Ausstrahlung des europäischen Privatrechts auf islamische Länder und Scholastik: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Andreas Thier]]''
== 1. Das unkodifizierte islamische Recht  ==
== 1. Begriff und Geschichte ==
Das [[islamisches Recht|islamische Recht]] ist kasuistisch geprägt, wurde von islamischen Rechtsgelehrten also vornehmlich anhand von Einzelvorschriften und konkreten Fällen entwickelt. Die so entstandenen Rechtsbücher, die ''fiq''-Werke, wurden im Laufe der Jahrhunderte durch eine Vielzahl von weiteren Texten, Lehrbüchern, Kommentaren, Monografien und Rechtsgutachten islamischer Rechtsgelehrter ergänzt. Diese Rechtswerke waren nicht systematisch nach Sachgebieten geordnet. Die Behandlung allgemeiner Rechtsfragen erfolgte vielmehr anhand konkreter Einzelregelungen. Für die Lösung eines Rechtsproblems mussten die Rechtsanwender das vorhandene Material nach unmittelbar entsprechenden oder vergleichbaren Fällen sichten, bis ein für ihre Frage relevanter Fall gefunden war. Diese Aufgabe war nicht nur wegen der Vielzahl der ''fiq''-Werke, sondern auch wegen ihrer schwerfälligen Sprache äußerst zeitaufwendig und schwierig. Erst im 19. Jahrhundert kamen Bestrebungen auf, das islamische Recht zusammenzufassen und zu kodifizieren.
Der Ausdruck „Scholastik“ geht auf die Bezeichnung'' σχολαστικός ''zurück, die ihre Wurzel findet in den Begriffen ''σχολή ''(Schule, Studium, Muße) und ''σχολάζειν'' (sich einer Sache widmen, Muße haben). Im Ausgangspunkt ist ein'' σχολαστικός ''also eine Person, die ohne äußeren Zwang einer selbst gewählten Tätigkeit nachgeht. Auf dieser Linie bewegt sich auch die Benutzung des Ausdrucks ''σχολαστικόν ''in der ''Politik'' des ''Aristoteles'', wo es als „Ruhevolles“ insbesondere die Grundlage der ''θεωρία'' bildet. Seit ''Theophrast'' (372/‌369–288/‌285 v. Chr.) wird ''σχολαστικός ''vor allem als Selbstbezeichnung von Philosophen benutzt, doch wird der Begriff dann ebenso wie seine latinisierte Form ''scholasticus ''zur Bezeichnung einer „zu einer Schule gehörenden“ Person verwendet. Von diesem Ausgangspunkt her werden in der Spätantike und noch in der Karolingerzeit in Formeln wie ''vir scholasticus'' besondere Gelehrsamkeit und herausragende intellektuelle Kompetenz umschrieben. Zugleich werden ''σχολαστικός ''und ''scholastikus'' seit etwa dem 1. Jahrhundert v. Chr. zunächst mit dem Begriff ''rhetor'' verbunden, der seinerseits spätestens seit ''Cicero'' auch die Bedeutung „Rechtsbeistand“ umfasst. Dem entspricht es, dass spätestens im 4. Jahrhundert der Ausdruck ''scholasticus'' ebenfalls in dieser Weise verwendet wird (vgl. CTh 8,10,2) und ''Augustinus'' sogar den ''scholasticum iurisperitum ''(den „rechtsgelehrten Scholastiker“) erwähnt. Später vor allem im byzantinischen Raum erweitert um die Bedeutungsschicht „Amtsinhaber“ (s. auch C. 12,61,2 pr.), wird der ''scholasticus'' im Zusammenhang mit der großen karolingischen Bildungsreform zum Titel für den Leiter einer Kloster- oder Kathedralschule, das ''caput scholae''. Seit etwa dem 12. Jahrhundert dient das Adverb ''scholastice'' zunehmend dazu, die in den Domschulen und Universitäten vermittelte Theologie von monastischen Lehrinhalten abzugrenzen. Wesentlich für die in diesem Sinne „scholastische“ Theologie der Universitäten ist in der Sicht der Zeitgenossen dabei der überragende Stellenwert des dialektischen Philosophierens für die Theologie, während der monastischen Doktrin die Dialektik ein schlichtes Hilfsmittel für das Verständnis der Bibel und anderer autoritativer Texte ist. Der humanistischen Perspektivenbildung des 16. Jahrhunderts war der ''scholasticus'' der Inbegriff des philosophisch angeleiteten Theologen des Hoch- und Spätmittelalters, der sich in lebensferne ''argutii'' und ''subtilitates'' („Übergenauigkeiten“ und „Spitzfindigkeiten“) verstrickt. Im Ausgangspunkt ähnlich, in der Bewertung zum Teil aber deutlich anders gestaltete sich die Sichtweise in der neuzeitlichen kirchlichen Tradition: So bestimmte ''Martin Luther'' 1517 in den ''Conclusiones contra scholasticam theologiam'' die Identität der Scholastik in der theologischen Instrumentalisierung der Philosophie, die allerdings mit dem Postulat ''sola fide'' nicht in Einklang zu bringen sei. Zwar bewegte sich die römisch-katholische Kirche in der Deutung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie auf der gleichen Linie. Doch die so verstandene Scholastik wurde ungleich positiver bewertet, wurde sie doch seit dem Konzil von Trient (1545–1563) zur tragenden Grundlage der katholischen Glaubenslehre gemacht, insbesondere vom Jesuitenorden verbreitet und in der sog. spanischen Spätscholastik (s. unten 4.) fortentwickelt. Mit der Enzyklika ''Aeterni Patris'' erklärte Papst ''Leo XIII. ''(1878–1903) 1879 die mittelalterliche Lehre insbesondere des ''Thomas von Aquin'' (1224/‌25–1274) zur Leitlinie der römisch-katholischen Positionierung gegenüber der säkularen Philosophie. Der damit zugleich geförderte Aufstieg der „Neuscholastik“ in der katholischen Theologie setzte sich ungebrochen bis ins 20. Jahrhundert fort, auch wenn Papst ''Johannes Paul II.'' (1978–2005) 1998 in der Enzyklika ''Fides et Ratio'' einen Bedeutungsverlust der ''philosophia scholastica'' in der Zeit nach dem ''Vaticanum II'' (1962–1965) ([[Kanonisches Recht]]) beklagte.  


== 2. Die ersten Kodifikationen in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens ==
In der neuzeitlichen säkularen Philosophie dominierte demgegenüber lange Zeit die Ablehnung der Scholastik, die hier als Inbegriff einer autoritätsgläubigen „schulfüchsischen Philosophie“ von „Papistischen Ordensmännern“ (''Christian Thomasius'', 1710) gedeutet wurde, die nichts anderes als „artificial ignorance“ (''John Locke'', 1690) hervorbringe. Wurde die „scholastische Philosophie“ von ''Hegel'' zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als „strohene Verstandesmetaphysik“ gebrandmarkt, so setzte im Zeichen der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Mittelalter auch bei nichtkatholischen Autoren ein Perspektivenwandel ein: In den Vordergrund rückte jetzt die bis in die Gegenwart diskutierte Frage nach der Kohärenz und der Deutung des Phänomens „Scholastik“. Dabei herrschte bis hinein ins frühe 20. Jahrhundert die These vor, dass der Ausdruck „Scholastik“ einen Ansatz der christlichen Denktradition bezeichne, in dem die Spannung von Philosophie und Theologie zu einem glaubenden Wissen aufgelöst werde. Kennzeichnend war in dieser Sicht die Bedeutung autoritativer Texte wie der Bibel sowie der Schriften von Kirchenvätern und antiken Philosophen, insbesondere des ''Aristoteles''. Mehr Raum gewann seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die, wie oben angedeutet, auch semantisch greifbare Unterscheidung zwischen einer universitären, „scholastischen“, und einer monastischen Theologie. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde allerdings „Scholastik“ zunehmend als Chiffre benutzt, die den epistemologischen Zugriff ''aller'' hoch- und spätmittelalterlichen universitär gelehrten Wissenschaften kennzeichnen sollte. Charakteristische Merkmale bleiben allerdings auch hier der hohe Stellenwert der ''auctoritates'' und die Bedeutung einer ''vernunftgeleiteten, auf der Logik beruhenden Argumentation''. Diese Qualifizierung der Scholastik als Modus des Denkens vor allem der hoch- und spätmittelalterlichen universitär verankerten Wissenschaften, für den das Rationalitätserfordernis und die Beschäftigung mit autoritativen Texten wesentlich sind, bildet auch den perspektivischen Ausgangspunkt der vorliegenden Übersicht.  
Einen ersten Vorstoß zur [[Kodifikation]] des islamischen Rechts hatte es zu Beginn der islamischen Rechtsgeschichte gegeben. Um die Rechtseinheit in Hinblick auf die sich langsam etablierenden Rechtsschulen zu gewährleisten, schlug ''Ibn-al Muqaffac'', der Außenminister des Kalifen ''Al-Mansur'', Ende des 8. Jahrhunderts vor, das islamische Recht zu kodifizieren. Dieses Unterfangen scheiterte allerdings am Widerstand der Schriftgelehrten, die ihre Monopolstellung bei der Auslegung und Ableitung des Rechts nicht aufgeben wollten. Erst elf Jahrhunderte später, im 19. Jahrhundert, wurden die ersten Kodifikationen des Rechts im Osmanischen Reich und in Ägypten in Kraft gesetzt. Des Weiteren hat der Iran zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Privatrecht kodifiziert. Allerdings haben diese Länder unterschiedliche Wege beschritten.  


=== a) Die osmanischen Kodifikationen  ===
== 2. Elemente der scholastischen Wissenschaftskultur ==
Die osmanische ''Mejelle'' von 1876 (türk. ''Mecelle-i ahkamı adliye'') ist die erste systematische Kompilation des islamischen Rechts. Man kann die ''Mejelle'' auch als ''[[Restatements|Restatement]] ''des islamischen Rechts bezeichnen. Sie kleidet die islamische Jurisprudenz in ein neues, der europäischen Rechtssystematik entlehntes Gewand: in ein kodifiziertes Gesetzbuch. Die ''Mejelle'' war Teil einer weitreichenden Reformbewegung im Osmanischen Reich, der ''Tanzimat''-Bewegung, bei der europäische Vorbilder für die Reorganisation der Rechtsordnung und den Aufbau rechtlicher Institutionen herangezogen wurden. So beruhen das 1850 verabschiedete Handelsgesetzbuch, das Strafgesetzbuch von 1858, die Prozessordnung in Handelsangelegenheiten von 1861 und das Seehandelsgesetzbuch von 1863 auf französischem Modell.  
Den Ansatzpunkt der scholastischen Wissenschaft bildete die Analyse autoritativer Texte (etwa der Bibel und von Texten der Kirchenväter oder des ''Aristoteles''), die auch die universitäre Lehre prägte: Durch die ''lectio'' (Lektüre) des Textes und die Auseinandersetzung mit den Auffassungen anderer Autoritäten werden unterschiedliche Sichtweisen offen gelegt, die in der Form der ''quaestio'' (Frage) untersucht werden. Dabei gewinnt die dialektische Methode wesentlichen Einfluss. Offenbar in der vorgratianischen Kanonistik ([[Kanonisches Recht]]) bereits bekannt (''Ivo von Chartres'', †&nbsp;23.12.1115; ''Bernold von Konstanz'', †&nbsp;16.9.1100), fand sie vor allem durch die programmatische Schrift ''Sic et non''<nowiki> („So und [so] nicht“) des </nowiki>''Petrus Abaelardus'' (1079–1142) Verbreitung. Im 13.&nbsp;Jahrhundert erreichte der Einfluss der vor allem durch ''Boethius'' (475/‌480–524) und ''Averroes'' (1126–1192) ins Lateinische übersetzten aristotelischen Lehren seinen Höhepunkt. Die von ''Aristoteles'' gesetzten Standards wissenschaftlicher Argumentation und die breite Vielfalt seiner metaphysischen und naturphilosophischen Kategorienbildungen wurden für die jetzt entstehende universitäre Forschung und Lehre prägend. Leitende Vorstellung war dabei der Gedanke von der vernünftigen Ordnung der gottgeschaffenen Welt, die deswegen auch einer vernunftbasierten Deutung zugänglich war. So wurde die aristotelische Formel ''ars imitatur naturam'' („Die Kunstfertigkeit ahmt die Natur nach“) nicht allein als ästhetisch-künstlerisches Konzept der ''Mimesis'' gedeutet, sondern bildete auch den perspektivischen Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis. In den Vordergrund rückte dabei die Metaphysik als ''rectrix omnium aliarum scientiarum'' („Lenkerin aller anderen Wissenschaften“), wie es in einem berühmten Diktum des ''Thomas von Aquin'' heißt. In solchen Aussagen schien eine Vorstellung von der ideellen Einheit aller Wissenschaften auf, die ihre Entsprechung in der relativen Einheitlichkeit der Strukturformen von Argumentation und, modern gesprochen, Publikation fand. Entscheidend dabei wurde die ''quaestio'', musste sich hier doch entscheiden, ob ein Widerspruch zwischen verschiedenen Texten durch die ''distinctio'' (Unterscheidung verschiedener Bedeutungsebenen) zu beseitigen war, weil nur dann deren Verbindlichkeit rational vertretbar erschien. Auf diese Weise gewannen semantische Differenzierungen einen besonderen Stellenwert; zugleich erschlossen sich in ''quaestio'' und ''disputatio'' immer neue Aussageschichten des jeweils zugrunde gelegten Textes einer ''auctoritas''. Diese Formen der Textanalyse bestimmten auch die universitäre Lehre (Universitäten), die bei der ''lectio'' eines Textes ansetzte und in der die ''disputatio'' zunehmend zu einer eigenen Unterrichtsform wurde. Es kennzeichnete die scholastische Wissenschaft, dass ihre Literaturtypen ihre prägenden Strukturen aus dieser Gestaltung der akademischen Lehre erhielten: So entwickelte sich aus der ''lectio ''die ''Glosse'', die ursprünglich nur der paraphrasierenden Erläuterung eines einzelnen Textelementes diente und dann zum analytischen ''Kommentar'' wurde. ''Disputatio'' und ''quaestio'' fanden ihre Entsprechung in ''quaestiones disputatae'' und wurden später in der ''Summa'' gebündelt. Im Lauf dieser Entwicklung trat der Text der jeweils diskutierten Schrift einer ''auctoritas'' (nicht zuletzt auch medial) in den Hintergrund, bestimmend wurde die Auseinandersetzung zwischen divergierenden Auslegungen der untersuchten Textstellen. Dem entsprach es, dass die Allegation zeitgenössischer Autoren und paralleler Texte zunehmend wichtiger wurde. In der Entstehung von ''glossae ordinariae'' (frei übersetzt: „allgemeinen Kommentaren“) zu autoritativen Texten wie etwa der Bibel seit dem 13.&nbsp;Jahrhundert konsolidierten sich solche Debatten, auch wenn deren literarische Dynamik auf diese Weise nicht unterbrochen wurde.  


Die ''Mejelle'' basierte hauptsächlich auf der islamisch-hanafitischen Rechtsschule. Thematisch berührte sie zunächst nur das Zivilrecht, insbesondere das Vertrags- und Deliktsrecht, und einige prozessrechtliche Fragen, während das Personen-, Familien- und Erbrecht weiterhin unkodifiziert in der Zuständigkeit der Scharia-Gerichte blieben. Die ''Mejelle'' trennte erstmals das zwischenmenschliche vom rituellen Recht. Sie wurde von eigens eingerichteten nationalen Gerichten angewendet und hatte somit einen erkennbaren säkularisierenden Effekt. Ihre Systematik ist der europäischer Gesetzesbücher ähnlich, sie ist in Bücher, Kapitel und Artikel unterteilt. Dabei ist der allgemeine Teil – aus Mangel an einer allgemeinen Vertragstheorie im islamischen Recht sehr kurz gehalten, während die Detailregelungen über besondere Vertragstypen dominieren. Obwohl die Systematik der ''Mejelle'' nicht stringent ist, wurde durch sie das Recht leichter zugänglich und übersichtlicher. Dieser Neuaufbereitung des Rechts verdankt sie ihren unmittelbaren Erfolg.
== 3. Scholastik und mittelalterliche Rechtswissenschaft ==
Wie bereits angedeutet, war es die vorgratianische Kanonistik gewesen, die zur Ausformung der scholastischen Methode beitrug. Möglicherweise war auch die häufige Berufung auf die Autorität gerade patristischer Schriften (der ''sanctorum patrum'') in der Epoche der gregorianischen Reform ([[Kanonisches Recht]]) des ausgehenden 11.&nbsp;Jahrhunderts eine Vorstufe der scholastischen Prägung des Rechtsdenkens, die seit dem 12.&nbsp;Jahrhundert zum charakteristischen Merkmal des neu entstehenden [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']] werden sollte. Der scholastische Zugang zur Deutung und zur Lehre des Rechts war besonders ausgeprägt in der Schule von Bologna, die seit dem beginnenden 12.&nbsp;Jahrhundert entstand. Das wurde etwa im programmatischen Titel des ''Decretum Gratiani'' ([[Kanonisches Recht]]) deutlich, das den Zeitgenossen die ''Concordia Discordantium Canonum'' versprach und zur Verwirklichung dieser Zielsetzung mit ''distinctio'' und ''quaestio ''typische Elemente der scholastischen Methode nutzte. Auch die Typenbildungen kanonistischer und legistischer ([[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']]) Schriften bewegten sich ganz auf der Linie der scholastischen Tradition, entwickelten sich doch bereits im 12.&nbsp;Jahrhundert ursprünglich aus der Situation des universitären Unterrichts Glossen und Summen, aus denen dann seit dem 13.&nbsp;Jahrhundert ''lecturae'' und ''commentariae'' wurden. Durchgängig war dabei die ''quaestio'' das wichtigste Element der Analyse der römischen, kirchlichen und auch lehnrechtlichen Texte, deren Autorität den Ausgangspunkt der Betrachtung bildete.  


1917 wurde auch das Familienrecht im Osmanischen Reich kodifiziert. Das osmanische Familiengesetzbuch basierte im Gegensatz zur ''Mejelle'' nicht ausschließlich auf hanafitischen Regeln, sondern inkorporierte auch Regelungen anderer sunnitischer Rechtsschulen. Zudem brach es mit einer weiteren Tradition, indem es nicht nur auf Muslime, sondern auch auf Angehörige der anderen Buchreligionen anwendbar war. Schließlich wurde auch die Zuständigkeit der religiösen Gerichte in Angelegenheiten des Personalstatuts aufgehoben und den staatlichen Gerichten zugewiesen. Das osmanische Familiengesetzbuch war im Osmanischen Reich bzw. in der Türkei nur 18 Monate in Kraft. In den anderen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches – Syrien, Jordanien, Libanon, Palästina und Irak –&nbsp;hingegen blieb es noch lange bis in die Mandatszeit, bzw. bis zum Erlass neuer Gesetze erhalten. Die Tanzimat-Reformen beschnitten den Einfluss- und den Anwendungsbereich des islamischen Rechts zugunsten des weltlichen Rechts. Obwohl weiterhin darauf geachtet wurde, die Reformen mit der Scharia in Verbindung zu bringen, erreichte der Prozess der Säkularisierung große Bereiche des Rechts.  
Während in der Zeit der Glossatoren wohl meist das Bestreben leitend war, auf diese Weise zu Topoi für die Lösung konkreter Fälle zu gelangen, gewannen im 13. und 14.&nbsp;Jahrhundert auch Tendenzen an Boden, abstraktere Perspektiven und Kategorien in den Diskurs einzuführen. Kennzeichnend dafür war die Mahnung des ''Baldus de Ubaldis'' (1327–1400), ''qui'' ''vult scire principiata debet noscere principia'' („Wer wissen will, was aus den Prinzipien herrührt, muss die Prinzipien kennen“; Commentaria in Digestum vetus, ad D.&nbsp;1,1,1 nr.&nbsp;2). Allerdings war die gelehrte Jurisprudenz dieser Zeit weit entfernt von den gewaltigen Systementwürfen etwa der ''Summae Theologiae ''eines ''Thomas von Aquin'', auch wenn gezeigt worden ist, dass gerade ''Baldus'' und seine Zeitgenossen zumindest ansatzweise über Elemente einer systematischen Ordnung des Rechts debattiert haben (''Maximiliane'' ''Kriechbaum''). Mehr Gewicht hatten in der juristischen Debatte materielle Elemente des scholastischen Diskurses wie die von ''Aristoteles'' rezipierte Lehre der vier ''causae'' (''causa formalis, materialis, efficiens ''sowie ''finalis''), die insbesondere in der Analyse vertraglicher Verpflichtungen und kondiktionsrechtlicher Ansprüche, aber auch für die Frage nach der hoheitlichen Herrschaftsausübung für die Dogmatik fruchtbar gemacht wurden. Ähnliches lässt sich für die Verwendung der Kategorien ''actus''/‌''potentia'' und ''forma/‌materia ''zeigen, die etwa in der Vertragsrechtslehre oder für die Unterscheidung von ''actio'' und ''obligatio'' Anwendung fanden. Aber trotz dieser offensichtlichen Nähe der Rechtswissenschaften zur Theologie und zur Philosophie beanspruchten die Juristen frühzeitig eine eigene epistemologische Identität. Teilweise wurde dabei gleichwohl der gemeinsame Ausgangspunkt betont wie etwa in dem Bild des ''Stephan von Tournai'' (1128–1203), der ''theologus et legista'' mit den zwei Gästen eines Essens verglich, von denen der eine eher süße und der andere eher saure Speisen bevorzugt. Teilweise wurde allerdings auch die Autonomie jedenfalls der legistischen Wissenschaft mit kompromissloser Deutlichkeit betont wie etwa in der entschiedenen Verneinung der Frage, ob ein ''iuris consultus… debeat theologiam legere'' (ob „ein Jurist Theologie lesen muß“), werde doch „alles im Corpus iuris gefunden“ (''omnia in corpore iuris inveniuntur''<nowiki>; Gl. </nowiki>''Notitia ''ad D.&nbsp;1,1,10,2). Dieser entschiedenen Orientierung an den Texten des römischen und kanonischen Rechts entsprach umgekehrt die Feststellung des ''Bartolus'', dass „die Juristen… nicht die Worte des Aristoteles kennen“ (''verbis…Aristotelis… iurist(a)e … non saperent''<nowiki>; Tractatus de regimen civitatis). Solche rechtswissenschaftlichen Abgrenzungsbemühungen resultierten freilich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass auch die Theologie eine Fülle von juristischen Thesen und Themen analysierte. Kennzeichnend dafür war etwa die Debatte über die Grundlage von Eigentumsbefugnissen oder die theologischen Konzeptionen eines</nowiki> [[Naturrecht]]s.  


=== b) Die Kodifikationen in Ägypten ===
== 4. Die spanische Spätscholastik ==
Obwohl Ägypten nominell Teil des Osmanischen Reiches war, trat die ''Mejelle'' dort nie in Kraft. Man war eher bestrebt, das europäische Recht zu rezipieren, als das islamische zu kompilieren. Seit Ende des 18.&nbsp;Jahrhunderts hatte sich Ägypten zu einem Mittelpunkt europäischer Handelsinteressen entwickelt, was zur Entstehung von Konsulargerichtsbarkeiten geführt hatte. Die ausländischen Konsuln waren für alle Rechtsstreitigkeiten ihrer Staatsangehörigen ausschließlich zuständig. Dies führte zu einer Fragmentierung des Rechts, da bis zu 20 miteinander konkurrierende Rechtsordnungen zur Anwendung kommen konnten. Ende des 19.&nbsp;Jahrhunderts wurden zur Vereinheitlichung des Rechts und zur Institutionalisierung moderner Gerichte zwei Gesetzbücher erlassen, der ''Code civil mixte'' im Jahre 1875 und 1883 der ''Code civil indigène''. Während der ''Code civil mixte'', ein Auszug aus dem französischen ''Code civil'', für Rechtsstreitigkeiten zwischen (allen) Ausländern und zwischen Ausländern und Ägyptern galt und von den sog. gemischten Gerichten angewandt wurde, wurde der ''Code civil indigène'', der zum großen Teil auf dem ''Code civil mixte'' beruhte und nur geringfügig an die ägyptischen Verhältnisse angepasst war, von den nationalen Gerichten für Rechtsstreitigkeiten zwischen Ägyptern angewandt. Diese Gesetze waren bis zum Erlass des ägyptischen Zivilgesetzbuches am 15.10.1949 in Kraft.  
Im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation gewann die thomistische Tradition, wie oben angedeutet, in der römisch-katholischen Wissenskultur besonderes Gewicht. Kennzeichnend dafür war die Ersetzung der Sentenzensammlung des ''Petrus Lombardus ''(†&nbsp;1160), dem für lange Zeit wichtigsten Textbuch der universitären theologischen Lehre, durch die ''Summa Theologiae'' des ''Thomas von Aquin''. Überragende Bedeutung entfalteten die thomistischen Texte vor allem im spanischen Raum, insbesondere an der Universität Salamanca. Hier wurden die Thomaskommentare und die öffentlichen sog. ''Relecciones'' des dominikanischen Theologen ''Francisco de Vitoria ''(um 1483–1546) zum Ausgangspunkt für eine neue Traditionsbildung. Die Autoren der auf dieser Grundlage entstehenden Traktate und Kommentare waren ihrerseits vielfach Theologen wie die Dominikaner ''Domingo de Soto'' (1494–1560), ''Melchor Cano'' (1509–1560), der Jesuit ''Francisco Suarez'' (1548–1617) oder der Franziskaner ''Alfonso de Castro'' (1495–1558). Doch auch Juristen wie der Kanonist ''Diego de Covarrubias y Leyva ''(1512–1577), sein akademischer Lehrer ''Martin de Azpilcueta ''(1491–1586) und der eher römisch-rechtlich orientierten ''Fernando Vázquez de Menchaca ''(1512–1566) rezipierten intensiv die thomistische Theologie. Jenseits ihrer Affinität zur thomistischen Doktrin war diese Autorengruppe aber auch zu einer Gemeinschaft verbunden in der Orientierung an der scholastischen Methode des ''sic et non'' und vor allem in der im mittelalterlichen Kontext seltenen Verknüpfung von moraltheologischen und rechtswissenschaftlichen ''auctoritates''. Damit erweiterten sich die Perspektiven der Argumentation, die dabei aber dem formalen Rahmen und der thematischen Universalität der mittelalterlichen Scholastik verbunden blieb. Vor diesem Hintergrund ist die in der Literatur häufig verwendete Kennzeichnung dieser Werke und ihrer Autoren als „Spanische Spätscholastik“, „Iberische Spätscholastik“ oder bisweilen auch als „Zweite Scholastik“ sicherlich zutreffend. Ein wenig missverständlich ist demgegenüber die manchmal ebenfalls benutzte Bezeichnung „Schule von Salamanca“, wird doch damit eine tatsächlich nicht bestehende Gemeinsamkeit von Thesen und Perspektiven unterstellt, zumal nicht alle spätscholastischen Autoren der salmantinischen Universität verbunden waren.  


Im Gegensatz zur osmanischen ''Mejelle'', deren Vertrags- und Deliktsrecht auf islamischem Recht beruhten, folgten somit die Ägypter schon früh dem französischen Recht und rezipierten diese Rechtsbereiche im Wortlaut. Auch das Handelsgesetzbuch, die prozessrechtlichen Bestimmungen und das Strafrecht folgen dem französischen Vorbild. Wie bei der ''Mejelle'' waren das Personen-, Familien- und Erbrecht in diese Kodifikationsbestrebungen nicht einbezogen und wurden erst Anfang des 20.&nbsp;Jahrhunderts in mehreren Einzelgesetzen kodifiziert.
Inhaltlich prägend war für die spanische Spätscholastik vor allem die Ausrichtung an Naturrechtsvorstellungen ([[Naturrecht]]), die stark von der Lehre des ''Thomas von Aquin'' beeinflusst waren. Auf dieser Grundlage entstanden Konzeptionen subjektiver Rechte und Freiheiten, die nicht zuletzt auch durch die Frage inspiriert wurden, wie mit den unter der neubegründeten kolonialen Herrschaft stehenden Völkern umzugehen sei. Moraltheologie und Naturrechtsdenken verbanden sich auch in Überlegungen über die Legitimation von Kriegshandlungen, die Legitimität politischer Herrschaft und ihrer Grenzen sowie in einer sehr ausdifferenzierten allgemeinen Strafrechtslehre. In der Privatrechtsdogmatik sollten es vor allem die Lehren über [[Eigentum]], die Gegenseitigkeit des [[Vertrag]]s und die [[Naturalrestitution]] sein, die die säkularen Naturrechtsentwürfe des 17. und 18. Jahrhunderts nachhaltig beeinflussten und die auf diese Weise Wirkung bis in die Rechtsordnung der Gegenwart hinein entfalten.  
 
=== c) Die Kodifikationen im Iran  ===
Der Iran hat keine eigentliche Kolonialgeschichte. Dennoch übten Großbritannien und Russland seit dem 18.&nbsp;Jahrhundert großen Einfluss auf die iranische Politik aus. Auf der Suche nach einem unbelasteten Vorbild blickten die Iraner somit auf Frankreich. Das Unterrichts- und Schulwesen wurde genauso aus Frankreich importiert wie die Hochschulausbildung. Noch heute ist an iranischen Hochschulen ein Nachweis über ausreichende Kenntnisse der französischen Sprache eine Voraussetzung für die Zulassung zum Doktoratsstudium der Rechtswissenschaften. In den Jahren 1928-1935 wurde das iranische Zivilgesetzbuch verabschiedet. Es regelt alle Rechtsbereiche des Zivilrechts und, im Gegensatz zur ''Mejelle'' und den ''Codes civil mixte'' und ''indigène'', auch das Familien- und Erbrecht. Die Kommission, die mit der Ausarbeitung des Gesetzes betraut war, setzte sich aus schiitisch-islamischen Gelehrten und weltlichen iranischen Juristen zusammen, die ihre Ausbildung auch in Frankreich, in der Schweiz und in Belgien genossen hatten. Obwohl die Zivilrechte dieser Länder zu Rate gezogen wurden, sind die Normen des iranischen Zivilgesetzbuches dennoch mehrheitlich eine Wiedergabe der islamisch-schiitischen Regelungen, insbesondere im Bereich des Vertrags- und Eigentumsrechts. Das europäische Recht drang nur in begrenztem Maße in einzelne Bereiche ein, wie etwa in das Staatsangehörigkeitsrecht, das Wohnsitzrecht oder die Vollstreckung der Gesetze. An einigen Stellen kann man die Vermischung des europäischen und des islamischen Rechts beobachten: So hat das iranische ZGB die Regelungen über die Zeitehe, eine Besonderheit des schiitischen Rechts, und die der Verstoßungsscheidung beibehalten, die Vorschriften über die Registrierung aller Angelegenheiten des Personalstatuts haben jedoch eindeutig eine europäische Handschrift. Kodifikationen in anderen Rechtsbereichen, so etwa im Straf-, Handels- und Prozessrecht, folgen ebenfalls den frankophonen Modellen.
 
== 3. Die Rezeption des europäischen Rechts  ==
Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in der Folge des Ersten Weltkriegs und der Einrichtung der Mandate in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens kam es zu weiteren Rezeptionen des europäischen Rechts. Die Türkei brach am radikalsten mit ihrer Rechtstradition, indem sie die ''Mejelle'' und so das islamische Recht vollständig verwarf und das schweizerische Zivilrecht, samt Familienrecht, rezipierte. Zwar erfolgte auch in den neu entstandenen arabischen Staaten eine Neuregelung der Rechtsordnungen, allerdings wurde dort das islamische Recht nur im vermögensrechtlichen Privatrecht zurückgedrängt, während es für das Familien- und Erbrecht weiterhin galt. Auch die ''Mejelle'' blieb in vielen Ländern, wie Syrien, Palästina und Jordanien, zunächst in Kraft. Indes schritten auch in der Mandatszeit und insbesondere danach die Rezeption des europäischen Rechts und die Säkularisierung des Rechts voran.
 
Die Rezeption des europäischen Rechts in den islamischen Ländern ist eng mit ihrer kolonialen Geschichte verbunden. Allerdings haben nicht alle Länder die Rechtssysteme der herrschenden Kolonialmacht übernommen. Das gilt insbesondere für die Länder, die unter britischer Herrschaft und später unter britischem Mandat standen. Mit wenigen Ausnahmen orientierten sich alle Länder am kontinentaleuropäischen Recht. Die Gründe für diese Bevorzugung sind vielfältig: Zunächst ist die späte britische Kolonisation des Nahen Ostens im Vergleich zu der längeren Präsenz der Briten in Indien/Pakistan zu nennen. Zum anderen hatten viele Staaten bereits das französische Schul- und Hochschulsystem rezipiert. Im Libanon bestand außerdem eine jahrhundertealte religiöse Bindung an das katholische Frankreich. In Ägypten war der französische Einfluss durch die napoleonische Eroberung (1798-1801) und später durch den Bau des Suezkanals prominent, während die Briten zu einem Zeitpunkt nach Ägypten kamen, als das Rechts- und Gerichtswesen bereits eingerichtet waren. Letztlich lag es auch in der Natur der Sache, dass kodifizierte Gesetzesbücher sich besser als Vorbild eigneten als das kasuistische ''[[common law]]''. Es wurden klare und umfassende Kodifikationen benötigt, um die Rechtsordnungen umfassend zu regulieren, und hierfür schienen die kontinentaleuropäischen Kodices am besten geeignet.
 
Ausnahmen waren Indien/Pakistan, der Sudan und Palästina/Israel. In Indien/Pakistan wurde das ''common law-''System sehr früh übernommen. Bereits 1772 waren die Gerichte mit britischen Richtern besetzt, denen in Angelegenheiten des Personalstatuts islamische Rechtsgelehrte zur Seite gestellt wurden. So wurde das duale Gerichtssystem anderer islamischer Staaten vermieden und das sog. ''Anglo-Muhammadan Law'' entwickelt. Des Weiteren bedienten sich die Briten in einigen Rechtsgebieten ebenfalls der Kodifikation, so wurden etwa 1860 ein Strafgesetzbuch, 1872 der ''Contract Act'' und 1882 der ''Transfer of Property Act'' erlassen.
 
Im Sudan fanden die Briten im Gegensatz zu Ägypten kaum Rechts- und Gerichtsstrukturen vor, auf denen sie hätten aufbauen können. So wurden dort die Prinzipien des ''common law-''Systems, insbesondere die Prinzipien von „justice, equity and good conscience“, übernommen und ein vereinheitlichtes Gerichtssystem eingeführt.
 
In Palästina sah die ''Palestine Order-in-Council'' von 1922 die Anwendung der geltenden osmanischen Gesetze – insbesondere der ''Mejelle'' und des osmanischen Familiengesetzbuches – und des britischen Rechts vor. Zudem wurden die Gerichte angewiesen, durch „residuary power“ das englische ''common law ''und ''[[equity]]'' anzuwenden. Die Gerichte in Palästina wurden mit britischen oder in Großbritannien ausgebildeten Richtern besetzt, die das ''common law'' anwandten. Gegen ihre Entscheidung konnte am ''Judicial Committee'' des ''Privy Council'' in London Rechtsmittel erhoben werden.
 
Im Irak und in Jordanien, die ebenfalls unter britischem Mandat standen, war der Einfluss des ''common law'' hingegen viel schwächer. Dort gab es weder britische Richter, noch durfte das ''common law'' als Lückenfüller herangezogen werden. Diese Länder blieben weitestgehend vom kontinentaleuropäischen Recht beeinflusst. Lediglich im Irak wurde das osmanische Strafgesetzbuch durch das sog. Bagdader Strafgesetzbuch ersetzt, das Regelungen des französischen Rechts und solche aus den britischen Kolonialgesetzen enthielt.
 
In den französischen Kolonien, also in den Maghreb Staaten (Marokko, Tunesien und Algerien) und in jenen Ländern, die unter französischem Mandat standen (wie Syrien und der Libanon) war der Einfluss des französischen ''Code civil'' unmittelbar und sehr stark. Im Libanon wurde die ''Mejelle'' bereits 1932 durch das Gesetz über die Verpflichtungen und Schuldverträge ersetzt, das von französischen Juristen entworfen und von libanesischen Juristen an die libanesischen Verhältnisse angepasst wurde. Der Libanon konsultierte aber auch die Rechtsordnungen anderer europäischer Staaten. So ist in der libanesischen Zivilprozessordnung von 1935 der Einfluss der österreichischen Gesetzgebung sichtbar, während das Strafgesetzbuch durch die italienischen Strafgesetzbücher von 1890 und 1930 inspiriert wurde.
 
== 4. Die Kodifikationen nach dem Zweiten Weltkrieg ==
Mit Ende des Zweiten Weltkrieges und der allmählich voranschreitenden Unabhängigkeit der arabischen Länder ging die Rezeption des europäischen Rechts weiter. Diese Zeit war insbesondere durch den Panarabismus und die Idee der arabischen Einheit geprägt. Während man zuvor noch mehrheitlich auf das französische Recht geblickt hatte, wurde nun zum einen das islamische Recht als gemeinsame Rechtstradition aller arabisch-muslimischen Staaten wiederentdeckt, und zum anderen wurden andere europäische Privatrechtsordnungen zu Rate gezogen.
 
Die extensive Rechtsvergleichung und das Streben nach einer Kodifikation, die den lokalen Verhältnissen gerecht werden sollte, mündete 1949 in die Verabschiedung des ägyptischen Zivilgesetzbuches (Gesetz Nr.&nbsp;131/1948), das unter der Leitung von ''cAbd ar-Razzaq Ahmad al-Sanhuri'' (1895-1971), einem ägyptischen Professor, Richter, Rechtsanwalt und Politiker, entworfen worden war. ''Sanhuri'', ein Schüler von ''Edouard Lambert'' in Lyon, hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine Synthese von islamischem Recht und den rezipierten Bestimmungen des europäischen Rechts zu schaffen. In das ägyptische Zivilgesetzbuch flossen somit die bis 1949 in Ägypten geltenden Gesetze und die Rechtsprechung der ägyptischen Gerichte ein, zudem Regeln des islamischen Rechts sowie eine Reihe von Vorschriften europäischer Gesetzbücher. So findet man im ägyptischen Zivilgesetzbuch ein Nebeneinander an Regelungen unterschiedlichen Ursprungs. Neben Regelungen zum islamischen Vorkaufsrecht (arab. ''shufca'') sind die Vorschriften über das Deliktsrecht bisweilen die wörtliche Wiedergabe des französischen Deliktsrechts, wohingegen die objektive Theorie der Willenserklärung aus dem deutschen Rechtskreis übernommen wurde.
 
Das ägyptische Zivilgesetzbuch hatte eine Vorbildrolle für fast alle folgenden arabischen Zivilrechtskodifikationen. Dies wird auf die gemeinsame islamische Tradition und ähnliche soziale Verhältnisse in vielen arabischen Ländern zurückgeführt. Bisher wurde es in mehr als zehn Staaten mit ganz unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen rezipiert oder in modifizierter Form übernommen und hat sich überall bewährt. So beeinflusste das ägyptische Modell maßgeblich die Zivilrechtskodifikationen von Syrien (Gesetz Nr.&nbsp;84/1949), Libyen (Königliches Dekret v. 28.11.1953), Algerien (''Ordonnance'' Nr. 75-78 v. 26.9.1975) und Somalia (Gesetz Nr. 37/1973). Dies gilt im Wesentlichen auch für die Zivilgesetzbücher des Iraks (Gesetz Nr. 40/1951), Jordaniens (Gesetz Nr.&nbsp;43/1976), Afghanistans (Gesetz vom 5.1. 1977), Kuwaits (Gesetz Nr. 67/1980), des Sudans (Gesetz Nr. 6/1984), der Vereinigten Arabischen Emirate (Gesetz Nr.&nbsp;5/1985) und schließlich Jemens (Gesetz Nr. 19/1992). ''Sanhuris'' ägyptisches Zivilgesetzbuch und der von ihm verfasste rund 12.500 Seiten umfassende Kommentar zum Zivilrecht „''al-wasit fil sharh al-qanun al-madani“'' haben in den arabischen Staaten faktisch den Rang von Rechts'''quellen.''' Seine Bücher werden von den Gerichten der meisten arabischen Staaten zur Interpretation eigener gesetzlicher Bestimmungen und zum Schließen von Gesetzeslücken herangezogen.
 
== 5. Der heutige Einfluss des europäischen Rechts auf das Wirtschaftsrecht islamischer Länder  ==
Man kann also beobachten, dass im ersten Ansatz die Rezeption des europäischen Rechts in vielen islamischen Ländern die Rezeption seiner Systematik und seiner Strukturen war. Das islamische Recht sollte mit den Methoden des europäischen Rechts dargestellt und mit Hilfe der Systembegriffe des kontinentaleuropäischen Rechts neu geordnet werden. Später hat sich im Bereich des vermögensrechtlichen Privatrechts, anders als im Familien- und Erbrecht, in allen islamischen Staaten das säkulare, auf europäischem Ursprung beruhende Recht durchgesetzt, da das klassische islamische Recht für viele komplexe Rechtsverhältnisse keine Lösungen bereithielt und nicht geeignet war, das Recht an die Erfordernisse des modernen Wirtschaftsverkehrs anzupassen.
 
Noch heute wirkt der Einfluss europäischer Privatrechtsgesetzgebung auf die islamischen Länder fort. Viele moderne Wirtschafts-, Gesellschafts-, und Handelsrechtskodifikationen orientieren sich weiterhin nach Europa. Zudem sind die Einflüsse internationaler Abkommen erkennbar. So wird zurzeit das iranische Handelsgesetzbuch, das 1932 das französische Modell rezipiert hatte, in Hinblick auf eine Mitgliedschaft des Irans in der WTO reformiert. Auch folgen beispielsweise die gesetzgeberischen Tätigkeiten im Bereich des Wettbewerbsrechts den europäischen Vorbildern und den internationalen Abkommen. Als Beispiel sei das tunesische Gesetz über Wettbewerb und Preise vom 29.7.1991 genannt, das durch die frz. Verordnung Nr. 86-1243 v. 1.12.1986 sowie die Wettbewerbsregeln der EG inspiriert wurde. Auch Ägypten fügte 1991 in sein Handelsgesetzbuch eine Bestimmung zum unlauteren Wettbewerb ein, die von der europäischen Gesetzgebung beeinflusst ist. Ähnliches gilt im Bereich des geistigen Eigentums: das ägyptische Gesetz zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums vom 2.6.2002 beruht auf dem Vorbild des französischen ''Code de la propriété intellectuelle'' und diente seinerseits dem jordanischen Gesetzgeber im Jahre 2003 als Modell für die Reform seines Urheberrechtsschutzgesetzes aus dem Jahre 1992.


==Literatur==
==Literatur==
''Charles A. Hooper'','' ''The Civil Law of Palestine and Trans-Jordan, 1933-1936; ''James N.D. Anderson'', Codification in the Muslim World, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 30 (1966) 241&nbsp;ff.; ''Herbert Liebesny''. Stability and Change in Islamic Law, The Middle East Journal 1 (1967) 16&nbsp;ff.; ''Enid Hill'', Al-Sanhuri and Islamic Law, Arab Law Quarterly 1&nbsp;(1988) 33&nbsp;ff., 2&nbsp;(1988) 182&nbsp;ff.; ''Hilmar Krüger'', Das Zivilrecht der Staaten des ägyptischen Rechtskreises, Recht van de Islam 14 (1997) 67&nbsp;ff.; ''Rüdiger Lohlker'', Das islamische Recht im Wandel, 1997; ''Kilian Bälz'', Das islamische Recht als Grundlage arabischer Rechtseinheit, in: Hans-Georg Ebert (Hg.), Beiträge zum Islamischen Recht (2000), 35&nbsp;ff.; ''idem'', Europäisches Privatrecht jenseits von Europa? Zum fünfzigjährigen Jubiläum des ägyptischen Zivilgesetzbuches (1948), Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 8 (2000) 51&nbsp;ff.; ''Chibli Mallat'', From Islamic to Middle Eastern Law, American Journal of Comparative Law 52 (2004) 209&nbsp;ff.; ''idem'', Introduction to Middle Eastern Law, 2007.
''Gerhard Otte'', Dialektik und Jurisprudenz, 1971; ''Heinrich Schmidinger'', „Scholastik“ und „Neuscholastik“. Geschichte zweier Begriffe, in: ''Emerich Coreth'', ''Walter M. Neidl'', ''Georg Pfligersdorffer'' (Hg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20.&nbsp;Jahrhunderts, Bd.&nbsp;2: Rückgriff auf scholastisches Erbe, 1988, 23&nbsp;ff.; ''Hans-Jürgen Becker, ''Scholastik, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd.&nbsp;4, 1990, Sp. 1478&nbsp;ff.; ''James Gordley'', The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine 1991; ''Heinrich Schmidinger'', Scholastik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.&nbsp;8, 1992, Sp. 1332&nbsp;ff. mit umfangreichen Nachweisen zur Begriffsgeschichte; ''Rolf Schönberger'', Scholastik, I.&nbsp;Begriff und historische Charaktere, in: Lexikon des Mittelalters, Bd.&nbsp;7, 1995, Sp. 1521&nbsp;ff.; ''Norman Kretzmann'', ''Anthony Kenny'', ''Jan Pinborg'' (Hg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, ND 1997, 192&nbsp;ff. mit umfassenden Nachweisen zur Literatur und zu den Quellen der mittelalterlichen scholastischen Wissenschaft; ''Manlio Bellomo'' (Hg.), Die Kunst der Disputation, 1997; ''Annabel S. Brett'', Liberty, Right and Nature: Individual Rights in Later Scholastic Thought, 1997; ''Christoph H.F. Meyer'', Die Distinktionstechnik in der Kanonistik des 12.&nbsp;Jahrhunderts, 2000; ''Maximiliane Kriechbaum'', Methoden der Stoffbewältigung, in: Hermann Lange, eadem, Römisches Recht im Mittelalter, Bd.&nbsp;2, 2007, 264&nbsp;ff. mit umfassenden weiteren Nachweisen zu Literatur und Quellen.


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Version vom 13. September 2016, 13:11 Uhr

von Andreas Thier

1. Begriff und Geschichte

Der Ausdruck „Scholastik“ geht auf die Bezeichnung σχολαστικός zurück, die ihre Wurzel findet in den Begriffen σχολή (Schule, Studium, Muße) und σχολάζειν (sich einer Sache widmen, Muße haben). Im Ausgangspunkt ist ein σχολαστικός also eine Person, die ohne äußeren Zwang einer selbst gewählten Tätigkeit nachgeht. Auf dieser Linie bewegt sich auch die Benutzung des Ausdrucks σχολαστικόν in der Politik des Aristoteles, wo es als „Ruhevolles“ insbesondere die Grundlage der θεωρία bildet. Seit Theophrast (372/‌369–288/‌285 v. Chr.) wird σχολαστικός vor allem als Selbstbezeichnung von Philosophen benutzt, doch wird der Begriff dann ebenso wie seine latinisierte Form scholasticus zur Bezeichnung einer „zu einer Schule gehörenden“ Person verwendet. Von diesem Ausgangspunkt her werden in der Spätantike und noch in der Karolingerzeit in Formeln wie vir scholasticus besondere Gelehrsamkeit und herausragende intellektuelle Kompetenz umschrieben. Zugleich werden σχολαστικός und scholastikus seit etwa dem 1. Jahrhundert v. Chr. zunächst mit dem Begriff rhetor verbunden, der seinerseits spätestens seit Cicero auch die Bedeutung „Rechtsbeistand“ umfasst. Dem entspricht es, dass spätestens im 4. Jahrhundert der Ausdruck scholasticus ebenfalls in dieser Weise verwendet wird (vgl. CTh 8,10,2) und Augustinus sogar den scholasticum iurisperitum (den „rechtsgelehrten Scholastiker“) erwähnt. Später vor allem im byzantinischen Raum erweitert um die Bedeutungsschicht „Amtsinhaber“ (s. auch C. 12,61,2 pr.), wird der scholasticus im Zusammenhang mit der großen karolingischen Bildungsreform zum Titel für den Leiter einer Kloster- oder Kathedralschule, das caput scholae. Seit etwa dem 12. Jahrhundert dient das Adverb scholastice zunehmend dazu, die in den Domschulen und Universitäten vermittelte Theologie von monastischen Lehrinhalten abzugrenzen. Wesentlich für die in diesem Sinne „scholastische“ Theologie der Universitäten ist in der Sicht der Zeitgenossen dabei der überragende Stellenwert des dialektischen Philosophierens für die Theologie, während der monastischen Doktrin die Dialektik ein schlichtes Hilfsmittel für das Verständnis der Bibel und anderer autoritativer Texte ist. Der humanistischen Perspektivenbildung des 16. Jahrhunderts war der scholasticus der Inbegriff des philosophisch angeleiteten Theologen des Hoch- und Spätmittelalters, der sich in lebensferne argutii und subtilitates („Übergenauigkeiten“ und „Spitzfindigkeiten“) verstrickt. Im Ausgangspunkt ähnlich, in der Bewertung zum Teil aber deutlich anders gestaltete sich die Sichtweise in der neuzeitlichen kirchlichen Tradition: So bestimmte Martin Luther 1517 in den Conclusiones contra scholasticam theologiam die Identität der Scholastik in der theologischen Instrumentalisierung der Philosophie, die allerdings mit dem Postulat sola fide nicht in Einklang zu bringen sei. Zwar bewegte sich die römisch-katholische Kirche in der Deutung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie auf der gleichen Linie. Doch die so verstandene Scholastik wurde ungleich positiver bewertet, wurde sie doch seit dem Konzil von Trient (1545–1563) zur tragenden Grundlage der katholischen Glaubenslehre gemacht, insbesondere vom Jesuitenorden verbreitet und in der sog. spanischen Spätscholastik (s. unten 4.) fortentwickelt. Mit der Enzyklika Aeterni Patris erklärte Papst Leo XIII. (1878–1903) 1879 die mittelalterliche Lehre insbesondere des Thomas von Aquin (1224/‌25–1274) zur Leitlinie der römisch-katholischen Positionierung gegenüber der säkularen Philosophie. Der damit zugleich geförderte Aufstieg der „Neuscholastik“ in der katholischen Theologie setzte sich ungebrochen bis ins 20. Jahrhundert fort, auch wenn Papst Johannes Paul II. (1978–2005) 1998 in der Enzyklika Fides et Ratio einen Bedeutungsverlust der philosophia scholastica in der Zeit nach dem Vaticanum II (1962–1965) (Kanonisches Recht) beklagte.

In der neuzeitlichen säkularen Philosophie dominierte demgegenüber lange Zeit die Ablehnung der Scholastik, die hier als Inbegriff einer autoritätsgläubigen „schulfüchsischen Philosophie“ von „Papistischen Ordensmännern“ (Christian Thomasius, 1710) gedeutet wurde, die nichts anderes als „artificial ignorance“ (John Locke, 1690) hervorbringe. Wurde die „scholastische Philosophie“ von Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als „strohene Verstandesmetaphysik“ gebrandmarkt, so setzte im Zeichen der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Mittelalter auch bei nichtkatholischen Autoren ein Perspektivenwandel ein: In den Vordergrund rückte jetzt die bis in die Gegenwart diskutierte Frage nach der Kohärenz und der Deutung des Phänomens „Scholastik“. Dabei herrschte bis hinein ins frühe 20. Jahrhundert die These vor, dass der Ausdruck „Scholastik“ einen Ansatz der christlichen Denktradition bezeichne, in dem die Spannung von Philosophie und Theologie zu einem glaubenden Wissen aufgelöst werde. Kennzeichnend war in dieser Sicht die Bedeutung autoritativer Texte wie der Bibel sowie der Schriften von Kirchenvätern und antiken Philosophen, insbesondere des Aristoteles. Mehr Raum gewann seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die, wie oben angedeutet, auch semantisch greifbare Unterscheidung zwischen einer universitären, „scholastischen“, und einer monastischen Theologie. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde allerdings „Scholastik“ zunehmend als Chiffre benutzt, die den epistemologischen Zugriff aller hoch- und spätmittelalterlichen universitär gelehrten Wissenschaften kennzeichnen sollte. Charakteristische Merkmale bleiben allerdings auch hier der hohe Stellenwert der auctoritates und die Bedeutung einer vernunftgeleiteten, auf der Logik beruhenden Argumentation. Diese Qualifizierung der Scholastik als Modus des Denkens vor allem der hoch- und spätmittelalterlichen universitär verankerten Wissenschaften, für den das Rationalitätserfordernis und die Beschäftigung mit autoritativen Texten wesentlich sind, bildet auch den perspektivischen Ausgangspunkt der vorliegenden Übersicht.

2. Elemente der scholastischen Wissenschaftskultur

Den Ansatzpunkt der scholastischen Wissenschaft bildete die Analyse autoritativer Texte (etwa der Bibel und von Texten der Kirchenväter oder des Aristoteles), die auch die universitäre Lehre prägte: Durch die lectio (Lektüre) des Textes und die Auseinandersetzung mit den Auffassungen anderer Autoritäten werden unterschiedliche Sichtweisen offen gelegt, die in der Form der quaestio (Frage) untersucht werden. Dabei gewinnt die dialektische Methode wesentlichen Einfluss. Offenbar in der vorgratianischen Kanonistik (Kanonisches Recht) bereits bekannt (Ivo von Chartres, † 23.12.1115; Bernold von Konstanz, † 16.9.1100), fand sie vor allem durch die programmatische Schrift Sic et non („So und [so] nicht“) des Petrus Abaelardus (1079–1142) Verbreitung. Im 13. Jahrhundert erreichte der Einfluss der vor allem durch Boethius (475/‌480–524) und Averroes (1126–1192) ins Lateinische übersetzten aristotelischen Lehren seinen Höhepunkt. Die von Aristoteles gesetzten Standards wissenschaftlicher Argumentation und die breite Vielfalt seiner metaphysischen und naturphilosophischen Kategorienbildungen wurden für die jetzt entstehende universitäre Forschung und Lehre prägend. Leitende Vorstellung war dabei der Gedanke von der vernünftigen Ordnung der gottgeschaffenen Welt, die deswegen auch einer vernunftbasierten Deutung zugänglich war. So wurde die aristotelische Formel ars imitatur naturam („Die Kunstfertigkeit ahmt die Natur nach“) nicht allein als ästhetisch-künstlerisches Konzept der Mimesis gedeutet, sondern bildete auch den perspektivischen Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis. In den Vordergrund rückte dabei die Metaphysik als rectrix omnium aliarum scientiarum („Lenkerin aller anderen Wissenschaften“), wie es in einem berühmten Diktum des Thomas von Aquin heißt. In solchen Aussagen schien eine Vorstellung von der ideellen Einheit aller Wissenschaften auf, die ihre Entsprechung in der relativen Einheitlichkeit der Strukturformen von Argumentation und, modern gesprochen, Publikation fand. Entscheidend dabei wurde die quaestio, musste sich hier doch entscheiden, ob ein Widerspruch zwischen verschiedenen Texten durch die distinctio (Unterscheidung verschiedener Bedeutungsebenen) zu beseitigen war, weil nur dann deren Verbindlichkeit rational vertretbar erschien. Auf diese Weise gewannen semantische Differenzierungen einen besonderen Stellenwert; zugleich erschlossen sich in quaestio und disputatio immer neue Aussageschichten des jeweils zugrunde gelegten Textes einer auctoritas. Diese Formen der Textanalyse bestimmten auch die universitäre Lehre (Universitäten), die bei der lectio eines Textes ansetzte und in der die disputatio zunehmend zu einer eigenen Unterrichtsform wurde. Es kennzeichnete die scholastische Wissenschaft, dass ihre Literaturtypen ihre prägenden Strukturen aus dieser Gestaltung der akademischen Lehre erhielten: So entwickelte sich aus der lectio die Glosse, die ursprünglich nur der paraphrasierenden Erläuterung eines einzelnen Textelementes diente und dann zum analytischen Kommentar wurde. Disputatio und quaestio fanden ihre Entsprechung in quaestiones disputatae und wurden später in der Summa gebündelt. Im Lauf dieser Entwicklung trat der Text der jeweils diskutierten Schrift einer auctoritas (nicht zuletzt auch medial) in den Hintergrund, bestimmend wurde die Auseinandersetzung zwischen divergierenden Auslegungen der untersuchten Textstellen. Dem entsprach es, dass die Allegation zeitgenössischer Autoren und paralleler Texte zunehmend wichtiger wurde. In der Entstehung von glossae ordinariae (frei übersetzt: „allgemeinen Kommentaren“) zu autoritativen Texten wie etwa der Bibel seit dem 13. Jahrhundert konsolidierten sich solche Debatten, auch wenn deren literarische Dynamik auf diese Weise nicht unterbrochen wurde.

3. Scholastik und mittelalterliche Rechtswissenschaft

Wie bereits angedeutet, war es die vorgratianische Kanonistik gewesen, die zur Ausformung der scholastischen Methode beitrug. Möglicherweise war auch die häufige Berufung auf die Autorität gerade patristischer Schriften (der sanctorum patrum) in der Epoche der gregorianischen Reform (Kanonisches Recht) des ausgehenden 11. Jahrhunderts eine Vorstufe der scholastischen Prägung des Rechtsdenkens, die seit dem 12. Jahrhundert zum charakteristischen Merkmal des neu entstehenden ius commune werden sollte. Der scholastische Zugang zur Deutung und zur Lehre des Rechts war besonders ausgeprägt in der Schule von Bologna, die seit dem beginnenden 12. Jahrhundert entstand. Das wurde etwa im programmatischen Titel des Decretum Gratiani (Kanonisches Recht) deutlich, das den Zeitgenossen die Concordia Discordantium Canonum versprach und zur Verwirklichung dieser Zielsetzung mit distinctio und quaestio typische Elemente der scholastischen Methode nutzte. Auch die Typenbildungen kanonistischer und legistischer (ius commune) Schriften bewegten sich ganz auf der Linie der scholastischen Tradition, entwickelten sich doch bereits im 12. Jahrhundert – ursprünglich aus der Situation des universitären Unterrichts – Glossen und Summen, aus denen dann seit dem 13. Jahrhundert lecturae und commentariae wurden. Durchgängig war dabei die quaestio das wichtigste Element der Analyse der römischen, kirchlichen und auch lehnrechtlichen Texte, deren Autorität den Ausgangspunkt der Betrachtung bildete.

Während in der Zeit der Glossatoren wohl meist das Bestreben leitend war, auf diese Weise zu Topoi für die Lösung konkreter Fälle zu gelangen, gewannen im 13. und 14. Jahrhundert auch Tendenzen an Boden, abstraktere Perspektiven und Kategorien in den Diskurs einzuführen. Kennzeichnend dafür war die Mahnung des Baldus de Ubaldis (1327–1400), qui vult scire principiata debet noscere principia („Wer wissen will, was aus den Prinzipien herrührt, muss die Prinzipien kennen“; Commentaria in Digestum vetus, ad D. 1,1,1 nr. 2). Allerdings war die gelehrte Jurisprudenz dieser Zeit weit entfernt von den gewaltigen Systementwürfen etwa der Summae Theologiae eines Thomas von Aquin, auch wenn gezeigt worden ist, dass gerade Baldus und seine Zeitgenossen zumindest ansatzweise über Elemente einer systematischen Ordnung des Rechts debattiert haben (Maximiliane Kriechbaum). Mehr Gewicht hatten in der juristischen Debatte materielle Elemente des scholastischen Diskurses wie die von Aristoteles rezipierte Lehre der vier causae (causa formalis, materialis, efficiens sowie finalis), die insbesondere in der Analyse vertraglicher Verpflichtungen und kondiktionsrechtlicher Ansprüche, aber auch für die Frage nach der hoheitlichen Herrschaftsausübung für die Dogmatik fruchtbar gemacht wurden. Ähnliches lässt sich für die Verwendung der Kategorien actus/‌potentia und forma/‌materia zeigen, die etwa in der Vertragsrechtslehre oder für die Unterscheidung von actio und obligatio Anwendung fanden. Aber trotz dieser offensichtlichen Nähe der Rechtswissenschaften zur Theologie und zur Philosophie beanspruchten die Juristen frühzeitig eine eigene epistemologische Identität. Teilweise wurde dabei gleichwohl der gemeinsame Ausgangspunkt betont wie etwa in dem Bild des Stephan von Tournai (1128–1203), der theologus et legista mit den zwei Gästen eines Essens verglich, von denen der eine eher süße und der andere eher saure Speisen bevorzugt. Teilweise wurde allerdings auch die Autonomie jedenfalls der legistischen Wissenschaft mit kompromissloser Deutlichkeit betont wie etwa in der entschiedenen Verneinung der Frage, ob ein iuris consultus… debeat theologiam legere (ob „ein Jurist Theologie lesen muß“), werde doch „alles im Corpus iuris gefunden“ (omnia in corpore iuris inveniuntur; Gl. Notitia ad D. 1,1,10,2). Dieser entschiedenen Orientierung an den Texten des römischen und kanonischen Rechts entsprach umgekehrt die Feststellung des Bartolus, dass „die Juristen… nicht die Worte des Aristoteles kennen“ (verbis…Aristotelis… iurist(a)e … non saperent; Tractatus de regimen civitatis). Solche rechtswissenschaftlichen Abgrenzungsbemühungen resultierten freilich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass auch die Theologie eine Fülle von juristischen Thesen und Themen analysierte. Kennzeichnend dafür war etwa die Debatte über die Grundlage von Eigentumsbefugnissen oder die theologischen Konzeptionen eines Naturrechts.

4. Die spanische Spätscholastik

Im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation gewann die thomistische Tradition, wie oben angedeutet, in der römisch-katholischen Wissenskultur besonderes Gewicht. Kennzeichnend dafür war die Ersetzung der Sentenzensammlung des Petrus Lombardus († 1160), dem für lange Zeit wichtigsten Textbuch der universitären theologischen Lehre, durch die Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Überragende Bedeutung entfalteten die thomistischen Texte vor allem im spanischen Raum, insbesondere an der Universität Salamanca. Hier wurden die Thomaskommentare und die öffentlichen sog. Relecciones des dominikanischen Theologen Francisco de Vitoria (um 1483–1546) zum Ausgangspunkt für eine neue Traditionsbildung. Die Autoren der auf dieser Grundlage entstehenden Traktate und Kommentare waren ihrerseits vielfach Theologen wie die Dominikaner Domingo de Soto (1494–1560), Melchor Cano (1509–1560), der Jesuit Francisco Suarez (1548–1617) oder der Franziskaner Alfonso de Castro (1495–1558). Doch auch Juristen wie der Kanonist Diego de Covarrubias y Leyva (1512–1577), sein akademischer Lehrer Martin de Azpilcueta (1491–1586) und der eher römisch-rechtlich orientierten Fernando Vázquez de Menchaca (1512–1566) rezipierten intensiv die thomistische Theologie. Jenseits ihrer Affinität zur thomistischen Doktrin war diese Autorengruppe aber auch zu einer Gemeinschaft verbunden in der Orientierung an der scholastischen Methode des sic et non und vor allem in der im mittelalterlichen Kontext seltenen Verknüpfung von moraltheologischen und rechtswissenschaftlichen auctoritates. Damit erweiterten sich die Perspektiven der Argumentation, die dabei aber dem formalen Rahmen und der thematischen Universalität der mittelalterlichen Scholastik verbunden blieb. Vor diesem Hintergrund ist die in der Literatur häufig verwendete Kennzeichnung dieser Werke und ihrer Autoren als „Spanische Spätscholastik“, „Iberische Spätscholastik“ oder bisweilen auch als „Zweite Scholastik“ sicherlich zutreffend. Ein wenig missverständlich ist demgegenüber die manchmal ebenfalls benutzte Bezeichnung „Schule von Salamanca“, wird doch damit eine tatsächlich nicht bestehende Gemeinsamkeit von Thesen und Perspektiven unterstellt, zumal nicht alle spätscholastischen Autoren der salmantinischen Universität verbunden waren.

Inhaltlich prägend war für die spanische Spätscholastik vor allem die Ausrichtung an Naturrechtsvorstellungen (Naturrecht), die stark von der Lehre des Thomas von Aquin beeinflusst waren. Auf dieser Grundlage entstanden Konzeptionen subjektiver Rechte und Freiheiten, die nicht zuletzt auch durch die Frage inspiriert wurden, wie mit den unter der neubegründeten kolonialen Herrschaft stehenden Völkern umzugehen sei. Moraltheologie und Naturrechtsdenken verbanden sich auch in Überlegungen über die Legitimation von Kriegshandlungen, die Legitimität politischer Herrschaft und ihrer Grenzen sowie in einer sehr ausdifferenzierten allgemeinen Strafrechtslehre. In der Privatrechtsdogmatik sollten es vor allem die Lehren über Eigentum, die Gegenseitigkeit des Vertrags und die Naturalrestitution sein, die die säkularen Naturrechtsentwürfe des 17. und 18. Jahrhunderts nachhaltig beeinflussten und die auf diese Weise Wirkung bis in die Rechtsordnung der Gegenwart hinein entfalten.

Literatur

Gerhard Otte, Dialektik und Jurisprudenz, 1971; Heinrich Schmidinger, „Scholastik“ und „Neuscholastik“. Geschichte zweier Begriffe, in: Emerich Coreth, Walter M. Neidl, Georg Pfligersdorffer (Hg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Rückgriff auf scholastisches Erbe, 1988, 23 ff.; Hans-Jürgen Becker, Scholastik, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, Sp. 1478 ff.; James Gordley, The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine 1991; Heinrich Schmidinger, Scholastik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, Sp. 1332 ff. mit umfangreichen Nachweisen zur Begriffsgeschichte; Rolf Schönberger, Scholastik, I. Begriff und historische Charaktere, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, 1995, Sp. 1521 ff.; Norman Kretzmann, Anthony Kenny, Jan Pinborg (Hg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, ND 1997, 192 ff. mit umfassenden Nachweisen zur Literatur und zu den Quellen der mittelalterlichen scholastischen Wissenschaft; Manlio Bellomo (Hg.), Die Kunst der Disputation, 1997; Annabel S. Brett, Liberty, Right and Nature: Individual Rights in Later Scholastic Thought, 1997; Christoph H.F. Meyer, Die Distinktionstechnik in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts, 2000; Maximiliane Kriechbaum, Methoden der Stoffbewältigung, in: Hermann Lange, eadem, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 2, 2007, 264 ff. mit umfassenden weiteren Nachweisen zu Literatur und Quellen.

Abgerufen von Ausstrahlung des europäischen Privatrechts auf islamische Länder – HWB-EuP 2009 am 19. April 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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