Sozialpartnervereinbarung: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 8. September 2021, 11:47 Uhr

von Abbo Junker

1. Geschichte und Entwicklung

Die von Jacques Delors entwickelte Idee des sozialen Dialogs wurde am 31.1.1985 durch die Initiierung eines Sozialen Dialogs auf dem Brüsseler Schloss Val Duchesse erstmals umgesetzt und im Jahre 1987 in Art. 118b EG i.d.F. der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) verankert. Art. 118b verpflichtete die Kommission, sich darum zu bemühen „den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln“; dabei konnten vertragliche Beziehungen ein Ergebnis des Dialogs sein. Bei der Maastrichter Regierungskonferenz von 1991 sollte eine Erweiterung der sozialpolitischen Kompetenzen im Wege einer Änderung des EG-Vertrages erfolgen. Allerdings sperrte sich das Vereinigte Königreich gegen jegliche Ausdehnung sozialrechtlicher Kompetenzen. Dieserhalb wurde dem – weiterhin unveränderten – EG-Vertrag ein Protokoll über die Sozialpolitik beigefügt, das zu einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ führte. Das Protokoll nahm Bezug auf ein Abkommen zwischen den 11 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft über die Sozialpolitik (AüS), das keine Geltung für das Vereinigte Königreich entfaltete. Dieses Abkommen stärkte nicht nur den sozialen Dialog, sondern bestimmte auch erstmals rechtlich die Rolle der Sozialpartner. Nach dem 1997 vollzogenen Regierungswechsel im Vereinigten Königreich gelang es am 2.10.1997, die Bestimmungen des AüS fast wortgleich in den Vertrag von Amsterdam zu übernehmen (Art. 138 f. EG). Mit dem Vertrag von Nizza wurde die Liste der Gebiete (Art. 137 EG/‌153 AEUV), in denen die Gemeinschaft zur Verwirklichung der sozialen Ziele (Art. 136 EG/‌151, 152 AEUV) tätig werden kann, ergänzt.

2. Arten des sozialen Dialogs

Nach Artikel 137 ff. EG/‌153 ff AEUV werden vier Typen des Sozialdialogs unterschieden. Zum informellen Sozialdialog zählen vielfältige Willensbekundungen der Beteiligten, wie beispielsweise Mitteilungen der Europäischen Kommission. Die Beteiligung der Sozialpartner im Rahmen von Anhörungen und die Förderung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern nach Art. 138 EG/‌154 AEUV erfolgt im Rahmen des vertikalen institutionellen Sozialdialogs. Im Bereich des horizontalen institutionellen Sozialdialogs werden die Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern getroffen, die im Wege des legislativen Sozialdialogs dann Bestandteil des Gemeinschaftsrechts oder des nationalen Rechts werden können. Auch werden hier Stellungnahmen der Sozialpartner formuliert. Der legislative Dialog erfolgt im Rahmen der Art. 138(2)-(4) und 139 EG/‌154(2)-(4) und 155 AEUV und ist Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens der Gemeinschaft.

3. Europäische Sozialpartner

Weder in Art. 138, 139 EG/‌154, 155 AEUV noch an anderer Stelle, sagt das Gemeinschaftsrecht, wer Sozialpartner des sozialen Dialogs ist. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte, haben sich im Bereich von branchenübergreifenden Aktivitäten die europäischen Dachverbände als bislang vorrangige Gesprächspartner der Gemeinschaft etabliert. Auf Arbeitgeberseite sind dies die Europäische Vereinigung der Arbeitgeber- und Industrieverbände (UNICE) und der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und auf Arbeitnehmerseite der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB). Im branchenbezogenen oder sektoralen Bereich gibt es eine Vielzahl von Fachverbänden und ‑gewerkschaften. Nach der Rechtsprechung des EuGH existiert allerdings kein Recht der Sozialpartner auf Beteiligung der Sozialpartner nach Art. 138(2) EG/‌154(2) AEUV, was auf die anderen Beteiligungsrechte der Sozialpartner übertragbar sein dürfte. Für die Anhörungsteilnahme nach Art. 138(3) EG/‌154(3) AEUV hat der EuGH in der Mitteilung der Europäischen Kommission KOM(93) 600 endg. verschiedene Bedingungen aufgestellt.

4. Beteiligungsrechte der Sozialpartner

Nach Art. 138(1) EG/‌154(1) AEUV hat die Kommission die Aufgabe, die Anhörung der Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene zu fördern, und erlässt alle zweckdienlichen Maßnahmen, um den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu erleichtern, wobei sie für Ausgewogenheit bei der Unterstützung der Parteien sorgt. Diese allgemeine Aufgabe wird durch verschiedene Beteiligungsrechte konkretisiert.

a) Anhörungsrechte

Nach Art. 138(2) und (3) EG/‌154(2) und (3) AEUV hat die Kommission vor Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik die Sozialpartner anzuhören. Die Sozialpartner können von dem Anhörungsrecht durch Übermittlung einer Stellungnahme oder einer Empfehlung an die Kommission Gebrauch machen (Art. 138(3) EG/‌154(3) AEUV). Die Sozialpartner können aber auch von der Möglichkeit des Art. 138(4) EG/‌154(4) AEUV Gebrauch machen und der Kommission mitteilen, dass sie den Prozess nach Art. 139 EG/‌155 AEUV in Gang setzen wollen.

b) Rechtsetzungskompetenz

Der soziale Dialog nach Art. 138(4), 139 EG/‌‌154(4), 155 AEUV eröffnet die Beteiligung der Sozialpartner an der europäischen Rechtsetzung in zweifacher Weise. Hat die Kommission bereits die Initiative ergriffen, können sie nach Art. 138 (4) EG/‌154(4) AEUV in der Zweiten Konsultationsphase das Gesetzgebungsverfahren an sich ziehen. Zweitens können die europäischen Sozialpartner nach Art. 139(1) EG/‌155(1) AEUV von sich aus die Initiative ergreifen und den Abschluss einer Vereinbarung über einen Gegenstand der europäischen Gesetzgebung anstreben.

Die Umsetzung der von den Sozialpartnern geschlossenen Vereinbarung ist, soweit sie nicht durch die Sozialpartner selbst nach dem jeweiligen nationalen Tarifvertragsrecht oder durch den Mitgliedstaat selbst erfolgt (Art. 139(2) 1. Alt. EG/‌155(2) 1. Alt. AEUV), auf gemeinsamen Antrag der Sozialpartner durch einen Beschluss des Rates auf Vorschlag der Kommission möglich, soweit der Gegenstand vom Regelungsbereich des Art. 137 EG/‌153 AEUV erfasst wird (Art. 139(2) 2. Alt. EG/‌155(2) 2. Alt. AEUV).

Die Regelung in Art. 139(2) 1. Alt. EG/‌155(2) 1. Alt. AEUV zeigt, dass die Vereinbarung nach Art. 139(1) EG/‌155(1) AEUV auf einen zweiaktigen Rechtsschöpfungsvorgang angewiesen ist und eine bloß politische, rechtlich aber unverbindliche Vorgabe mit empfehlendem Charakter für die Umsetzungsorgane darstellt. Nur die am Abschluss der Vereinbarung Beteiligten sind an den Inhalt gebunden, nicht aber die Sozialpartner auf mitgliedstaatlicher Ebene oder gar die Mitgliedstaaten selber. Auch wird durch Art. 139(1) EG/‌155(1) AEUV nicht die Setzung normativer Regelungen, d.h. die Basis für den Abschluss europäischer Tarifverträge ermöglicht. Unmittelbare Wirkung entfaltet der Inhalt der Vereinbarung erst durch nationales Kollektivvertragsrecht oder normative Rechtsakte der zuständigen Gesetzgebungsorgane.

Die Durchführung der Vereinbarung nach Art. 139(1) EG/‌155(1) AEUV durch Beschluss des Rates nach Art. 139(2) 2. Alt. EG/‌155(2) 2. Alt. AEUV stellt die europarechtliche Transformation der Vereinbarung dar. Im Gegensatz zur Umsetzung seitens der Sozialpartner oder der Mitgliedstaaten (Art. 139(1) 1. Alt. EG/‌155(1) 1. Alt. AEUV) ist eine Transformation durch Ratsbeschluss nur bei Vereinbarung in den durch Art. 137 EG/‌153 AEUV erfassten Bereichen möglich. Zu beachten ist Art. 137(5)/‌153(5) AEUV, wonach sich Vereinbarungen nicht auf das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht beziehen können. Der Rat beschließt bei der Umsetzung der Vereinbarungen mit qualifizierender Mehrheit, es sei denn, die Vereinbarung betrifft einen Bereich des Art. 137(3) EG/‌153(3) AEUV; dann ist ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich. Die Rechtsnatur des Ratsbeschlusses nach Art. 139 (2) EG/‌155(2) AEUV ist vielfach diskutiert worden. Nach bisheriger Praxis hat der Beschluss nach Systematik, Sinn und Zweck des Art. 139(2) Richtliniencharakter. Verfahrensrechtlich sind der gemeinsame Antrag der Unterzeichnerparteien der Vereinbarung und der Vorschlag der Kommission erforderlich.

c) Durchführungskompetenz

Nach Art. 137(3) EG/‌153(3) AEUV kann ein Mitgliedstaat den Sozialpartnern auf deren gemeinsamen Antrag hin die Durchführung von aufgrund des Art. 137(2) EG/‌153(2) AEUV angenommenen Richtlinien übertragen. Der Mitgliedstaat vergewissert sich in diesem Fall, dass die Sozialpartner spätestens bis zu dem Zeitpunkt, zu dem eine Richtlinie nach Art. 249 EG/‌288 AEUV umgesetzt sein muss, im Wege einer Vereinbarung die erforderlichen Vorkehrungen getroffen haben. Damit die durch die Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnisse erzielt werden, muss der Mitgliedstaat notfalls selber tätig werden. In Deutschland wurde von Art. 137(3)/‌‌153(3) AEUV bisher noch nicht Gebrauch gemacht.

d) Kritik am sozialen Dialog

Im Fokus der Kritiker ist die von ihnen so genannte „parlamentsersetzende Funktion“ des sozialen Dialogs, die mit dem Demokratieprinzip unvereinbar sein soll. Kritiker befürworten eine teleologische Reduktion des Art. 139 EG/‌155 AEUV in der Weise, dass auch bei der Rechtsetzung nach dieser Vorschrift das Europäische Parlament gemäß den Vorgaben des Art. 137 EG/‌153 AEUV zu beteiligen ist. Die institutionsrechtliche und die rechtspolitische Kritik an der Beteiligung der Sozialpartner im sozialen Dialog sind nicht berechtigt; die Mitwirkung ist vielmehr ein legitimes Element gemeinschaftlicher Sozialpolitik.

e) Autonomie der Sozialpartner

Die gewünschte Wirkung des sozialen Dialogs – Sachnähe, Effizienz und Akzeptanz – kann nur erzielt werden, wenn er sich in uneingeschränkter Autonomie der Sozialpartner vollzieht. In Verlautbarung der Kommission wird das Nichteinmischungsprinzip auch mehr oder weniger akzeptiert. Von der herrschenden Meinung wird ein allgemeiner Vorrang des sozialen Dialogs vor Regelungen durch den Gemeinschaftsgesetzgeber, der auch späteren Änderungen einer Sozialpartnervereinbarung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber entgegenstünde, allerdings abgelehnt. Es ist somit wichtig, rechtspolitisch die zentrale Rolle der Sozialpartner für das europäische Arbeitsrecht zu betonen und das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines von Kommissionsaktivitäten unbeeinflussten sozialen Dialogs zu schärfen.

5. Richtlinien aufgrund von Sozialpartnervereinbarungen

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft (Rat und Europäischer Rat) verschiedene Richtlinien erlassen, die aus dem in Art. 138(4), 139 EG/‌154(4), 155 AEUV geregelten sozialen Dialog hervorgehen. Drei Rahmenvereinbarungen der Sozialpartner sind so in sekundäres Gemeinschaftsrecht umgesetzt worden, und zwar über den Elternurlaub, die Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge. Hinzu kommen Vereinbarungen – z.B. über Telearbeit –, zu denen die Sozialpartner keine Umsetzung durch Ratsbeschluss beantragt haben, sowie eine größere Zahl sektoraler und branchenübergreifender Stellungnahmen.

Literatur

Christian Arnold, Die Stellung der Sozialpartner in der europäischen Sozialpolitik, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2002, 1261 ff.; Ursula Rust, Art. 98–188 EGV, in: Hans von der Groeben, Jürgen Schwarze (Hg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 3, 6. Aufl. 2003; Olaf Deinert, Partizipation europäischer Sozialpartner an der Gemeinschaftsrechtssetzung, Recht der Arbeit 2004, 211 ff.; Abbo Junker, Die Zukunft des europäischen Arbeitsrechts, Recht der Internationalen Wirtschaft 2006, 721 ff.; Maximilian Fuchs, Franz Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2006; Gregor Thüsing, Europäisches Arbeitsrecht, 2008; Roland Schwarze, Sozialer Dialog im Gemeinschaftsrecht, Teil B 8100, in: Hartmut Oetker, Ulrich Preis (Hg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (EAS) (Loseblatt).

Abgerufen von Sozialpartnervereinbarung – HWB-EuP 2009 am 29. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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