) geführt und die französische Haftung der formellen und de facto Direktoren gemäß Art. L.&nbsp;651-2 ''Code de Commerce'' (''responsabilité pour insuffisance d’actif'') als Ausnahme von der Haftungsbeschränkung verstanden wird.
 
Klärungsbedürftig ist in beiden Fällen allerdings die Auffassung, dass es sich dabei um einen Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter handele, sofern dieser als faktischer Geschäftsleiter in die Haftung genommen werde. Richtig ist vielmehr, dass es sich um einen funktionalen Haftungsdurchgriff auf einen Geschäftsleiter handelt. Dieses Verständnis vermag zum einen die Anwendung von Normen der Geschäftsleiterhaftung zwanglos erklären und erleichtert zum anderen die Bestimmung der Tatbestandsvoraussetzungen: Die Haftung greift, wenn der Gesellschafter funktional als Geschäftsleiter handelt. Auch der Durchgriff auf den Geschäftsleiter bleibt im Folgenden aus Platzgründen außen vor.
 
== 2. Haftungsdurchgriff ==
=== a) Funktionale Definition ===
Angesichts der dargestellten, verschiedenen Rechtstechniken mittels derer in den europäischen Rechtsordnungen eine Gesellschafterhaftung für die Schulden der haftungsbeschränkten Rechtsperson erreicht wird, stellt sich das Problem, welche Normen die Grundlage eines Vergleichs des Haftungsdurchgriffs in Europa bilden. Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt sich die Orientierung an einer funktionalen Definition des Haftungsdurchgriffs. Mit ihrer Hilfe lassen sich diejenigen Normen identifizieren, die in einen solchen Vergleich mit einzubeziehen sind.
 
Ein funktionaler Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter einer haftungsbeschränkten Gesellschaft liegt unter zwei Bedingungen vor: eine Person muss (1)&nbsp;in ihrer ''Funktion als Gesellschafter'' (2)&nbsp;''mehr Risikokapital'' beitragen ''als ex ante betragsmäßig begrenzt versprochen''.
 
Der erste Teil der Definition stellt sicher, dass nur Haftungsnormen erfasst werden, welche funktionales Gesellschafterverhalten betreffen. Dieses ist anhand der klassischen Vermögens- und Verwaltungsrechte und &#8209;pflichten abzugrenzen. Beispiele sind die Beteiligung am Jahresüberschuss und am Liquidationserlös sowie das Stimmrecht und Informationsrechte. Daraus folgt, dass ein Gesellschafter, der als faktischer Geschäftsleiter wegen Insolvenzverschleppung haftet, nicht in seiner Funktion als Gesellschafter, sondern in seiner Funktion als Geschäftsleiter in die Haftung genommen wird. Grundlage der Haftung ist ja die Übernahme der Geschäftsleitung und nicht eine Ausübung von Gesellschafterrechten.
 
Der zweite Teil der Definition erschließt sich aus einem ökonomischen Verständnis der Haftungsbeschränkung. Wirtschaftlich bewirkt die Haftungsbeschränkung, dass ein Gesellschafter nicht mehr Kapital zu einer Gesellschaft beitragen muss, als er vor seiner Beteiligung versprochen hat. Zweck der Haftungsbeschränkung ist, die empirisch nachgewiesene Sorge der Kapitaleigner vor einem Verlust des Privatvermögens infolge der Realisierung unternehmerischer Risiken zu beheben, um so unternehmerische Risikokapitalinvestitionen zu fördern. Eine Ausnahme davon – d.h. ein funktionaler Haftungsdurchgriff – liegt vor, wenn ein Gesellschafter durch die Rechtsordnung gezwungen wird, mehr als den ex ante zugesagten, höhenmäßig beschränkten Betrag einzubringen.
 
Wendet man diese Definition des funktionalen Haftungsdurchgriffs auf Haftungsnormen an, welche Gesellschafter treffen können, ergibt sich folgendes Bild. Kein funktionaler Haftungsdurchgriff liegt in denjenigen Fällen vor, in denen die Rechtsordnung Gesellschafter wirtschaftlich zur Restitution zwingt. Wenn also sec. 847 Abs. 3 des englischen ''Companies Act 2006'', §&nbsp;83 Abs.&nbsp;1 des österreichischen oder §&nbsp;31 Abs.&nbsp;1 des deutschen GmbHG die Rückzahlung widerrechtlicher Ausschüttungen an die Gesellschafter anordnen, findet funktional kein Haftungsdurchgriff statt. Der Gesellschafter muss hier nur zurückgeben, was er empfangen hat, ein Risikokapitalbeitrag über den ''ex ante'' versprochenen findet nicht statt. Demgegenüber liegt ein funktionaler Haftungsdurchgriff vor, wenn das deutsche Recht gemäß §&nbsp;826 BGB für den Fall existenzvernichtender Eingriffe durch einen Gesellschafter Schadensersatz anordnet oder das französische Recht bei Vermögensvermischung (''confusion des patrimoines'') den Gläubigern der insolventen Gesellschaft den Zugriff auf das Gesellschaftervermögen gestattet. In beiden Fällen wird der Gesellschafter durch das Recht gezwungen, im Saldo mehr als seinen ''ex ante'' zugesagten Kapitalbeitrag beizutragen.
 
=== b) Entwicklung in den europäischen Gesellschaftsrechten ===
Die Geschichte der juristischen Person und der Haftung ihrer Gesellschafter in Europa lehrt, dass die Figur der juristischen Person nicht notwendig mit dem Prinzip der Haftungsbeschränkung einhergehen muss. Der englische ''Joint Stock Companies Act 1844'' ermöglichte zwar die Gründung einer rechtsfähigen und mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Kapitalgesellschaft. Die Gesellschafter hafteten nach der Grundanlage des Gesetzes zunächst jedoch ohne Beschränkung; erst der ''Limited Liability Act 1855'' führte die Haftungsbeschränkung ausdrücklich ein.
 
In der rechtsgeschichtlichen Entwicklung fällt weiterhin auf, dass die gesetzliche Anordnung der Haftungsbeschränkung zur Folge hatte, dass die haftungsrechtliche Freistellung der Gesellschafter in der Insolvenz für einen längeren Zeitraum fraglos anerkannt wurde. In England dauerte es über vierzig Jahre, bis das Verlangen eines ausgefallenen Gläubigers nach Zugriff auf das Gesellschaftervermögen im Jahre 1896 das ''House of Lords'' erreichte (''Salomon v. Salomon & Co. Ltd. ''<nowiki>[1897] AC 22). In Deutschland hatte das Reichsgericht zum ersten Mal im sog. </nowiki>''Tivoli-Theater''-Fall im Jahr 1934 zu entscheiden, ob ein Gläubiger, dessen Forderung im Konkurs der GmbH ausgefallen war, trotz §&nbsp;13 Abs.&nbsp;2 des GmbHG aus dem Jahre 1892 stattdessen Befriedigung von einem Gesellschafter fordern durfte (RG JW 1935, 52).
 
Heute ergibt sich in Europa ein uneinheitliches Bild des Haftungsdurchgriffs. Das gilt sowohl bei dogmatischer als auch bei funktionaler Betrachtung. Insbesondere über die Durchgriffsmethode hat sich kein Konsens zwischen den Rechtsordnungen entwickelt. Manche Jurisdiktionen versuchen, die Durchgriffsproblematik eher im Wege eines richterrechtlichen, echten Durchgriffs, d.h. durch das Beiseiteschieben der juristischen Person, zu lösen. Wie sich an den Leiturteilen ''Salomon v. Salomon & Co. Ltd. ''<nowiki>[1897] AC 22 des </nowiki>''House of Lords'' und der Entscheidung des ''Tribunal Supremo'' vom 28.5.1984 ablesen lässt, gehören dazu England und Spanien. In anderen Ländern greift die Rechtsprechung dogmatisch zwar auch auf den echten Haftungsdurchgriff zurück, löst die Haftungsfrage daneben aber auch durch extensive oder restriktive Normanwendung. Das ist beispielsweise in Frankreich und Deutschland der Fall, wobei in der deutschen Rechtsprechung bei der Existenzvernichtungshaftung angesichts des Übergangs von einer Durchgriffs- zu einer Normanwendungslösung (§&nbsp;826 BGB) eine Tendenz zur Normanwendung zu beobachten ist.
 
Unterschiede weisen die Rechtsordnungen auch auf dem im Fokus des Haftungsdurchgriffs stehenden Gebiet der Konzernhaftung auf. ''Cum grano salis'' lässt sich sagen, dass sich in Europa eine Strukturhaftung im Sinne einer Parallelität von Herrschaft und Haftung nicht durchsetzen konnte. Entsprechend wird die Haftung der Muttergesellschaft für die Schulden ihrer insolventen Tochter von den Gerichten in England, Frankreich und Deutschland nicht pauschal, sondern unter Anwendung spezifischer Normen im Einzelfall ermittelt. Demgegenüber ist im spanischen Recht eine Einheitsbetrachtung anzutreffen, wonach Konzerngesellschaften den Gläubigern einer anderen Konzerngesellschaft haften können, wenn der Konzern nach außen ein gewisses Maß an Geschlossenheit und Einheit an den Tag legt.
 
Bei funktionaler Betrachtung ergibt sich ebenfalls ein uneinheitliches Bild. Die Haftungsbeschränkung der juristischen Person erweist sich mit Blick auf das Gesetzes- und Richterrecht in Europa als nicht überall gleich beständig. In England gilt bis zum heutigen Tag die äußerst restriktive Linie, welche das ''House of Lords'' in ''Salomon v. Salomon'' vor über 100&nbsp;Jahren für den Haftungsdurchgriff vorgegeben und die der ''Court of Appeal'' in ''Adams v. Cape Industries Plc''<nowiki> [1990] Ch 433) im Jahr 1989 für Konzernsachverhalte fortgeführt hat. Ein funktionaler Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter aufgrund Gesetzes- oder Richterrechts findet im englischen Recht bis heute nicht statt. Anderslautende Einschätzungen in der Literatur treffen nicht zu. Sie erklären sich daraus, dass die englische Rechtssprache den Begriff </nowiki>''piercing the corporate veil'' auch für den Zurechnungsdurchgriff verwendet und die Figuren des ''de facto director'' (des faktischen Geschäftsleiters) und des ''shadow director'' (des Schattendirektors) in der Rechtspraxis bislang nur dafür verwendet wurden, Gesellschaftern die Tätigkeit als Geschäftsleiter zu verbieten (Disqualifizierung), und nicht dafür, eine Insolvenzhaftung zu begründen. Die englische Rechtspraxis reagiert auf das Ausbleiben eines funktionalen Haftungsdurchgriffs damit, dass vergleichsweise häufig Gesellschaftersicherheiten verlangt werden.
 
Demgegenüber gibt es im deutschen Recht zahlreiche Fälle eines auf Gesetz oder Richterrecht basierenden ''funktionalen'' Haftungsdurchgriffs (i.S.d. oben eingeführten Definition) auf den Gesellschafter. Rechtsgrundlagen dafür sind beispielsweise die Existenzvernichtungshaftung gemäß §&nbsp;826 BGB, der generelle Nachrang von Gesellschafterdarlehen gemäß §&nbsp;39 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;5 InsO, die Insolvenzverschleppungshaftung der Gesellschafter bei Führungslosigkeit gemäß §&nbsp;823 Abs.&nbsp;2 BGB, §&nbsp;15a Abs.&nbsp;3 InsO und die Gründerhaftung in ihrer Ausprägung als Verlustdeckungshaftung oder Vorbelastungshaftung. Die im Vergleich höhere Bereitschaft des Gesetzgebers und der Gerichte, die Gesellschafter trotz Haftungsbeschränkung in die Haftung zu nehmen, wirkt auch in Deutschland auf die Rechtspraxis zurück. Im Vergleich zu englischen ''Limiteds'' werden bei deutschen GmbHs von Banken deutlich weniger persönliche Sicherheiten gefordert. Empirisch betrachtet liegt das Verhältnis bei 1 (GmbHs) zu mindestens 2,5 (''Limiteds'').
 
== 3. Zurechnungsdurchgriff ==
Die Dogmatik des Zurechnungsdurchgriffs wird im Vergleich der europäischen Rechtsordnungen von ähnlichen Unterschieden und Lösungsansätzen bestimmt wie diejenige des Haftungsdurchgriffs. Dem Normanwendungsansatz (so die Tendenz in Deutschland) steht die echte Zurechnungsdurchgriffslösung (so eher in Spanien) gegenüber. Allerdings werden beide Ansätze nicht selten innerhalb einer Rechtsordnung kombiniert. Dem Zurechnungsdurchgriff wird im Vergleich zum Haftungsdurchgriff weniger Aufmerksamkeit zuteil; rechtsvergleichend ist er kaum erforscht. Allerdings lässt sich soviel sagen, dass in den Rechtsordnungen kein notwendiger Gleichlauf zwischen Haftungs- und Zurechnungsdurchgriff besteht. Wie am oben vorgestellten, englischen Fall ''Re'' ''F.G. Films'' ersichtlich, kennt das englische Recht durchaus den Zurechnungsdurchgriff, obwohl ein Haftungsdurchgriff aufgrund Gesetzes oder Richterrechts bei funktionaler Betrachtung nicht vorkommt.
 
== 4. Regelungsstrukturen im Einheitsrecht ==
In den vergangenen Jahren wurden einige Versuche unternommen, das Durchgriffsrecht auf europäischer Ebene in Teilbereichen zu vereinheitlichen. Dazu zählen der Entwurf einer 9.&nbsp;Richtlinie von 1984 (Konzern-RL), die Vorschläge des ''Forum Europaeum'' Konzernrecht, die Entwurfsfassung der Einpersongesellschafts-RL (die Haftung der 100%igen Konzernmutter gemäß Art.&nbsp;2(3) der Entwurfsfassung fand in den endgültigen Text keinen Eingang), die Vorschläge der ''High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework'' und der Aktionsplan der Kommission zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der ''[[Corporate Governance]]'' in der Europäischen Union. Eine verbindliche Regelung steht bislang jedoch noch aus und ist gegenwärtig nicht abzusehen.
 
Aus dem Jahr 1995 stammt der Vorschlag des ''Institute of International Law'' mit dem Titel „Obligations of Multinational Enterprises and their Member Companies“. Er betrifft die Haftung im Konzern und sieht unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung kontrollierender Gesellschaften für die Schulden einer anderen Konzerngesellschaft vor.
 
== 5. Durchgriff im internationalen Privatrecht ==
Die Rom&nbsp;II-VO über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (VO 864/2007) findet gemäß Art.&nbsp;1(2)(d) auf die persönliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten einer juristischen Person keine Anwendung. Der deutsche Referentenentwurf zum internationalen Gesellschaftsrecht vom 7.1.2008, der auf die Vorschläge der Spezialkommission Internationales Gesellschaftsrecht des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht zurückgeht, sieht daher eine neue Regelung für das deutsche EGBGB vor. Gemäß Art.&nbsp;10 Abs.&nbsp;1, Abs.&nbsp;2 Nr.&nbsp;7 des Entwurfs ist auf die Haftung der Mitglieder der juristischen Person das Recht desjenigen Staates anzuwenden, in dem sie in ein öffentliches Register eingetragen ist, und mangels Eintragung das Recht desjenigen Staates, nach dem sie organisiert ist. Was den Haftungsdurchgriff angeht, hat man sich hier gegen eine Sonderanknüpfung an den Handlungsort entschieden, womit eine Herauslösung aus dem Gesellschaftsstatut verbunden gewesen wäre.
 
Eine Systematisierung des Zurechnungsdurchgriffs im internationalen Privatrecht ist bisher nicht erfolgt und ist wegen der mannigfaltigen sachrechtlichen Ansätze mit besonderen Problemen verbunden.


==Literatur==
==Literatur==
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 15:41 Uhr

von Felix Steffek

1. Grundlagen

a) Terminologie

Mit dem Schlagwort „Durchgriff“ werden Fälle bezeichnet, in denen die rechtliche Selbstständigkeit der juristischen Person Ausnahmen erfährt. Die Terminologie des Durchgriffs trägt in vielen europäischen Rechtsordnungen sehr bildhafte Züge. In der englischen Rechtssprache sind die Formeln „piercing the corporate veil“ und „lifting the corporate veil“ gebräuchlich. In Spanien hat sich der Ausdruck „levantamiento del velo de la persona jurídica“ durchgesetzt. In den Niederlanden spricht man von „doorbraak“, und in der französischen Rechtssprache ist die Wendung „la levée du voile social“ geläufig.

Die Metaphern „Durchgreifen“, „Durchstoßen“ und „Anheben des Vorhangs“ veranschaulichen zwar das Sachproblem, wonach die strikte Trennung der Rechtsbeziehungen der juristischen Person von den rechtlichen Verhältnissen ihrer Mitglieder in Ausnahmesituationen als unbefriedigend angesehen wird. Der Lösung der Durchgriffsproblematik förderlich ist allerdings eine funktionale Analyse im ersten Schritt, gefolgt von einer methodischen Stringenz im zweiten.

b) Funktionen

Durchgriffsfälle werden funktional in zwei Kategorien eingeteilt: Haftungsdurchgriff und Zurechnungsdurchgriff. Beim Haftungsdurchgriff wird die Trennung des Vermögens der juristischen Person vom Privatvermögen ihrer Mitglieder ganz oder teilweise aufgehoben. Beim Zurechnungsdurchgriff wird die Unterscheidung der juristischen Person von ihren Mitgliedern insofern aufgegeben, als Umstände, welche die Rechtsperson betreffen, ausnahmsweise für die Rechtsverhältnisse der Mitglieder relevant sind (oder vice versa). Beiden – hier funktional verstandenen Kategorien – ist gemein, dass das Prinzip der Trennung von Verband und Verbandsmitgliedern (Trennungsprinzip) ausnahmsweise durchbrochen wird. Der Haftungsdurchgriff betrifft die Trennung der Vermögensmassen, der Zurechnungsdurchgriff die Trennung der Rechtsverhältnisse und der ihnen zugrundeliegenden Umstände, ohne dass die Vermögenstrennung besonders berührt wird.

Im Zentrum der Durchgriffsdiskussion steht die Haftung der Mitglieder einer haftungsbeschränkten Gesellschaft (private company limited by shares (Private Limited Company; nachfolgend: Limited), Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), société à responsabilité limitée (SARL), etc.) für die Schulden der insolventen Gesellschaft. Dabei handelt es sich zwar um die wichtigste Konstellation des Haftungsdurchgriffs, aber nicht um die einzige. Die Rechtspraxis beschäftigen auch Fälle, in denen Gläubiger eines Gesellschafters auf das Vermögen der Gesellschaft zugreifen wollen. In Ungarn können die Privatgläubiger eines Gesellschafters nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs dann in das Gesellschaftsvermögen der juristischen Person vollstrecken, wenn der Gesellschafter durch einen gläubigerschädigenden, Haftungsdeckung entziehenden Vertrag gemäß § 203 des ungarischen ZGB Privatvermögen auf die Gesellschaft überträgt (Rechtseinheitlichkeitsbeschluss 1/2002 PJE vom 25.6.2002).

Eine typische Konstellation eines Zurechnungsdurchgriffs behandelt die englische Entscheidung Re F. G. (Films) Ltd. [1953] 1 WLR 483). Um in den Genuss rechtlicher Vorteile zu kommen, welche nur britischen Filmproduzenten zustanden, hatte eine US-amerikanische Gesellschaft eine englische Limited gegründet. Die Finanzierung des Films übernahm die US-amerikanische Gesellschaft; auch die Verträge mit den Schauspielern und sonstigen Mitarbeitern wurden nicht durch die englische Limited abgeschlossen. Die zur Entscheidung berufene Chancery Division lehnte die Registrierung als britischen Film ab. Die das Ergebnis stützende Auslegung des Cinematograph Films Act 1938 und 1948 begründete das Gericht vor allem damit, dass Finanzierung und Produktion in den Händen der US-amerikanischen Gesellschaft und nicht der Limited gelegen hätten.

c) Methoden

Bei der Durchgriffsmethode handelt es sich im Unterschied zur funktionalen Analyse der wirtschaftlichen Durchgriffsfolgen um die Rechtstechnik, mit der das Trennungsprinzip überwunden wird. In der rechtsvergleichenden Umschau ergibt sich diesbezüglich ein uneinheitliches Bild. Zudem ist in vielen europäischen Rechtsordnungen, darunter die deutsche, englische und französische, eine endgültige Klärung der Durchgriffsdogmatik noch nicht gelungen. Im deutschen Recht lässt sich dies an der unsteten Dogmatik der gesellschafterlichen Existenzvernichtungshaftung im Verlauf der vergangenen Jahre nachvollziehen, insbes. an der Entwicklung der Rechtsprechung von einer gesellschaftsrechtlichen Strukturhaftung zu einer Deliktshaftung gemäß § 826 BGB.

Neben der gesetzlichen Anordnung eines funktionalen Durchgriffs sind häufige Durchgriffsmethoden die extensive bzw. restriktive Anwendung von Rechtsnormen (Gesetz, Vertrag) sowie die vollständige oder teilweise Missachtung der Selbstständigkeit der juristischen Person. Ein Beispiel für die gesetzliche Anordnung eines funktionalen Haftungsdurchgriffs ist die neue Haftung der GmbH-Gesellschafter bei Führungslosigkeit und materieller Insolvenz gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a Abs. 3 InsO für die Schulden der haftungsbeschränkten Gesellschaft. Gilford Motor Company Ltd v. Horne [1933] Ch 935 (CA) ist ein Fall der extensiven Anwendung eines Vertrages. Das Gericht erstreckte die Anwendung eines dienstvertraglichen Wettbewerbsverbots auf eine durch Strohmänner des Unterlassungsverpflichteten gehaltene und geleitete Gesellschaft. Bei funktionaler Betrachtung wurde so ein Zurechnungsdurchgriff erreicht. Die französische, auf Richterrecht beruhende Doktrin der Vermögensvermischung (confusion des patrimoines) illustriert schließlich, wie Gerichte die Selbstständigkeit der juristischen Person nicht anerkennen und so einen funktionalen Haftungsdurchgriff herbeiführen. Danach haftet der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, wenn sein Vermögen mit dem Vermögen der Gesellschaft untrennbar vermischt ist.

d) Durchgriff bei Personengesellschaften und Durchgriff auf den Geschäftsleiter

Bislang war vom Durchgriff nur im Kontext der juristischen Person und ihrer Anteilseigner die Rede. Indes besteht die Durchgriffsproblematik bei allen Rechtssubjekten, die keine natürlichen Personen sind, darunter vor allem bei den rechtsfähigen Personenhandelsgesellschaften. So hatte der Bundesgerichtshof (BGH 12.11.1984, BGHZ 93, 146) über einen Fall zu entscheiden, in dem die Gesellschafter einer GmbH & Co. KG ihr Privatvermögen mit dem Vermögen der KG vermischt hatten. Der Verständlichkeit wegen und der praktischen Relevanz entsprechend wird im Folgenden allerdings nur von der juristischen Person die Rede sein.

Zwar nicht im deutschen, aber etwa im englischen und französischen Recht bekannt, ist die Figur des Haftungsdurchgriffs auf den Geschäftsleiter. Geht man davon aus, dass die Organe beim Handeln für die Gesellschaft nur die Gesellschaft und nicht sich selbst verpflichten, ist diese Figur unter funktionalen Gesichtspunkten erhellend. Die Haftung eines Geschäftsleiters für die Gesellschaftsschulden stellt sich in funktionaler Perspektive ebenso als Haftungsdurchgriff dar wie die Haftung des Gesellschafters für die Gesellschaftsverbindlichkeiten.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die wrongful trading-Haftung der Direktoren nach sec. 214 des englischen Insolvency Act 1986 in der 8. Auflage des Gower & Davies unter der Überschrift „Exceptions to Limited Liability“ (Ausnahmen von der Haftungsbeschränkung) geführt und die französische Haftung der formellen und de facto Direktoren gemäß Art. L. 651-2 Code de Commerce (responsabilité pour insuffisance d’actif) als Ausnahme von der Haftungsbeschränkung verstanden wird.

Klärungsbedürftig ist in beiden Fällen allerdings die Auffassung, dass es sich dabei um einen Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter handele, sofern dieser als faktischer Geschäftsleiter in die Haftung genommen werde. Richtig ist vielmehr, dass es sich um einen funktionalen Haftungsdurchgriff auf einen Geschäftsleiter handelt. Dieses Verständnis vermag zum einen die Anwendung von Normen der Geschäftsleiterhaftung zwanglos erklären und erleichtert zum anderen die Bestimmung der Tatbestandsvoraussetzungen: Die Haftung greift, wenn der Gesellschafter funktional als Geschäftsleiter handelt. Auch der Durchgriff auf den Geschäftsleiter bleibt im Folgenden aus Platzgründen außen vor.

2. Haftungsdurchgriff

a) Funktionale Definition

Angesichts der dargestellten, verschiedenen Rechtstechniken mittels derer in den europäischen Rechtsordnungen eine Gesellschafterhaftung für die Schulden der haftungsbeschränkten Rechtsperson erreicht wird, stellt sich das Problem, welche Normen die Grundlage eines Vergleichs des Haftungsdurchgriffs in Europa bilden. Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt sich die Orientierung an einer funktionalen Definition des Haftungsdurchgriffs. Mit ihrer Hilfe lassen sich diejenigen Normen identifizieren, die in einen solchen Vergleich mit einzubeziehen sind.

Ein funktionaler Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter einer haftungsbeschränkten Gesellschaft liegt unter zwei Bedingungen vor: eine Person muss (1) in ihrer Funktion als Gesellschafter (2) mehr Risikokapital beitragen als ex ante betragsmäßig begrenzt versprochen.

Der erste Teil der Definition stellt sicher, dass nur Haftungsnormen erfasst werden, welche funktionales Gesellschafterverhalten betreffen. Dieses ist anhand der klassischen Vermögens- und Verwaltungsrechte und ‑pflichten abzugrenzen. Beispiele sind die Beteiligung am Jahresüberschuss und am Liquidationserlös sowie das Stimmrecht und Informationsrechte. Daraus folgt, dass ein Gesellschafter, der als faktischer Geschäftsleiter wegen Insolvenzverschleppung haftet, nicht in seiner Funktion als Gesellschafter, sondern in seiner Funktion als Geschäftsleiter in die Haftung genommen wird. Grundlage der Haftung ist ja die Übernahme der Geschäftsleitung und nicht eine Ausübung von Gesellschafterrechten.

Der zweite Teil der Definition erschließt sich aus einem ökonomischen Verständnis der Haftungsbeschränkung. Wirtschaftlich bewirkt die Haftungsbeschränkung, dass ein Gesellschafter nicht mehr Kapital zu einer Gesellschaft beitragen muss, als er vor seiner Beteiligung versprochen hat. Zweck der Haftungsbeschränkung ist, die empirisch nachgewiesene Sorge der Kapitaleigner vor einem Verlust des Privatvermögens infolge der Realisierung unternehmerischer Risiken zu beheben, um so unternehmerische Risikokapitalinvestitionen zu fördern. Eine Ausnahme davon – d.h. ein funktionaler Haftungsdurchgriff – liegt vor, wenn ein Gesellschafter durch die Rechtsordnung gezwungen wird, mehr als den ex ante zugesagten, höhenmäßig beschränkten Betrag einzubringen.

Wendet man diese Definition des funktionalen Haftungsdurchgriffs auf Haftungsnormen an, welche Gesellschafter treffen können, ergibt sich folgendes Bild. Kein funktionaler Haftungsdurchgriff liegt in denjenigen Fällen vor, in denen die Rechtsordnung Gesellschafter wirtschaftlich zur Restitution zwingt. Wenn also sec. 847 Abs. 3 des englischen Companies Act 2006, § 83 Abs. 1 des österreichischen oder § 31 Abs. 1 des deutschen GmbHG die Rückzahlung widerrechtlicher Ausschüttungen an die Gesellschafter anordnen, findet funktional kein Haftungsdurchgriff statt. Der Gesellschafter muss hier nur zurückgeben, was er empfangen hat, ein Risikokapitalbeitrag über den ex ante versprochenen findet nicht statt. Demgegenüber liegt ein funktionaler Haftungsdurchgriff vor, wenn das deutsche Recht gemäß § 826 BGB für den Fall existenzvernichtender Eingriffe durch einen Gesellschafter Schadensersatz anordnet oder das französische Recht bei Vermögensvermischung (confusion des patrimoines) den Gläubigern der insolventen Gesellschaft den Zugriff auf das Gesellschaftervermögen gestattet. In beiden Fällen wird der Gesellschafter durch das Recht gezwungen, im Saldo mehr als seinen ex ante zugesagten Kapitalbeitrag beizutragen.

b) Entwicklung in den europäischen Gesellschaftsrechten

Die Geschichte der juristischen Person und der Haftung ihrer Gesellschafter in Europa lehrt, dass die Figur der juristischen Person nicht notwendig mit dem Prinzip der Haftungsbeschränkung einhergehen muss. Der englische Joint Stock Companies Act 1844 ermöglichte zwar die Gründung einer rechtsfähigen und mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Kapitalgesellschaft. Die Gesellschafter hafteten nach der Grundanlage des Gesetzes zunächst jedoch ohne Beschränkung; erst der Limited Liability Act 1855 führte die Haftungsbeschränkung ausdrücklich ein.

In der rechtsgeschichtlichen Entwicklung fällt weiterhin auf, dass die gesetzliche Anordnung der Haftungsbeschränkung zur Folge hatte, dass die haftungsrechtliche Freistellung der Gesellschafter in der Insolvenz für einen längeren Zeitraum fraglos anerkannt wurde. In England dauerte es über vierzig Jahre, bis das Verlangen eines ausgefallenen Gläubigers nach Zugriff auf das Gesellschaftervermögen im Jahre 1896 das House of Lords erreichte (Salomon v. Salomon & Co. Ltd. [1897] AC 22). In Deutschland hatte das Reichsgericht zum ersten Mal im sog. Tivoli-Theater-Fall im Jahr 1934 zu entscheiden, ob ein Gläubiger, dessen Forderung im Konkurs der GmbH ausgefallen war, trotz § 13 Abs. 2 des GmbHG aus dem Jahre 1892 stattdessen Befriedigung von einem Gesellschafter fordern durfte (RG JW 1935, 52).

Heute ergibt sich in Europa ein uneinheitliches Bild des Haftungsdurchgriffs. Das gilt sowohl bei dogmatischer als auch bei funktionaler Betrachtung. Insbesondere über die Durchgriffsmethode hat sich kein Konsens zwischen den Rechtsordnungen entwickelt. Manche Jurisdiktionen versuchen, die Durchgriffsproblematik eher im Wege eines richterrechtlichen, echten Durchgriffs, d.h. durch das Beiseiteschieben der juristischen Person, zu lösen. Wie sich an den Leiturteilen Salomon v. Salomon & Co. Ltd. [1897] AC 22 des House of Lords und der Entscheidung des Tribunal Supremo vom 28.5.1984 ablesen lässt, gehören dazu England und Spanien. In anderen Ländern greift die Rechtsprechung dogmatisch zwar auch auf den echten Haftungsdurchgriff zurück, löst die Haftungsfrage daneben aber auch durch extensive oder restriktive Normanwendung. Das ist beispielsweise in Frankreich und Deutschland der Fall, wobei in der deutschen Rechtsprechung bei der Existenzvernichtungshaftung angesichts des Übergangs von einer Durchgriffs- zu einer Normanwendungslösung (§ 826 BGB) eine Tendenz zur Normanwendung zu beobachten ist.

Unterschiede weisen die Rechtsordnungen auch auf dem im Fokus des Haftungsdurchgriffs stehenden Gebiet der Konzernhaftung auf. Cum grano salis lässt sich sagen, dass sich in Europa eine Strukturhaftung im Sinne einer Parallelität von Herrschaft und Haftung nicht durchsetzen konnte. Entsprechend wird die Haftung der Muttergesellschaft für die Schulden ihrer insolventen Tochter von den Gerichten in England, Frankreich und Deutschland nicht pauschal, sondern unter Anwendung spezifischer Normen im Einzelfall ermittelt. Demgegenüber ist im spanischen Recht eine Einheitsbetrachtung anzutreffen, wonach Konzerngesellschaften den Gläubigern einer anderen Konzerngesellschaft haften können, wenn der Konzern nach außen ein gewisses Maß an Geschlossenheit und Einheit an den Tag legt.

Bei funktionaler Betrachtung ergibt sich ebenfalls ein uneinheitliches Bild. Die Haftungsbeschränkung der juristischen Person erweist sich mit Blick auf das Gesetzes- und Richterrecht in Europa als nicht überall gleich beständig. In England gilt bis zum heutigen Tag die äußerst restriktive Linie, welche das House of Lords in Salomon v. Salomon vor über 100 Jahren für den Haftungsdurchgriff vorgegeben und die der Court of Appeal in Adams v. Cape Industries Plc [1990] Ch 433) im Jahr 1989 für Konzernsachverhalte fortgeführt hat. Ein funktionaler Haftungsdurchgriff auf den Gesellschafter aufgrund Gesetzes- oder Richterrechts findet im englischen Recht bis heute nicht statt. Anderslautende Einschätzungen in der Literatur treffen nicht zu. Sie erklären sich daraus, dass die englische Rechtssprache den Begriff piercing the corporate veil auch für den Zurechnungsdurchgriff verwendet und die Figuren des de facto director (des faktischen Geschäftsleiters) und des shadow director (des Schattendirektors) in der Rechtspraxis bislang nur dafür verwendet wurden, Gesellschaftern die Tätigkeit als Geschäftsleiter zu verbieten (Disqualifizierung), und nicht dafür, eine Insolvenzhaftung zu begründen. Die englische Rechtspraxis reagiert auf das Ausbleiben eines funktionalen Haftungsdurchgriffs damit, dass vergleichsweise häufig Gesellschaftersicherheiten verlangt werden.

Demgegenüber gibt es im deutschen Recht zahlreiche Fälle eines auf Gesetz oder Richterrecht basierenden funktionalen Haftungsdurchgriffs (i.S.d. oben eingeführten Definition) auf den Gesellschafter. Rechtsgrundlagen dafür sind beispielsweise die Existenzvernichtungshaftung gemäß § 826 BGB, der generelle Nachrang von Gesellschafterdarlehen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, die Insolvenzverschleppungshaftung der Gesellschafter bei Führungslosigkeit gemäß § 823 Abs. 2 BGB, § 15a Abs. 3 InsO und die Gründerhaftung in ihrer Ausprägung als Verlustdeckungshaftung oder Vorbelastungshaftung. Die im Vergleich höhere Bereitschaft des Gesetzgebers und der Gerichte, die Gesellschafter trotz Haftungsbeschränkung in die Haftung zu nehmen, wirkt auch in Deutschland auf die Rechtspraxis zurück. Im Vergleich zu englischen Limiteds werden bei deutschen GmbHs von Banken deutlich weniger persönliche Sicherheiten gefordert. Empirisch betrachtet liegt das Verhältnis bei 1 (GmbHs) zu mindestens 2,5 (Limiteds).

3. Zurechnungsdurchgriff

Die Dogmatik des Zurechnungsdurchgriffs wird im Vergleich der europäischen Rechtsordnungen von ähnlichen Unterschieden und Lösungsansätzen bestimmt wie diejenige des Haftungsdurchgriffs. Dem Normanwendungsansatz (so die Tendenz in Deutschland) steht die echte Zurechnungsdurchgriffslösung (so eher in Spanien) gegenüber. Allerdings werden beide Ansätze nicht selten innerhalb einer Rechtsordnung kombiniert. Dem Zurechnungsdurchgriff wird im Vergleich zum Haftungsdurchgriff weniger Aufmerksamkeit zuteil; rechtsvergleichend ist er kaum erforscht. Allerdings lässt sich soviel sagen, dass in den Rechtsordnungen kein notwendiger Gleichlauf zwischen Haftungs- und Zurechnungsdurchgriff besteht. Wie am oben vorgestellten, englischen Fall Re F.G. Films ersichtlich, kennt das englische Recht durchaus den Zurechnungsdurchgriff, obwohl ein Haftungsdurchgriff aufgrund Gesetzes oder Richterrechts bei funktionaler Betrachtung nicht vorkommt.

4. Regelungsstrukturen im Einheitsrecht

In den vergangenen Jahren wurden einige Versuche unternommen, das Durchgriffsrecht auf europäischer Ebene in Teilbereichen zu vereinheitlichen. Dazu zählen der Entwurf einer 9. Richtlinie von 1984 (Konzern-RL), die Vorschläge des Forum Europaeum Konzernrecht, die Entwurfsfassung der Einpersongesellschafts-RL (die Haftung der 100%igen Konzernmutter gemäß Art. 2(3) der Entwurfsfassung fand in den endgültigen Text keinen Eingang), die Vorschläge der High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework und der Aktionsplan der Kommission zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union. Eine verbindliche Regelung steht bislang jedoch noch aus und ist gegenwärtig nicht abzusehen.

Aus dem Jahr 1995 stammt der Vorschlag des Institute of International Law mit dem Titel „Obligations of Multinational Enterprises and their Member Companies“. Er betrifft die Haftung im Konzern und sieht unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung kontrollierender Gesellschaften für die Schulden einer anderen Konzerngesellschaft vor.

5. Durchgriff im internationalen Privatrecht

Die Rom II-VO über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (VO 864/2007) findet gemäß Art. 1(2)(d) auf die persönliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten einer juristischen Person keine Anwendung. Der deutsche Referentenentwurf zum internationalen Gesellschaftsrecht vom 7.1.2008, der auf die Vorschläge der Spezialkommission Internationales Gesellschaftsrecht des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht zurückgeht, sieht daher eine neue Regelung für das deutsche EGBGB vor. Gemäß Art. 10 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 7 des Entwurfs ist auf die Haftung der Mitglieder der juristischen Person das Recht desjenigen Staates anzuwenden, in dem sie in ein öffentliches Register eingetragen ist, und mangels Eintragung das Recht desjenigen Staates, nach dem sie organisiert ist. Was den Haftungsdurchgriff angeht, hat man sich hier gegen eine Sonderanknüpfung an den Handlungsort entschieden, womit eine Herauslösung aus dem Gesellschaftsstatut verbunden gewesen wäre.

Eine Systematisierung des Zurechnungsdurchgriffs im internationalen Privatrecht ist bisher nicht erfolgt und ist wegen der mannigfaltigen sachrechtlichen Ansätze mit besonderen Problemen verbunden.

Literatur

Ulrich Drobnig, Haftungsdurchgriff bei Kapitalgesellschaften, 1959; Andrew Muscat, The Liability of the Holding Company for the Debts of Its Insolvent Subsidiaries, 1996; Ulrich Ehricke, Zur Begründbarkeit der Durchgriffshaftung in der GmbH, insbesondere aus methodischer Sicht, Archiv für die civilistische Praxis 199 (1999) 257 ff.; Georg Bitter, Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000; Brigitte Haar, Piercing the Corporate Veil and Shareholders’ Product and Environmental Liability in American Law as Remedies for Capital Market Failures: New Developments and Implications for European and German Law after “Centros”, European Business Organization Law Review 2000, 317 ff.; Justus Meyer, Haftungsbeschränkung im Recht der Handelsgesellschaften, 2000; Maria I. Haas, Der Durchgriff im deutschen und spanischen Gesellschaftsrecht, 2003; Hans Christoph Grigoleit, Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH: Dezentrale Gewinnverfolgung als Leitprinzip des dynamischen Gläubigerschutzes, 2006; Karen Vandekerckhove, Piercing the Corporate Veil, 2007; Paul L. Davies, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, 8. Aufl. 2008; Felix Steffek, Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft: Krise und Insolvenz im englischen und deutschen Kapitalgesellschafts- und Insolvenzrecht, 2010; idem, Der subjektive Tatbestand der Gesellschafterhaftung im Recht der GmbH, Juristenzeitung 2009, 77 ff.

Abgerufen von Rechtsmissbrauch – HWB-EuP 2009 am 20. April 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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