Pandektensystem und Testierfreiheit: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Jan Peter Schmidt]]''
von ''[[Inge Kroppenberg]]''
== 1. Begriff ==
== 1. Testierfreiheit als zentrales Prinzip des Erbrechts ==
Der Begriff Pandektensystem bezeichnet die Gliederung des Zivilrechts in einen [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teil]] und die vier Abschnitte Sachenrecht, Schuldrecht, Familienrecht ([[Familie]]) und [[Erbrecht]]. Der Name geht auf die Pandektenlehrbücher des 19. Jahrhunderts zurück, die diese Anordnung des Rechtsstoffs populär machten. Das Pandektensystem wird manchmal auch „Heise-System“ genannt, weil der „Grundriß eines Systems des gemeinen Civilrechts zum Behuf von Pandecten-Vorlesungen“ (1807) von ''Georg Arnold Heise'' eine entscheidende Rolle bei seiner Verbreitung spielte. Heute wird das Pandektensystem meist nicht mehr im Zusammenhang mit dem Darstellungsplan von Lehrbüchern, sondern mit dem Aufbau von Zivilgesetzbüchern diskutiert.
Die Testierfreiheit ist neben der Familienerbfolge ([[Pflichtteilsrecht]]) und der [[Universalsukzession]] ein fundamentales Prinzip des [[Erbrecht]]s. Es ist in allen Erbrechtsordnungen anerkannt. Abhängig von der jeweiligen Ausprägung der familiären Partizipation am Nachlass variiert das Maß an Testierfreiheit jedoch erheblich.


== 2. Entstehung ==
Die Testierfreiheit ist ein individuelles Freiheitsrecht, das dem Erblasser die Befugnis einräumt, zu bestimmen, wer nach seinem Tod Träger seines Vermögens werden und Rechte darauf oder daran erwerben soll. Sie ist das erbrechtliche Gegenstück zur Vertragsfreiheit unter Lebenden und das bestimmende Prinzip der rechtsgeschäftlichen oder so genannten gewillkürten [[Erbfolge]]. Der Begriff Testierfreiheit verweist auf das zentrale rechtsgeschäftliche Instrument zu deren Ausübung: das [[Testament]]. Es ist der Prototyp eines einseitigen Rechtsgeschäfts, das keinen Adressaten hat. Das zweiseitige erbrechtliche Rechtsgeschäft, der [[Erbvertrag und gemeinschaftliches Testament|Erbvertrag]] oder das ''pactum successorium'', steht dagegen traditionell weniger im Mittelpunkt der Testierfreiheit. In der romanischen Rechtsfamilie wird es wegen Verstoßes gegen die guten Sitten (''contra bonos mores'') sogar als unwirksam angesehen.
Der Entstehungsprozess des Pandektensystems erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte und wurde von unterschiedlichen Einflüssen geprägt. Der Ausgangspunkt lag im 16. Jahrhundert, als unter dem juristischen [[Humanismus]] in Deutschland und Frankreich, aber unabhängig davon auch unter den spanischen Scholastikern ([[Scholastik]]), Bemühungen zur Herausbildung eines neuen Systems zur Darstellung des Rechts einsetzten. Die Legalordnung der Digesten (''[[Corpus Juris Civilis]]'') wurde zunehmend als unbefriedigend empfunden und sollte durch einen rational begründeten Aufbau ersetzt werden. Viele Autoren gingen deshalb dazu über, den Rechtsstoff nach der Formel der Institutionenordnung (''[[Corpus Juris Civilis]]'') in ''personae'','' res'','' actiones'' zu gliedern (der Begriff ''res'' wurde dabei weit verstanden und umfasste neben dem Sachenrecht im engeren Sinne auch Erbrecht und Schuldrecht). Als einflussreichstes Werk aus jener Zeit gelten die „Commentarii juris civilis“ (1589) von ''Hugo Donellus''.


Um die Herausbildung einer neuen Systematik begann sich etwas später auch die neuzeitliche Naturrechtslehre zu bemühen ([[Naturrecht]]). Da sie sich nicht an den Quellen des positiven Rechts zu orientieren brauchte, konnte sich ihr Streben nach einer neuen Ordnung ganz ungehindert entfalten. Ein die gesamte Rechtswelt umfassendes System des ''ius naturae'' wurde zuerst von'' Samuel von Pufendorf'' in seinem „De jure naturae et gentium libri octo“ (1672) entwickelt, das die weitere Naturrechtsliteratur stark beeinflussen sollte. Das Grundprinzip des ''Pufendorf''’schen Systems bestand in einem Vorwärtsschreiten von der Einzelperson zu den höheren Einheiten des menschlichen Zusammenlebens, wodurch es den Gedanken von der Doppelnatur des Menschen als Individuum und Gemeinschaftsglied zum Ausdruck brachte. Zunächst wurde deshalb das Personenrecht und in diesem Rahmen das Vermögensrecht dargestellt, sodann das Recht der Familie, das des Staates und schließlich das Völkerrecht. Eine für die künftigen Systeme des Privatrechts wichtige Folge dieser Vorgehensweise war die Loslösung des Familienrechts vom Personenrecht, die im weiteren Verlauf auch die Verselbständigung des Erbrechts nach sich zog.
Im Vergleich zur Vertragsfreiheit unter Lebenden ist die Testierfreiheit das „willkürlichere“ Recht, weil sie ausschließlich auf den Willen ''einer'' handelnden Person, des testierenden Erblassers, bezogen ist. Das zeigt sich insbesondere in dessen Freiheit, testamentarische Anordnungen jederzeit und ohne Angabe von Gründen widerrufen, das heißt ändern, aufheben und vernichten sowie wieder neu treffen zu können. Das Erbrecht rechnet damit, dass der von Todes wegen Verfügende von seiner Testierfreiheit zu Lebzeiten mehrfach Gebrauch macht und hält nur den „letzten (geäußerten) Willen“ für rechtsverbindlich. Dieser Gedanke kommt bereits in Ulp. D. 34.4.4 (lib. 33 ad Sab.) zum Ausdruck (''[[Corpus Juris Civilis]]''). Der Text lautet im einschlägigen Abschnitt: ''Ambulatoria enim est voluntas defuncti usque ad vitae supremum exitum'' („Wandelbar ist der Wille des Menschen bis zum Lebensende“).


Das bunte Bild der Rechtssystematik, das das Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts bot, spiegelte sich in den drei großen Kodifikationen ([[Kodifikation]]) vom Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts wider: Das [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten]] (1794) war in seinem Aufbau stark von der Naturrechtslehre beeinflusst worden, während der ''[[Code civil]]'' (1804) und das [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] (1811) sich an die Institutionenordnung anlehnten. Der ''Code civil'' wies daneben auch Einflüsse der vorangegangenen französischen Zivilistik auf, vor allem was die Systematik seines dritten Buches betraf („des différentes manières dont on acquiert la propiété“).  
== 2. Geschichte der Testierfreiheit ==
Historisch ist die Testierfreiheit gegenüber der Familienerbfolge das jüngere erbrechtliche Prinzip. Den germanischen Rechten war sie als Rechtsgrundsatz fremd. Das Vermögen des Hausvaters und Erblassers war gesamthänderisch gebundenes Familienvermögen. In der Verfügung darüber war er sowohl zu Lebzeiten wie auch von Todes wegen erheblich beschränkt. Erbrechtlich kamen zunächst die Söhne als so genannte Hauserben zum Zug. Nicht der Mensch, sondern Gott schafft Erben, brachte ''Tacitus'' diesen Zusammenhang auf den Punkt: ''Heredem tamen successoremque sui cuique liberi'','' et nullum testamentum'' (Germania, Kap. XX). Unter kirchenrechtlichem Einfluss trat später noch das gesetzliche Erbrecht der Ehefrau hinzu. Die Familienbindung des Erblassers war in den germanischen Rechten damit umfassend.


Die letzte Phase der Entstehung des Pandektensystems begann mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als in den deutschen Darstellungen des gemeinen Rechts unter dem Einfluss des Naturrechts eine immer stärkere Tendenz zur Preisgabe der Institutionenordnung einsetzte. Zu den wichtigsten Stationen auf dem Weg zum Pandektensystem gehörten ''Gustav Hugos'' „Institutionen des heutigen römischen Rechts“ (1789) und der schon erwähnte „Grundriß“ ''Heises''. Spätestens nachdem auch ''Friedrich Carl von Savigny'' sein „System des heutigen Römischen Rechts“ (1840–1851) in der entsprechenden Weise aufgebaut hatte, wurde die Suche nach dem „richtigen“ System als abgeschlossen betrachtet. Das Pandektensystem dominierte fortan nicht nur die Darstellungen des römischen Rechts, sondern auch die des deutschen Rechts und der Partikularrechte.
Der Ursprung der Testierfreiheit lag in Rom. Sie entwickelte sich im römischen Recht aus der älteren Erbfolge der Hauserben (''sui heredes''). Historisch stand sie zunächst nicht in dem Gegensatz, in den Testierfreiheit und Familienerbfolge heute gerne gerückt werden. Das hatte mit der bäuerlichen Bodenstruktur der frühen römischen Gesellschaft zu tun. Sie konnte durch die Beerbung unrentabel werden, wenn viele Familienmitglieder zu versorgen waren. Außerdem drohte sie dadurch zu zersplittern, dass jeder Hausgenosse die Teilung verlangen konnte. In der Folgezeit räumte das römische Recht seinen Erblassern Testierfreiheit ein, um den Grundbesitz auf einen Alleinerben zu übertragen und zugleich die finanzielle Absicherung der übrigen Hausgenossen zu regeln. Die Entwicklung traf sich mit der Abkehr von der bäuerlich-grundherrlichen Lebens- und Wirtschaftsform zugunsten einer Stadtkultur, dem Übergang zu Handel, Geldverkehr und anderen Formen der Kapitalbildung sowie dem politischen Erstarken Roms zum Weltreich. Die Entscheidung über die Vermögensnachfolge eines Erblassers nahm an Komplexität zu.


Die Entstehungsgeschichte des Pandektensystems zeigt, dass es das Produkt einer Kreuzung verschiedener Traditionen ist. Während die Trennung zwischen Schuld- und Sachenrecht in der römischrechtlichen Unterscheidung zwischen der ''actio in personam'' und der ''actio in rem'' (persönlicher und dinglicher Klage) wurzelt, geht die Verselbständigung des Familien- und Erbrechts auf den Einfluss des Naturrechts zurück (als unselbständige Einheiten fanden sich Familienrecht und Erbrecht auch schon in der Institutionenordnung). Der [[Allgemeiner Teil|Allgemeine Teil]] war hingegen ein gänzlich neuer Bestandteil, der seinen Ursprung allein in der Naturrechtslehre hatte. Er gilt als die „Krönung“ (''Helmut Coing'') und „the truly distinctive feature“ (''Reinhard Zimmermann'') des Pandektensystems, denn er brachte zum Ausdruck, dass das Privatrecht nicht länger als eine Summe von Einzelerkenntnissen, sondern als echtes deduktives System begriffen wurde.
Seit der jüngeren Republik war die Testierfreiheit das beherrschende Prinzip der Erbfolge. Die Testamentserrichtung war für einen Angehörigen der Oberschicht ein sittliches Gebot. Erbrechtliche Zuwendungen an die ''familia'' oder jedenfalls die nächsten Angehörigen wurden von ihm erwartet. Testierfreiheit und familiäre Teilhabe am Nachlass waren immer noch keine Gegensätze. Erst in den Wirren der ausgehenden Republik gerieten diese Überzeugungen zunehmend ins Wanken. Pflichtwidrige Testamente (''testamenta inofficiosa''), in denen nächste Angehörige übergangen wurden, kamen häufig vor. Das Recht reagierte: Neben der ''bonorum possessio contra tabulas'' wurde mit der ''querela inofficiosi testamenti'' ein zweites Institut geschaffen, das der Erblasserwillkür den Gedanken der Familienerbfolge entgegensetzte ([[Pflichtteilsrecht]]). Damit war das Spannungsverhältnis zwischen Testierfreiheit und der erbrechtlichen Partizipation der [[Familie]], wie es die Erbrechtsordnungen bis in die Gegenwart – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – kennzeichnet, im Grundsatz angelegt.


== 3. Die Verbreitung des Pandektensystems in der Welt ==
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit verstetigte es sich – und zwar in der Tendenz durchaus mit einer Betonung der Testierfreiheit nicht nur in England, sondern auch in Kontinentaleuropa. Dazu trug das Kirchenrecht nicht unerheblich bei. Es förderte die Verfügungsbefugnis von Todes wegen, indem es Klerikern gestattete, über den beweglichen Teil ihres Vermögens nicht familiengebunden zu disponieren. Bei Laien nannte man dies „Seel-“ oder „Freiteil“. Dabei handelte es sich nicht um erbrechtliche Verfügungen, sondern um lebzeitige Schenkungen ''ad pias causas'', so genannte Vergabungen, die unter dem Vorbehalt lebenslangen Nießbrauchs des Schenkers standen oder durch den Tod des Vergabenden aufschiebend bedingt waren. Mit der Anerkennung des „Freiteils“ wurde einerseits die Vorstellung aufgegeben, dass das Familiengut eine rechtliche Einheit darstelle und kein Familienmitglied, auch nicht der Hausvater, ohne Zustimmung der anderen Hausgenossen darüber verfügen könne. Andererseits stimulierte das Kirchenrecht mit dem „Freiteil“ zugleich die moralische Pflicht des Erblassers, auf eine bestimmte verantwortungsbewusste Weise zu testieren. Während der „Freiteil“ nämlich ursprünglich nur wohltätige Verfügungen umfasste, wurden später auch Zuwendungen an den König, an Verwandte und an den Ehegatten des Erblassers zugelassen. Dieses besondere Verständnis der Testierfreiheit setzte sich bis zum 16. Jahrhundert durch und blieb bis in die Moderne hinein präsent.
Bei Schaffung des sächsischen BGB (1863) wurde das Pandektensystem erstmals auch als gesetzlicher Ordnungsplan für ein Zivilgesetzbuch gewählt. Mit seiner Übernahme durch das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] gelangte das Pandektensystem zu weltweiter Berühmtheit. Es hat in allen danach ergangenen Zivilgesetzbüchern seine Spuren hinterlassen. Zwar ist nur ein kleiner Teil davon dem Pandektensystem ''in toto ''gefolgt und hat auch den [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teil]] übernommen; in allen übrigen Zivilkodifikationen findet sich aber (gelegentlich in leicht modifizierter Weise) die Einteilung der Materien nach Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht (ggf. neben weiteren Materien wie dem Unternehmensrecht, siehe ''[[Code unique]]''; dass die Staaten des sozialistischen Rechtskreises das Familienrecht oftmals aus dem Zivilgesetzbuch herausnahmen, änderte nichts daran, dass auch sie das Familienrecht als Sacheinheit behandelten). Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Pandektensystems haben, neben dem BGB, das [[schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerische Zivilgesetzbuch]] (1907) und der italienische'' [[Codice civile]]'' (1942) gespielt, die Vorbilder für die Zivilgesetzbücher vieler anderer Staaten gewesen sind ([[Rezeption]]).  


Noch größere Spuren als in den Legalordnungen anderer Länder hat das Pandektensystem im ausländischen Rechtsdenken hinterlassen. Selbst dort, wo das kodifizierte Privatrecht einer ganz anderen Ordnung als dem Pandektensystem folgt, wie etwa in Frankreich und Österreich, haben sich Wissenschaft und Lehre in der Darstellung des Rechts dem Pandektensystem seit dem 19. Jahrhundert stark angenähert. In nicht zu unterschätzendem Maße gilt dies auch für den Rechtskreis des ''[[common law]]''. „Kaum eine zweite Tatsache bringt den universellen Einfluss der deutschen gemeinrechtlichen Wissenschaft des 19. Jahrhundert zu so deutlich erkennbarem Ausdruck“ wie diese weltweite Verbreitung des Pandektensystems ''(Andreas B. Schwarz)''.
Im Zeitalter des [[Naturrecht|Natur-]] und Vernunftrechts verband es sich zudem mit der individualistischen Eigentumstheorie ([[Eigentum]]). Die Testierfreiheit wurde nun als erbrechtliche Fortsetzung der lebzeitigen Verfügungsfreiheit des Eigentümers gesehen. Das bürgerliche Zeitalter griff die frühneuzeitliche Arbeitswertheorie ''John Lockes ''auf, nach der Arbeit und Leistung die Faktoren sind, die das private Eigentum begründen. Der erbrechtliche Erwerb wurde auf diese Weise als unverdient, weil arbeitslos delegitimiert ([[Erbrecht]]) – und die Testierfreiheit über die Verbindung zur Eigentümerfreiheit mit ihr. Im 19. Jahrhundert gerieten die Erbrechte Kontinentaleuropas deswegen in eine Krise. Über ihre Abschaffung als Relikt eines veralteten, statusbezogenen Rechtssystems wurde erbittert gestritten. Im englischen Recht war von einer ähnlichen Erschütterung nichts zu spüren. Hier blieb die Testierfreiheit vor allem deshalb ein grundsätzlich unangefochtenes Prinzip, weil es historisch weder mit der Familie verbunden noch als bloße Fortsetzung des Eigentums unter Lebenden verstanden wurde. Vielmehr war und ist das gängige Konzept der Testierfreiheit im ''[[common'' ''law'' das eines individuellen und originären Freiheits- und Gestaltungsrechts des Erblassers.


== 4. Kritik am Pandektensystem ==
== 3. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Die Kritik am Pandektensystem hat sich zu allen Zeiten in erster Linie gegen den [[Allgemeiner Teil|Allgemeinen Teil]] gerichtet. Dadurch wird leicht übersehen, dass auch die Einteilung des Rechtsstoffs nach Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht, die aufgrund ihrer weiten Verbreitung heute als selbstverständlich erscheint, seit langem umstritten ist, ebenso wie die dabei zu beachtende Reihenfolge. Die Ordnung des BGB wurde bereits nach der Veröffentlichung des Ersten Entwurfs von Autoren wie ''Anton Menger'' und ''Otto von Gierke'' ernsthaft in Frage gestellt. Am lautesten waren die Rufe nach einer neuen Stoffanordnung für Gesetzgebung und Wissenschaft im Nationalsozialismus. Heute haben sich die Diskussionen weitgehend beruhigt, einige der gegen das Pandektensystems vorgebrachten Argumente besitzen aber nach wie vor Gültigkeit.
Im 20. Jahrhundert näherten sich die kontinentaleuropäischen Erbrechtsordnungen dem englischen Konzept an. Die Testierfreiheit hat sich zusammen mit dem Erbrecht wieder konsolidiert. Sie gehört nicht nur zum gesicherten Bestand der nationalen Zivilrechtsordnungen. Sie wird in einigen Staaten, zum Beispiel in Deutschland, Spanien und Italien sowie in den meisten osteuropäischen Ländern auch verfassungsrechtlich gewährleistet. Soweit die Verfassungen zum Erbrecht Regelungen enthalten, ist die traditionelle Verbindung von Eigentümer- und Testierfreiheit erhalten geblieben. Zivilrechtlich ist namentlich in Deutschland eine Rückbesinnung auf die Testierfreiheit als bestimmendes Prinzip der Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes zu beobachten.


=== a) Die Kritik an den Kategorien des Pandektensystems ===
Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Zunächst ist aus dem Familienerbrecht Bewegung in das rechtsgeschäftliche Erbrecht gekommen. Die familienerbrechtliche Beschränkung der Testierfreiheit wird abgebaut. Der Trend geht in Europa – auch in Frankreich, das traditionell als der Exponent eines materiellen Noterbrechts naher Familienangehöriger gilt – hin zur „moderneren Lösung“ (''Dieter'' ''Leipold'') des Geldpflichtteils ([[Pflichtteilsrecht]]). Der Übergang auf das Kompensationsmodell stärkt die Testierfreiheit, weil es die Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen, die nahe Familienangehörige von der Erbfolge ausschließt, unberührt lässt und den Ausgleich stattdessen in einem Geldanspruch sucht.
Ein alter und grundlegender Vorwurf gegen das Pandektensystem lautet, dass ihm kein einheitlicher Ordnungsgesichtspunkt zugrunde liege: Während nämlich die Unterscheidung zwischen Schuld- und Sachenrecht auf den unterschiedlichen Rechtswirkungen der jeweiligen Normen beruht (relative Wirkung/‌absolute Wirkung), finden sich im Familien- und Erbrecht Normen versammelt, deren Tatbestände sich – ohne Rücksicht auf die angeordneten Rechtsfolgen – auf einen bestimmten Themenkreis der sozialen Wirklichkeit beziehen. Die beiden Paare Sachenrecht/‌Schuldrecht und Familienrecht/‌Erbrecht sind also „nach einer Kreuzeinteilung geformt“ ''(Ernst Zitelmann)''. Freilich hatten die Anhänger des Pandektensystems dessen logische Geschlossenheit auch nie behauptet; vielmehr hatten sie sich vom Gesichtspunkt der praktischen Zweckmäßigkeit leiten lassen.


Was die Bildung der einzelnen Teile des Pandektensystems betrifft, so wurde lange Zeit die – historisch noch junge – Kategorie des Schuldrechts in Frage gestellt und besonders die gemeinsame Behandlung von Vertrags- und Deliktsrechts unter einem Dach als „lebensfremd“ kritisiert. Diese Ansicht dürfte in den kontinentaleuropäisch geprägten Rechtsordnungen mittlerweile überwunden sein. Und sogar im Rechtskreis des ''common law'' erfährt die traditionell unbekannte Kategorie des ''law of obligation''s inzwischen zunehmende Aufmerksamkeit. Auf der europäischen Ebene lässt sich derzeit zwar noch nicht von der Existenz einer Kategorie des Schuldrechts sprechen. Dies liegt jedoch vor allem daran, dass die bisherigen Vereinheitlichungsprojekte fast alle nur punktueller Natur sind. Ansätze zur Behandlung des Schuldrechts als systematische Einheit finden sich im dritten Teil der ''[[Principles of European Contract Law]] ''(PECL) und im dritten Buch des ''Draft [[Common Frame of Reference]] ''(DCFR). Angesichts der gefestigten Tradition, über die die Kategorie des Schuldrechts in fast allen europäischen Rechtsordnungen heute verfügt, ist zu erwarten, dass ihr im Zuge der fortschreitenden Entwicklung und Systematisierung des Europäischen Privatrechts eine wichtige Rolle zukommen wird.
Die Testierfreiheit selbst wird heute weniger pflichtgebunden interpretiert als noch in der jüngeren Vergangenheit. Eine Gesinnungskontrolle des von Todes wegen Verfügenden findet nicht mehr statt. Die Inhaltskontrolle von Verfügungen von Todes wegen ist an ihre Stelle getreten. Sie wird allerdings immer zurückhaltender ausgeübt. Die Unwirksamkeit wegen Sittenwidrigkeit beschränkt sich auf extreme Ausnahmefälle. Dafür konzentriert sich etwa die rechtswissenschaftliche Diskussion in Deutschland im Gefolge der ''Hohenzollern''-Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH 2.12.1998, BGHZ 140, 118) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 22.3.2004, NJW 2004, 2088) stärker auf ein Themenfeld, das in der englischen Rechtsordnung mit ihrer Konzentration auf die Testierfreiheit traditionell im Mittelpunkt der Betrachtung steht: die Frage nach der Unwirksamkeit von erbrechtlichen Verfügungen wegen Verstoßes ''contra bonos mores'', die auf der Verletzung von Diskriminierungsverboten beruht''.'' In Kontinentaleuropa ist diese Entwicklung eingebettet in die zunehmende „Konstitutionalisierung“ der (Erb‑)Rechtsordnungen


Sodann betrifft die Kritik an der Verselbständigung des Schuldrechts die damit verbundene Trennung von Schuld- und Sachenrecht, durch die funktional zusammengehörende Tatbestände (etwa der Kaufvertrag und die zugehörige Übereignung der Kaufsache) auseinandergerissen werden. Unter dem Nationalsozialismus, aber auch in der DDR, gab es deshalb zahlreiche Versuche, zu einer funktionalen Ordnung des Vermögensrechts zu kommen, eine Idee, die im Zivilgesetzbuch der DDR (1975) auch teilweise verwirklicht wurde. Auch die Kritik an der Trennung von Schuld- und Sachenrecht ist heute aber weitgehend verstummt. Im Lichte der gemachten Erfahrungen wird die Systembildung auf der Grundlage der Struktur von Rechtsverhältnissen, wie im Schuld- und Sachenrecht exemplarisch durchgeführt, sogar ausdrücklich gelobt, weil sie eine besondere Flexibilität erlaube ''(Ralf Michaels)''<nowiki>. In keinem Fall verbietet die Trennung von Schuld- und Sachenrecht, in Einzelfällen davon abzuweichen und funktionalen Überlegungen den Vorrang einzuräumen (wie das BGB dies etwa bei den gesetzlichen Pfandrechten [§§&nbsp;562, 583, 592, 647, 704] oder dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis [§§&nbsp;987&nbsp;ff.] tut). Dies gilt für das Pandektensystem generell: Die einzelnen Kategorien sollen nur eine Grundorientierung bieten und sind keinesfalls undurchlässig.</nowiki>
== 4. Gesellschaftliche Entwicklungen ==
Gesellschaftlich muss der tendenzielle Bedeutungsverlust des Familienerbrechts ebenso wie der Funktionsgewinn der Testierfreiheit vor dem Hintergrund mehrerer Entwicklungen gedeutet werden, die das moderne Europa kennzeichnen. Der demografische Wandel führt dazu, dass immer mehr Menschen immer älter werden und erbrechtlich über mehr Vermögen verfügen können. Die Rede von der „Erbengesellschaft“ ist im kontinentaleuropäischen Raum bereits sprichwörtlich. Zugleich müssen sich die Erbrechtsordnungen vermehrt mit den spezifischen Problemen auseinandersetzen, die das hohe Alter von Erblassern auf die Wirksamkeit ihrer Verfügungen von Todes wegen haben kann.


Die Zusammenfassung des Familienrechts und des Erbrechts zu funktionalen Einheiten hat dagegen so gut wie keine Kritik erfahren und sich in Wissenschaft und Praxis vollumfänglich bewährt. Die zunächst durch systematische Überlegungen der Naturrechtslehre begründete Verselbständigung des Familienrechts ist später auch durch sachliche Argumente untermauert worden. Einmal mehr war hier die Auffassung ''Savignys'' sehr einflussreich. Er sah zwischen dem Familienrecht und dem Obligationenrecht nur „eine scheinbare Verwandtschaft“, da dem Familienrecht im Gegensatz zu den Obligationen nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein „natürlich-sittliches“ Element innewohne. Was das Erbrecht betrifft, so hatte die Naturrechtslehre noch zwischen der gesetzlichen und der testamentarischen Erbfolge unterschieden: Die erste wurde dem Familienrecht zugeschlagen, die zweite dem Vermögensrecht. Diese Trennung fand aber, abgesehen vom preußischen ALR, keine Nachahmer.
Für den anglo-amerikanischen Raum wurde allerdings bereits in den 1980er Jahren ein Rückgang bei den Verfügungen von Todes wegen festgestellt. Hier treten nicht selten lebzeitige Rechtsgeschäfte auf den Todesfall (so genannte ''will substitutes'') an die Stelle erbrechtlicher Verfügungen. Erklären dürfte sich dieser Befund zunächst aus einem Umstand, der für Kontinentaleuropa genauso zutreffen dürfte wie für England. Vermögen haben heute Bestandteile, die sich besser lebzeitig transferieren lassen als erbrechtlich. Das gilt namentlich für das Feld des so genannten Humankapitals. Als Besonderheit des englischen ''law of succession'' kommt hinzu, dass testamentarisch keine Erbeinsetzung in Bezug auf die Gesamtheit oder eines Teils des Vermögens getroffen werden kann, sondern stets nur Anordnungen in Bezug auf einzelne Vermögenszuwendungen. Sie können genauso gut Gegenstand eines lebzeitigen Rechtsgeschäfts auf den Todesfall wie einer Verfügung von Todes wegen sein. Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis kommt es zu dieser Konkurrenz mit den Verfügungen von Todes wegen nicht im gleichen Maße. Denn nur mit erbrechtlichen Rechtsgeschäften lässt sich über das Vermögen als Ganzes oder Teile davon verfügen. Insoweit hat die Verfügung von Todes wegen in Kontinentaleuropa durchaus ein Alleinstellungsmerkmal. Allerdings lässt sich feststellen, dass auch ein kontinentaleuropäischer Erblasser angesichts der vielfältigen lebzeitigen Instrumentarien, die ein modernes ''estate planning'' heute bietet, auf den erbrechtlichen Erwerb weniger angewiesen ist als in früheren Zeiten.


=== b) Die Diskussion um die Reihenfolge  ===
Was jedoch generell für eine zunehmende Bedeutung der Testierfreiheit im kontinentaleuropäischen und im anglo-amerikanischen Rechtsraum spricht, ist die Tatsache, dass sich das soziale Lebensumfeld von Erblassern hier wie dort zunehmend komplexer gestaltet. Das zeigt sich deutlich an der Auflösung des traditionellen (Kern&#8209;)Familienbegriffs, der die eheliche Beziehung von Mann und Frau beschreibt, die gemeinschaftliche Kinder haben ([[Familie]]). Er hat einem facettenreichen Familienbild Platz gemacht, das die Konzentration auf verschieden geschlechtliche eheliche Paare mit leiblichen Abkömmlingen zugunsten eines weiteren Familienkonzepts des Zusammenlebens mit Kindern aufzugeben im Begriff ist. Nichteheliche Lebensgemeinschaften und rechtlich verfestigte Partnerschaften homosexueller Personen haben sich als gesellschaftlich akzeptierte Lebensformen zur ehelichen hinzu gesellt. Die „Patchwork“-Familie integriert unter Umständen Kinder aus mehreren früheren Beziehungen beider Partner. Der Vielfalt und Komplexität der einzelnen Lebensentwürfe wird die Testierfreiheit mit ihrem persönlichen Gestaltungspotenzial am besten gerecht. Es nimmt nicht Wunder, dass sich ein effektives kautelarjuristisches ''estate planning'', das lebzeitige und erbrechtliche Instrumente individuell kombiniert, den beschriebenen Veränderungen in den Lebensverhältnissen der Erblasser bereits angenommen hat. Verfügungen von Todes wegen sind dabei ein wichtiger Bestandteil. Die Testierfreiheit – nicht die klassische Familienerbfolge – dürfte das zukunftsweisende Prinzip eines einheitlichen europäischen Erbrechts sein.
Schließlich ist die Reihenfolge der verschiedenen Teile des Pandektensystems Gegenstand von Diskussionen gewesen. Die Pandektenlehrbücher hatten an die erste Stelle stets das Sachenrecht gesetzt, gefolgt von Schuldrecht, Familienrecht und Erbrecht. Im Laufe der Arbeiten zum BGB beschloss die Erste Kommission dann aber, die Plätze von Schuldrecht und Sachenrecht zu tauschen. Da eine ausdrückliche Begründung dieser Umstellung nicht erfolgte, wurde über die Motive immer viel spekuliert. Einige wollen in der Voranstellung des Schuldrechts die konsequente Fortführung des Klammerprinzips sehen: Weil die Regelungen des Schuldrechts in einigen Fällen auch Wirkung für das Sachenrecht entfalteten, seien sie von einem höheren Grad an Allgemeinheit und ihre Voranstellung somit aus systematischer Sicht konsequent. Diese Begründung vermag aber nur teilweise zu überzeugen. Denn die Anwendbarkeit der Normen des Schuldrechts auf das Sachenrecht ist für jeden Einzelfall gesondert zu bestimmen. Vor allem das Abstraktionsprinzip widerlegt die Annahme, das Schuldrecht nehme generell Regelungen des Sachenrechts vorweg. Mit der Voranstellung des Schuldrechts dürften deshalb allein praktische Überlegungen verbunden gewesen sein: Sie trug der großen Dynamisierung des Wirtschaftsverkehrs während des 19.&nbsp;Jahrhunderts und der hierdurch stark gestiegenen Bedeutung des Schuldrechts Rechnung.


Kritisiert wurde am Aufbau des BGB vor allem die nachgeordnete Position des Familienrechts. In ihr komme deutlich zum Ausdruck, „wie sehr die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft durch das Eigentumsinteresse überwuchert werden“ ''(Anton Menger)''. Der BGB-Gesetzgeber war in diesem Punkt allerdings nur der Tradition der Pandektenlehrbücher gefolgt. In diesen war die Stellung des Familienrechts nach dem Vermögensrecht eine Nachwirkung der naturrechtlichen Systeme und deren Grundprinzip des Fortschreitens vom Recht der Einzelperson zum Recht größerer Gesamtheiten. Das sachliche Argument für diese Reihenfolge, dass nämlich die vermögensrechtlichen Wirkungen des Familienrechts ohne vorherige Regelung des Schuld- und Sachenrechts nicht verstanden werden könnten, wurde indes schon bald widerlegt: Das [[Schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerische ZGB]], das in der Tradition einiger schweizerischer Kantone das Familienrecht dem Vermögensrecht vorangestellt hatte, bewies, dass hiermit keine Anwendungsprobleme verbunden sind.
== 5. Testierfreiheit als Prinzip eines optionalen Einheitsrechts ==
 
Die zentrale Stellung, die der Testierfreiheit auf dem Weg zu einem europäischen Erbrecht zukommt, haben die ersten kollisionsrechtlichen Vereinheitlichungsbestrebungen bereits erkannt ([[Erbrecht, internationales]]). Mit dem Prinzip der Testierfreiheit dürfte aber auch eine Säule eines künftigen materiellen optionalen Erbrechts auf europäischer Ebene gefunden sein ([[Erbrecht]]). Gegenwärtig wird die Entwicklung einer Verfügung von Todes wegen des europäischen Rechts diskutiert, die Erblasser frei wählen dürfen sollen. Es wird sich dabei wohl nur um eine testamentarische Verfügung handeln können. Denn namentlich die Rechtsordnungen des romanischen Rechtskreises, etwa die Frankreichs, Italiens und Spaniens, aber auch die Belgiens, Englands und der Niederlande stehen dem Erbvertrag als erbrechtlichem Rechtsgeschäft entweder skeptisch gegenüber oder lassen ihn erst gar nicht zu. Und diejenigen Rechtsordnungen, die den Erbvertrag als erbrechtliches Verfügungsinstrument kennen (etwa Dänemark, Deutschland, Österreich), tun sich traditionell schwer mit dessen dogmatischer Konstruktion.
Auch die Stellung des Erbrechts am Ende des BGB war keineswegs selbstverständlich: In der Institutionenordnung und später im ''[[Code civil]]'' und im [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] fand es seinen Platz zwischen Sachenrecht und Schuldrecht. Dass die Pandektenlehrbücher es im Anschluss an das Familienrecht behandelten, beruhte wiederum auf dem Einfluss des Naturrechts. In praktischer Hinsicht bringt diese Reihenfolge jedenfalls den Vorzug mit sich, dass die Abstammungsverhältnisse bei der Lektüre des Erbrechts bereits als bekannt vorausgesetzt werden können.
 
Es zeigt sich, dass mit den entsprechenden Argumenten letztlich jede Reihenfolge der Materien im Besonderen Teil des Pandektensystems gerechtfertigt werden kann. Praktische Konsequenzen sind mit ihr, soweit erkennbar, nicht verbunden. Ein Gesetzgeber sollte sich aber trotzdem immer der Tatsache bewusst sein, dass die Anordnung der Materien zumindest symbolische Bedeutung haben kann.
 
== 5. Fazit und Ausblick ==
Das Pandektensystem ist mit seiner Unterscheidung von Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht fest im Bewusstsein der internationalen Rechtsgemeinschaft verankert und als formaler Ordnungsplan „bis heute so brauchbar, wie man das von einem Systementwurf realistischerweise nur erwarten kann“ ''(Franz Bydlinski)''. Dies gilt nicht nur für Gesetzgebung und Wissenschaft der nationalen Rechtsordnungen, sondern ebenso für die europäische Ebene.


==Literatur==
==Literatur==
''Andreas B. Schwarz'', Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 42 (1921) 578&nbsp;ff.; ''idem'', Einflüsse deutscher Zivilistik im Auslande, in: Festschrift für Otto Lenel, 1935, 425&nbsp;ff.;'' Gustav Boehmer'', Einführung in das Bürgerliche Recht, 2.&nbsp;Aufl. 1965, 70&nbsp;ff.; ''Helmut Coing'', Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, 21&nbsp;ff.; ''Lars Björne'', Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, 1984; ''Wolfram Müller-Freienfels'', Zur Diskussion um die systematische Einordnung des Familienrechts, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 37 (1973) 609&nbsp;ff.; ''Reinhard Zimmermann'', The Law of Obligations, 1996, 29&nbsp;ff.; ''Franz Bydlinski'', System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, 117&nbsp;ff.; ''Ralf Michaels'', Vor §&nbsp;241, in: Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann] (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. II/‌1, 2007.
''Franz Wieacker'', Hausgenossenschaft und Erbeinsetzung: Über die Anfänge des römischen Testaments, 1940; ''Lawrence M. Friedman'', The law of the living, the law of the dead: property, succession and society, Wisconsin Law Review 29 (1966) 340&nbsp;ff.; ''John Langbein'', The nonprobate revolution and the future of the law of succession, Harvard Law Review 97 (1984) 1108&nbsp;ff.; ''idem'', The twentieth-century revolution in family wealth transmission, Michigan Law Review 86 (1988) 722&nbsp;ff.; ''Dieter Henrich'', ''Dieter Schwab'' (Hg.), Familienerbrecht und Testierfreiheit im europäischen Vergleich: Beiträge zum europäischen Familienrecht, 2001; ''Nina Dethloff'', Familien- und Erbrecht zwischen nationaler Rechtskultur, Vergemeinschaftung und Internationalität: Perspektiven für die Forschung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 992&nbsp;ff.; ''Kenneth G.C. Reid'','' Marius J. de Waal'','' Reinhard Zimmermann'' (Hg.), Exploring the Law of Succession, 2007; ''Inge Kroppenberg'', Privatautonomie von Todes wegen: Verfassungs- und zivilrechtliche Grundlagen der Testierfreiheit im Vergleich zur Vertragsfreiheit unter Lebenden, 2008.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Pandektensystem]]
[[en:Freedom_of_Testation]]

Aktuelle Version vom 29. September 2021, 12:54 Uhr

von Inge Kroppenberg

1. Testierfreiheit als zentrales Prinzip des Erbrechts

Die Testierfreiheit ist neben der Familienerbfolge (Pflichtteilsrecht) und der Universalsukzession ein fundamentales Prinzip des Erbrechts. Es ist in allen Erbrechtsordnungen anerkannt. Abhängig von der jeweiligen Ausprägung der familiären Partizipation am Nachlass variiert das Maß an Testierfreiheit jedoch erheblich.

Die Testierfreiheit ist ein individuelles Freiheitsrecht, das dem Erblasser die Befugnis einräumt, zu bestimmen, wer nach seinem Tod Träger seines Vermögens werden und Rechte darauf oder daran erwerben soll. Sie ist das erbrechtliche Gegenstück zur Vertragsfreiheit unter Lebenden und das bestimmende Prinzip der rechtsgeschäftlichen oder so genannten gewillkürten Erbfolge. Der Begriff Testierfreiheit verweist auf das zentrale rechtsgeschäftliche Instrument zu deren Ausübung: das Testament. Es ist der Prototyp eines einseitigen Rechtsgeschäfts, das keinen Adressaten hat. Das zweiseitige erbrechtliche Rechtsgeschäft, der Erbvertrag oder das pactum successorium, steht dagegen traditionell weniger im Mittelpunkt der Testierfreiheit. In der romanischen Rechtsfamilie wird es wegen Verstoßes gegen die guten Sitten (contra bonos mores) sogar als unwirksam angesehen.

Im Vergleich zur Vertragsfreiheit unter Lebenden ist die Testierfreiheit das „willkürlichere“ Recht, weil sie ausschließlich auf den Willen einer handelnden Person, des testierenden Erblassers, bezogen ist. Das zeigt sich insbesondere in dessen Freiheit, testamentarische Anordnungen jederzeit und ohne Angabe von Gründen widerrufen, das heißt ändern, aufheben und vernichten sowie wieder neu treffen zu können. Das Erbrecht rechnet damit, dass der von Todes wegen Verfügende von seiner Testierfreiheit zu Lebzeiten mehrfach Gebrauch macht und hält nur den „letzten (geäußerten) Willen“ für rechtsverbindlich. Dieser Gedanke kommt bereits in Ulp. D. 34.4.4 (lib. 33 ad Sab.) zum Ausdruck (Corpus Juris Civilis). Der Text lautet im einschlägigen Abschnitt: Ambulatoria enim est voluntas defuncti usque ad vitae supremum exitum („Wandelbar ist der Wille des Menschen bis zum Lebensende“).

2. Geschichte der Testierfreiheit

Historisch ist die Testierfreiheit gegenüber der Familienerbfolge das jüngere erbrechtliche Prinzip. Den germanischen Rechten war sie als Rechtsgrundsatz fremd. Das Vermögen des Hausvaters und Erblassers war gesamthänderisch gebundenes Familienvermögen. In der Verfügung darüber war er sowohl zu Lebzeiten wie auch von Todes wegen erheblich beschränkt. Erbrechtlich kamen zunächst die Söhne als so genannte Hauserben zum Zug. Nicht der Mensch, sondern Gott schafft Erben, brachte Tacitus diesen Zusammenhang auf den Punkt: Heredem tamen successoremque sui cuique liberi, et nullum testamentum (Germania, Kap. XX). Unter kirchenrechtlichem Einfluss trat später noch das gesetzliche Erbrecht der Ehefrau hinzu. Die Familienbindung des Erblassers war in den germanischen Rechten damit umfassend.

Der Ursprung der Testierfreiheit lag in Rom. Sie entwickelte sich im römischen Recht aus der älteren Erbfolge der Hauserben (sui heredes). Historisch stand sie zunächst nicht in dem Gegensatz, in den Testierfreiheit und Familienerbfolge heute gerne gerückt werden. Das hatte mit der bäuerlichen Bodenstruktur der frühen römischen Gesellschaft zu tun. Sie konnte durch die Beerbung unrentabel werden, wenn viele Familienmitglieder zu versorgen waren. Außerdem drohte sie dadurch zu zersplittern, dass jeder Hausgenosse die Teilung verlangen konnte. In der Folgezeit räumte das römische Recht seinen Erblassern Testierfreiheit ein, um den Grundbesitz auf einen Alleinerben zu übertragen und zugleich die finanzielle Absicherung der übrigen Hausgenossen zu regeln. Die Entwicklung traf sich mit der Abkehr von der bäuerlich-grundherrlichen Lebens- und Wirtschaftsform zugunsten einer Stadtkultur, dem Übergang zu Handel, Geldverkehr und anderen Formen der Kapitalbildung sowie dem politischen Erstarken Roms zum Weltreich. Die Entscheidung über die Vermögensnachfolge eines Erblassers nahm an Komplexität zu.

Seit der jüngeren Republik war die Testierfreiheit das beherrschende Prinzip der Erbfolge. Die Testamentserrichtung war für einen Angehörigen der Oberschicht ein sittliches Gebot. Erbrechtliche Zuwendungen an die familia oder jedenfalls die nächsten Angehörigen wurden von ihm erwartet. Testierfreiheit und familiäre Teilhabe am Nachlass waren immer noch keine Gegensätze. Erst in den Wirren der ausgehenden Republik gerieten diese Überzeugungen zunehmend ins Wanken. Pflichtwidrige Testamente (testamenta inofficiosa), in denen nächste Angehörige übergangen wurden, kamen häufig vor. Das Recht reagierte: Neben der bonorum possessio contra tabulas wurde mit der querela inofficiosi testamenti ein zweites Institut geschaffen, das der Erblasserwillkür den Gedanken der Familienerbfolge entgegensetzte (Pflichtteilsrecht). Damit war das Spannungsverhältnis zwischen Testierfreiheit und der erbrechtlichen Partizipation der Familie, wie es die Erbrechtsordnungen bis in die Gegenwart – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – kennzeichnet, im Grundsatz angelegt.

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit verstetigte es sich – und zwar in der Tendenz durchaus mit einer Betonung der Testierfreiheit nicht nur in England, sondern auch in Kontinentaleuropa. Dazu trug das Kirchenrecht nicht unerheblich bei. Es förderte die Verfügungsbefugnis von Todes wegen, indem es Klerikern gestattete, über den beweglichen Teil ihres Vermögens nicht familiengebunden zu disponieren. Bei Laien nannte man dies „Seel-“ oder „Freiteil“. Dabei handelte es sich nicht um erbrechtliche Verfügungen, sondern um lebzeitige Schenkungen ad pias causas, so genannte Vergabungen, die unter dem Vorbehalt lebenslangen Nießbrauchs des Schenkers standen oder durch den Tod des Vergabenden aufschiebend bedingt waren. Mit der Anerkennung des „Freiteils“ wurde einerseits die Vorstellung aufgegeben, dass das Familiengut eine rechtliche Einheit darstelle und kein Familienmitglied, auch nicht der Hausvater, ohne Zustimmung der anderen Hausgenossen darüber verfügen könne. Andererseits stimulierte das Kirchenrecht mit dem „Freiteil“ zugleich die moralische Pflicht des Erblassers, auf eine bestimmte verantwortungsbewusste Weise zu testieren. Während der „Freiteil“ nämlich ursprünglich nur wohltätige Verfügungen umfasste, wurden später auch Zuwendungen an den König, an Verwandte und an den Ehegatten des Erblassers zugelassen. Dieses besondere Verständnis der Testierfreiheit setzte sich bis zum 16. Jahrhundert durch und blieb bis in die Moderne hinein präsent.

Im Zeitalter des Natur- und Vernunftrechts verband es sich zudem mit der individualistischen Eigentumstheorie (Eigentum). Die Testierfreiheit wurde nun als erbrechtliche Fortsetzung der lebzeitigen Verfügungsfreiheit des Eigentümers gesehen. Das bürgerliche Zeitalter griff die frühneuzeitliche Arbeitswertheorie John Lockes auf, nach der Arbeit und Leistung die Faktoren sind, die das private Eigentum begründen. Der erbrechtliche Erwerb wurde auf diese Weise als unverdient, weil arbeitslos delegitimiert (Erbrecht) – und die Testierfreiheit über die Verbindung zur Eigentümerfreiheit mit ihr. Im 19. Jahrhundert gerieten die Erbrechte Kontinentaleuropas deswegen in eine Krise. Über ihre Abschaffung als Relikt eines veralteten, statusbezogenen Rechtssystems wurde erbittert gestritten. Im englischen Recht war von einer ähnlichen Erschütterung nichts zu spüren. Hier blieb die Testierfreiheit vor allem deshalb ein grundsätzlich unangefochtenes Prinzip, weil es historisch weder mit der Familie verbunden noch als bloße Fortsetzung des Eigentums unter Lebenden verstanden wurde. Vielmehr war und ist das gängige Konzept der Testierfreiheit im [[common law das eines individuellen und originären Freiheits- und Gestaltungsrechts des Erblassers.

3. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Im 20. Jahrhundert näherten sich die kontinentaleuropäischen Erbrechtsordnungen dem englischen Konzept an. Die Testierfreiheit hat sich zusammen mit dem Erbrecht wieder konsolidiert. Sie gehört nicht nur zum gesicherten Bestand der nationalen Zivilrechtsordnungen. Sie wird in einigen Staaten, zum Beispiel in Deutschland, Spanien und Italien sowie in den meisten osteuropäischen Ländern auch verfassungsrechtlich gewährleistet. Soweit die Verfassungen zum Erbrecht Regelungen enthalten, ist die traditionelle Verbindung von Eigentümer- und Testierfreiheit erhalten geblieben. Zivilrechtlich ist namentlich in Deutschland eine Rückbesinnung auf die Testierfreiheit als bestimmendes Prinzip der Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes zu beobachten.

Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Zunächst ist aus dem Familienerbrecht Bewegung in das rechtsgeschäftliche Erbrecht gekommen. Die familienerbrechtliche Beschränkung der Testierfreiheit wird abgebaut. Der Trend geht in Europa – auch in Frankreich, das traditionell als der Exponent eines materiellen Noterbrechts naher Familienangehöriger gilt – hin zur „moderneren Lösung“ (Dieter Leipold) des Geldpflichtteils (Pflichtteilsrecht). Der Übergang auf das Kompensationsmodell stärkt die Testierfreiheit, weil es die Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen, die nahe Familienangehörige von der Erbfolge ausschließt, unberührt lässt und den Ausgleich stattdessen in einem Geldanspruch sucht.

Die Testierfreiheit selbst wird heute weniger pflichtgebunden interpretiert als noch in der jüngeren Vergangenheit. Eine Gesinnungskontrolle des von Todes wegen Verfügenden findet nicht mehr statt. Die Inhaltskontrolle von Verfügungen von Todes wegen ist an ihre Stelle getreten. Sie wird allerdings immer zurückhaltender ausgeübt. Die Unwirksamkeit wegen Sittenwidrigkeit beschränkt sich auf extreme Ausnahmefälle. Dafür konzentriert sich etwa die rechtswissenschaftliche Diskussion in Deutschland im Gefolge der Hohenzollern-Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH 2.12.1998, BGHZ 140, 118) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 22.3.2004, NJW 2004, 2088) stärker auf ein Themenfeld, das in der englischen Rechtsordnung mit ihrer Konzentration auf die Testierfreiheit traditionell im Mittelpunkt der Betrachtung steht: die Frage nach der Unwirksamkeit von erbrechtlichen Verfügungen wegen Verstoßes contra bonos mores, die auf der Verletzung von Diskriminierungsverboten beruht. In Kontinentaleuropa ist diese Entwicklung eingebettet in die zunehmende „Konstitutionalisierung“ der (Erb‑)Rechtsordnungen

4. Gesellschaftliche Entwicklungen

Gesellschaftlich muss der tendenzielle Bedeutungsverlust des Familienerbrechts ebenso wie der Funktionsgewinn der Testierfreiheit vor dem Hintergrund mehrerer Entwicklungen gedeutet werden, die das moderne Europa kennzeichnen. Der demografische Wandel führt dazu, dass immer mehr Menschen immer älter werden und erbrechtlich über mehr Vermögen verfügen können. Die Rede von der „Erbengesellschaft“ ist im kontinentaleuropäischen Raum bereits sprichwörtlich. Zugleich müssen sich die Erbrechtsordnungen vermehrt mit den spezifischen Problemen auseinandersetzen, die das hohe Alter von Erblassern auf die Wirksamkeit ihrer Verfügungen von Todes wegen haben kann.

Für den anglo-amerikanischen Raum wurde allerdings bereits in den 1980er Jahren ein Rückgang bei den Verfügungen von Todes wegen festgestellt. Hier treten nicht selten lebzeitige Rechtsgeschäfte auf den Todesfall (so genannte will substitutes) an die Stelle erbrechtlicher Verfügungen. Erklären dürfte sich dieser Befund zunächst aus einem Umstand, der für Kontinentaleuropa genauso zutreffen dürfte wie für England. Vermögen haben heute Bestandteile, die sich besser lebzeitig transferieren lassen als erbrechtlich. Das gilt namentlich für das Feld des so genannten Humankapitals. Als Besonderheit des englischen law of succession kommt hinzu, dass testamentarisch keine Erbeinsetzung in Bezug auf die Gesamtheit oder eines Teils des Vermögens getroffen werden kann, sondern stets nur Anordnungen in Bezug auf einzelne Vermögenszuwendungen. Sie können genauso gut Gegenstand eines lebzeitigen Rechtsgeschäfts auf den Todesfall wie einer Verfügung von Todes wegen sein. Im kontinentaleuropäischen Rechtskreis kommt es zu dieser Konkurrenz mit den Verfügungen von Todes wegen nicht im gleichen Maße. Denn nur mit erbrechtlichen Rechtsgeschäften lässt sich über das Vermögen als Ganzes oder Teile davon verfügen. Insoweit hat die Verfügung von Todes wegen in Kontinentaleuropa durchaus ein Alleinstellungsmerkmal. Allerdings lässt sich feststellen, dass auch ein kontinentaleuropäischer Erblasser angesichts der vielfältigen lebzeitigen Instrumentarien, die ein modernes estate planning heute bietet, auf den erbrechtlichen Erwerb weniger angewiesen ist als in früheren Zeiten.

Was jedoch generell für eine zunehmende Bedeutung der Testierfreiheit im kontinentaleuropäischen und im anglo-amerikanischen Rechtsraum spricht, ist die Tatsache, dass sich das soziale Lebensumfeld von Erblassern hier wie dort zunehmend komplexer gestaltet. Das zeigt sich deutlich an der Auflösung des traditionellen (Kern‑)Familienbegriffs, der die eheliche Beziehung von Mann und Frau beschreibt, die gemeinschaftliche Kinder haben (Familie). Er hat einem facettenreichen Familienbild Platz gemacht, das die Konzentration auf verschieden geschlechtliche eheliche Paare mit leiblichen Abkömmlingen zugunsten eines weiteren Familienkonzepts des Zusammenlebens mit Kindern aufzugeben im Begriff ist. Nichteheliche Lebensgemeinschaften und rechtlich verfestigte Partnerschaften homosexueller Personen haben sich als gesellschaftlich akzeptierte Lebensformen zur ehelichen hinzu gesellt. Die „Patchwork“-Familie integriert unter Umständen Kinder aus mehreren früheren Beziehungen beider Partner. Der Vielfalt und Komplexität der einzelnen Lebensentwürfe wird die Testierfreiheit mit ihrem persönlichen Gestaltungspotenzial am besten gerecht. Es nimmt nicht Wunder, dass sich ein effektives kautelarjuristisches estate planning, das lebzeitige und erbrechtliche Instrumente individuell kombiniert, den beschriebenen Veränderungen in den Lebensverhältnissen der Erblasser bereits angenommen hat. Verfügungen von Todes wegen sind dabei ein wichtiger Bestandteil. Die Testierfreiheit – nicht die klassische Familienerbfolge – dürfte das zukunftsweisende Prinzip eines einheitlichen europäischen Erbrechts sein.

5. Testierfreiheit als Prinzip eines optionalen Einheitsrechts

Die zentrale Stellung, die der Testierfreiheit auf dem Weg zu einem europäischen Erbrecht zukommt, haben die ersten kollisionsrechtlichen Vereinheitlichungsbestrebungen bereits erkannt (Erbrecht, internationales). Mit dem Prinzip der Testierfreiheit dürfte aber auch eine Säule eines künftigen materiellen optionalen Erbrechts auf europäischer Ebene gefunden sein (Erbrecht). Gegenwärtig wird die Entwicklung einer Verfügung von Todes wegen des europäischen Rechts diskutiert, die Erblasser frei wählen dürfen sollen. Es wird sich dabei wohl nur um eine testamentarische Verfügung handeln können. Denn namentlich die Rechtsordnungen des romanischen Rechtskreises, etwa die Frankreichs, Italiens und Spaniens, aber auch die Belgiens, Englands und der Niederlande stehen dem Erbvertrag als erbrechtlichem Rechtsgeschäft entweder skeptisch gegenüber oder lassen ihn erst gar nicht zu. Und diejenigen Rechtsordnungen, die den Erbvertrag als erbrechtliches Verfügungsinstrument kennen (etwa Dänemark, Deutschland, Österreich), tun sich traditionell schwer mit dessen dogmatischer Konstruktion.

Literatur

Franz Wieacker, Hausgenossenschaft und Erbeinsetzung: Über die Anfänge des römischen Testaments, 1940; Lawrence M. Friedman, The law of the living, the law of the dead: property, succession and society, Wisconsin Law Review 29 (1966) 340 ff.; John Langbein, The nonprobate revolution and the future of the law of succession, Harvard Law Review 97 (1984) 1108 ff.; idem, The twentieth-century revolution in family wealth transmission, Michigan Law Review 86 (1988) 722 ff.; Dieter Henrich, Dieter Schwab (Hg.), Familienerbrecht und Testierfreiheit im europäischen Vergleich: Beiträge zum europäischen Familienrecht, 2001; Nina Dethloff, Familien- und Erbrecht zwischen nationaler Rechtskultur, Vergemeinschaftung und Internationalität: Perspektiven für die Forschung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 992 ff.; Kenneth G.C. Reid, Marius J. de Waal, Reinhard Zimmermann (Hg.), Exploring the Law of Succession, 2007; Inge Kroppenberg, Privatautonomie von Todes wegen: Verfassungs- und zivilrechtliche Grundlagen der Testierfreiheit im Vergleich zur Vertragsfreiheit unter Lebenden, 2008.

Abgerufen von Pandektensystem – HWB-EuP 2009 am 25. April 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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