Rechtshängigkeit und Rechtskreislehre: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Dieter Martiny]]''
von ''[[Hein Kötz]]''
== 1. Begriff der Rechtshängigkeit ==
== 1. Der Begriff des Rechtskreises oder der Rechtsfamilie ==
Die Rechtshängigkeit (''Litispendenz'') betrifft die Wirkung der Einleitung eines Gerichtsverfahrens in prozessualer und in materiellrechtlicher Hinsicht. Da ein Verfahren anhängig ist, treten bestimmte Wirkungen ein. Erst ab Rechtshängigkeit besteht zwischen den Parteien ein so genanntes Prozessrechtsverhältnis; erst ab diesem Zeitpunkt kann überhaupt eine Entscheidung ergehen. Gleichzeitig soll eine gewisse Festlegung erfolgen und verhindert werden, dass das Verfahren durch ein weiteres durchkreuzt wird. Vor den dabei auftauchenden zahlreichen Problemen steht grundsätzlich jede Rechtsordnung. Allerdings sind die Techniken der Verfahrenseinleitung, insbesondere die maßgeblichen Zeitpunkte unterschiedlich. Dementsprechend kommt es vor allem im internationalen Kontext zu Schwierigkeiten. Ferner müssen Verfahren in verschiedenen Rechtsordnungen koordiniert werden; es ist nicht selbstverständlich, auch einer ausländischen Rechtshängigkeit Wirkungen zuzubilligen. Schließlich stößt die Beachtung der ausländischen Rechtshängigkeit im europäischen Justizraum auf spezifische Schwierigkeiten.
Die Lehre von den Rechtskreisen beschäftigt sich mit der Frage, ob und nach welchen Kriterien die existierenden nationalen Rechtsordnungen sich in große Gruppen (Rechtskreise, Rechtsfamilien) einteilen lassen. Die Frage ist in der rechtsvergleichenden Forschung immer wieder erörtert worden und daher offenbar von hohem theoretischem Reiz. Mit Hilfe der Antworten, die auf diese Frage gegeben werden, lässt sich die Masse der bestehenden Rechtsordnungen in eine gewisse Ordnung bringen, durch die sich der Stoff einer rechtsvergleichenden Darstellung gliedern lässt und die die Verständigung unter den Rechtsvergleichern erleichtert. Auch der Begriff der [[Mischrechtsordnungen]] setzt voraus, dass zunächst bestimmte Rechtskreise oder Rechtsfamilien gebildet und sodann eine bestimmte Rechtsordnung, weil sie sich ihnen nicht ohne weiteres zurechnen lässt, als Mischrechtsordnung charakterisiert wird. Mitunter wird auch die rechtsvergleichende Forschung durch die Bildung von Rechtskreisen erleichtert. Denn wenn eine oder auch zwei Rechtsordnungen als für einen bestimmten Rechtskreis „repräsentativ“ gelten können, so kann es plausibel sein, dass man eine rechtsvergleichende Untersuchung auf diese „repräsentativen“ Rechtsordnungen beschränkt und ihre Ergebnisse bis zum Beweis des Gegenteils als für den gesamten Rechtskreis maßgeblich ansieht.


Bemühungen, die nationalen Regeln über die Rechtshängigkeit zu harmonisieren, finden sich bereits im Textentwurf eines einheitlichen europäischen Zivilprozessrechts (Art. 2.2.2 zu ''action pending'' bzw.'' litispendance''). Auch die ALI/‌‌UNIDROIT ''Principles of Transnational Civil Procedure'' von 2004 beschäftigen sich damit. Sie bestimmen als maßgeblichen Zeitpunkt für ''lis pendens the lodging the complaint with the court ''(Principle 10.2). Der ''scope of the proceeding'' wird bestimmt durch ''the claims in the parties’ pleadings'','' including amendments ''(Principle 28.1).
== 2. Kriterien ==
Mehrere Rechtsordnungen lassen sich einem bestimmten Rechtskreis nur dann zurechnen, wenn sie sich hinreichend „nahe stehen“, miteinander „verwandt“ oder einander „ähnlich“ sind. Es kommt deshalb alles darauf an, nach welchen Kriterien der Grad der Verwandtschaft oder Nähe beurteilt werden soll. Eine einheitliche Auffassung darüber gibt es nicht und kann es auch nicht geben, weil es durchaus legitim ist, dass der eine Forscher dieses, der andere jenes Kriterium als für den besonderen Zweck seiner Untersuchung entscheidend ansieht. ''Konrad Zweigert'' schlug 1961 vor, nebeneinander mehrere Kriterien heranzuziehen, die in ihrer Gesamtheit für den spezifischen „Stil“ einer Rechtsordnung maßgeblich seien. Zu den stilprägenden Faktoren zählte er die historische Herkunft und Entwicklung einer Rechtsordnung, die in ihr vorherrschende spezifisch juristische Denkweise, einzelne besonders stiltypische Rechtsinstitute, die Art der bestimmenden Rechtsquellen und ihre Auslegung und Fortbildung ([[Rechtsquellen (des europäischen Privatrechts)|Rechtsquellen]]), schließlich ideologische Faktoren. Mit welchem relativen Gewicht jeder einzelne dieser Faktoren anzusetzen sei, blieb freilich offen. Im Ergebnis kamen dabei Rechtskreise heraus, die sich nicht allzu sehr von jenen unterschieden, zu denen auch schon andere Autoren aufgrund anderer Kriterien gelangt waren: Da war zunächst der Rechtskreis des ''[[common law]]'', dann der des ''civil law'', innerhalb dessen zwischen dem romanischen, dem deutschen und dem skandinavischen Rechtskreis unterschieden wurde. Hinzu kamen der sozialistische Rechtskreis ([[sozialistisches Recht]]), der heute vom Erdboden fast verschwunden ist, ferner das [[islamisches Recht|islamische Recht]], das Hindu-Recht und der fernöstliche Rechtskreis, dem damals das japanische und koreanische Recht sowie das Recht der Volksrepublik China zugerechnet wurden. Diese Einteilung liegt dem Lehrbuch von ''Konrad'' ''Zweigert'' und ''Hein'' ''Kötz'' (1. Aufl. 1971) zugrunde, findet sich aber in ähnlicher Form auch schon bei ''Pierre Arminjon'','' Boris Nolde'','' Martin Wolff ''und bei ''René David''.


== 2. Rechtshängigkeit nach nationalem Zivilverfahrensrecht ==
== 3. Kritik ==
Die europäischen Rechtsordnungen kennen im Allgemeinen den Begriff der Rechtshängigkeit. Eine später eingeleitete Klage scheitert an dem früheren Verfahren. Nach ''[[common law]]'' steht allerdings nicht die Einrede der Rechtshängigkeit als solche im Vordergrund. Es gilt nicht das Prioritätsprinzip, sondern die ''lis alibi pendens'' Lehre. Danach erklärt sich im Fall zweier parallel eingeleiteter Verfahren das Gericht für unzuständig, das eine weniger starke Beziehung zu dem Fall aufweist (das'' forum non conveniens''), die zeitliche Reihenfolge spielt dabei kaum eine Rolle.
An der Lehre von den Rechtskreisen in ihrer „klassischen“ Ausprägung ist in den letzten Jahren zunehmend Kritik geäußert worden. Allerdings wird dabei oft übersehen oder bagatellisiert, dass die „klassische“ Lehre sich keineswegs als so engherzig und dogmatisch versteht, wie es ihr von vielen Kritikern angedichtet wird. ''David'' hat schon früh darauf hingewiesen, dass sie meist ein bloß didaktisches Ziel verfolgt, nämlich dem Anfänger zeigen will, wie sich die zunächst verwirrende Vielfalt der nationalen Rechtsordnungen in eine erste lockere Ordnung bringen lässt. Anerkannt war auch, dass die Kriterien, nach denen sich Rechtsfamilien oder Rechtskreise bilden lassen, nicht starr vorgegeben, sondern von jedem Autor so auszuwählen sind, wie ihm dies mit Rücksicht auf den Untersuchungsgegenstand, die Untersuchungsmethode und das Untersuchungsziel zweckdienlich erscheint. Es ist auch kein Zufall, dass die oben genannten Kriterien den Lehrbüchern zur Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des ''Privatrechts'' entwickelt worden sind. Es liegt deshalb auf der Hand, dass derjenige zu anderen Kriterien und damit auch zu anderen Einteilungen gelangen wird, der sich rechtsvergleichend mit den Gebieten des Verfassungs- oder Strafrechts beschäftigt, ebenso derjenige, der sich auf das Familien- oder Erbrecht verschiedener Länder oder auf ihr Verfahrensrecht oder auf das Recht der Wettbewerbsbeschränkungen oder der Kapitalmarktregulierung konzentriert. Ferner geht auch die „klassische“ Lehre von den Rechtskreisen davon aus, dass den nationalen Rechtsordnungen keine „''réalité biologique''“ zukommt (''David''), sie sich vielmehr „im Fluss“ befinden und ständigem Wandel ausgesetzt sind. Daraus folgt, dass auch die Zuordnung zu bestimmten Rechtskreisen nicht „statisch“, sondern ihrerseits „im Fluss“ ist und daher eine Einteilung, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen plausibel erscheint, nicht nur auf historisch frühere Phasen nicht passt, sondern sich auch in Zukunft verändern kann. Diesem Umstand mag man dadurch Rechnung tragen, dass man mit ''H. Patrick Glenn'' nicht zwischen Rechtskreisen, sondern zwischen Rechtstraditionen (''legal traditions'') unterscheidet.


Für die Verfahrenseinleitung verwenden die nationalen Prozessordnungen mehrere Systeme. Nach dem ersten Ansatz beginnt sie mit dem Einreichen der Klage bei Gericht, sodann folgt – wie nach deutschem Recht (§ 270 ZPO) – eine Zustellung von Amts wegen. Dagegen erfolgt nach dem französischen System zunächst eine ''assignation'' durch den Gerichtsvollzieher (''huissier''), während die Klage erst später beim Gericht registriert wird (''mise au rôle''). Entsprechend erfordert die Rechtshängigkeit in Italien eine Zustellung der Klageschrift (''citazione'') durch den Kläger an den Beklagten (Art. 39 Abs. 3 CPC). Obwohl sich der Kläger dabei des Gerichtsvollziehers bedient, handelt sich dennoch um eine Privatzustellung und keine Zustellung durch das Gericht. Nach englischem Recht unterscheidet man die formelle Registrierung der Klage bei Gericht und sodann die später vom Kläger veranlasste Zustellung der Klage.
Auch hat man kritisiert, dass die traditionelle Lehre zuviel Gewicht auf das ''law in the books'', zuwenig auf das ''law in action'' legt und sich deshalb zu stark daran orientiert, ob die Gesetze, Rechtsinstitute und systematischen Strukturen bestimmter Rechtsordnungen den gleichen historischen Wurzeln entstammen oder im Wege der [[Rezeption]] von einer „Mutterrechtsordnung“ übernommen worden sind und deshalb eine oberflächliche, nur „technische“ Verwandtschaft aufweisen. Diese Kritik mag begründet sein, richtet sich dann aber nicht gegen die Lehre von den Rechtskreisen an sich, sondern dagegen, dass den Kriterien, die auch sie anerkennt, nicht genügend Gewicht beigelegt worden ist. Denn auch sie stellt sich keineswegs blind gegenüber dem Umstand, dass es für die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit von Rechtsordnungen auf ihre „lebende Rechtskultur“ (''Lawrence Friedman'') ankommt, also etwa darauf, ob das Verhältnis der Bürger zu den Regeln und Institutionen des Rechts von den gleichen Verhaltensmustern, Einstellungen, Erwartungen und Wertungen geprägt ist ([[Rechtskultur]]). Für ''Patrick Atiyah'' und'' Robert S. Summers ''ist es für den Charakter einer Rechtsordnung in hohem Maße typisch, ob die Urteilsbegründung, die Gesetzesauslegung ([[Auslegung von Rechtsnormen]]) und das gerichtliche Verfahren mehr durch „formale“ oder mehr durch „inhaltliche“ Elemente geprägt sind. Sie kommen nach einer vergleichenden Analyse des englischen und des anglo-amerikanischen Rechts zu dem Ergebnis, dass zwischen diesen Rechtsordnungen, obwohl sie beide gewöhnlich dem Rechtskreis des ''common law'' zugerechnet werden, erhebliche Unterschiede bestehen, so erhebliche in der Tat, dass das englische Recht mit seiner Neigung zu einer stärker „formalen“ Argumentation den kontinentalen Systemen viel näher zu stehen scheint als dem US-amerikanischen. Ebenso kann man Rechtsordnungen in der Weise untersuchen und voneinander unterscheiden, dass man auf die charakteristischen Merkmale abstellt, von denen die Ausbildung, die berufliche Tätigkeit, die ständische Organisation und die ökonomischen Interessen der in ihnen tonangebenden Juristen der von ''Max Weber'' so genannten „Rechtshonoratioren“ – geprägt werden. Auch ist die praktische Bedeutung von Rechtsregeln und rechtsförmigen Verfahren in manchen Ländern geringer als in anderen, etwa weil Gerichte nicht vorhanden, überlastet oder aus anderen Gründen nicht funktionsfähig sind, von den Bürgern als Konfliktlösungsmechanismus nicht akzeptiert werden oder die Richter sich bestechen oder Urteile sich in der Praxis nicht vollstrecken lassen. In solchen Ländern mit „schwachem“ Rechtssystem lässt sich manchmal mit Hilfe ökonomischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer oder anthropologischer Ansätze bestimmen, welche außerrechtlichen Anreize für das Verhalten der Menschen maßgeblich sind, und auch danach lassen sich Unterscheidungen treffen und Einteilungen vornehmen.
 
Auch im Hinblick auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit bestehen Unterschiede. Man kann zum einen auf den Zeitpunkt abstellen, an dem die Klage bei Gericht eintrifft (oft als Anhängigkeit bezeichnet) oder registriert wird oder auf den Zeitpunkt, in dem der Beklagte von ihr erfährt. Nach einem Ansatz werden Klagen mit der Zustellung der Klageschrift an den Beklagten rechtshängig. So erfolgt der Eintritt der Streitanhängigkeit in Österreich wie in Deutschland (§§ 253 Abs. 1, 261 ZPO) bei schriftlichen Klagen zu dem Zeitpunkt, in dem die Zustellung der Klage an den Beklagten ordnungsgemäß bewirkt ist (§ 106 ZPO). Diese Lösung wird ebenso verfolgt etwa in Dänemark, Griechenland (Art. 221 Abs. 1 lit. a ZPO), Polen (Art. 192 KPC). Auch gemäß Art. 61 und 171 des luxemburg. CPC tritt Rechtshängigkeit durch Zustellung an den Beklagten ein. Nach einem zweiten Ansatz wird eine Klage hingegen mit der Einreichung bei Gericht rechtshängig. So ist es etwa in Finnland. Auch die heutige französische Rechtsprechung stellt erst auf die Registrierung bei Gericht ab.
 
Zur Eingrenzung der Verfahren bedarf es ferner einer Identifikation der Parteien. Grundsätzlich müssen dieselben Parteien (gegebenenfalls ihre Rechtsnachfolger) von den Verfahren betroffen sein. Ferner kommt es auf den Streitgegenstand an. Der Streitgegenstand wird zwar unterschiedlich, aber weitgehend zweistufig definiert, nach der in Deutschland überwiegenden Auffassung nach dem vom Kläger erhobenem Antrag und dem zur Begründung vorgetragenen Lebenssachverhalt.
 
Die Rechtshängigkeit hat prozessuale und materiellrechtliche Wirkungen. Prozessual bewirkt die Rechtshängigkeit, dass derselbe streitgegenständliche Anspruch zwischen denselben Parteien bei keinem anderen Gericht mehr anhängig gemacht werden kann (vgl. § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Ferner wird die einmal begründete Zuständigkeit des Gerichts durch nachträgliche Veränderungen, z.B. Verlegung des Beklagtenwohnsitz, Reduktion der Klageforderung, nicht berührt (siehe § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO sog. ''perpetuatio fori''). Bei konkurrierenden Verfahren entscheidet die Priorität. Der Einwand der Rechtshängigkeit ist ein von Amts wegen zu beachtendes Rechtshindernis, das im Rahmen der Zulässigkeit der Folgeklage zu prüfen ist. Die Rechtshängigkeit hat auch materiell-rechtlich Bedeutung für Nebenansprüche (insbesondere Prozesszinsen), eine Haftungsverschärfung, die Verjährung bzw. Hemmung von Ansprüchen oder Wahrung von Ausschlussfristen.
 
== 3. Rechtshängigkeit im internationalen Zivilverfahrensrecht ==
Zur Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen, im Interesse des internationalen Entscheidungseinklangs, aber auch einer zweckmäßigen Verfahrenskoordination und zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes wird auch die anderweitige ausländische Rechtshängigkeit in inländischen Verfahren vielfach beachtet und führt zur Unzulässigkeit eines späteren inländischen Verfahrens. Das ist etwa nach Art. 7 des italienischen Gesetzes über das internationale Privatrecht und in Deutschland nach einer ungeschriebenen Regel der Fall. Verlangt wird allerdings, dass voraussichtlich mit einer Anerkennung der zu erwartenden ausländischen Entscheidung zu rechnen ist.
 
Auf der anderen Seite stellt die Missachtung der inländischen Rechtshängigkeit ein Hindernis für die Anerkennung einer darauf beruhenden ausländischen Entscheidung dar. Staatsverträge nennen die Missachtung der eigenen Rechtshängigkeit vielfach als eigenständiges Anerkennungshindernis, so etwa Art. 22(c) Haager Übereinkommen zur grenzüberschreitenden Durchsetzung von Kindesunterhalt von 2007, nicht aber in Art. 9 Haager Übereinkommen über die Gerichtsstandsvereinbarung von 2005. Auch das nationale Anerkennungsrecht kennt regelmäßig ein solches Anerkennungshindernis. Die ausländische Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn sie mit einem inländischen Verfahren unvereinbar ist, das zwischen denselben Parteien über denselben Streitgegenstand vor einem inländischen Gericht anhängig ist und vor dem ausländischen Verfahren eingeleitet wurde (so etwa § 328 Abs. 1 Nr. 3 dt. ZPO; Art. 64 Abs. 1 lit. f ital. IPRG von 1995): Auf diese Weise wird die Beachtung der Rechtshängigkeit abgesichert. Auch hierfür müssen die Voraussetzungen und Grenzen bestimmt werden.
 
== 4. Rechtshängigkeit im europäischen internationalen Zivilverfahrensrecht ==
Im europäischen internationalen Zivilprozessrecht enthielt bereits das Brüsseler Übereinkommen eine eigene Vorschrift für die Rechtshängigkeit (''lis pendens; litispendance''), die auf dem Prioritätsprinzip beruhte. Diese Regelung ist von der Brüssel I-VO (VO 44/‌2001) ausgebaut worden. Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht sein Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht (Art. 27(1) Brüssel I-VO). Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig (Art. 27(2) Brüssel I-VO); ebenso nun Art. 12 der Unterhalts-VO (VO 4/‌2009). Die gleiche Regelung wird für Ehesachen und die elterliche Verantwortung in Art. 19 der Brüssel IIa-VO (VO 2201/‌2003) getroffen, wobei hier der Streitgegenstand noch weiter gefasst ist. Eine Anerkennungsprognose bezüglich der ausländischen Entscheidung wird im Gegensatz zum nationalen Recht auch bei der Prüfung des Rechtshängigkeitseinwandes nach Art. 30 der Brüssel I-VO nicht vorgenommen.
 
Da bereits dem Erstgericht die Beachtung der ausländischen Rechtshängigkeit vorgeschrieben ist, handelt es sich nach den Verordnungen nicht um ein Anerkennungshindernis. Selbst wenn das Erstgericht die ausländische Rechtshängigkeit zu Unrecht nicht beachtet haben sollte, berechtigt dies später nicht zur Nichtanerkennung. Da diese Regelung der Rechtshängigkeit nur bei einer einheitlichen Anwendung funktionieren kann, ist der Begriff des Anspruchs autonom auszulegen.
 
Der EuGH verwendet insoweit einen zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff, für den er dem französischen Wortlaut entsprechend (''demandes ayant le même objet et la même cause'') zwischen Gegenstand und Grundlage des Verfahrens unterscheidet. Danach kann eine Identität der Streitgegenstände auch dann vorliegen, selbst wenn keine formale Gleichheit zwischen den Klageanträgen und ‑gründen besteht. „Gegenstand“ ist nicht das Klagebegehren, sondern der Zweck der Klage. „Grundlage“ ist der Sachverhalt und die Rechtsvorschrift, auf welche die Klage gestützt wird, wobei Rechtsvorschrift weit im Sinne der dem Sachverhalt zugrunde liegenden Rechtsfrage zu verstehen ist.
 
Nach der Kernpunkttheorie des EuGH reicht es aus, wenn sich die Klagen auf denselben Gegenstand beziehen bzw. demselben Zweck dienen und dieselbe Grundlage (Sachverhalt und dieselbe Rechtsgrundlage, auf die sie gestützt werden) haben (EuGH Rs. C-406/‌92 – ''Tatry/‌ Macief Rataj'', Slg. 1994, I-5439). Miteinander unvereinbar sind etwa eine Klage auf Kaufpreiszahlung und eine solche auf Auflösung des ihr zugrunde liegenden Vertrags. Sie haben die gleiche „Grundlage“, beziehen sich auf dieselben Kernpunkte des Streits (EuGH Rs. 144/‌86 – ''Gubisch/‌Palumbo'', Slg. 1987, 4861). Auch eine teilweise Identität zwingt zur Aussetzung nach Art. 27(1) Brüssel I-VO. Dementsprechend können eine negative Feststellungsklage und eine Leistungsklage denselben Gegenstand betreffen. Ausgenutzt wird dies durch sog. Torpedoklagen, bei denen im „Klägerwettlauf“ eine negative Feststellungsklage in einem notorisch langsamen Gerichtssystem (oft Italien oder Belgien) erhoben wird, um damit über die Rechtshängigkeitssperre eine drohende Leistungsklage in einem schnelleren Gerichtssystem zu blockieren und damit zu torpedieren (siehe EuGH Rs. C-116/‌02 – ''Gasser/‌ MISAT'', Slg. 2003, I-14693). Der (vermeintliche) Schuldner kann daher seinem Gläubiger mittels negativer Feststellungsklage zuvorkommen und, entgegen der im autonomen deutschen Prozessrecht vertretenen Auffassung, dessen Leistungsklage möglicherweise für mehrere Jahre blockieren. Da die Verfahrensdauer kein zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist, ist auch eine unvertretbar lange Verfahrensdauer für die Rechtsfolgen des Art. 27 unbeachtlich. Vorschläge zur Einschränkung dieser Blockadewirkung (etwa Änderung des Streitgegenstandsbegriffs, Sanktionen für unfaire Prozessführung) wurden bislang nicht aufgegriffen. Ein Grünbuch von April 2009 fragt nach Verbesserungsvorschlägen.
 
Die Blockade des zweiten Verfahrens durch das erste tritt nach europäischem internationalem Zivilprozessrecht auch dann ein, wenn die im ersten Verfahren zu erwartende Entscheidung keine Aussicht auf Anerkennung im Zweitstaat hat. Art. 27 Brüssel I-VO verlangt keine Anerkennungsprognose, geht vielmehr von der Gleichwertigkeit der Verfahren aus. Auch wenn der erkennende Richter des angerufenen Zweitgerichts der Meinung ist, der zuerst angerufene Richter sei unzuständig gewesen, darf er nicht in der Sache entscheiden. Die Anerkennung der Wirkung der ausländischen Entscheidung hat Vorrang vor einer Überprüfung ihrer Richtigkeit.
 
Art. 27 Brüssel I-VO ist zwingend und steht nicht zur Disposition der Parteien. Es steht jedoch in ihrem Belieben, das frühere Verfahren zu beenden, um damit die Anwendung des Art. 27 auszuschließen. Art. 27 ist von Amts wegen anzuwenden, wenn auch der Beibringungsgrundsatz gilt. Die Partei, die sich auf Art. 27 beruft, muss die ausländische Rechtshängigkeit substantiiert vortragen.
 
Die Parteiidentität, d.h. das Kriterium „derselben Parteien“ ist ebenfalls autonom auszulegen; die Parteien des vor dem Zweitgericht anhängigen Verfahrens müssen mit denen des Erstverfahrens identisch sein, wenngleich die Parteirollen vertauscht sein dürfen (EuGH Rs. C-406/‌92 – ''Tatry/‌Macief Rataj'', Slg. 1994, I-5439). Dies hat bislang nicht zu besonderen Schwierigkeiten geführt. Allerdings hat der Gerichtshof auch auf die materielle Rechtsstellung der Parteien abgestellt. Identität soll auch dann gegeben sein, wenn die Parteien nicht identisch sind, aber ihre Interessen hinsichtlich des Gegenstandes zweier Verfahren soweit übereinstimmen, dass ein Urteil, das gegen die eine ergeht, auch Rechtskraft gegen die andere entfalten würde (EuGH Rs C-351/‌96 – ''Drouot /‌ CMI'', Slg. 1998, I-3075). Diene Koppelung an die – nur schwer bestimmbaren – subjektiven Grenzen der Rechtskraft könnte die Einrede der Rechtshängigkeit erneut ausdehnen.
 
Bei nicht identischen, aber in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang stehenden Klagen gibt Art. 28 Brüssel I-VO (Konnexität) eine Aussetzungsmöglichkeit.
 
== 5. Zeitpunkt der Rechtshängigkeit im Europäischen Internationalen Zivilverfahrensrecht ==
Ein besonderes Problem bildet die Festlegung des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit. In Anbetracht der unterschiedlichen Zustellungssysteme und Rechtshängigkeitsbegriffe in den Mitgliedstaaten nennt Art.&nbsp;30 Brüssel&nbsp;I-VO (ebenso Art.&nbsp;16 Brüssel&nbsp;IIa-VO) zwar verschiedene Zeitpunkte. Allerdings überlässt die Vorschrift den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit letztlich nicht dem nationalen Recht, sondern sucht im Interesse der Kompatibilität der Verfahren und der Chancengleichheit der Parteien einen Kompromiss. Ein Gericht gilt als angerufen zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück ''bei Gericht eingereicht worden ist'', vorausgesetzt, dass der Kläger in der Folge die ihm obliegenden Maßnahmen trifft, um die Zustellung des Schriftstücks an den Beklagten zu bewirken (Art.&nbsp;30 Nr.&nbsp;1 Brüssel&nbsp;I-VO). Eine in Deutschland erhobene Klage gehört zu dem von Art.&nbsp;30 Nr.&nbsp;1 erfassten Typ der Verfahrenseinleitung. In England hatte man internationale Rechtshängigkeit zunächst erst mit Zustellung der Ladungsschrift an den Beklagten (''service of the writ'') angenommen, hielt dann aber die Ausstellung (''issuance of the'' ''writ'') für maßgeblich (''Canada Trust Company ''v.'' Stolzenberg and Gambazzi and others''<nowiki> [2000] 3 WLR 1376 (HL)). Auch die Klageerhebung in Irland, Griechenland, Österreich, Schweden, Finnland und Dänemark ist hier zu nennen.</nowiki>
 
Nach der zweiten Alternative gilt das Gericht auch als angerufen, falls die Zustellung an den Beklagten vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche ''Stelle das Schriftstück erhalten'' hat, vorausgesetzt, dass der Kläger in der Folge die ihm obliegenden Maßnahmen trifft, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen (Art.&nbsp;30 Nr.&nbsp;2). Zu dieser Gruppe von Staaten gehören Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Portugal, Italien und Spanien. Es kommt also in beiden Fällen zu einer Vorverlagerung der Rechtshängigkeit und damit zu einer Wahrung der prozessualen Chancengleichheit in den unterschiedlichen Systemen.


==Literatur==
==Literatur==
''Helmut Rüßmann'', Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH, Zeitschrift für Zivilprozeß 111 (1998) 399&nbsp;ff.; ''Stefan Homann'','' ''Das zuerst angerufene Gericht – Art. 21 EuGVÜ und die Artt. 28, 30 EuGVVO, Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2002, 502&nbsp;ff.; ''Hanns Prütting'','' ''Vom deutschen zum europäischen Streitgegenstand, in: Festschrift für Kostas E. Beys, 2003, 1273 ff.; ''Frauke Wernecke'','' ''Die Einheitlichkeit des europäischen und des nationalen Begriffs vom Streitgegenstand, 2003; ''Julia Eisengraeber'', Lis alibi pendens under the Brussels I Regulation, Centre for European Legal Studies: Exeter Papers in European Law No.&nbsp;16, 2004; ''Mary-Rose McGuire'', Verfahrenskoordination und Verjährungsunterbrechung im Europäischen Prozessrecht, 2004; ''Rolf Wagner'','' ''Ausländische Rechtshängigkeit in Ehesachen unter besonderer Berücksichtigung der EG-Verordnungen in Brüssel II und Brüssel IIa, Familie, Partnerschaft, Recht 2004, 286&nbsp;ff.; ''Reinhold Geimer'', Lis pendens in der Europäischen Union: Einige Bemerkungen zum Brüssel I und II-System, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 357&nbsp;ff.; ''Alice Nieroba'', Die europäische Rechtshängigkeit nach der EuGVVO (Verordnung (EG) Nr. 44/‌2001) an der Schnittstelle zum nationalen Zivilprozessrecht, 2006; ''Ingemar Carl'','' ''Einstweiliger Rechtsschutz bei Torpedoklagen, 2007.
''Pierre Arminjon'','' Boris Nolde'','' Martin Wolff'','' ''Traité de droit comparé I, 1950, 42&nbsp;ff.; ''Adolf Schnitzer'', Vergleichende Rechtslehre I, 2.&nbsp;Aufl. 1961, 133&nbsp;ff.;'' Konrad Zweigert'', Zur Lehre von den Rechtskreisen, in: Twentieth Century Comparative and Conflicts Law: Legal Essays in Honor of Hessel E. Yntema, 1961, 24&nbsp;ff.; ''Léontin-Jean Constantinesco'', Rechtsvergleichung III, 1983, 73&nbsp;ff.; ''Patrick Atiyah'','' Robert S. Summers'', Form and Substance in Anglo-American Law, 1987; ''Lawrence Friedman'', Some Thoughts on Comparative Legal Culture, in: Comparative and Private International Law: Essays in Honor of John H. Merryman, 1990, 49&nbsp;ff.; ''René David'', ''Camille Jauffret-Spinosi'', Les grands systèmes de droit contemporains, 10.&nbsp;Aufl. 1992, 13&nbsp;ff.; ''Konrad Zweigert'', ''Hein Kötz'', Einführung in die Rechtsvergleichung, 3.&nbsp;Aufl. 1996, 62&nbsp;ff.; ''Hein Kötz'', Abschied von der Rechtskreislehre?, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998) 493&nbsp;ff.; ''H. Patrick Glenn'', Legal Traditions of the World, 2.&nbsp;Aufl. 2004; ''idem.'', Comparative Legal Families and Comparative Legal Traditions, in: ''Mathias Reimann'','' Reinhard Zimmermann'' (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 421&nbsp;ff.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Lis_Pendens]]
[[en:Legal_Families]]

Aktuelle Version vom 28. September 2021, 18:47 Uhr

von Hein Kötz

1. Der Begriff des Rechtskreises oder der Rechtsfamilie

Die Lehre von den Rechtskreisen beschäftigt sich mit der Frage, ob und nach welchen Kriterien die existierenden nationalen Rechtsordnungen sich in große Gruppen (Rechtskreise, Rechtsfamilien) einteilen lassen. Die Frage ist in der rechtsvergleichenden Forschung immer wieder erörtert worden und daher offenbar von hohem theoretischem Reiz. Mit Hilfe der Antworten, die auf diese Frage gegeben werden, lässt sich die Masse der bestehenden Rechtsordnungen in eine gewisse Ordnung bringen, durch die sich der Stoff einer rechtsvergleichenden Darstellung gliedern lässt und die die Verständigung unter den Rechtsvergleichern erleichtert. Auch der Begriff der Mischrechtsordnungen setzt voraus, dass zunächst bestimmte Rechtskreise oder Rechtsfamilien gebildet und sodann eine bestimmte Rechtsordnung, weil sie sich ihnen nicht ohne weiteres zurechnen lässt, als Mischrechtsordnung charakterisiert wird. Mitunter wird auch die rechtsvergleichende Forschung durch die Bildung von Rechtskreisen erleichtert. Denn wenn eine oder auch zwei Rechtsordnungen als für einen bestimmten Rechtskreis „repräsentativ“ gelten können, so kann es plausibel sein, dass man eine rechtsvergleichende Untersuchung auf diese „repräsentativen“ Rechtsordnungen beschränkt und ihre Ergebnisse bis zum Beweis des Gegenteils als für den gesamten Rechtskreis maßgeblich ansieht.

2. Kriterien

Mehrere Rechtsordnungen lassen sich einem bestimmten Rechtskreis nur dann zurechnen, wenn sie sich hinreichend „nahe stehen“, miteinander „verwandt“ oder einander „ähnlich“ sind. Es kommt deshalb alles darauf an, nach welchen Kriterien der Grad der Verwandtschaft oder Nähe beurteilt werden soll. Eine einheitliche Auffassung darüber gibt es nicht und kann es auch nicht geben, weil es durchaus legitim ist, dass der eine Forscher dieses, der andere jenes Kriterium als für den besonderen Zweck seiner Untersuchung entscheidend ansieht. Konrad Zweigert schlug 1961 vor, nebeneinander mehrere Kriterien heranzuziehen, die in ihrer Gesamtheit für den spezifischen „Stil“ einer Rechtsordnung maßgeblich seien. Zu den stilprägenden Faktoren zählte er die historische Herkunft und Entwicklung einer Rechtsordnung, die in ihr vorherrschende spezifisch juristische Denkweise, einzelne besonders stiltypische Rechtsinstitute, die Art der bestimmenden Rechtsquellen und ihre Auslegung und Fortbildung (Rechtsquellen), schließlich ideologische Faktoren. Mit welchem relativen Gewicht jeder einzelne dieser Faktoren anzusetzen sei, blieb freilich offen. Im Ergebnis kamen dabei Rechtskreise heraus, die sich nicht allzu sehr von jenen unterschieden, zu denen auch schon andere Autoren aufgrund anderer Kriterien gelangt waren: Da war zunächst der Rechtskreis des common law, dann der des civil law, innerhalb dessen zwischen dem romanischen, dem deutschen und dem skandinavischen Rechtskreis unterschieden wurde. Hinzu kamen der sozialistische Rechtskreis (sozialistisches Recht), der heute vom Erdboden fast verschwunden ist, ferner das islamische Recht, das Hindu-Recht und der fernöstliche Rechtskreis, dem damals das japanische und koreanische Recht sowie das Recht der Volksrepublik China zugerechnet wurden. Diese Einteilung liegt dem Lehrbuch von Konrad Zweigert und Hein Kötz (1. Aufl. 1971) zugrunde, findet sich aber in ähnlicher Form auch schon bei Pierre Arminjon, Boris Nolde, Martin Wolff und bei René David.

3. Kritik

An der Lehre von den Rechtskreisen in ihrer „klassischen“ Ausprägung ist in den letzten Jahren zunehmend Kritik geäußert worden. Allerdings wird dabei oft übersehen oder bagatellisiert, dass die „klassische“ Lehre sich keineswegs als so engherzig und dogmatisch versteht, wie es ihr von vielen Kritikern angedichtet wird. David hat schon früh darauf hingewiesen, dass sie meist ein bloß didaktisches Ziel verfolgt, nämlich dem Anfänger zeigen will, wie sich die zunächst verwirrende Vielfalt der nationalen Rechtsordnungen in eine erste lockere Ordnung bringen lässt. Anerkannt war auch, dass die Kriterien, nach denen sich Rechtsfamilien oder Rechtskreise bilden lassen, nicht starr vorgegeben, sondern von jedem Autor so auszuwählen sind, wie ihm dies mit Rücksicht auf den Untersuchungsgegenstand, die Untersuchungsmethode und das Untersuchungsziel zweckdienlich erscheint. Es ist auch kein Zufall, dass die oben genannten Kriterien den Lehrbüchern zur Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts entwickelt worden sind. Es liegt deshalb auf der Hand, dass derjenige zu anderen Kriterien und damit auch zu anderen Einteilungen gelangen wird, der sich rechtsvergleichend mit den Gebieten des Verfassungs- oder Strafrechts beschäftigt, ebenso derjenige, der sich auf das Familien- oder Erbrecht verschiedener Länder oder auf ihr Verfahrensrecht oder auf das Recht der Wettbewerbsbeschränkungen oder der Kapitalmarktregulierung konzentriert. Ferner geht auch die „klassische“ Lehre von den Rechtskreisen davon aus, dass den nationalen Rechtsordnungen keine „réalité biologique“ zukommt (David), sie sich vielmehr „im Fluss“ befinden und ständigem Wandel ausgesetzt sind. Daraus folgt, dass auch die Zuordnung zu bestimmten Rechtskreisen nicht „statisch“, sondern ihrerseits „im Fluss“ ist und daher eine Einteilung, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen plausibel erscheint, nicht nur auf historisch frühere Phasen nicht passt, sondern sich auch in Zukunft verändern kann. Diesem Umstand mag man dadurch Rechnung tragen, dass man mit H. Patrick Glenn nicht zwischen Rechtskreisen, sondern zwischen Rechtstraditionen (legal traditions) unterscheidet.

Auch hat man kritisiert, dass die traditionelle Lehre zuviel Gewicht auf das law in the books, zuwenig auf das law in action legt und sich deshalb zu stark daran orientiert, ob die Gesetze, Rechtsinstitute und systematischen Strukturen bestimmter Rechtsordnungen den gleichen historischen Wurzeln entstammen oder im Wege der Rezeption von einer „Mutterrechtsordnung“ übernommen worden sind und deshalb eine oberflächliche, nur „technische“ Verwandtschaft aufweisen. Diese Kritik mag begründet sein, richtet sich dann aber nicht gegen die Lehre von den Rechtskreisen an sich, sondern dagegen, dass den Kriterien, die auch sie anerkennt, nicht genügend Gewicht beigelegt worden ist. Denn auch sie stellt sich keineswegs blind gegenüber dem Umstand, dass es für die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit von Rechtsordnungen auf ihre „lebende Rechtskultur“ (Lawrence Friedman) ankommt, also etwa darauf, ob das Verhältnis der Bürger zu den Regeln und Institutionen des Rechts von den gleichen Verhaltensmustern, Einstellungen, Erwartungen und Wertungen geprägt ist (Rechtskultur). Für Patrick Atiyah und Robert S. Summers ist es für den Charakter einer Rechtsordnung in hohem Maße typisch, ob die Urteilsbegründung, die Gesetzesauslegung (Auslegung von Rechtsnormen) und das gerichtliche Verfahren mehr durch „formale“ oder mehr durch „inhaltliche“ Elemente geprägt sind. Sie kommen nach einer vergleichenden Analyse des englischen und des anglo-amerikanischen Rechts zu dem Ergebnis, dass zwischen diesen Rechtsordnungen, obwohl sie beide gewöhnlich dem Rechtskreis des common law zugerechnet werden, erhebliche Unterschiede bestehen, so erhebliche in der Tat, dass das englische Recht mit seiner Neigung zu einer stärker „formalen“ Argumentation den kontinentalen Systemen viel näher zu stehen scheint als dem US-amerikanischen. Ebenso kann man Rechtsordnungen in der Weise untersuchen und voneinander unterscheiden, dass man auf die charakteristischen Merkmale abstellt, von denen die Ausbildung, die berufliche Tätigkeit, die ständische Organisation und die ökonomischen Interessen der in ihnen tonangebenden Juristen – der von Max Weber so genannten „Rechtshonoratioren“ – geprägt werden. Auch ist die praktische Bedeutung von Rechtsregeln und rechtsförmigen Verfahren in manchen Ländern geringer als in anderen, etwa weil Gerichte nicht vorhanden, überlastet oder aus anderen Gründen nicht funktionsfähig sind, von den Bürgern als Konfliktlösungsmechanismus nicht akzeptiert werden oder die Richter sich bestechen oder Urteile sich in der Praxis nicht vollstrecken lassen. In solchen Ländern mit „schwachem“ Rechtssystem lässt sich manchmal mit Hilfe ökonomischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer oder anthropologischer Ansätze bestimmen, welche außerrechtlichen Anreize für das Verhalten der Menschen maßgeblich sind, und auch danach lassen sich Unterscheidungen treffen und Einteilungen vornehmen.

Literatur

Pierre Arminjon, Boris Nolde, Martin Wolff, Traité de droit comparé I, 1950, 42 ff.; Adolf Schnitzer, Vergleichende Rechtslehre I, 2. Aufl. 1961, 133 ff.; Konrad Zweigert, Zur Lehre von den Rechtskreisen, in: Twentieth Century Comparative and Conflicts Law: Legal Essays in Honor of Hessel E. Yntema, 1961, 24 ff.; Léontin-Jean Constantinesco, Rechtsvergleichung III, 1983, 73 ff.; Patrick Atiyah, Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987; Lawrence Friedman, Some Thoughts on Comparative Legal Culture, in: Comparative and Private International Law: Essays in Honor of John H. Merryman, 1990, 49 ff.; René David, Camille Jauffret-Spinosi, Les grands systèmes de droit contemporains, 10. Aufl. 1992, 13 ff.; Konrad Zweigert, Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, 62 ff.; Hein Kötz, Abschied von der Rechtskreislehre?, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998) 493 ff.; H. Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, 2. Aufl. 2004; idem., Comparative Legal Families and Comparative Legal Traditions, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 421 ff.

Abgerufen von Rechtshängigkeit – HWB-EuP 2009 am 27. April 2024.

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