Skandinavische Rechtsvereinheitlichung

Aus HWB-EuP 2009
Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr von Admin (Diskussion | Beiträge) (1 Version importiert)

von Anneken Kari Sperr

1. Begriff und Abgrenzung

Der Begriff der skandinavischen Rechtsvereinheitlichung umfasst zunächst die Zusammenarbeit der nordischen Länder bei der Schaffung und Abstimmung von Gesetzgebungsakten mit dem Ziel einer größtmöglichen Vereinheitlichung der Rechtsgrundlagen. Des Weiteren schließt er einen rechtskulturellen Aspekt (Rechtskultur), die Gemeinschaft der nordischen Juristen, ein, die aus vielfältigen Kontakten, Anknüpfungspunkten und Netzwerken zwischen den Rechtgelehrten, Juristen im öffentlichen Dienst und Anwälten der verschiedenen nordischen Länder besteht.

Beide Elemente haben im Laufe der vergangenen gut 150 Jahre zu einer Reihe nahezu gleichlautender Gesetze auf dem Gebiet des Privatrechts geführt. Darüber hinaus haben sie gemeinsame Grundzüge und Rechtstraditionen geschaffen, die es ermöglichen, vom nordischen Recht als einer eigenen Rechtsfamilie (Rechtskreislehre), einer nordischen Rechtstradition unter den Rechtssystemen der Welt zu sprechen.

Kennzeichnend für die skandinavische Rechtsvereinheitlichung ist, dass sie nur in sehr bescheidenem Maße institutionalisiert ist. Sie beruht im Wesentlichen auf einer gemeinsamen Wertegrundlage, einer mehr oder weniger gemeinsamen Sprache und auf persönlichen Kontakten; gleichwohl wird auf vereinzelte gemeinsame Institutionen noch zurückzukommen sein.

In jüngerer Zeit wird die skandinavische Rechtsvereinheitlichung vor allem durch den europäischen Integrationsprozess vor neue Herausforderungen gestellt. Innerhalb der nordischen Diskussion wird das Recht der Europäischen Union als übernationales Rechtssystem zum Teil als Bedrohung bzw. jedenfalls als wesentlicher Faktor für den Rückgang der nordischen Zusammenarbeit wahrgenommen. Andere verstehen die Mitgliedschaft in der EU bzw. im EWR (Europäischer Binnenmarkt) als Anlass zur Revitalisierung und zur Entwicklung neuer Formen der Zusammenarbeit.

2. Nordische Gesetzeszusammenarbeit

Die Zusammenarbeit der nordischen Länder bei der Schaffung und Anpassung von Gesetzgebungsakten begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Den Auftakt machte nach allgemeiner Auffassung das erste Nordische Juristentreffen im Jahre 1872, an dem zahlreiche erfolgreiche und bekannte Juristen aus Schweden, Dänemark und Norwegen konkrete Initiativen für gemeinsame Gesetze entwickelten. Finnland kam erst nach seiner Unabhängigkeit vom Russischen Reich im Jahre 1918 hinzu. Island hat sich aufgrund von mangelnden Ressourcen häufig aus der aktiven Beteiligung an der Gesetzeszusammenarbeit herausgehalten, deren Resultate aber für sich nutzbar gemacht.

Neben der sprachlichen Nähe zwischen den nordischen Ländern, dem geografischen Aspekt und den historisch-politischen Idealen Skandinaviens war die Gesetzeszusammenarbeit während der vergangenen ca. 150 Jahre im Wesentlichen von vier Faktoren geprägt: Zunächst bestand gerade nach dem Niedergang des Skandinavismus, einer politischen Bewegung, die im 19. Jahrhundert eine Vereinigung der skandinavischen Länder anstrebte, die romantisierte Vorstellung von einem gemeinsamen nordischen Rechtserbe, das es wieder zu beleben und zu entwickeln galt. Diese Vorstellung war zum einen in einzelnen tatsächlichen Gemeinsamkeiten begründet, die in die altnordische, klassisch-norrøne Zeit (1050–1350) zurückreichten. Zum anderen bestanden weitgehende Parallelen zwischen den Rechtsordnungen in Dänemark und Norwegen (eingeschränkt auch Island) auf der einen und Schweden und Finnland auf der anderen Seite. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann also eine gewisse Annäherung zwischen der westnordischen und der ostnordischen Rechtstradition konstatiert werden. Ein weiterer Faktor waren die Einsparungen und die qualitative Verbesserung der Gesetzgebung, die durch die Zusammenarbeit dieser relativ kleinen Nationalstaaten erzielt werden konnten. Gemeinsame Rechtsgrundlagen wurden außerdem für den wirtschaftlichen Handelsverkehr zwischen den nordischen Ländern als wünschenswert und ökonomisch günstig erachtet. Schließlich wird die skandinavische Rechtsvereinheitlichung gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung gegen die Internationalisierung dieser Zeit verstanden. Unter dem Druck neuer europäischer Strömungen entschieden sich die nordischen Juristen bewusst für eine eigene Rechtstradition als dritte Alternative zum kontinentaleuropäischen romanisch-deutschen und angloamerikanischen Recht. Dies ist nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass das römische Recht in Skandinavien nur begrenzt rezepiert worden war, u.a. auch aufgrund der geringen Anzahl an Universitäten (Rezeption). Zugleich war man inspiriert vom deutschen Reich mit seiner Entwicklung hin zu einem einheitlichen Rechtssystem.

Im Wesentlichen bedurfte die nordische Gesetzeszusammenarbeit keiner festen Rahmenvereinbarungen oder besonderer Institutionen. Zwar wurde mit den Art. 2–7 des Abkommens von Helsinki (1962) eine gewisse Verpflichtung zur Zusammenarbeit vereinbart, diese Bestimmungen bleiben jedoch vage und werden selten erwähnt. Die Errichtung des Nordischen Rates (1952) und des Nordischen Ministerrates (1971) stellte die Gesetzeszusammenarbeit unter eine stärkere politische Steuerung. In den vergangenen Jahrzehnten war das nordische Embetsmannskomiteen for lovgivningssaker (Staatsbeamtenkomitee für Gesetzgebungsfragen), das sich aus Repräsentanten der verschiedenen nationalen Justizministerien zusammensetzt, das wichtigste Einzelorgan. Es bereitet u.a. die jährlichen nordischen Justizministerkonferenzen vor und bildet je nach Bedarf besondere Arbeitsgruppen. Von gewisser Dauer und daher besonders erwähnenswert sind hier vor allem die nordischen Expertengruppen für Familien- und Sorgerecht und für Strafrecht.

Die Zielrichtung der skandinavischen Gesetzeszusammenarbeit variierte je nach Rechtsgebiet, grundsätzlich wurde aber die Schaffung uniformer Gesetzestexte mit gleicher Struktur und gleichem Begriffsapparat angestrebt. Ein hohes Maß an Übereinstimmung erreichte man insbesondere in einigen zentralen Bereichen des Privat- und Familienrechts. In anderen Rechtsgebieten hat man sich auf gleiche Grundprinzipien oder auf die Vereinheitlichung von Einzelregelungen beschränkt oder lediglich Informationen über die gegenwärtige nationale Gesetzgebung ausgetauscht, in der Hoffung auf gegenseitige Anregung zu analogen Lösungen.

Unter den positiven Ergebnissen der Gesetzeszusammenarbeit seien, in chronologischer Reihenfolge, vor allem die größeren Projekte genannt wie etwa die Wechselgesetze aus den 1880er Jahren, die Seerechtsgesetze aus den 1890er Jahren und die gemeinsamen Kaufrechts‑, Vertrags- und Kommissionsgesetze zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den 1920er Jahren wurden die Ehegesetze, Versicherungsvertragsgesetze und Transportrechtsgesetze geschaffen, in den 1930er Jahren die Schuldbrief- und Scheckgesetze, Ergänzungen zu den Seerechtsgesetzen und gemeinsame Konventionen über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen und Rechtswahl im Bereich des Ehe-, Erb- und Konkursrechts. In den 1940er Jahren erarbeitete man gemeinsame Grundprinzipien zum Haftungs- und Schadensrecht, in den 1960er Jahren kamen Gesetze zum Urheber-, Marken- und Patenrecht hinzu sowie eine Konvention zur Durchsetzung von Strafurteilen. Aus den 1970er Jahren sind vor allem die gemeinsamen Aktiengesetze zu nennen. In den 1980er Jahren formulierte man einen Vorschlag zu einem neuen gemeinsamen Kaufrechtsgesetz, der jedoch nur teilweise umgesetzt wurde. In den 1990er Jahren kam es zu einer umfassenden Revision der Seerechtsgesetze.

Keinen Erfolg hatten dagegen zahlreiche schwedische und dänische Initiativen zur Schaffung einer ganzheitlichen Regulierung des zentralen Privatrechts, einem nordischen Zivilgesetzbuch; den letzten Vorschlag hierzu machte der dänische Rechtsgelehrte Vinding Kruse im Jahre 1948. In den Fällen, in denen grundsätzlich uniforme privatrechtliche Einzelgesetze geschaffen worden sind, finden sich zum Teil nicht unerhebliche Abweichungen in den Details. Im Bereich des öffentlichen Rechts gab es schließlich von je her nur geringe Ambitionen zur Rechtsvereinheitlichung.

Erwähnenswert ist außerdem eine umfangreiche rechtsvergleichende Studie zum nordischen Familien- und Erbrecht, die im Jahre 1998 vom Nordischen Ministerrat in Auftrag gegeben wurde. Sie mündete im Jahre 2003 in insgesamt vier Büchern zum dänischen, finnischen, isländischen, norwegischen und schwedischen Erb-, Ehe- Kindschafts- und Sorgerecht. Neben einer Darstellung der jeweiligen nationalen Regelungen ging es vor allem um die Erörterung von Reformerfordernissen und Harmonisierungsmöglichkeiten. Zwar hat diese Studie bislang keine grundlegende neue Gesetzeszusammenarbeit auf diesem Gebiet ausgelöst, sie dient jedoch der Rechtspraxis als wertvolle Orientierungshilfe und bietet der Rechtswissenschaft wie auch dem Gesetzgeber wichtige Anhaltspunkte und Anregungen für Rechtsfortentwicklungen im Einzelnen.

Seit der Nachkriegszeit, insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten, ist ein erheblicher Rückgang der nordischen Gesetzeszusammenarbeit festzustellen. Großprojekte werden immer seltener unternommen, und das mit einem geringeren Maß an Einheitlichkeit der Ergebnisse; dies gilt etwa für das Kaufvertragsrecht aus den 1980er Jahren. Ferner haben zunächst gleichlautende Rechtsgrundlagen durch nationale Gesetzesänderungen und unterschiedliche nationale Entwicklungen in Auslegung und Rechtspraxis einen immer unterschiedlicheren Inhalt erhalten. Schließlich wurden im Laufe der Jahre mehrere wichtige, ursprünglich einheitliche nordische Einzelgesetze auf nationaler Ebene novelliert, ohne dass ernsthafte Versuche zur Vereinheitlichung unternommen worden wären. Letzteres gilt etwa für das Versicherungsrecht und das Aktienrecht.

Für diesen Rückgang in der Gesetzeszusammenarbeit sind im Wesentlichen drei Hauptursachen anzuführen: Zum einen hat sich seit der Nachkriegszeit die Funktion des Rechts und der Gesetzgebung gewandelt; ausgehend von einem ursprünglich eher technischen Verständnis des Rechts als einer Domäne juristischer Fachleute wurde insbesondere die Gesetzgebung zunehmend als Instrument zur politischen Steuerung verstanden. Immer mehr Rechtsbereiche wurden gerade auch mit ihren politischen Bezügen wahrgenommen, immer weniger Bereiche galten als politisch unumstritten. Für die nationalen Politiker stellte das Bemühen um die nordische Rechtsvereinheitlichung ein Hindernis, zumindest aber eine Beeinträchtigung für erwünschte Fortentwicklungen und/‌oder Änderungen des Rechts dar. Eine weitere Ursache wird in der Ressourcenfrage und in strukturellen Änderungen in der Justizverwaltung gesehen. Inzwischen verfügen alle nordischen Länder zum einen über einen eigenen, gut ausgebauten Apparat zur Gesetzesvorbereitung, zum anderen können immer weniger gute Juristen für langwierige Arbeitsprozesse in internordischen Gesetzgebungsgremien abgestellt werden. Damit lässt die nordische Gesetzeszusammenarbeit heute weniger Einsparungen erwarten, als dies früher der Fall war. Ferner war sie traditionell maßgeblich von bestimmten Schlüsselpersonen in der Justizverwaltung abhängig, die sich über lange Jahre ein nordisches Netzwerk für ihr jeweiliges Fachgebiet aufgebaut haben. Heute wechseln diese zentralen Personen immer häufiger und schneller ihre Positionen, was die frühere Kontinuität in der Justizverwaltung und damit letztlich auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit schwächt. Die dritte Ursache wird in den besonderen Herausforderungen und Entwicklungen des europäischen Integrationsprozesses gesehen (s. unten 4.).

3. Die Gemeinschaft der nordischen Juristen

Der skandinavische Rechtsraum war und ist für viele Juristen eine attraktive Arena, weil er einerseits groß genug ist, um eine gewisse inhaltliche und qualitative Vielfalt zu bieten, andererseits ist er überschaubar genug, um den einzelnen Akteuren den Überblick über das eigene Fachgebiet zu gewähren und persönliche Kontakte zu ermöglichen. Auch gibt es kaum sprachliche Barrieren; jeder kann in der eigenen Sprache publizieren und rechtspraktisch agieren und zugleich verstehen, was von anderen veröffentlicht worden ist; für Finnland und Island gilt dies etwas eingeschränkter.

Ein wichtiges Forum sowohl auf wissenschaftlicher als auch rechtspraktischer Ebene waren und sind die schon erwähnten Nordischen Juristentreffen, die seit 1872 jedes dritte Jahr an wechselnden Orten arrangiert werden. Zwar haben diese über die Jahre ihre Bedeutung als zentrale Arena für die nordische Gesetzeszusammenarbeit verloren, sie finden gleichwohl noch immer großen Anklang.

Zwischen den Universitätsjuristen bestehen seit je her enge persönliche Kontakte, die jedoch auch durch gewachsene Traditionen aufrechterhalten werden. So ist es üblich und erforderlich, in der wissenschaftlichen Arbeit Referenzen aus der Lehre und Rechtspraxis der anderen nordischen Länder aufzugreifen. In den Prüfungsausschüssen von Doktorarbeiten und in den Kommissionen zur Berufung neuer Professoren wird grundsätzlich die Teilnahme eines ausländischen, zumeist nordischen Rechtswissenschaftlers vorausgesetzt. Auf diese Weise wird ein gemeinsamer rechtswissenschaftlicher Standard gewährleistet.

Ein weiteres Band sind die gemeinsamen juristischen Fachzeitschriften. Zu nennen sind hier vor allem die Tidskrift for Rettsvitenskap (TfR), des Weiteren Zeitschriften in den Bereichen Immaterialgüterrecht, Völkerrecht, Strafrecht, Rechtssoziologie, Kriminologie und Verwaltung (Nordisk Immateriellt Rättsskyld; Nordic Journal of International Law; Retfærd; Nordisk Tidskrift for Kriminalvitenskab; Nordisk Administrativt Tidsskrift). Von der Universität Stockholm wird ferner das Jahrbuch Scandinavian Studies in Law herausgegeben.

Unter den Studenten sind Auslandssemester an anderen nordeuropäischen Fakultäten wenig verbreitet, ein Austausch findet jedoch etwa durch die sog. Studentjuriststevnene statt, einem einwöchigen Arrangement intensiven fachlichen und sozialen Austauschs für etwa 60 Studenten aller nordischen Fakultäten, das seit 1843 jedes dritte Jahr stattfindet. Ferner sind hier der nordische Moot Court für Menschenrechte zu nennen sowie die jährlich arrangierte Nordisk Uke (Nordische Woche), die den Austausch zwischen den gewählten Studentenvertretern ermöglicht.

In der Rechtspraxis beschränkt sich die Zusammenarbeit auf Kooperationsverträge zwischen den größeren Anwaltsfirmen der jeweiligen nordischen Länder. Zwar gibt es eine nordische Urteilssammlung, doch wird sie selten verwendet; auch enthalten die gerichtlichen Entscheidungen kaum Verweisungen auf die Rechtspraxis der Nachbarländer.

Im Bereich des Seerechts ist die Zusammenarbeit der nordischen Juristen sehr weit fortgeschritten: zusätzlich zur engen Gesetzeszusammenarbeit hat der Nordische Ministerrat ein Nordisches Institut für Seerecht (Nordisk institutt for sjørett, NIFS) mit Sitz in Oslo eingerichtet, das u.a. Gastwissenschaftler und Studenten der anderen nordischen Länder aufnimmt, jährliche Richterseminare arrangiert und eine eigene, viel genutzte nordische Urteilssammlung für See- und Transportrecht herausgibt (Nordiske dommer i sjøfartsanliggender).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Austausch und fachliche Kooperation in der Gemeinschaft der nordischen Juristen deutlich weiter entwickelt und stärker ausgeprägt sind, als die anderer Professionen.

4. Nordische Rechtsvereinheitlichung und Europäische Integration

Traditionell hatten internationale Rechtsentwicklungen die skandinavische Rechtsvereinheitlichung beflügelt; die Gesetzeszusammenarbeit verlief vor allem dort erfolgreich, wo es um die gemeinsame Umsetzung und Weiterentwicklung völkerrechtlicher Traktate ging. Gleichwohl stellt der europäische Integrationsprozess nicht nur neue Herausforderungen dar, er wird auch mehr als eine Bedrohung denn als ein Anlass zur Renaissance nordischer Rechtsvereinheitlichung wahrgenommen. Dies ist mit den Besonderheiten dieser neuartigen Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtssystems zu erklären, die sich nicht nur in ihren Voraussetzungen und Zielen, sondern auch in ihrem institutionalisierten Verfahren und in ihren Ergebnissen von der nordischen Rechtsvereinheitlichung unterscheidet. Neben den oben bereits angeführten spezifisch skandinavischen Aspekten (Wandlung der Funktion des Rechts und ökonomisch-strukturelle Änderungen innerhalb der nationalen Justizverwaltungen) tragen vor allem vier Faktoren der Europäisierung des Rechts zum Rückgang der nordischen Rechtsvereinheitlichung bei:

Erstens hinterlässt die Europäisierung des Rechts immer weniger Raum für nationale oder nordische Sonderregelungen. Dies gilt etwa für das Verbraucherrecht, Gesellschaftsrecht, das Immaterialgüterrecht, Transportrecht und das Versicherungsrecht, teilweise auch für das Umweltrecht und Arbeitsrecht. Zum Teil überschneiden sich die Regelungsgegenstände des europäischen Rechts und des nordischen Rechts auch nur, was etwa für das Schengen-Abkommen und die nordischen Regelungen zur Passfreiheit wie auch für die Zusammenarbeit der nationalen Polizeibehörden gilt. Damit reduziert sich die spezifisch nordische Gesetzeszusammenarbeit auf diejenigen Rechtsbereiche, die (noch) nicht oder aber nur in geringerem Maße vom europäischen Integrationsprozess erfasst sind, wie teilweise das Vertragsrecht, das Kaufrecht und das Familienrecht.

Zweitens hemmt die Erwartung zukünftiger Gesetzesvorhaben der Europäischen Union die nordische Rechtsvereinheitlichung, da eigene skandinavische Gesetzgebungsinitiativen und die dafür erforderliche Investition von Ressourcen selbst dann kaum als viel versprechend erscheinen, wenn europäische Bestimmungen noch in weiter Ferne liegen. So wurde Ende der 1980er Jahre etwa eine Revision des nordischen Vertragsrechts gestoppt, weil eine europäische Richtlinie zu missbräuchlichen Klauseln in Verbraucherverträgen, die spätere RL 93/‌13 vom 5.4.1993, angekündigt worden war.

Drittens hat sich innerhalb der nordischen Länder das Ideal einer nordischen Rechtsgemeinschaft hin zum Ideal eines gemeinsamen europäischen Rechtssystems gewandelt. Dies gilt ganz besonders für Finnland, das den europäischen Integrationsprozess in stärkerem Maße und vorbehaltsloser noch als Schweden und Dänemark mitverfolgt. Für die EFTA-Staaten Norwegen und Island gilt dies naturgemäß in etwas geringerem Ausmaß.

Viertens erfordern die Umsetzung von rechtlichen Vorgaben der EU und des EWR ins nationale Recht wie auch die laufenden europäischen Gesetzgebungsprozesse zeitlich und personell einen hohen Einsatz der Mitgliedstaaten, so dass für eine zusätzliche, rein skandinavische Zusammenarbeit immer weniger Ressourcen zur Verfügung stehen.

Im Ergebnis bleibt neben und im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses nur in zwei Bereichen Raum für eine Fortsetzung der skandinavischen Rechtvereinheitlichung: Zum einen kann in denjenigen Rechtsbereichen, in denen bereits übereinstimmende nordische Regelungen erzielt worden sind und die nicht oder kaum vom Europarecht berührt werden, eine Zusammenarbeit aufrecht erhalten und auch in Zukunft eine Abstimmung angestrebt werden. Dies ist etwa bei der Revision der Seerechtsgesetze in den 1990er Jahren geglückt. Zum anderen gibt es den mehrfach erklärten und in verschiedenen Traktaten festgehaltenen politischen Willen zur nordischen Zusammenarbeit innerhalb der EU, d.h. bei der Umsetzung von bestehenden europarechtlichen Vorgaben, bei der Verwaltung des bestehenden und bei der Ausformung des zukünftigen Europarechts (vgl. etwa die Schlusserklärung des EU-Beitritts von Schweden und Finnland (Nr. 28), Art. 121 des EWR-Abkommens, Art. 33 des Abkommens von Helsinki sowie das Programm zur nordischen Zusammenarbeit des Nordischen Ministerrates von 1993). Bislang haben jedoch u.a. divergierende nationale Interessen, teilweise auch eine Konkurrenzsituation, ferner der unterschiedliche Grad der Beteiligung der nordischen Länder an der EU, der Wunsch zur Vermeidung einer nordischen Blockbildung innerhalb der EU, häufiger Zeitdruck bei der Umsetzung von Europarecht sowie weitere Faktoren zur Folge, dass diese Möglichkeiten zur Zusammenarbeit der nordischen Länder innerhalb der EU noch vergleichsweise wenig genutzt werden.

5. Ausblick

Die Europäisierung des Rechts hat bislang keinen signifikanten Einfluss auf die tradierte Gemeinschaft der nordischen Juristen als dem rechtskulturellen Aspekt der nordischen Rechtsvereinheitlichung, sie verstärkt jedoch den Rückgang der nordischen Gesetzeszusammenarbeit in erheblichem Maße. Zwar bestünde auch innerhalb des europäischen Integrationsprozesses durchaus Raum für eine Fortentwicklung der traditionellen Gesetzeszusammenarbeit hin zu einer stärkeren Kooperation hinsichtlich der Verwaltung und Umsetzung europarechtlicher Vorgaben. Diese Möglichkeiten werden jedoch aus praktischen und politischen Gründen bislang nur teilweise und zögerlich genutzt. Die weitere Entwicklung hängt hier vor allem von dem Bewusstsein der politischen Akteure für den Wert der Fortsetzung der nordischen Rechtsvereinheitlichung ab, die vor allem von den Juristen selbst als wichtige Tradition geschätzt wird.

Literatur

W.E. v. Eyben, Retssystemet og retsfølelsen, 1961, 1962; Jan Hellner, Unification of Law in Scandinavia, The American Journal of Comparative Law, 16 (1968) 88 ff.; Henrik Tamm, De nordiske juristmøder 1872–1972: Nordisk Retssamvirke gennem 100 år, 1972; Gustaf Petrén, Nordiskt lagstiftningssamarbete, Nordisk tidskrift för vetenskap, konst och industri; 1985, 405 ff.; Ulf Bernitz, Ola Wiklund (Hg.), Nordiskt lagstiftningssamarbete i det nya Europa, 1996; Fredrik Sejersted, Nordisk rettssamarbeid og europeisk integrasjon, in: Johan P. Olsen, Bjørn Otto Sverdrup (Hg.), Europa i Norden: Europeisering av nordisk samarbeid, 1998, 214 ff.; Peter Lødrup, Nordisk arverett, 2003; Anders Agell, Nordisk äktenskapsrätt, 2003; Anders Agell, Anna Singer, Peter Lødrup, Nordisk børneret Bd. I, 2003; Svend Danielsen, Nordisk børneret, Bd. II, 2003; Torstein Frantzen, Harmonisering av familie- og arveretten i Norden: hvorfor det?, Tidsskrift for familierett, arverett og barnevernrettslige spørsmål, 2004, 236 ff.

Abgerufen von Skandinavische Rechtsvereinheitlichung – HWB-EuP 2009 am 28. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).