Testierfreiheit und Auslegung des Gemeinschaftsrechts: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Inge Kroppenberg]]''
von ''[[Hannes Rösler]]''
== 1. Testierfreiheit als zentrales Prinzip des Erbrechts ==
== 1. Gegenstand und Zweck ==
Die Testierfreiheit ist neben der Familienerbfolge ([[Pflichtteilsrecht]]) und der [[Universalsukzession]] ein fundamentales Prinzip des [[Erbrecht]]s. Es ist in allen Erbrechtsordnungen anerkannt. Abhängig von der jeweiligen Ausprägung der familiären Partizipation am Nachlass variiert das Maß an Testierfreiheit jedoch erheblich.
Das primäre und sekundäre Unionsrecht enthält keine allgemeinen Bestimmungen zu seiner Auslegung, wie sie sich in Art. 7-9 CISG, Art. 5:101-5:107 PECL und Art. 4.1-4.8 UNIDROIT PICC, aber auch in Art. 31-33 WVK ([[Auslegung des internationalen Einheitsrechts]]) finden. Stattdessen wurde der [[Europäischer Gerichtshof|Europäische Gerichtshof]] (EuGH) als unabhängiges überstaatliches Gericht geschaffen, das ausschließlich zur Auslegung des Gemeinschafts- und Unionsrechts berufen ist (Art. 220 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007)). Das politikferne Organ stellt die Einheit, Kontinuität und Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts sicher. Vor allem auf dem Gebiet des verfassungsgleichen Rechts wurde der EuGH mit seinem Auslegungsmonopol zum „Motor der Integration“, indem er den Vorrang und die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts durch Auslegung der römischen Verträge gewährte und ausbaute.


Die Testierfreiheit ist ein individuelles Freiheitsrecht, das dem Erblasser die Befugnis einräumt, zu bestimmen, wer nach seinem Tod Träger seines Vermögens werden und Rechte darauf oder daran erwerben soll. Sie ist das erbrechtliche Gegenstück zur Vertragsfreiheit unter Lebenden und das bestimmende Prinzip der rechtsgeschäftlichen oder so genannten gewillkürten [[Erbfolge]]. Der Begriff Testierfreiheit verweist auf das zentrale rechtsgeschäftliche Instrument zu deren Ausübung: das [[Testament]]. Es ist der Prototyp eines einseitigen Rechtsgeschäfts, das keinen Adressaten hat. Das zweiseitige erbrechtliche Rechtsgeschäft, der [[Erbvertrag und gemeinschaftliches Testament|Erbvertrag]] oder das ''pactum successorium'', steht dagegen traditionell weniger im Mittelpunkt der Testierfreiheit. In der romanischen Rechtsfamilie wird es wegen Verstoßes gegen die guten Sitten (''contra bonos mores'') sogar als unwirksam angesehen.
Von den vier Auslegungsmethoden, die ''Friedrich Carl'' ''von Savigny ''herausgearbeitet hat, verwendet der EuGH vorrangig die grammatische, die systematische und die teleologische. Dagegen stellt er den historisch-politischen Interpretationsansatz hintan. Gründe dafür sind die häufig schwierigen, teils unveröffentlichten Gesetzgebungsprozesse und kompromisshaften Ergebnisse. Allerdings führt der Gemeinschaftsgesetzgeber seine Erwägungsgründe auf, die der EuGH vor allem zur teleologischen Betrachtung heranzieht. Die Berücksichtigung von Protokollerklärungen von Kommission, Rat oder Parlament, die sich nicht im Rechtsakt niedergeschlagen haben, lehnt der EuGH jedoch ab (EuGH Rs. C-404/06 – ''Quelle'', Slg. 2008, I-2685, Rn. 32).  


Im Vergleich zur Vertragsfreiheit unter Lebenden ist die Testierfreiheit das „willkürlichere“ Recht, weil sie ausschließlich auf den Willen ''einer'' handelnden Person, des testierenden Erblassers, bezogen ist. Das zeigt sich insbesondere in dessen Freiheit, testamentarische Anordnungen jederzeit und ohne Angabe von Gründen widerrufen, das heißt ändern, aufheben und vernichten sowie wieder neu treffen zu können. Das Erbrecht rechnet damit, dass der von Todes wegen Verfügende von seiner Testierfreiheit zu Lebzeiten mehrfach Gebrauch macht und hält nur den „letzten (geäußerten) Willen“ für rechtsverbindlich. Dieser Gedanke kommt bereits in Ulp. D. 34.4.4 (lib. 33 ad Sab.) zum Ausdruck (''[[Corpus Juris Civilis]]''). Der Text lautet im einschlägigen Abschnitt: ''Ambulatoria enim est voluntas defuncti usque ad vitae supremum exitum'' („Wandelbar ist der Wille des Menschen bis zum Lebensende“).
Zunächst verwendet der Gerichtshof aber die wörtliche Auslegungsmethode. Dies hat er dem französischen ''Conseil d’Etat ''ebenso entlehnt wie den bündigen und deduktiven Argumentationsstil, der auch im europäischen Privatrecht nur bedingt Beiträge zur angezeigten Systembildung leistet. Das Apodiktische und Selbstreferenzielle der Urteile ist auch den allgemeinen Umständen eines internationalen Richtergremiums geschuldet, das verschiedene Rechtskulturen und Sprachen versöhnen muss. Allein darum stößt die Auslegung nach dem grammatikalischen Zusammenhang und die Erforschung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs innerhalb des (autonomen) EU-Rechts an seine Grenzen: Die EU verwendet gleichrangige Textfassungen in ihren verschiedenen Amtssprachen.


== 2. Geschichte der Testierfreiheit ==
Entscheidendes Argumentationsmittel des EuGH ist darum – aber nicht nur bei abweichenden Textfassungen – die teleologische Betrachtung. Diese Methode liegt auch deswegen nahe, da die EU einen funktionalen Ansatz gewählt hat, also die im Primärrecht festgelegten Integrationsziele verwirklichen will, zu denen vor allem die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes zählt. Problematisch kann diese Orientierung am Geist und Zweck einer Vorschrift und am Gesamtprogramm der EU werden, wenn innerhalb des Primär- oder und Sekundärrechts verschiedene Teleologien (z.B. wirtschaftsliberale und soziale) zugleich verfolgt werden. Dies gilt vor allem für diejenigen Richtlinien, die sowohl dem Gesamtinteresse der Verwirklichung des Binnenmarktes als auch einem bestimmten Schutz (etwa des Arbeitnehmers oder Verbrauchers) dienen.
Historisch ist die Testierfreiheit gegenüber der Familienerbfolge das jüngere erbrechtliche Prinzip. Den germanischen Rechten war sie als Rechtsgrundsatz fremd. Das Vermögen des Hausvaters und Erblassers war gesamthänderisch gebundenes Familienvermögen. In der Verfügung darüber war er sowohl zu Lebzeiten wie auch von Todes wegen erheblich beschränkt. Erbrechtlich kamen zunächst die Söhne als so genannte Hauserben zum Zug. Nicht der Mensch, sondern Gott schafft Erben, brachte ''Tacitus'' diesen Zusammenhang auf den Punkt: ''Heredem tamen successoremque sui cuique liberi'','' et nullum testamentum'' (Germania, Kap. XX). Unter kirchenrechtlichem Einfluss trat später noch das gesetzliche Erbrecht der Ehefrau hinzu. Die Familienbindung des Erblassers war in den germanischen Rechten damit umfassend.


Der Ursprung der Testierfreiheit lag in Rom. Sie entwickelte sich im römischen Recht aus der älteren Erbfolge der Hauserben (''sui heredes''). Historisch stand sie zunächst nicht in dem Gegensatz, in den Testierfreiheit und Familienerbfolge heute gerne gerückt werden. Das hatte mit der bäuerlichen Bodenstruktur der frühen römischen Gesellschaft zu tun. Sie konnte durch die Beerbung unrentabel werden, wenn viele Familienmitglieder zu versorgen waren. Außerdem drohte sie dadurch zu zersplittern, dass jeder Hausgenosse die Teilung verlangen konnte. In der Folgezeit räumte das römische Recht seinen Erblassern Testierfreiheit ein, um den Grundbesitz auf einen Alleinerben zu übertragen und zugleich die finanzielle Absicherung der übrigen Hausgenossen zu regeln. Die Entwicklung traf sich mit der Abkehr von der bäuerlich-grundherrlichen Lebens- und Wirtschaftsform zugunsten einer Stadtkultur, dem Übergang zu Handel, Geldverkehr und anderen Formen der Kapitalbildung sowie dem politischen Erstarken Roms zum Weltreich. Die Entscheidung über die Vermögensnachfolge eines Erblassers nahm an Komplexität zu.
In der Summe spiegeln die Entscheidungen regelmäßig das Ziel eines ''effet utile'' wider. Die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts scheint häufig das wichtigste Ziel des Gerichtshofs bei seiner Auslegung und Rechtsfortbildung ([[Effektivitätsgrundsatz]]). Deutlich wird dies z.B. an der Qualifizierung von Teilzeitarbeitern als Arbeitnehmer. Eine solche Auslegung entspreche „den Zielen des Vertrages“, der die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und damit – als ökonomisches Argument – eine Hebung der Lebenshaltung bezweckt (EuGH Rs. 53/81 – ''Levin'', Slg. 1982, 1035, Rn. 15).


Seit der jüngeren Republik war die Testierfreiheit das beherrschende Prinzip der Erbfolge. Die Testamentserrichtung war für einen Angehörigen der Oberschicht ein sittliches Gebot. Erbrechtliche Zuwendungen an die ''familia'' oder jedenfalls die nächsten Angehörigen wurden von ihm erwartet. Testierfreiheit und familiäre Teilhabe am Nachlass waren immer noch keine Gegensätze. Erst in den Wirren der ausgehenden Republik gerieten diese Überzeugungen zunehmend ins Wanken. Pflichtwidrige Testamente (''testamenta inofficiosa''), in denen nächste Angehörige übergangen wurden, kamen häufig vor. Das Recht reagierte: Neben der ''bonorum possessio contra tabulas'' wurde mit der ''querela inofficiosi testamenti'' ein zweites Institut geschaffen, das der Erblasserwillkür den Gedanken der Familienerbfolge entgegensetzte ([[Pflichtteilsrecht]]). Damit war das Spannungsverhältnis zwischen Testierfreiheit und der erbrechtlichen Partizipation der [[Familie]], wie es die Erbrechtsordnungen bis in die Gegenwart – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – kennzeichnet, im Grundsatz angelegt.
Dagegen tritt die wertende [[Rechtsvergleichung]] grundsätzlich nicht klar als fünfte Methode zu Tage. Nur in den Ausführungen des Generalanwaltes finden sich häufiger detaillierte Bezugnahmen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Einmal abgesehen von dem Faktum, dass die Richtlinien regelmäßig auf Rechtsvergleichung beruhen, ist diese Methode dem internationalen Richtergremium mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten gleichsam immanent. Freilich wird die vergleichende Betrachtung nicht explizit miteinbezogen, auch damit die autonomen Gesetzestexte nicht durch fremde Wertungen unterlaufen werden. Bei der Lückenfüllung und Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze gewinnt die Rechtsvergleichung jedoch an Bedeutung. So begründet der EuGH die Staatshaftung ergänzend mit den allgemeinen Haftungsgrundsätzen im mitgliedstaatlichen Recht und nach den Grundsätzen des Völkerrechts (EuGH verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 – ''Brasserie du pêcheur'', Slg. 1996, I-1029, Rn. 29 ff.). Ein verfassungsrechtlicher Vergleich ist zudem in Art. 6(2) EU (1992)/11(3) EU (2007) vorgesehen, denn hiernach sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Quelle für die zu achtenden Grundrechte genannt.


Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit verstetigte es sich – und zwar in der Tendenz durchaus mit einer Betonung der Testierfreiheit nicht nur in England, sondern auch in Kontinentaleuropa. Dazu trug das Kirchenrecht nicht unerheblich bei. Es förderte die Verfügungsbefugnis von Todes wegen, indem es Klerikern gestattete, über den beweglichen Teil ihres Vermögens nicht familiengebunden zu disponieren. Bei Laien nannte man dies „Seel-“ oder „Freiteil“. Dabei handelte es sich nicht um erbrechtliche Verfügungen, sondern um lebzeitige Schenkungen ''ad pias causas'', so genannte Vergabungen, die unter dem Vorbehalt lebenslangen Nießbrauchs des Schenkers standen oder durch den Tod des Vergabenden aufschiebend bedingt waren. Mit der Anerkennung des „Freiteils“ wurde einerseits die Vorstellung aufgegeben, dass das Familiengut eine rechtliche Einheit darstelle und kein Familienmitglied, auch nicht der Hausvater, ohne Zustimmung der anderen Hausgenossen darüber verfügen könne. Andererseits stimulierte das Kirchenrecht mit dem „Freiteil“ zugleich die moralische Pflicht des Erblassers, auf eine bestimmte verantwortungsbewusste Weise zu testieren. Während der „Freiteil“ nämlich ursprünglich nur wohltätige Verfügungen umfasste, wurden später auch Zuwendungen an den König, an Verwandte und an den Ehegatten des Erblassers zugelassen. Dieses besondere Verständnis der Testierfreiheit setzte sich bis zum 16. Jahrhundert durch und blieb bis in die Moderne hinein präsent.
Eine weitere Besonderheit des EU-Rechts besteht in der autonomen Begriffsbildung. Dies hat es mit dem Konventionsrecht gemein, für das der EuGH übrigens ebenfalls zuständig sein kann. So hat er aufgrund von Auslegungsprotokollen die wichtige Jurisdiktionsbefugnis für das EuGVÜ und später auch für das EVÜ erhalten ([[Verbraucherverträge (IPR und IZPR)]]). Damit jede Bestimmung und jedes Konzept des Europarechts europaweit einheitlich angewendet wird, haben sich die Rechtsanwender also vom nationalen und sonstigem nicht-gemeinschaftsrechtlichen Begriffsvorverständnis zu lösen. Dazu sind auch Mitgliedstaaten aufgerufen. Doch vorrangig ist es der EuGH, der – abhängig von der Vorlagebereitschaft und ‑verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte nach Art. 234 EG/ 267 AEUV – entsprechende Auslegungsvorgaben mit faktischer Bindungswirkung (''[[Precedent, Rule of]]'') schafft.


Im Zeitalter des [[Naturrecht|Natur-]] und Vernunftrechts verband es sich zudem mit der individualistischen Eigentumstheorie ([[Eigentum]]). Die Testierfreiheit wurde nun als erbrechtliche Fortsetzung der lebzeitigen Verfügungsfreiheit des Eigentümers gesehen. Das bürgerliche Zeitalter griff die frühneuzeitliche Arbeitswertheorie ''John Lockes ''auf, nach der Arbeit und Leistung die Faktoren sind, die das private Eigentum begründen. Der erbrechtliche Erwerb wurde auf diese Weise als unverdient, weil arbeitslos delegitimiert ([[Erbrecht]]) – und die Testierfreiheit über die Verbindung zur Eigentümerfreiheit mit ihr. Im 19. Jahrhundert gerieten die Erbrechte Kontinentaleuropas deswegen in eine Krise. Über ihre Abschaffung als Relikt eines veralteten, statusbezogenen Rechtssystems wurde erbittert gestritten. Im englischen Recht war von einer ähnlichen Erschütterung nichts zu spüren. Hier blieb die Testierfreiheit vor allem deshalb ein grundsätzlich unangefochtenes Prinzip, weil es historisch weder mit der Familie verbunden noch als bloße Fortsetzung des Eigentums unter Lebenden verstanden wurde. Vielmehr war und ist das gängige Konzept der Testierfreiheit im ''[[common'' ''law'' das eines individuellen und originären Freiheits- und Gestaltungsrechts des Erblassers.
== 2. Auslegung des Primärrechts ==
Im verfassungsgleichen Recht ist der EuGH gewillt, ''judicial activism'' zu betreiben. Gerade hier sind die Richter nicht mehr, wie noch von ''Montesquieu'' gefordert, „la bouche de la loi“, sondern sie gehen bei der „Auslegung“ über den möglichen Wortlaut hinaus und überschreiten damit die Grenze zur Rechtsfortbildung ([[Richterrecht]]). Sie wird sowohl bei der gemeinschaftsrechtlichen als auch z.B. der französischen ''interprétation ''nicht klar gezogen. Diese Abgrenzung wäre aber angezeigt, denn die Rechtsfortbildung erfordert eine planwidrige Lücke und damit einen erheblich höheren Begründungsaufwand. Die Richter des EuGH – und billigend die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte – sehen die Befugnis zur Fortbildung durch ihre Aufgabe gerechtfertigt, nach Art. 220 (1) EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19(1) (I) EU (2007), die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des Vertrags sicherzustellen, wobei das „Recht“ über die in den Verträgen niedergelegten Regelungen hinausgeht.


== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Wichtigste Rechtsgrundsätze, die vom EuGH dementsprechend zur Ergänzung des geschriebenen Primärrechts entwickelt wurden, sind der Vorrang (EuGH Rs. 26/62 – ''Van Gend & Loos'', Slg. 1963, 3) und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, das jeden unmittelbar verpflichten oder berechtigen kann (EuGH Rs. 6/64 – ''Costa/E.N.E.L.'', Slg. 1964, 1141). Ebenfalls maßgeblich sind die Geltung der Grundrechte in der Gemeinschaft (EuGH Rs. 29/69 – ''Stauder/Stadt Ulm'', Slg. 1969, 419), die Präzisierung der Grundfreiheiten (EuGH Rs. 120/78 – ''Cassis de Dijon'', Slg. 1979, 649), die Staatshaftung (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – ''Francovich'', Slg. 1991, I-5357) und die Reichweite der Unionsbürgerschaft (EuGH Rs. C-184/99 – ''Grzelczyk'', Slg. 2001, I-6193).
Im 20. Jahrhundert näherten sich die kontinentaleuropäischen Erbrechtsordnungen dem englischen Konzept an. Die Testierfreiheit hat sich zusammen mit dem Erbrecht wieder konsolidiert. Sie gehört nicht nur zum gesicherten Bestand der nationalen Zivilrechtsordnungen. Sie wird in einigen Staaten, zum Beispiel in Deutschland, Spanien und Italien sowie in den meisten osteuropäischen Ländern auch verfassungsrechtlich gewährleistet. Soweit die Verfassungen zum Erbrecht Regelungen enthalten, ist die traditionelle Verbindung von Eigentümer- und Testierfreiheit erhalten geblieben. Zivilrechtlich ist namentlich in Deutschland eine Rückbesinnung auf die Testierfreiheit als bestimmendes Prinzip der Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes zu beobachten.


Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Zunächst ist aus dem Familienerbrecht Bewegung in das rechtsgeschäftliche Erbrecht gekommen. Die familienerbrechtliche Beschränkung der Testierfreiheit wird abgebaut. Der Trend geht in Europa – auch in Frankreich, das traditionell als der Exponent eines materiellen Noterbrechts naher Familienangehöriger gilt hin zur „moderneren Lösung“ (''Dieter'' ''Leipold'') des Geldpflichtteils ([[Pflichtteilsrecht]]). Der Übergang auf das Kompensationsmodell stärkt die Testierfreiheit, weil es die Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen, die nahe Familienangehörige von der Erbfolge ausschließt, unberührt lässt und den Ausgleich stattdessen in einem Geldanspruch sucht.
Damit schafft und präzisiert der Gerichtshof diejenigen rechtsstaatlichen Elemente, die eine vollwertige Rechtsordnung erfordert. Schließlich zählt das Europarecht nach Auffassung des EuGH nicht zum Völkerrecht, das von einer starken Beachtung staatlicher Souveränität gekennzeichnet ist: Der E(W)G-Vertrag sei zwar in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen worden, er stelle aber im Gegensatz zu üblichen völkerrechtlichen Verträgen nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer eigenständigen Rechtsgemeinschaft dar (EuGH Gutachten 1/91 – ''EWR I'', Slg. 1991, I-6079, Rn. 21). Darum hat der EuGH in ''Francovich ''ausgeführt, die Staatshaftung für Schäden, die dem Einzelnen infolge von dem Staat zurechenbaren Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, begründe sich aus dem Wesen der mit dem Vertrag von Rom geschaffenen und mit voller Wirksamkeit und Vorrang ausgestatteten Rechtsordnung.  


Die Testierfreiheit selbst wird heute weniger pflichtgebunden interpretiert als noch in der jüngeren Vergangenheit. Eine Gesinnungskontrolle des von Todes wegen Verfügenden findet nicht mehr statt. Die Inhaltskontrolle von Verfügungen von Todes wegen ist an ihre Stelle getreten. Sie wird allerdings immer zurückhaltender ausgeübt. Die Unwirksamkeit wegen Sittenwidrigkeit beschränkt sich auf extreme Ausnahmefälle. Dafür konzentriert sich etwa die rechtswissenschaftliche Diskussion in Deutschland im Gefolge der ''Hohenzollern''-Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH 2.12.1998, BGHZ 140, 118) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 22.3.2004, NJW 2004, 2088) stärker auf ein Themenfeld, das in der englischen Rechtsordnung mit ihrer Konzentration auf die Testierfreiheit traditionell im Mittelpunkt der Betrachtung steht: die Frage nach der Unwirksamkeit von erbrechtlichen Verfügungen wegen Verstoßes ''contra bonos mores'', die auf der Verletzung von Diskriminierungsverboten beruht''.'' In Kontinentaleuropa ist diese Entwicklung eingebettet in die zunehmende „Konstitutionalisierung“ der (Erb‑)Rechtsordnungen
Ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist die Rechtsprechung zur Wirkung des Rechtsinstruments der [[Richtlinie]]. Dazu zählt etwa die nach erfolglosem Ablauf der Umsetzungsfrist unter bestimmten Umständen mögliche „vertikale“ Direktwirkung einer Richtlinie, die also nur gegenüber dem Staat gilt. Eine unmittelbare „horizontale“ Direktwirkung von Richtlinien besteht gerade nicht (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – ''Pfeiffer'', Slg. 2004, I-8835, Rn. 108). Hierzu stützt sich der EuGH auch auf das systematische Argument, eine Horizontalwirkung von Richtlinien würde die im EG-Vertrag vorgegebene Unterscheidung zwischen Richtlinien und Verordnungen aufheben (EuGH Rs. C-91/92 – ''Faccini Dori'', Slg. 1994, I-3325, Rn. 24).


== 4. Gesellschaftliche Entwicklungen ==
== 3. Auslegungsvorgaben für Nationalgerichte ==
Gesellschaftlich muss der tendenzielle Bedeutungsverlust des Familienerbrechts ebenso wie der Funktionsgewinn der Testierfreiheit vor dem Hintergrund mehrerer Entwicklungen gedeutet werden, die das moderne Europa kennzeichnen. Der demografische Wandel führt dazu, dass immer mehr Menschen immer älter werden und erbrechtlich über mehr Vermögen verfügen können. Die Rede von der „Erbengesellschaft“ ist im kontinentaleuropäischen Raum bereits sprichwörtlich. Zugleich müssen sich die Erbrechtsordnungen vermehrt mit den spezifischen Problemen auseinandersetzen, die das hohe Alter von Erblassern auf die Wirksamkeit ihrer Verfügungen von Todes wegen haben kann.
Die Rechtsschöpfungen auf der verfassungsrechtlichen Ebene wirken sich auch auf das europäische Privatrecht aus. Dies gilt nicht nur für die deliktsrechtliche Ausgestaltung der Staatshaftung, sondern auch für die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Als eine Art Meta-Regel stellt sich dies aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts steuernd über die vier besagten Auslegungsmethoden und ähnelt darum der verfassungskonformen Auslegung, wie sie das deutsche Recht kennt. Darüber hinaus umfasst die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur europarechtskonformen Auslegung neben der vorrangigen Vereinbarkeit mit dem Primärrecht auch die Konformität mit dem Sekundärrecht. Diese wird durch die Pflicht der Nationalgerichtsbarkeit zur richtlinienkonformen Auslegung gesichert. Sie erfolgt durch die Anwendung der nationalstaatlichen Auslegungsmethoden (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – ''Pfeiffer'', Slg. 2004, I-8835, Rn. 116).


Für den anglo-amerikanischen Raum wurde allerdings bereits in den 1980er Jahren ein Rückgang bei den Verfügungen von Todes wegen festgestellt. Hier treten nicht selten lebzeitige Rechtsgeschäfte auf den Todesfall (so genannte ''will substitutes'') an die Stelle erbrechtlicher Verfügungen. Erklären dürfte sich dieser Befund zunächst aus einem Umstand, der für Kontinentaleuropa genauso zutreffen dürfte wie für England. Vermögen haben heute Bestandteile, die sich besser lebzeitig transferieren lassen als erbrechtlich. Das gilt namentlich für das Feld des so genannten Humankapitals. Als Besonderheit des englischen ''law of succession'' kommt hinzu, dass testamentarisch keine Erbeinsetzung in Bezug auf die Gesamtheit oder eines Teils des Vermögens getroffen werden kann, sondern stets nur Anordnungen in Bezug auf einzelne Vermögenszuwendungen. Sie können genauso gut Gegenstand eines lebzeitigen Rechtsgeschäfts auf den Todesfall wie einer Verfügung von Todes wegen sein. Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis kommt es zu dieser Konkurrenz mit den Verfügungen von Todes wegen nicht im gleichen Maße. Denn nur mit erbrechtlichen Rechtsgeschäften lässt sich über das Vermögen als Ganzes oder Teile davon verfügen. Insoweit hat die Verfügung von Todes wegen in Kontinentaleuropa durchaus ein Alleinstellungsmerkmal. Allerdings lässt sich feststellen, dass auch ein kontinentaleuropäischer Erblasser angesichts der vielfältigen lebzeitigen Instrumentarien, die ein modernes ''estate planning'' heute bietet, auf den erbrechtlichen Erwerb weniger angewiesen ist als in früheren Zeiten.
Danach ist das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der fraglichen Richtlinie auszulegen (EuGH Rs. C-106/89 – ''Marleasing'', Slg. 1990, I-4135, Rn. 8; auch EuGH Rs. 14/83 – ''von Colson und Kamann'', Slg. 1984, 1891, Rn. 28). Da das nationale Recht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch Private benachteiligen kann, entsteht erst hierdurch eine Horizontalwirkung, die ansonsten – wie erwähnt – grundsätzlich ausgeschlossen ist. Je großzügiger man zudem die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung erlaubt, desto mehr verringert sich der Anwendungsbereich der Staatshaftung für legislatives Unrecht (s. jedoch für judikatives Unrecht EuGH Rs. C-224/01 – ''Köbler'', Slg. 2003, I-10239; EuGH Rs. C-173/03 – ''Traghetti del Mediterraneo'', Slg. 2006, I-5177).


Was jedoch generell für eine zunehmende Bedeutung der Testierfreiheit im kontinentaleuropäischen und im anglo-amerikanischen Rechtsraum spricht, ist die Tatsache, dass sich das soziale Lebensumfeld von Erblassern hier wie dort zunehmend komplexer gestaltet. Das zeigt sich deutlich an der Auflösung des traditionellen (Kern‑)Familienbegriffs, der die eheliche Beziehung von Mann und Frau beschreibt, die gemeinschaftliche Kinder haben ([[Familie]]). Er hat einem facettenreichen Familienbild Platz gemacht, das die Konzentration auf verschieden geschlechtliche eheliche Paare mit leiblichen Abkömmlingen zugunsten eines weiteren Familienkonzepts des Zusammenlebens mit Kindern aufzugeben im Begriff ist. Nichteheliche Lebensgemeinschaften und rechtlich verfestigte Partnerschaften homosexueller Personen haben sich als gesellschaftlich akzeptierte Lebensformen zur ehelichen hinzu gesellt. Die „Patchwork“-Familie integriert unter Umständen Kinder aus mehreren früheren Beziehungen beider Partner. Der Vielfalt und Komplexität der einzelnen Lebensentwürfe wird die Testierfreiheit mit ihrem persönlichen Gestaltungspotenzial am besten gerecht. Es nimmt nicht Wunder, dass sich ein effektives kautelarjuristisches ''estate planning'', das lebzeitige und erbrechtliche Instrumente individuell kombiniert, den beschriebenen Veränderungen in den Lebensverhältnissen der Erblasser bereits angenommen hat. Verfügungen von Todes wegen sind dabei ein wichtiger Bestandteil. Die Testierfreiheit – nicht die klassische Familienerbfolge – dürfte das zukunftsweisende Prinzip eines einheitlichen europäischen Erbrechts sein.
Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist einsetzt (EuGH Rs. C-456/98 – ''Centrosteel'', Slg. 2000, I-6007, Rn. 17), ist Folge der Verpflichtung zur allgemeinen Loyalität nach Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007), Art. 4(3) EU (1992)/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 15(6) (I)(d) EU (2007) und zur konkreten Richtlinienumsetzung gemäß Art. 249(3) EG/288 AEUV. Sie ist auch dem EG-Vertrag „immanent“, denn durch sie kann das nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Europarechts gewährleisten (so EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – ''Pfeiffer'', Slg. 2004, I-8835, Rn. 114).  


== 5. Testierfreiheit als Prinzip eines optionalen Einheitsrechts ==
Der Vorrang der europarechtsfreundlichen Auslegung und Rechtsfortbildung, die sich auf das gesamte nationale Recht erstreckt, findet seine Grenze in der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit. Darum darf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch nicht zu einer ''contra legem''-Auslegung einer nationalen Vorschrift führen (EuGH Rs. C-212/04 – ''Adeneler'', Slg. 2006, I-6057, Rn. 110). In einem solchen Fall haben die nationalen Gerichte die Vorschrift vorzulegen oder für unanwendbar zu erklären. (Der dahinter stehende Gewaltenteilungsgrundsatz gilt auch auf der europäischen Ebene: Der EuGH kann primärrechtswidriges Gemeinschaftsrecht nicht durch Auslegung „heilen“, sondern muss es im Wege einer Nichtigkeitsklage oder eines Vorabentscheidungsverfahrens für nichtig erklären; EuGH Rs. 314/85 – ''Foto-Frost'', Slg. 1987, 4199, 4230 ff.) Das nationale Gericht hat aber zur Ermittlung eines zutreffenden Verständnisses einer Richtlinienvorschrift nicht nur die Rechtsprechung des EuGH zu beachten, sondern soweit möglich auch die in den anderen Mitgliedstaaten praktizierte Auslegung.
Die zentrale Stellung, die der Testierfreiheit auf dem Weg zu einem europäischen Erbrecht zukommt, haben die ersten kollisionsrechtlichen Vereinheitlichungsbestrebungen bereits erkannt ([[Erbrecht, internationales]]). Mit dem Prinzip der Testierfreiheit dürfte aber auch eine Säule eines künftigen materiellen optionalen Erbrechts auf europäischer Ebene gefunden sein ([[Erbrecht]]). Gegenwärtig wird die Entwicklung einer Verfügung von Todes wegen des europäischen Rechts diskutiert, die Erblasser frei wählen dürfen sollen. Es wird sich dabei wohl nur um eine testamentarische Verfügung handeln können. Denn namentlich die Rechtsordnungen des romanischen Rechtskreises, etwa die Frankreichs, Italiens und Spaniens, aber auch die Belgiens, Englands und der Niederlande stehen dem Erbvertrag als erbrechtlichem Rechtsgeschäft entweder skeptisch gegenüber oder lassen ihn erst gar nicht zu. Und diejenigen Rechtsordnungen, die den Erbvertrag als erbrechtliches Verfügungsinstrument kennen (etwa Dänemark, Deutschland, Österreich), tun sich traditionell schwer mit dessen dogmatischer Konstruktion.
 
== 4. Auslegungsreichweite beim Sekundärrecht ==
=== a) Allgemein ===
Während der EuGH mit den erwähnten Entscheidungen zum Primärrecht häufig einen ''constitutional activism'' betreibt, schwankt er ansonsten zwischen ''effet utile''-Orientierung und Zurückhaltung. Das ist einer der Gründe, warum die Entscheidungen in der Praxis häufig schwer vorhersehbar sind. Beispiele für ''judicial activism'' im Privatrecht sind die Entscheidungen EuGH Rs. C-168/00 – ''Leitner'', Slg. 2002, I-2631, wonach Art. 5 Pauschalreise-RL (RL 90/314) auch einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens verleiht, sowie EuGH Rs. C-350/03 – ''Schulte'', Slg. 2005, I-9215 und EuGH Rs. C-229/04 – ''Crailsheimer Volksbank'', Slg. 2005, I-9273 über die Rechte eines Verbrauchers bei kreditfinanzierten Immobilienkaufverträgen nach der Haustürgeschäfte-RL (RL 85/577). Doch mehrheitlich muss sich der EuGH, der vorrangig ein Verfassungs- und Verwaltungsgericht darstellt, in Zivilsachen eher im ''self restraint'' üben. Die Ursachen liegen in den Akzeptanz- und Kapazitätsgründen, denn die steigende Vorlageflut im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EG/267 AEUV wird dadurch etwas eingedämmt.
 
=== b) Generalklauseln ===
Hieraus erklärt sich auch EuGH Rs. C-237/02 – ''Freiburger Kommunalbauten'', Slg. 2004, I-3403. Danach ist das nationale Gericht für die Beurteilung zuständig, ob eine vorformulierte Vertragsklausel missbräuchlich im Sinne von Art. 3(1) RL 93/13 ist. Dahingegen ließen noch EuGH verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 – ''Océano Grupo'', Slg. 2000, I-4941 sowie EuGH Rs. C-473/00 – ''Cofidis'', Slg. 2002, I-10875 eine großzügigere eigene Klauselkontrolle vermuten. In ''Océano Grupo'' ging es freilich um eine Klausel, die die Wirksamkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes unabhängig vom Vertragstyp in Frage stellte. Der EuGH bejahte darum die Missbräuchlichkeit. In ''Cofidis'' hat der EuGH dann aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes eine Ausschlussfrist des Verbraucherkreditrechts im französischen ''Code de la consommation'' für unvereinbar mit der RL 93/13 erklärt, und zwar obschon die Richtlinie keine Verjährungs- und Ausschlussfristen vorsieht.
 
In ''Freiburger Kommunalbauten'' unterscheidet der EuGH danach, ob die Missbräuchlichkeit einer Klausel festgestellt werden kann, ohne dass alle Vertragsumstände geprüft und die verbundenen Vor- und Nachteile der Klausel anhand des nationalen Rechts gewürdigt werden müssen. Nach ''Freiburger Kommunalbauten ''ist es Aufgabe des EuGH, die in der Richtlinie zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen. Die eigentliche Überprüfung von Klauseln obliegt aber den nationalen Gerichten. Wie diese Konkretisierungskompetenz genau abzugrenzen ist, bleibt ebenso fraglich wie die allgemeinen Kriterien der Missbrauchskontrolle. Außer Betracht lässt der EuGH ohnehin die sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen, da deren Betrachtung eine Auseinandersetzung mit den nationalen Besonderheiten erfordern würde.
 
=== c) Überschießende Umsetzung ===
Überschießende Umsetzungen von Richtlinien entstehen, wenn das Schutzniveau infolge des Vorliegens einer Mindestharmonisierung ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]) angehoben oder der Anwendungsbereich im Zuge der nationalen Umsetzung ausgedehnt wird. Da Deutschland im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung gerade im Verbraucherrecht zahlreiche überschießende Umsetzungen vorgenommen hat, stellte sich hier die Frage einer gespaltenen oder einheitlichen Auslegung.
 
Der BGH hat sich bei den [[Haustürgeschäfte]]n für Letzteres entschieden (BGH 9.4. 2002, BGHZ 150, 248). Im Unterschied zur Richtlinie besteht ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB nicht nur, wenn der Vertrag in einer entsprechenden Situation abgeschlossen wurde. Vielmehr genügt es gemäß § 312 Abs. 1 S. 1 BGB, dass der Vertrag in einer Haustürsituation angebahnt und dann später außerhalb derselben regulär abgeschlossen wurde. Als Argumente gegen eine gespaltene Auslegung und damit für eine freiwillige Auslegung im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht führte der BGH die Kohärenz und die Verhinderungen von Wertungswidersprüchen an.
 
Eine andere Sache ist jedoch, inwieweit eine Vorlage an den EuGH erfolgen kann. Der Gerichtshof hat dies in EuGH Rs. C-3/04 – ''Poseidon Chartering'','' ''Slg. 2006, I-2505 zur überschießenden Umsetzung der Handelsvertreter-RL (RL 86/ 653; [[Handelsvertreter]]) im ''[[Burgerlijk Wetboek]]'' bejaht. Es bestehe ein Gemeinschaftsinteresse daran, Auslegungsdivergenzen zu verhindern und damit die Begriffe einheitlich auszulegen. Zudem überprüft der EuGH Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nur eingeschränkt. Der Gerichtshof wird eine Vorlage nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder die Frage allgemeiner oder hypothetischer Natur ist. Damit hat der EuGH einen weitreichenden Einfluss auf das z.B. im [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] ebenfalls überschießend umgesetzte Kaufrecht ([[Verbrauchsgüterkauf]]) und eröffnet einen Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten zur Auslegung auch des nationalen Rechts.


==Literatur==
==Literatur==
''Franz Wieacker'', Hausgenossenschaft und Erbeinsetzung: Über die Anfänge des römischen Testaments, 1940; ''Lawrence M. Friedman'', The law of the living, the law of the dead: property, succession and society, Wisconsin Law Review 29 (1966) 340 ff.; ''John Langbein'', The nonprobate revolution and the future of the law of succession, Harvard Law Review 97 (1984) 1108 ff.; ''idem'', The twentieth-century revolution in family wealth transmission, Michigan Law Review 86 (1988) 722 ff.; ''Dieter Henrich'', ''Dieter Schwab'' (Hg.), Familienerbrecht und Testierfreiheit im europäischen Vergleich: Beiträge zum europäischen Familienrecht, 2001; ''Nina Dethloff'', Familien- und Erbrecht zwischen nationaler Rechtskultur, Vergemeinschaftung und Internationalität: Perspektiven für die Forschung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 992 ff.; ''Kenneth G.C. Reid'','' Marius J. de Waal'','' Reinhard Zimmermann'' (Hg.), Exploring the Law of Succession, 2007; ''Inge Kroppenberg'', Privatautonomie von Todes wegen: Verfassungs- und zivilrechtliche Grundlagen der Testierfreiheit im Vergleich zur Vertragsfreiheit unter Lebenden, 2008.
''Joxerramon Bengoetxea'', The Legal Reasoning of the European Court of Justice: Towards a European Jurisprudence, 1993; Reiner Schulze'' ''(Hg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999; ''Rodríguez Iglesias'', Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten: Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, Neue Juristische Wochenschrift 2000, 1889 ff.; ''Claus-Wilhelm Canaris'', Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, 47 ff.; ''Jürgen Basedow'', Nationale Justiz und Europäisches Privat- recht: Eine Vernetzungsaufgabe, 2003; ''Mariele Dederichs'', Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 2004, 345 ff.; ''Anne Röthel'', Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 309 ff.; ''Martin Gebauer'', Europäische Auslegung des Zivilrechts, in: idem, Thomas Wiedmann (Hg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap. 3; ''Hannes Rösler'', Auslegungsgrundsätze des Europäischen Verbraucherprivatrechts in Theorie und Praxis, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 71 (2007) 495 ff.; ''Katja Langenbucher'', Europarechtliche Methodenlehre, in: eadem (Hg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, 1 ff.


[[Kategorie:A–Z]]
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[[en:Interpretation_of_EU_Law]]

Aktuelle Version vom 28. September 2021, 13:54 Uhr

von Hannes Rösler

1. Gegenstand und Zweck

Das primäre und sekundäre Unionsrecht enthält keine allgemeinen Bestimmungen zu seiner Auslegung, wie sie sich in Art. 7-9 CISG, Art. 5:101-5:107 PECL und Art. 4.1-4.8 UNIDROIT PICC, aber auch in Art. 31-33 WVK (Auslegung des internationalen Einheitsrechts) finden. Stattdessen wurde der Europäische Gerichtshof (EuGH) als unabhängiges überstaatliches Gericht geschaffen, das ausschließlich zur Auslegung des Gemeinschafts- und Unionsrechts berufen ist (Art. 220 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19 EU (2007)). Das politikferne Organ stellt die Einheit, Kontinuität und Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts sicher. Vor allem auf dem Gebiet des verfassungsgleichen Rechts wurde der EuGH mit seinem Auslegungsmonopol zum „Motor der Integration“, indem er den Vorrang und die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts durch Auslegung der römischen Verträge gewährte und ausbaute.

Von den vier Auslegungsmethoden, die Friedrich Carl von Savigny herausgearbeitet hat, verwendet der EuGH vorrangig die grammatische, die systematische und die teleologische. Dagegen stellt er den historisch-politischen Interpretationsansatz hintan. Gründe dafür sind die häufig schwierigen, teils unveröffentlichten Gesetzgebungsprozesse und kompromisshaften Ergebnisse. Allerdings führt der Gemeinschaftsgesetzgeber seine Erwägungsgründe auf, die der EuGH vor allem zur teleologischen Betrachtung heranzieht. Die Berücksichtigung von Protokollerklärungen von Kommission, Rat oder Parlament, die sich nicht im Rechtsakt niedergeschlagen haben, lehnt der EuGH jedoch ab (EuGH Rs. C-404/06 – Quelle, Slg. 2008, I-2685, Rn. 32).

Zunächst verwendet der Gerichtshof aber die wörtliche Auslegungsmethode. Dies hat er dem französischen Conseil d’Etat ebenso entlehnt wie den bündigen und deduktiven Argumentationsstil, der auch im europäischen Privatrecht nur bedingt Beiträge zur angezeigten Systembildung leistet. Das Apodiktische und Selbstreferenzielle der Urteile ist auch den allgemeinen Umständen eines internationalen Richtergremiums geschuldet, das verschiedene Rechtskulturen und Sprachen versöhnen muss. Allein darum stößt die Auslegung nach dem grammatikalischen Zusammenhang und die Erforschung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs innerhalb des (autonomen) EU-Rechts an seine Grenzen: Die EU verwendet gleichrangige Textfassungen in ihren verschiedenen Amtssprachen.

Entscheidendes Argumentationsmittel des EuGH ist darum – aber nicht nur bei abweichenden Textfassungen – die teleologische Betrachtung. Diese Methode liegt auch deswegen nahe, da die EU einen funktionalen Ansatz gewählt hat, also die im Primärrecht festgelegten Integrationsziele verwirklichen will, zu denen vor allem die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes zählt. Problematisch kann diese Orientierung am Geist und Zweck einer Vorschrift und am Gesamtprogramm der EU werden, wenn innerhalb des Primär- oder und Sekundärrechts verschiedene Teleologien (z.B. wirtschaftsliberale und soziale) zugleich verfolgt werden. Dies gilt vor allem für diejenigen Richtlinien, die sowohl dem Gesamtinteresse der Verwirklichung des Binnenmarktes als auch einem bestimmten Schutz (etwa des Arbeitnehmers oder Verbrauchers) dienen.

In der Summe spiegeln die Entscheidungen regelmäßig das Ziel eines effet utile wider. Die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts scheint häufig das wichtigste Ziel des Gerichtshofs bei seiner Auslegung und Rechtsfortbildung (Effektivitätsgrundsatz). Deutlich wird dies z.B. an der Qualifizierung von Teilzeitarbeitern als Arbeitnehmer. Eine solche Auslegung entspreche „den Zielen des Vertrages“, der die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und damit – als ökonomisches Argument – eine Hebung der Lebenshaltung bezweckt (EuGH Rs. 53/81 – Levin, Slg. 1982, 1035, Rn. 15).

Dagegen tritt die wertende Rechtsvergleichung grundsätzlich nicht klar als fünfte Methode zu Tage. Nur in den Ausführungen des Generalanwaltes finden sich häufiger detaillierte Bezugnahmen auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Einmal abgesehen von dem Faktum, dass die Richtlinien regelmäßig auf Rechtsvergleichung beruhen, ist diese Methode dem internationalen Richtergremium mit Richtern aus allen Mitgliedstaaten gleichsam immanent. Freilich wird die vergleichende Betrachtung nicht explizit miteinbezogen, auch damit die autonomen Gesetzestexte nicht durch fremde Wertungen unterlaufen werden. Bei der Lückenfüllung und Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze gewinnt die Rechtsvergleichung jedoch an Bedeutung. So begründet der EuGH die Staatshaftung ergänzend mit den allgemeinen Haftungsgrundsätzen im mitgliedstaatlichen Recht und nach den Grundsätzen des Völkerrechts (EuGH verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 – Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029, Rn. 29 ff.). Ein verfassungsrechtlicher Vergleich ist zudem in Art. 6(2) EU (1992)/11(3) EU (2007) vorgesehen, denn hiernach sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Quelle für die zu achtenden Grundrechte genannt.

Eine weitere Besonderheit des EU-Rechts besteht in der autonomen Begriffsbildung. Dies hat es mit dem Konventionsrecht gemein, für das der EuGH übrigens ebenfalls zuständig sein kann. So hat er aufgrund von Auslegungsprotokollen die wichtige Jurisdiktionsbefugnis für das EuGVÜ und später auch für das EVÜ erhalten (Verbraucherverträge (IPR und IZPR)). Damit jede Bestimmung und jedes Konzept des Europarechts europaweit einheitlich angewendet wird, haben sich die Rechtsanwender also vom nationalen und sonstigem nicht-gemeinschaftsrechtlichen Begriffsvorverständnis zu lösen. Dazu sind auch Mitgliedstaaten aufgerufen. Doch vorrangig ist es der EuGH, der – abhängig von der Vorlagebereitschaft und ‑verpflichtung der mitgliedstaatlichen Gerichte nach Art. 234 EG/ 267 AEUV – entsprechende Auslegungsvorgaben mit faktischer Bindungswirkung (Precedent, Rule of) schafft.

2. Auslegung des Primärrechts

Im verfassungsgleichen Recht ist der EuGH gewillt, judicial activism zu betreiben. Gerade hier sind die Richter nicht mehr, wie noch von Montesquieu gefordert, „la bouche de la loi“, sondern sie gehen bei der „Auslegung“ über den möglichen Wortlaut hinaus und überschreiten damit die Grenze zur Rechtsfortbildung (Richterrecht). Sie wird sowohl bei der gemeinschaftsrechtlichen als auch z.B. der französischen interprétation nicht klar gezogen. Diese Abgrenzung wäre aber angezeigt, denn die Rechtsfortbildung erfordert eine planwidrige Lücke und damit einen erheblich höheren Begründungsaufwand. Die Richter des EuGH – und billigend die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte – sehen die Befugnis zur Fortbildung durch ihre Aufgabe gerechtfertigt, nach Art. 220 (1) EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 19(1) (I) EU (2007), die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ des Vertrags sicherzustellen, wobei das „Recht“ über die in den Verträgen niedergelegten Regelungen hinausgeht.

Wichtigste Rechtsgrundsätze, die vom EuGH dementsprechend zur Ergänzung des geschriebenen Primärrechts entwickelt wurden, sind der Vorrang (EuGH Rs. 26/62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 3) und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, das jeden unmittelbar verpflichten oder berechtigen kann (EuGH Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1141). Ebenfalls maßgeblich sind die Geltung der Grundrechte in der Gemeinschaft (EuGH Rs. 29/69 – Stauder/Stadt Ulm, Slg. 1969, 419), die Präzisierung der Grundfreiheiten (EuGH Rs. 120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649), die Staatshaftung (EuGH verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich, Slg. 1991, I-5357) und die Reichweite der Unionsbürgerschaft (EuGH Rs. C-184/99 – Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193).

Damit schafft und präzisiert der Gerichtshof diejenigen rechtsstaatlichen Elemente, die eine vollwertige Rechtsordnung erfordert. Schließlich zählt das Europarecht nach Auffassung des EuGH nicht zum Völkerrecht, das von einer starken Beachtung staatlicher Souveränität gekennzeichnet ist: Der E(W)G-Vertrag sei zwar in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen worden, er stelle aber im Gegensatz zu üblichen völkerrechtlichen Verträgen nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer eigenständigen Rechtsgemeinschaft dar (EuGH Gutachten 1/91 – EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21). Darum hat der EuGH in Francovich ausgeführt, die Staatshaftung für Schäden, die dem Einzelnen infolge von dem Staat zurechenbaren Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, begründe sich aus dem Wesen der mit dem Vertrag von Rom geschaffenen und mit voller Wirksamkeit und Vorrang ausgestatteten Rechtsordnung.

Ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist die Rechtsprechung zur Wirkung des Rechtsinstruments der Richtlinie. Dazu zählt etwa die nach erfolglosem Ablauf der Umsetzungsfrist unter bestimmten Umständen mögliche „vertikale“ Direktwirkung einer Richtlinie, die also nur gegenüber dem Staat gilt. Eine unmittelbare „horizontale“ Direktwirkung von Richtlinien besteht gerade nicht (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 108). Hierzu stützt sich der EuGH auch auf das systematische Argument, eine Horizontalwirkung von Richtlinien würde die im EG-Vertrag vorgegebene Unterscheidung zwischen Richtlinien und Verordnungen aufheben (EuGH Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24).

3. Auslegungsvorgaben für Nationalgerichte

Die Rechtsschöpfungen auf der verfassungsrechtlichen Ebene wirken sich auch auf das europäische Privatrecht aus. Dies gilt nicht nur für die deliktsrechtliche Ausgestaltung der Staatshaftung, sondern auch für die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Als eine Art Meta-Regel stellt sich dies aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts steuernd über die vier besagten Auslegungsmethoden und ähnelt darum der verfassungskonformen Auslegung, wie sie das deutsche Recht kennt. Darüber hinaus umfasst die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur europarechtskonformen Auslegung neben der vorrangigen Vereinbarkeit mit dem Primärrecht auch die Konformität mit dem Sekundärrecht. Diese wird durch die Pflicht der Nationalgerichtsbarkeit zur richtlinienkonformen Auslegung gesichert. Sie erfolgt durch die Anwendung der nationalstaatlichen Auslegungsmethoden (EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 116).

Danach ist das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der fraglichen Richtlinie auszulegen (EuGH Rs. C-106/89 – Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8; auch EuGH Rs. 14/83 – von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 28). Da das nationale Recht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auch Private benachteiligen kann, entsteht erst hierdurch eine Horizontalwirkung, die ansonsten – wie erwähnt – grundsätzlich ausgeschlossen ist. Je großzügiger man zudem die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung erlaubt, desto mehr verringert sich der Anwendungsbereich der Staatshaftung für legislatives Unrecht (s. jedoch für judikatives Unrecht EuGH Rs. C-224/01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239; EuGH Rs. C-173/03 – Traghetti del Mediterraneo, Slg. 2006, I-5177).

Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist einsetzt (EuGH Rs. C-456/98 – Centrosteel, Slg. 2000, I-6007, Rn. 17), ist Folge der Verpflichtung zur allgemeinen Loyalität nach Art. 10 EG/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 4 EU (2007), Art. 4(3) EU (1992)/im Wesentlichen ersetzt durch Art. 15(6) (I)(d) EU (2007) und zur konkreten Richtlinienumsetzung gemäß Art. 249(3) EG/288 AEUV. Sie ist auch dem EG-Vertrag „immanent“, denn durch sie kann das nationale Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Europarechts gewährleisten (so EuGH verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 – Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835, Rn. 114).

Der Vorrang der europarechtsfreundlichen Auslegung und Rechtsfortbildung, die sich auf das gesamte nationale Recht erstreckt, findet seine Grenze in der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit. Darum darf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch nicht zu einer contra legem-Auslegung einer nationalen Vorschrift führen (EuGH Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057, Rn. 110). In einem solchen Fall haben die nationalen Gerichte die Vorschrift vorzulegen oder für unanwendbar zu erklären. (Der dahinter stehende Gewaltenteilungsgrundsatz gilt auch auf der europäischen Ebene: Der EuGH kann primärrechtswidriges Gemeinschaftsrecht nicht durch Auslegung „heilen“, sondern muss es im Wege einer Nichtigkeitsklage oder eines Vorabentscheidungsverfahrens für nichtig erklären; EuGH Rs. 314/85 – Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, 4230 ff.) Das nationale Gericht hat aber zur Ermittlung eines zutreffenden Verständnisses einer Richtlinienvorschrift nicht nur die Rechtsprechung des EuGH zu beachten, sondern soweit möglich auch die in den anderen Mitgliedstaaten praktizierte Auslegung.

4. Auslegungsreichweite beim Sekundärrecht

a) Allgemein

Während der EuGH mit den erwähnten Entscheidungen zum Primärrecht häufig einen constitutional activism betreibt, schwankt er ansonsten zwischen effet utile-Orientierung und Zurückhaltung. Das ist einer der Gründe, warum die Entscheidungen in der Praxis häufig schwer vorhersehbar sind. Beispiele für judicial activism im Privatrecht sind die Entscheidungen EuGH Rs. C-168/00 – Leitner, Slg. 2002, I-2631, wonach Art. 5 Pauschalreise-RL (RL 90/314) auch einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens verleiht, sowie EuGH Rs. C-350/03 – Schulte, Slg. 2005, I-9215 und EuGH Rs. C-229/04 – Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 über die Rechte eines Verbrauchers bei kreditfinanzierten Immobilienkaufverträgen nach der Haustürgeschäfte-RL (RL 85/577). Doch mehrheitlich muss sich der EuGH, der vorrangig ein Verfassungs- und Verwaltungsgericht darstellt, in Zivilsachen eher im self restraint üben. Die Ursachen liegen in den Akzeptanz- und Kapazitätsgründen, denn die steigende Vorlageflut im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EG/267 AEUV wird dadurch etwas eingedämmt.

b) Generalklauseln

Hieraus erklärt sich auch EuGH Rs. C-237/02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403. Danach ist das nationale Gericht für die Beurteilung zuständig, ob eine vorformulierte Vertragsklausel missbräuchlich im Sinne von Art. 3(1) RL 93/13 ist. Dahingegen ließen noch EuGH verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 – Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 sowie EuGH Rs. C-473/00 – Cofidis, Slg. 2002, I-10875 eine großzügigere eigene Klauselkontrolle vermuten. In Océano Grupo ging es freilich um eine Klausel, die die Wirksamkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes unabhängig vom Vertragstyp in Frage stellte. Der EuGH bejahte darum die Missbräuchlichkeit. In Cofidis hat der EuGH dann aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes eine Ausschlussfrist des Verbraucherkreditrechts im französischen Code de la consommation für unvereinbar mit der RL 93/13 erklärt, und zwar obschon die Richtlinie keine Verjährungs- und Ausschlussfristen vorsieht.

In Freiburger Kommunalbauten unterscheidet der EuGH danach, ob die Missbräuchlichkeit einer Klausel festgestellt werden kann, ohne dass alle Vertragsumstände geprüft und die verbundenen Vor- und Nachteile der Klausel anhand des nationalen Rechts gewürdigt werden müssen. Nach Freiburger Kommunalbauten ist es Aufgabe des EuGH, die in der Richtlinie zur Definition des Begriffs der missbräuchlichen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen. Die eigentliche Überprüfung von Klauseln obliegt aber den nationalen Gerichten. Wie diese Konkretisierungskompetenz genau abzugrenzen ist, bleibt ebenso fraglich wie die allgemeinen Kriterien der Missbrauchskontrolle. Außer Betracht lässt der EuGH ohnehin die sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen, da deren Betrachtung eine Auseinandersetzung mit den nationalen Besonderheiten erfordern würde.

c) Überschießende Umsetzung

Überschießende Umsetzungen von Richtlinien entstehen, wenn das Schutzniveau infolge des Vorliegens einer Mindestharmonisierung (Verbraucher und Verbraucherschutz) angehoben oder der Anwendungsbereich im Zuge der nationalen Umsetzung ausgedehnt wird. Da Deutschland im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung gerade im Verbraucherrecht zahlreiche überschießende Umsetzungen vorgenommen hat, stellte sich hier die Frage einer gespaltenen oder einheitlichen Auslegung.

Der BGH hat sich bei den Haustürgeschäften für Letzteres entschieden (BGH 9.4. 2002, BGHZ 150, 248). Im Unterschied zur Richtlinie besteht ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB nicht nur, wenn der Vertrag in einer entsprechenden Situation abgeschlossen wurde. Vielmehr genügt es gemäß § 312 Abs. 1 S. 1 BGB, dass der Vertrag in einer Haustürsituation angebahnt und dann später außerhalb derselben regulär abgeschlossen wurde. Als Argumente gegen eine gespaltene Auslegung und damit für eine freiwillige Auslegung im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht führte der BGH die Kohärenz und die Verhinderungen von Wertungswidersprüchen an.

Eine andere Sache ist jedoch, inwieweit eine Vorlage an den EuGH erfolgen kann. Der Gerichtshof hat dies in EuGH Rs. C-3/04 – Poseidon Chartering, Slg. 2006, I-2505 zur überschießenden Umsetzung der Handelsvertreter-RL (RL 86/ 653; Handelsvertreter) im Burgerlijk Wetboek bejaht. Es bestehe ein Gemeinschaftsinteresse daran, Auslegungsdivergenzen zu verhindern und damit die Begriffe einheitlich auszulegen. Zudem überprüft der EuGH Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nur eingeschränkt. Der Gerichtshof wird eine Vorlage nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder die Frage allgemeiner oder hypothetischer Natur ist. Damit hat der EuGH einen weitreichenden Einfluss auf das z.B. im BGB ebenfalls überschießend umgesetzte Kaufrecht (Verbrauchsgüterkauf) und eröffnet einen Dialog zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten zur Auslegung auch des nationalen Rechts.

Literatur

Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice: Towards a European Jurisprudence, 1993; Reiner Schulze (Hg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, 1999; Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten: Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union, Neue Juristische Wochenschrift 2000, 1889 ff.; Claus-Wilhelm Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Festschrift für Franz Bydlinski, 2002, 47 ff.; Jürgen Basedow, Nationale Justiz und Europäisches Privat- recht: Eine Vernetzungsaufgabe, 2003; Mariele Dederichs, Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 2004, 345 ff.; Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 309 ff.; Martin Gebauer, Europäische Auslegung des Zivilrechts, in: idem, Thomas Wiedmann (Hg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2005, Kap. 3; Hannes Rösler, Auslegungsgrundsätze des Europäischen Verbraucherprivatrechts in Theorie und Praxis, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 71 (2007) 495 ff.; Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: eadem (Hg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, 1 ff.

Abgerufen von Testierfreiheit – HWB-EuP 2009 am 28. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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