Tarifverträge: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 8. September 2021, 11:25 Uhr

von Martin Henssler

1. Gegenstand und Zweck

Der Tarifvertrag (Kollektivvertrag, collective agreement, convention collective) ist ein Vertrag zwischen tariffähigen Parteien zur kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen. Er wird von einer Gewerkschaft entweder mit einem Arbeitgeberverband (Verbandstarifvertrag) oder mit einem einzelnen Arbeitgeber (Firmen- bzw. Unternehmenstarifvertrag) geschlossen.

In jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union finden sich Tarif- und damit Kollektivverträge des Arbeitlebens. Die rechtstatsächliche Bedeutung ist dabei immens: In Belgien, Deutschland, Frankreich, Finnland, Schweden und Spanien werden beispielsweise z.T. mehr als 80 % aller Arbeitsverhältnisse durch Tarifverträge bestimmt, wobei in den meisten Mitgliedstaaten Verbandstarifverträge gegenüber Firmentarifverträgen die häufigere Erscheinungsform sind. Namentlich in Deutschland gewinnen die Firmentarife aber aufgrund ihrer gegenüber dem Flächentarif höheren Flexibilität an Bedeutung. Die Tarifautonomie ist mit Ausnahme von England in allen Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich gewährleistet. Seine einfachgesetzliche Grundlage findet das Tarifvertragsrecht in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen. Nur in Dänemark, Italien und Irland fehlt es ganz bzw. weitgehend an einer Kodifikation des Tarifrechts.

Die Geburtsstunde des Tarifvertragswesens in Europa liegt in der sich im Zuge der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellenden sozialen Frage. Mit dem von England ausgehenden Übergang vom Handwerk zur industriellen Produktion bildete sich eine neue Arbeiterklasse. Das Kapital lag in den Händen der Industriellen, während die Industriearbeiter zur Sicherung ihrer Existenz auf den „Verkauf“ ihrer Arbeitskraft angewiesen waren. Die Verhandlungsmacht des Arbeitnehmers in individualvertraglichen Verhandlungen mit seinem Arbeitgeber war zu gering. Insbesondere bestand für ihn bei Individualverhandlungen die Gefahr eines Unterbietungswettbewerbs. Der eigene Arbeitsplatz wurde durch diejenigen Arbeitnehmer gefährdet, die bereit waren, ihre Arbeitskraft zu einem geringeren Preis anzubieten. Als Reaktion auf dieses Verhandlungsungleichgewicht und die hieraus folgenden katastrophalen Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse waren die abhängig Beschäftigten geradezu gezwungen, sich in Interessenverbänden zu organisieren. Es erfolgte der Zusammenschluss zu Arbeitervereinen und später – mit Aufhebung des Koalitionsverbots – zu Gewerkschaften nach englischem Vorbild. Die Vereinigungsfreiheit in der besonderen Ausprägung der vielfach verfassungsrechtlich verankerten Koalitionsfreiheit (Koalitions- und Vereinigungsfreiheit) bildet bis heute die Grundlage des Tarifwesens. Von den Gewerkschaften wurden Tarifverträge geschlossen, die zunächst das Ergebnis von Streiks waren und ohne längere Laufzeit und Friedenspflicht vereinbart wurden. In der Folgezeit bezweckten sie dann auch die dauerhafte und allgemeine Regelung von Arbeitsbedingungen.

Seit jeher dient der Tarifvertrag dementsprechend zum einem dem Schutz des Arbeitnehmers, der als Einzelner nahezu machtlos ist (Schutzfunktion), und trägt dazu bei, Lohngerechtigkeit in seinem Geltungsbereich zu erzielen (Verteilungsfunktion). Zum anderen bewirkt er eine gewisse Typisierung und Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen (Ordnungsfunktion). In vielen Mitgliedstaaten stellt der Tarifvertrag außerdem sicher, dass während seiner Laufzeit um die in ihm geregelten Fragen kein Arbeitskampf geführt werden darf (Friedensfunktion).

2. Tendenzen der europäischen Rechtsentwicklung

Die Europäische Union hat auf dem Gebiet des gesamten kollektiven Arbeitsrechts und insbesondere im Bereich des Tarifvertragsrechts nur eine sehr eingeschränkte Kompetenz. Gemäß Art. 137(6) EG/‌153(6) AEUV gilt die durch Art. 137 EG/‌153 AEUV der EU grundsätzlich zuerkannte Zuständigkeit nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht. Dennoch macht das kollektive Arbeitsrecht nicht vor Europa halt. Die nationalen Sozialpartner, d.h. die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände der Mitgliedstaaten, haben längst ihre Dachverbände auf europäischer Ebene gegründet. Die wichtigsten sind die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE), der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Die Zusammenarbeit der Sozialpartner fand seit 1985 in den Val Duchesse-Gesprächen ihre Grundlage und wird bei regelmäßigen Treffen fortgeführt. Echte europäische Tarifverträge mit normativer Wirkung gibt es indes nicht. Bestrebungen hierzu wurden im Zuge der Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 durch ein Vetorecht von britischer Seite blockiert. Ergebnis der Verhandlungen war jedoch die Einführung eines sozialen Dialogs (s. unter 4.), der in der Folgezeit in Art. 139 EG/‌155 AEUV seine primärrechtliche Grundlage gefunden hat. Die Vorschrift wird durch die Nummern 11 und 12 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen) sowie Artikel II-28 des gescheiterten europäischen Verfassungsvertrags (Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen) rechtlich unverbindlich ergänzt. Ein Grundrecht der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie enthält das Primärrecht bis zum Inkrafttreten dieser Garantien indes nicht.

Demgegenüber unterliegt die national gewährleistete Tarifautonomie im Hinblick auf Verstöße gegen die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten einer Kontrolle durch den EuGH. Im Fall einer geplanten Umflaggung eines Fährschiffs von Finnland nach Estland und der damit verbundenen Anwendung estnischer statt finnischer Gesetze und Tarifverträge hat der EuGH im Jahr 2007 einen Streik für unverhältnismäßig erklärt. Ziel dieses Streiks war der Abschluss eines Tarifvertrages, der seinem Inhalt nach geeignet war, den Arbeitgeber von der Registrierung eines Schiffes unter der Flagge eines Mitgliedstaats abzubringen. Der EuGH hat insoweit die unmittelbare Bindung der Gewerkschaften an die Niederlassungsfreiheit des Arbeitgebers hervorgehoben, zugleich aber auch ein europäisches Grundrecht auf kollektive Maßnahmen anerkannt. Die Grundfreiheit des Art. 43 EG/‌49 AEUV stehe einer Arbeitskampfmaßnahme dann entgegen, wenn letztere nicht durch die Verwirklichung des Grundrechts auf kollektive Maßnahmen und den Arbeitnehmerschutz gerechtfertigt sei (EuGH Rs. C-438/‌05 – Viking Line, Slg. 2007, I-10779).

3. Regelungsstrukturen in den nationalen Rechtsordnungen

Abgesehen von dem in Art. 139 EG/‌155 AEUV vorgesehenen sozialen Dialog der Sozialpartner ist bislang im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts keine gemeinschaftsrechtliche Maßnahme zur Angleichung des Tarifrechts getroffen worden. Grund dafür sind v.a. die heterogenen kollektivarbeitsrechtlichen Systeme in Europa. Die Tarifvertragsstrukturen in den einzelnen Ländern unterscheiden sich z.T. erheblich voneinander, und selbst grenzüberschreitende Rechtskreise lassen sich nur eingeschränkt feststellen.

Der Abschluss eines Tarifvertrags setzt immer Tariffähigkeit voraus, d.h. die Fähigkeit, Partei eines Tarifvertrags zu sein. Das sind regelmäßig Arbeitgeber, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Auf Gewerkschaftsseite wird in den meisten Rechtsordnungen neben der Voraussetzung des Zusammenschlusses von Arbeitnehmern zur Interessenvertretung und dem Willen zum Tarifabschluss ein bestimmtes Maß an Repräsentativität und Gegnerunabhängigkeit gefordert. Hintergrund dafür ist die Gewährleistung eines Verhandlungsgleichgewichts auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. Vermieden werden soll, dass die Regelung der Arbeitsbedingungen wegen der fehlenden Durchsetzungskraft der Gewerkschaft auf einem Diktat der Arbeitgeberseite beruht. Angestrebt wird ein fairer Interessenausgleich zwischen den Parteien. Dementsprechend können beispielsweise in Belgien, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Italien, den Niederlanden, Polen, Ungarn, Tschechien und (nach formaler behördlicher Anerkennung) auch in Österreich, Irland und der Türkei nur repräsentative Verbände Tarifverträge abschließen. In Deutschland ist an die Stelle der (weitgehend formell anhand der Mitgliederzahl zu bestimmenden) Repräsentativität das durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelte strengere Kriterium der sozialen Mächtigkeit und organisatorischen Leistungsfähigkeit getreten (BAG 6.6.2000, NZA 2001, 160).

In England wiederum muss eine Gewerkschaft, die mit einem Arbeitgeber in Tarifverhandlungen treten will, zunächst von diesem als Verhandlungspartner anerkannt werden (sog. recognition), was aber gleichfalls den Gewerkschaften ein gewisses soziales Durchsetzungsvermögen und eine Bereitschaft zum Arbeitskampf abverlangt. Gegebenenfalls wird die Anerkennung mit Hilfe von Streikmaßnahmen gegenüber dem Arbeitgeber erkämpft. Keine Anforderungen im Hinblick auf die Repräsentativität der Gewerkschaft stellen Dänemark, Estland, Finnland und Schweden.

Von erheblicher Bedeutung sind die Auswirkungen des Tarifvertrags auf das einzelne Arbeitsverhältnis. Modelle mit einer sog. Doppelnatur des Tarifvertrags sind in der EU am weitesten verbreitet. Neben einem schuldrechtlichen Teil, der die Rechte und Pflichten zwischen den tarifschließenden Parteien regelt, enthält der Tarifvertrag in seinem normativen Teil Tarifbestimmungen, die normativ auf das Arbeitsverhältnis wirken. Das bedeutet, dass der Tarifvertrag auf individualvertraglicher Ebene wie ein Gesetz unmittelbare und zwingende Anwendung findet, so beispielsweise in Deutschland, Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Österreich, Polen Spanien, Ungarn und der Türkei. Der zwingende Charakter der Regelungen des Tarifvertrags bedeutet, dass die Normen grundsätzlich nicht durch eine Vereinbarung im Arbeitsvertrag abbedungen werden dürfen. Denkbar ist ein Verbot von Abweichungen sowohl zugunsten als auch zulasten des Arbeitnehmers mit der Folge von tarifvertraglichen Mindest- und Höchstarbeitsbedingungen. Diese zweiseitig zwingende Wirkung, die der Verwirklichung möglichst einheitlicher Arbeitsbedingungen dient, ist in den Niederlanden, Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland und Schweden vorherrschend bzw. kann dort durch entsprechende Vereinbarung im Tarifvertrag vorgeschrieben werden. Den meisten anderen Rechtsordnungen ist die Zulässigkeit einer Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen fremd. Entsprechend der Schutzfunktion des Tarifvertrags und um die mit Höchstarbeitbedingungen verbundene massive Einschränkung der Privatautonomie zu vermeiden gilt hier das Günstigkeitsprinzip, wonach eine Abweichung vom Tarifvertrag auf einzelvertraglicher Ebene zulässig ist, wenn eine entsprechende individualrechtliche Absprache zugunsten des Arbeitnehmers ausgestaltet ist (vgl. in Deutschland § 4 Abs. 3 TVG). Der Tarifvertrag bindet in diesen Fällen einseitig nur den Arbeitgeber in dem Sinne, dass die von ihm gewährten Arbeitsbedingungen nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers vom Tarifvertrag abweichen dürfen.

Ein grundlegend anderes Regelungskonzept der Tarifwirkung ist in Großbritannien zu finden, wo einer Tarifvereinbarung (collective agreement) die rechtliche Verbindlichkeit und gerichtliche Durchsetzbarkeit fehlt. Es besteht die (nunmehr gesetzlich geregelte und auf das common law zurückgehende) Vermutung, dass die Parteien einer Tarifvereinbarung sich nicht rechtlich binden wollen, es sei denn, die Tarifvereinbarung ist in Schriftform abgefasst und enthält eine Bestimmung, aus der sich ergibt, dass die Parteien eine rechtlich bindende Vereinbarung wünschen. Solche Klauseln sind in der Praxis nur selten anzutreffen. Die Regelungen der Tarifvereinbarung entfalten aber mittelbar eine Bindungswirkung, wenn einzelvertraglich auf sie Bezug genommen wird. Das englische Arbeitsrecht greift hierbei relativ großzügig auf das Instrument der konkludenten Bezugnahme zurück. Außerdem besteht eine faktische Bindung der Tarifpartner an die Tarifvereinbarung. Wegen der fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit bleibt auch eine Friedenspflicht (no-strike clause), die Arbeitskämpfe während der Laufzeit untersagt, rechtlich folgenlos. Entsprechend dem Schlagwort britischer Gewerkschaften „Bite with the law today, and be bitten by the law tomorrow!“ halten sich jedoch die meisten Unternehmen an die Bestimmungen der Tarifvereinbarung, um das Risiko eines sonst drohenden Arbeitskampfes im Unternehmen zu vermeiden. Ähnliches gilt für Irland, wo Tarifvereinbarungen ebenfalls nicht bindend wirken, soweit sie nicht Bestandteil des Arbeitsvertrages geworden oder beim Labour Court registriert worden sind.

Zwischen den beiden gegensätzlichen Modellen der Tarifwirkung – normative Wirkung einerseits und rechtliche Unverbindlichkeit andererseits – liegen das dänische und schwedische Recht. Der Arbeitgeber ist hier nur den Gewerkschaften, nicht aber dem einzelnen Arbeitnehmer gegenüber zur Einhaltung der Tarifbestimmungen verpflichtet. Daraus folgt, dass allein die Gewerkschaft, nicht aber der Arbeitnehmer Rechte aus dem Tarifvertrag gerichtlich geltend machen kann. In der Praxis hat dieses Regelungskonzept zu einem sehr hohen Organisationsgrad von Arbeitnehmern in Gewerkschaften und deren sozialer Anerkennung geführt.

Konsequenz der fehlenden zwingenden Wirkung nach englischem Recht ist, dass sich die Frage nach der Tarifbindung, d.h. danach, welche Arbeitsverhältnisse von den Tarifparteien normativ erreicht werden können, nicht stellt. Bei Tarifsystemen mit normativem Charakter ist demgegenüber die Feststellung des Anwendungsbereichs eines Tarifvertrags von großer praktischer Relevanz. In den meisten Rechtsordnungen gilt, dass eine Tarifbindung auf Arbeitgeberseite nur erreicht werden kann, wenn der Arbeitgeber Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes oder aber – im Fall des Firmentarifvertrags – unmittelbarer Vertragspartner der Gewerkschaft ist. Unabhängig von der Mitwirkung des Arbeitgebers kann eine Tarifbindung darüber hinaus durch das Institut der Allgemeinverbindlicherklärung – entsprechend dem deutschen § 5 TVG – erreicht werden. Dies ermöglicht es, Tarifnormen durch staatlichen Hoheitsakt auf nichtorganisierte Arbeitgeber zu erstrecken. Eine solche Ausdehnung der Tarifbindung durch staatliche Allgemeinverbindlicherklärung erlauben zahlreiche Mitgliedstaaten, so etwa Belgien, Deutschland, Griechenland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, Ungarn und Tschechien. Der Tarifvertrag gilt dann ausnahmslos für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der jeweiligen Branche und Region, die seinem fachlichen und räumlichen Geltungsbereich entsprechen.

Außerhalb des Wirkungsbereichs von Allgemeinverbindlicherklärungen gibt es im Hinblick auf die rechtliche Bindung des Arbeitnehmers an Tarifverträge in den einzelnen Mitgliedstaaten beachtliche Unterschiede. In Deutschland gilt das Prinzip der doppelten und zudem kongruenten Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG), demzufolge die Normen eines Tarifvertrags nur dann unmittelbar und zwingend gelten, wenn sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer Angehörige der tarifschließenden Verbände sind. Im Interesse einheitlicher Arbeitsbedingungen sind in der Praxis aber sog. Bezugnahmeklauseln im Einzelarbeitsvertrag weit verbreitet, die zwar keine normative Geltung der Tarifbestimmungen im Arbeitsverhältnis bewirken, dafür aber auf arbeitsvertraglicher Ebene zu einer schuldrechtlichen Bindung des Arbeitgebers gegenüber nichtorganisierten Arbeitnehmern führen. Eine solche Bindung kann sogar durch schlichte betriebliche Übung entstehen. Weitaus häufiger anzutreffen sind in den Mitgliedstaaten Modelle mit einer vollen „Außenseiterwirkung“: In etwas mehr als der Hälfte aller europäischen Rechtsordnungen ist der Tarifvertrag eines gebundenen Arbeitgebers im Verhältnis zu allen seinen Arbeitnehmern, also auch gegenüber den nicht gewerkschaftsangehörigen, rechtlich verbindlich. Beispielhaft genannt seien Frankreich, Griechenland und Italien im Hinblick auf die dort vorherrschenden nationalen Tarifverträge sowie Belgien, Dänemark, Lettland, Österreich, Finnland, die Niederlande, Polen und Tschechien in Bezug auf die jeweils geltenden Verbands- und Firmentarifverträge.

Auch zur rechtlichen Beurteilung einer sich im Betrieb ergebenden Tarifkonkurrenz – d.h. mehrere Tarifverträge sind auf ein Arbeitsverhältnis anwendbar – bzw. einer Tarifpluralität – d.h. ein Betrieb wird vom Geltungsbereich verschiedener Tarifverträge erfasst, an die der Arbeitgeber gebunden ist – sind in den Mitgliedstaaten verschiedene Lösungsansätze erkennbar. Während in Deutschland das Ziel verfolgt wird, nach dem (mittlerweile allerdings sehr umstrittenen) Grundsatz der Tarifeinheit in einem Betrieb jeweils nur einen Tarifvertrag zur Anwendung zu bringen, können in einigen Rechtsordnungen, so etwa in Italien, den Niederlanden, Belgien, Portugal, Schweden und Österreich, grundsätzlich mehrere Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften nebeneinander angewendet werden. Andere Länder wiederum vermeiden die Entstehung einer Tarifkonkurrenz durch gesetzliche Regelungen, in denen etwa die Zuständigkeiten der Verbände für eine bestimmte Branche explizit festgeschrieben werden. In Frankreich muss der Arbeitgeber allen im Betrieb vertretenen Gewerkschaften die Beteiligung an Tarifverhandlungen anbieten.

4. Vereinheitlichungsprojekte

Die Globalisierung der Märkte, der technologische Fortschritt und der wachsende internationale Wettbewerb führen zu einem wachsenden Bedarf nach einer grenzüberschreitenden, einheitlichen Tarifpolitik der Verbände und Unternehmen. Zu begrüßen sind daher Vereinheitlichungsprojekte, die auf europäischer Ebene eine Harmonisierung der nationalen Tarifvertragssysteme anstreben.

Einen ersten Schritt in diese Richtung, der zugleich mit der wünschenswerten Stärkung der Stellung der europäischen Sozialpartner verbunden ist, stellt der „soziale Dialog“ dar. Er wurde über das Protokoll über die Sozialpolitik, das dem Vertrag von Maastricht 1992 als Annex beigefügt war, durch den Vertrag von Amsterdam in den EG-Vertrag eingefügt (Sozialpartnervereinbarungen). Hiernach muss die Kommission vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik die europäischen Sozialpartner anhören (Art. 138 EG/‌154 AEUV). Die Sozialpartner können gegenüber der Kommission eine Stellungnahme oder Empfehlung abgeben oder aber erklären, dass sie eine Rahmenvereinbarung nach Art. 139 EG/‌155 AEUV aushandeln wollen. Gelingt es ihnen, innerhalb von neun Monaten eine solche Vereinbarung über den Inhalt des Vorschlags zu erzielen, so ist diese Vereinbarung Grundlage für die Rechtsetzung. Erreichen die Sozialpartner innerhalb der Frist keine Einigung, wie dies z.B. bei Einführung des Europäischen Betriebsrats der Fall war, erhält die Europäische Gemeinschaft wieder die volle Rechtsetzungskompetenz.

Umgesetzt werden soll die Vereinbarung nach Art. 139 EG/‌155 AEUV in erster Linie durch die jeweiligen Verfahren und Gepflogenheiten der Sozialpartner und Mitgliedstaaten, d.h. durch Tarifverträge in den einzelnen Mitgliedstaaten bzw. deren Untergliederungen. Die Durchführung der Vereinbarung hängt damit nach wie vor von der freien Entscheidung der Mitgliedstaaten und der nationalen Sozialpartner ab.

Stellen die Unterzeichner der Vereinbarung einen Antrag nach Art. 139(2) EG/‌155(2) AEUV, wird die Vereinbarung durch einen Beschluss des Rates auf Vorschlag der Kommission umgesetzt. Die letztgenannte Möglichkeit wurde bereits mehrfach praktiziert, so wurden die Rahmenvereinbarung zum Elternurlaub, die Rahmenvereinbarung Teilzeit und die Rahmenvereinbarung Befristung jeweils durch Richtlinien umgesetzt (RL 96/‌34; RL 97/‌81; RL 1999/‌70).

Das europäische Modell des sozialen Dialogs ist in verschiedenen Mitgliedstaaten, jüngst etwa in Frankreich, auch auf nationaler Ebene aufgegriffen worden. In Deutschland wird ein Dialog der Sozialpartner in den letzten Jahren kaum praktiziert, vielmehr beschränken sich die Verbände auf eine Politik der Blockade notwendiger Reformen. Verbreitet besteht die Hoffnung, dass die auf Gemeinschaftsebene von den Sozialpartnern (UNICE, CEEP und EGB) geschlossenen Vereinbarungen keine Einzelfälle bleiben, vielmehr soll der soziale Dialog zukünftig zwischen den EU-Ländern verstärkt werden mit dem Ziel, langfristig den Weg für einen europäischen Tarifvertrag zu ebnen. Die dabei zu bewältigenden Schwierigkeiten sind indes erheblich, vieles ist nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Mitgliedstaaten umstritten. Die Festlegung europaweit einheitlicher Sozialstandards – etwa die zur Zeit diskutierte Einführung eines Mindestlohns – setzt zunächst die Aufnahme einer umfassenden europäischen Tarifpolitik voraus, die bislang kaum in Ansätzen existiert.

Literatur

Franz Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, 1997; Commission européenne, La réglementation des conditions de travail dans les États membres de l’Union européenne, Bd. 1: Droit comparé des États membres; Bd. 2, Mise en perspecives des systèmes juridiques des États membres, 1998; Olaf Deinert, Der Europäische Kollektivvertrag, 1999; Robert Rebhahn, Das Kollektive Arbeitsrecht im Rechtsvergleich, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2001, 763 ff.; Maximilian Fuchs, Franz Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 2006; Martin Henssler, Axel Braun, Arbeitsrecht in Europa, 2. Aufl. 2007; Gregor Thüsing, § 1 Rn. 116 ff., in: Herbert Wiedemann (Hg.), Tarifvertragsgesetz, 2007; Martin Henssler, §§ 1 ff. TVG in: Martin Henssler, Heinz Josef Willemsen, Heinz-Jürgen Kalb (Hg.), Arbeitsrecht, 2008.

Abgerufen von Tarifverträge – HWB-EuP 2009 am 28. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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