Fernabsatzverträge und Ordre public: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Dieter Martiny]]''
== 1. Grundlagen ==
== 1. Begriff und Konzept ==
Fernabsatzverträge (''distance selling contracts'','' contrats à distance'','' contratti a distanza'','' contratos a distancia'') sind Verträge, die unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln wie Telefon, Telefax, Email oder Internet abgeschlossen werden ([[Elektronischer Geschäftsverkehr – E‑Commerce|Elektronischer Geschäftsverkehr]]; [[Vertragsschluss]]). Ihre Bedeutung hat in den letzten Jahren angesichts der Fortschritte in der Kommunikationstechnologie und insbesondere der Verbreitung des Internets rasant zugenommen. Da sie aus verschiedenen Gründen besondere Probleme bereiten, unterliegen sie in den meisten Rechtsordnungen und insbesondere in der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]] besonderen Regelungen.
Dem Ausdruck ''ordre public'' (''public policy'') entspricht sprachlich die „öffentliche Ordnung“. Der Begriff wird in vielfältiger Weise verwendet.  


=== a) Ausgangsprobleme ===
Die öffentliche Ordnung findet sich bereits im [[EG-Vertrag]]. Hier erlaubt sie insbesondere eine Einschränkung der [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]]. Nach europäischem Primärrecht ist zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Beschränkung der [[Warenverkehrsfreiheit]] möglich (Art. 30 EG/‌36 AEUV), desgleichen sind Beschränkungen der [[Niederlassungsfreiheit]] (Art. 46 EG/‌52 AEUV) und der [[Dienstleistungsfreiheit]] (Art. 55 EG/‌62 AEUV) zulässig. Insofern kann der nationale Gesetzgeber Schranken setzen. Ob hierfür jeweils die Voraussetzungen gegeben sind, entscheidet gegebenenfalls der [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]]. Der ''ordre public'' spielt auch im Völkerrecht eine Rolle.
Fernabsatzverträge unterscheiden sich von anderen Verträgen dadurch, dass sich die Vertragsparteien wegen der Verwendung von Fernkommunikationsmitteln vor Vertragsschluss nicht persönlich begegnen. Die Partei, die die Ware oder Dienstleistung empfängt, läuft deshalb typischerweise Gefahr, Opfer eines Informationsdefizits zu werden. Da sie den Gegenstand des Vertrags vor [[Vertragsschluss]] nicht in Augenschein nehmen und physisch auf seine Eigenschaften hin überprüfen kann, weiß sie nämlich deutlich weniger über das zu erwerbende Produkt als ihr Vertragspartner. Güter, die sich normalerweise als Suchgüter (''search goods'')'' ''darstellen, deren Qualitäten und Eigenschaften durch Betrachten oder Anfassen vor Vertragsschluss erkennbar sind, wandeln sich folglich bei Fernabsatzverträgen in Erfahrungsgüter (''experience goods''), deren Qualitäten und Eigenschaften erst nach Vertragsschluss, nämlich dann, wenn das Produkt verschickt wurde, erkennbar werden. Bei typisierender Betrachtung liegt deshalb bei Vertragsschlüssen im Fernabsatz eine Situation vor, in der die für den Vertragsschluss relevanten Informationen zwischen den Parteien asymmetrisch verteilt sind. Eine solche Situation wiederum ist problematisch, weil sie zu einer negativen Produktauslese (''adverse selection'') führen kann. Wenn die empfangende Partei die Qualität und die Eigenschaften der im Fernabsatz vertriebenen Produkte vor Vertragsschluss nicht einschätzen kann, wenn sie also hochwertige Produkte nicht von geringwertigen Produkten unterscheiden kann, besteht nämlich die Gefahr, dass Anbieter geringwertiger Produkte die gleichen Preise verlangen wie die Anbieter hochwertiger Produkte. Die empfangende Partei wird in dieser Situation allerdings nicht bereit sein, einen hohen Preis zu zahlen. Da sie damit rechnen muss, für einen hohen Preis lediglich ein Produkt durchschnittlicher Qualität zu erwerben, wird sie sich auf den Vertrag allenfalls dann einlassen, wenn der Preis dem eines durchschnittlichen Produktes entspricht. Da dieser Preis allerdings unter dem Preis für hochwertige Produkte liegt, werden Anbieter hochwertiger Produkte gezwungen ihre Preise zu senken, was sie nur können, wenn sie gleichzeitig die Qualität senken. Tun sie dies nicht, werden sie aus dem Markt gedrängt. In dem einen wie dem anderen Fall setzt demnach eine Spirale nach unten ein, die im schlimmsten Fall zum Zusammenbruch des Fernabsatzmarktes führt. Verstärkt wird diese Entwicklung, wenn neben die asymmetrische Informationsverteilung situationsbedingte Monopole treten. Sie finden sich immer dann, wenn dem Empfänger durch die Verwendung eines Fernkommunikationsmittels die Möglichkeit der umfassenden Bewertung des Angebots und der Einholung von Vergleichsangeboten genommen wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Vertragsangebote per Telefon oder im Rahmen von Fernsehsendungen unterbreitet werden und der Empfänger das Angebot unmittelbar annehmen oder ablehnen muss.  


=== b) Lösungsstrategien ===
Der ''ordre public'' gehört ferner zu den Rechtsinstituten des Allgemeinen Teils des [[internationales Privatrecht|internationalen Privatrechts]] sowie des internationalen Verfahrensrechts und dient zur Abwehr von den eigenen Grundvorstellungen widersprechendem ausländischem Recht, ausländischen Entscheidungen sowie anderen rechtlich relevanten Einflüssen. Nach der klassischen Konzeption des internationalen Privatrechts ist der ''ordre public'' ein geradezu unverzichtbares Bollwerk gegenüber schädlichen ausländischen Normen und Entscheidungen. Er schränkt daher die Bereitschaft zur Anwendung des grundsätzlich als gleichwertig angesehenen fremden Rechts ebenso ein wie die Anerkennung ausländischer Verfahrensakte.
Um die Folgen asymmetrischer Informationsverteilung und situationsbedingter Monopole zu vermeiden, bieten sich verschiedene Lösungsstrategien an, die zum einen dem Bereich staatlicher Regulierung (''public ordering'')'' ''und zum anderen dem Bereich privatautonomer Gestaltung (''private ordering'')'' ''zuzuordnen sind. Die wichtigsten Instrumente des ''public ordering ''finden sich in Europa in der Fernabsatz-RL (RL 7/1997) und der Finanzdienstleistungs-RL (RL 65/2002). Beide sind auf nahezu alle Verträge anzuwenden, die unter ausschließlicher und systematischer Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossen werden. Allerdings sind sie in persönlicher Hinsicht auf Fernabsatzverträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern (b2c) beschränkt ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Nicht erfasst werden Fernabsatzverträge zwischen Unternehmern (b2b) und Fernabsatzverträge zwischen Verbrauchern (c2c), obwohl auch hier Informationsasymmetrien und situationsbedingte Monopole auftreten können. Für die Fernabsatzverträge, die vor diesem Hintergrund in den Anwendungsbereich der beiden Richtlinien fallen, stellen sie verschiedene Instrumente zur Überwindung der mit Fernabsatzverträgen einhergehenden Probleme bereit. Insbesondere verpflichten sie den Unternehmer, dem Verbraucher vor Abschluss des Vertrags bestimmte Informationen über das Produkt zukommen zu lassen ([[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)]]). Darüber hinaus räumen sie dem Verbraucher das Recht ein, den Vertrag innerhalb einer bestimmten Frist – ohne Angabe von Gründen – zu widerrufen ([[Widerrufsrecht|Widerruf von Verträgen]]). Beide Instrumente werden auf der Ebene des ''private ordering ''durch Reputationsmechanismen und Qualitätssignale ergänzt.


== 2. Informationspflicht des Unternehmers ==
Neben dem mit Rechtsnormen befassten materiellrechtlichen ''ordre public'' gibt es begrifflich und rechtstechnisch noch den auf das Verfahren bezogenen verfahrensrechtlichen'' ordre public'' mit jeweils unterschiedlicher Herleitung und verschiedenen Anwendungsbereichen. Schwierigkeiten macht auf allen Gebieten, dass der ''ordre public'' als unbestimmter Rechtsbegriff der Präzisierung bedarf.
Mit der Informationspflicht des Unternehmers versuchen die Fernabsatz-RL und die Finanzdienstleistungs-RL, das bei Fernabsatzverträgen typischerweise anzutreffende Informationsdefizit des Verbrauchers dadurch zu überwinden, dass sie den Unternehmer dazu anhalten, dem Verbraucher wichtige Informationen vor Vertragsschluss zu übermitteln ([[Informationspflichten (Verbrauchervertrag)]]). Im Einzelnen muss der Unternehmer nach Art. 4 der Fernabsatz-RL und Art. 3 der Finanzdienstleistungs-RL vor Vertragsschluss seine Identität und seine Anschrift, die wesentlichen Eigenschaften der Ware oder (Finanz‑)Dienstleistung, ihren Preis einschließlich Steuern, die Lieferkosten und die Einzelheiten hinsichtlich der Zahlung und der Lieferung oder Erfüllung offen legen. Wenn die Information mündlich erfolgt, muss darüber hinaus nach Art. 5 der Fernabsatz-RL und nach Art. 5 der Finanzdienstleistungs-RL eine schriftliche Bestätigung nachfolgen, die insbesondere die Vertragsbedingungen und Einzelheiten zur Ausübung des Widerrufsrechts enthält.


Da die Informationspflicht der Fernabsatz- und der Finanzdienstleistungs-RL den Verbraucher in den Genuss wichtiger Informationen bringt, kann sie die bei Fernabsatzverträgen typischerweise anzutreffenden Informationsasymmetrien zumindest abmildern. Allein dieser Umstand bedeutet allerdings noch nicht, dass sie sich auch als effizientes Instrument im Kampf gegen die Probleme von Fernabsatzverträgen und insbesondere als effizientes Instrument des Verbraucherschutzes darstellt. Da sie den Vertragsschluss verteuert, setzt die Einordnung als effizientes Instrument nämlich voraus, dass der mit ihr einhergehende Nutzen die von ihr verursachten Kosten übersteigt. Und genau dies ist fraglich. Die unternehmerische Informationspflicht wird nämlich auf Seiten des Verbrauchers durch das Widerrufsrecht ergänzt. Der Verbraucher kann folglich während der Widerrufsfrist feststellen, ob das Produkt seinen Erwartungen und seinen Bedürfnissen entspricht. Da er dies im Regelfall nach Erhalt der Ware oder (Finanz‑) Dienstleistung besser kann als anhand von schriftlichen Informationen, die ihm der Unternehmer vor Vertragsschluss zukommen lässt, spricht vieles dafür, dass die dem Unternehmer auferlegte umfassende Informationspflicht den Vertragsschluss nur unnötig zu Lasten des Verbrauchers verteuert. Fraglich erscheint die Effizienz der unternehmerischen Informationspflicht aber auch deswegen, weil unklar ist, ob und inwiefern sie das angestrebte Ziel – die Information des Verbrauchers zur Verbesserung seiner Entscheidungen – überhaupt erreicht. Die Kosten für die Lektüre der übersandten Informationen wird der Verbraucher nämlich nur dann auf sich nehmen, wenn diese den zu erwartenden Nutzen nicht übersteigen. Ist dies nicht der Fall, sind die Kosten der Lektüre also höher als der aus ihr fließende Nutzen, wird der Verbraucher auf die Lektüre lieber verzichten (''rational ignorance''). Aber selbst wenn der Verbraucher die übersandten Informationen zur Kenntnis nimmt, bedeutet dies nicht, dass damit das angestrebte Ziel erreicht wird. Untersuchungen aus dem Bereich der Konsumenten- und Verhaltensforschung zeigen nämlich, dass die Entscheidung von Verbrauchern durch zusätzliche Informationen zumindest dann nicht verbessert wird, wenn die Menge der übermittelten Informationen ein bestimmtes Maß überschreitet. Offensichtlich sind die menschlichen Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten so begrenzt, dass ab einem bestimmten Punkt ein „Mehr“ an Informationen nicht zu einem „Mehr“ an Erkenntnis führt. Im Gegenteil: Ein „Mehr“ an Informationen hat ab einem bestimmten Punkt sogar zur Folge, dass sich die Qualität der Entscheidungen verschlechtert, weil selbst die wichtigen Informationen nicht mehr wahrgenommen werden (''information overload'').  
Der Begriff des ''ordre public'' wird teilweise, insbesondere in Frankreich, auch synonym für nicht dispositives, d.h. zwingendes Recht gebraucht (''ordre public interne''). Nur der ''ordre public international ''betrifft das internationale Privatrecht.


Ob die unternehmerische Informationspflicht der Fernabsatz- und der Finanzdienstleistungs-RL zur Überwindung der oben beschriebenen Informationsasymmetrien beiträgt und ob sie dies in einer effizienten Weise tut, lässt sich vor diesem Hintergrund nur schwer feststellen. Aber selbst wenn beides der Fall ist, besteht kein Zweifel daran, dass sie den Verbraucher beim Abschluss von Fernabsatzverträgen nicht umfassend schützen kann. Die ausführlichsten – schriftlichen oder mündlichen – Informationen können die körperliche Untersuchungen des Vertragsgegenstands und die persönliche Erfahrung im Umgang mit ihm nämlich nicht ersetzen. Und auch situationsbedingte Monopole können durch Informationspflichten, die sich lediglich auf das Produkt des konkreten Unternehmers beziehen, nur bedingt überwunden werden. Es liegt deshalb auf der Hand, dass die unternehmerische Informationspflicht bei Fernabsatzverträgen nur ein Baustein im System des Verbraucherschutzes sein kann.  
== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Bezüglich des kollisions- und verfahrensrechtlichen ''ordre public'' bestehen mehrere miteinander verwobene Problemfelder und nicht widerspruchsfreie Entwicklungstendenzen. Zunächst einmal ist zu bestimmen, wie weit der ''ordre public'' auf einer übergeordneten europäischen Ebene und wie weit er auf der nationalen Ebene angesiedelt ist. Ferner ist der Inhalt zu bestimmen. So wird der ''ordre public'' auf europäischer Ebene zunehmend nicht mehr nur als Schutzinstrument zugunsten mitgliedstaatlicher Werte verstanden. Vielmehr wird der Inhalt des ''ordre public'' zunehmend europäisiert. Grundwerte des primären Gemeinschaftsrechts, aber auch der Europäischen Menschenrechtskonvention ([[Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK]]) werden zur Ausfüllung des ''ordre public'' herangezogen. Nationalen Vorstellungen wird bei der Anwendung des ''ordre public'' zugleich eine Grenze gesetzt.  


== 3. Widerrufsrecht des Verbrauchers ==
Für den europäischen Justizraum strebt vor allem die [[Europäische Kommission]] danach, den nationalen ''ordre public'' gegenüber Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten nicht mehr zuzulassen. Im Interesse eines einheitlichen Justizraums soll eine ungehinderte Anerkennung und Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen gewährleistet werden. Dies setzt letztlich gleiche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren voraus. Dieses Konzept hat inzwischen in mehreren Verordnungen Ausdruck gefunden.
Das zweite – und in der Praxis deutlich wichtigere – Instrument, das die Fernabsatz- und die Finanzdienstleistungs-RL zur Beseitigung der bei Fernabsatzverträgen anzutreffende Probleme zum Einsatz bringen, ist das [[Widerrufsrecht]] des [[Verbraucher und Verbraucherschutz|Verbrauchers]]. Es ergibt sich aus Art. 6 der Fernabsatz-RL sowie aus Art. 6 der Finanzdienstleistungs-RL und gestattet dem Verbraucher, den Vertrag innerhalb einer bestimmten Frist zu widerrufen. Die Frist beträgt bei Waren und Dienstleistungen mindestens 7 und bei Finanzdienstleistungen mindestens 14 Tage. Sie beginnt bei Fernabsatzverträgen über Waren mit dem Erhalt der Waren und im Übrigen mit dem Abschluss des Vertrags. Anders als die Ausübung von Gewährleistungsrechten bedarf die Ausübung des Widerrufsrechts keiner Begründung. Die Auflösung des Vertrags ist deshalb auch dann möglich, wenn die Ware oder (Finanz‑) Dienstleistung den vertraglichen Vereinbarungen genau entspricht.


Wie die Informationspflicht, die dem Unternehmer auferlegt wird, dient das Widerrufsrecht in erster Linie dem Ausgleich des Informationsdefizits, dem sich Verbraucher bei Fernabsatzverträgen grundsätzlich gegenübersehen. Durch die Möglichkeit, die Ware zu untersuchen, anzufassen und auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen, wird der Verbraucher in die Lage versetzt, die Informationen zu sammeln, die er gesammelt hätte, wenn er die Ware beim Händler „um die Ecke“ erworben hätte. Gleichzeitig steuert das Widerrufsrecht den negativen Effekten situationsbedingter Monopole entgegen. Denn während der Widerrufsfrist kann der Verbraucher Angebote anderer Anbieter einholen und überprüfen, ob sich der von ihm abgeschlossene Vertrag tatsächlich als gutes Geschäft darstellt. Das Widerrufsrecht kann deshalb verhindern, dass der Verbraucher an einem Vertrag festgehalten wird, der seinen Präferenzen nicht entspricht und deshalb nicht effizient ist. Dies gilt auch deshalb, weil das Widerrufsrecht das Verhalten des Unternehmers in effizienzfördernder Weise beeinflussen kann. Denn da die Ausübung des Widerrufsrechts wegen der mit ihr verbundenen Rückabwicklung des Vertrags für den Unternehmer teuer und aufwendig ist, wird ein rationaler Unternehmer versuchen, die Anzahl der Widerrufe möglichst gering zu halten. Insbesondere wird er versuchen, keine überhöhten Preise zu verlangen, Produkte falsch oder zumindest verzerrend zu beschreiben und Überraschungsmomente auszunutzen. Unter der Voraussetzung, dass Verbraucher von ihrem Widerrufsrecht tatsächlich Gebrauch machen und nicht wegen zu hoher Transaktionskosten davon Abstand nehmen, kann die bloße Existenz des Widerrufsrechts folglich Anreize zu effizientem Verhalten des Unternehmers setzen.
Soweit die ''ordre public''-Klausel noch verwendet wird, versucht man, ihre Anwendung auf Ausnahmefälle zu beschränken. Ferner wird, soweit möglich, inhaltlich genauer umschrieben, wann ein ''ordre public''-Verstoß in Betracht kommt. Damit versucht man, den Ausnahmecharakter des ''ordre public'' noch deutlicher zu machen.


Das Widerrufsrecht wirkt damit den Problemen, die beim Vertragsschluss mittels Fernkommunikationsmitteln entstehen, entgegen. Ob es die Effizienz von Fernabsatzverträgen sowie das Funktionieren des Fernabsatzmarktes sicherstellt, ist damit allerdings – ebenso wie bei der unternehmerischen Informationspflicht – nicht gesagt. Denn das Widerrufsrecht zieht zumindest zwei Probleme nach sich. Das erste betrifft die Verteuerung des Vertragsschlusses durch zeitliche Verzögerungen und Vergrößerung rechtlicher Unsicherheiten. Das zweite – und in der Praxis vielleicht schwerwiegendere – Problem betrifft das Risiko opportunistischen Verhaltens des Verbrauchers. Wenn der Verbraucher die Ware oder die (Finanz‑)Dienstleistung während der Widerrufsfrist benutzen kann, hat er nämlich einen Anreiz, sich den Wert der Ware oder (Finanz‑)Dienstleistung anzueignen und im Anschluss sein Widerrufsrecht auszuüben. Gleiches gilt, wenn sich der Wert der Ware oder (Finanz‑)Dienstleistungen während der Widerrufsfrist aufgrund äußerer Umstände regelmäßig oder typischerweise verändert. In beiden Fällen führt ein unbegrenztes Widerrufsrecht zu einer Bereicherung des Verbrauchers auf Kosten des Unternehmers, die mit dem eigentlichen Zweck des Widerrufsrechts nichts mehr zu tun hat. Art. 6(3) der Fernabsatz-RL schließt das Widerrufsrecht des Verbrauchers deshalb aus, wenn das Risiko opportunistischen Verhaltens besonders groß ist. Kein Recht zum Widerruf steht dem Verbraucher insbesondere bei Verträgen zur Lieferung von Audio- und Videoaufzeichnungen oder Software, bei Verträgen zur Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten sowie bei Verträgen zur Erbringung von Wett- und Lotterie-Dienstleistungen zu. Ausgeschlossen ist das Widerrufsrecht nach Art. 6(3) der Fernabsatz-RL und nach Art. 6(2) der Finanzdienstleistungs-RL außerdem bei Verträgen zur Lieferung von Waren oder zur Erbringung von (Finanz‑)Dienstleistungen, deren Preis von Schwankungen auf den Finanzmärkten abhängt.  
Der ''ordre public'' wird zunehmend, was in Deutschland ohnehin herrschend ist, lediglich als negativer ''ordre public'' verstanden, d.h. er wird nur als Abwehrinstrument gegenüber dem ausländischen Recht eingesetzt. Dagegen wird die auf die Durchsetzung des eigenen (zwingenden) Rechts zielende positive Wirkung des ''ordre public'' immer weniger gebilligt (positiver ''ordre public''). Insoweit wird freilich die gleiche kollisionsrechtliche Wirkung mit einer Sonderanknüpfung eigenen international zwingenden Rechts bzw. mithilfe von [[Eingriffsnormen]] erreicht.


Die Fernabsatz- und die Finanzdienstleistungs-RL versuchen vor diesem Hintergrund nicht nur, das Informationsdefizit des Verbrauchers durch Einräumung eines Widerrufsrechts auszugleichen. Sie bemühen sich außerdem, die durch das Widerrufsrecht begründete Gefahr opportunistischen Verhaltens des Verbrauchers einzudämmen. Gelingen tut ihnen dies allerdings nicht immer. Ausschlaggebend dafür sind zum einen missglückte Regelungen und zum anderen missglückte Formulierungen. Als Beispiel für eine missglückte Regelung sei die Verpflichtung des Unternehmers zur Übernahme der Rücksendekosten genannt, die durch Art. 6(2)2 der Fernabsatz-RL erlaubt und von einigen nationalen Rechtsordnungen vorgesehen wird. Sie führt dazu, dass Verbraucher keinen Anreiz haben, vor Vertragsschluss die ihnen möglichen und zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um die Eignung der Ware oder (Finanz‑)Dienstleistung zu überprüfen. Da sie durch eine Bestellung im Fernabsatz nicht das geringste Risiko eingehen, werden sie vielmehr dazu ermuntert, Waren „auf gut Glück“ anzufordern und im Zweifelsfall auf Kosten des Unternehmers wieder zurückzuschicken. Als Beispiel für eine missglückte Formulierung sei auf den in Art. 6(3) der Fernabsatz-RL enthaltenen Ausschluss des Widerrufsrechts für Verträge über die Lieferung von Audio- und Videoaufzeichnungen oder von Software verwiesen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift setzt der Ausschluss voraus, dass der Verbraucher die in Rede stehenden Produkte entsiegelt hat. Der Wortlaut legt deshalb nahe, dass das Widerrufsrecht nur bei Produkten ausgeschlossen ist, die ursprünglich versiegelt waren, während es bei Produkten, die ursprünglich nicht versiegelt waren, unberührt bleibt. Und in der Tat ist das die Auslegung, die im Schrifttum vorherrschend ist. Sie hat allerdings zur Folge, dass der Verbraucher einen Vertrag über die Lieferung von Audio- und Videoaufzeichnungen oder von Software auch dann widerrufen kann, wenn der Unternehmer gar keine Möglichkeit hatte, seine Produkte zu versiegeln, weil er sie beispielsweise im Internet zum Herunterladen zur Verfügung stellt. Art. 6(3) der Fernabsatz-RL begründet damit die Gefahr, dass sich der Verbraucher den Wert nicht versiegelter Produkte aneignet und danach von seinem Widerrufsrecht zu Lasten des Unternehmers Gebrauch macht. Eindämmen ließe sich diese Gefahr nur, wenn Art. 6(3) der Fernabsatz-RL dahingehend auslegt würde, dass das Widerrufsrecht nicht nur dann ausgeschlossen ist, wenn ein ursprünglich versiegeltes Produkt vom Verbraucher entsiegelt wurde, sondern auch dann, wenn das Produkt von Anfang an nicht versiegelt war. Die in Art. 6(3) der Fernabsatz-RL genannte Entsiegelung wäre dann bei ursprünglich versiegelten Produkten zusätzliche Voraussetzung für den Ausschluss des Widerrufsrechts, während sie bei ursprünglich nicht versiegelten Produkten keine Rolle spielen würde. Wie oben bereits angedeutet, wird eine derartige Auslegung allerdings überwiegend abgelehnt. Zur Begründung wird angeführt, dass Ausnahmevorschriften wie Art. 6(3) der Fernabsatz-RL eng auszulegen sind. Die missglückte Formulierung der Vorschrift führt damit dazu, dass die Fernabsatz-RL die durch das Widerrufsrecht begründete Gefahr opportunistischen Verhaltens nicht vollständig eindämmen kann.
== 3. ''Ordre public'' im internationalen Privatrecht ==
Der ''ordre public'' spielt immer dann eine Rolle, wenn nach internationalem Privatrecht ausländisches Recht anzuwenden und das Ergebnis der anzuwendenden (ausländischen) Rechtsnorm mit der inländischen Rechtsordnung unvereinbar ist. Die dann erfolgende Abwehr von Auslandsrecht kommt in dem ebenfalls gebräuchlichen Ausdruck „Vorbehaltsklausel“ zum Ausdruck.


== 4. Reputation und Qualitätssignale ==
Die ''ordre public''-Klausel gehört zum festen Bestand der Haager Konventionen. Hier wird für das Eingreifen der ''ordre public''-Klausel ein „offensichtlicher“ Verstoß verlangt, so etwa in Art. 13 Haager Unterhaltsprotokoll von 2007, Art. 22, 30 Haager Unterhaltsdurchsetzungsübereinkommen von 2007, ebenso in Art. 22 Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 unter Bezug auf das Kindeswohl.
Der Umstand, dass in Europa die mit Fernabsatzgeschäften verbundenen Risiken durch die Vorschriften der Fernabsatz-RL und der Finanzdienstleistungs-RL und damit auf der Ebene des ''public ordering'' gelöst werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch auf der Ebene des ''private ordering'' Regelungsmechanismen gibt, die die unerwünschten Folgen von Informationsasymmetrien und situationsbedingten Monopolen verhindern können. Der wichtigste private Mechanismus, der einem Zusammenbruch des Fernabsatzmarktes entgegenwirken kann, ist der Reputationsmechanismus. Er hält den Unternehmer unabhängig von rechtlichen Verpflichtungen durch die Hoffnung auf zukünftige Gewinne – oder durch die Sorge um zukünftige Verluste – zu ordnungsgemäßem Verhalten an und wirkt durch den Zugang zu Informationen über das Verhalten des Unternehmers bei früheren Transaktionen. Der Zugang zu entsprechenden Informationen erfolgt klassischerweise durch den wiederholten Abschluss von Verträgen und damit durch den Aufbau dauerhafter Geschäftsbeziehungen. Als Mittel zur Überwindung von Informationsasymmetrien werden diese sogar von der Fernabsatz-RL anerkannt. Nach Art. 3(2) finden die Vorschriften der Richtlinie über die Informationspflicht des Unternehmers und das Widerrufsrecht des Verbrauchers keine Anwendung auf Verträge über die Lieferung von Lebensmitteln, Getränken oder sonstigen Haushaltsgegenständen des täglichen Bedarfs, die am Wohnsitz, am Aufenthaltsort oder am Arbeitsplatz eines Verbrauchers von Händlern im Rahmen ''häufiger ''und ''regelmäßiger ''Fahrten geliefert werden. Neben dem Aufbau dauerhafter Geschäftsbeziehungen, die dem Verbraucher unmittelbar Informationen über den Unternehmer liefern, kann der Reputationsmechanismus allerdings auch dadurch wirken, dass ihm Informationen über das Verhalten des Unternehmers gegenüber anderen Verbrauchern zugänglich sind. Die mit Abstand wichtigsten Informationsträger finden sich heute im Internet, und zwar bei Reputationsportalen wie http://www.epinions.com oder Informationsplattformen wie http://www.tripadvisor.com (zuletzt abgerufen am 1.7.2009). Zur Verbreitung von Informationen über das Verhalten von Unternehmern tragen außerdem Unternehmen wie Ebay oder Amazon bei, die als virtuelle Marktplätze fungieren und sowohl Käufern als auch Verkäufern die Möglichkeit geben, nach Abschluss einer Transaktion das Verhalten des Vertragspartners für andere sichtbar zu bewerten.  


Abgesehen vom Reputationsmechanismus können Informationsasymmetrien bei Fernabsatzverträgen auch durch das Aussenden glaubwürdiger Qualitätssignale (''signaling'')'' ''überwunden werden. Sie gestatten dem Verbraucher von einem zu beobachtenden Signal auf die nicht zu erkennende Qualität des Produktes zu schließen. Wichtige Signale in diesem Sinne sind vertragliche Garantien (''contractual warranties''). Da das Gewähren einer Garantie für den Unternehmer mit Kosten verbunden ist, kann dieses Signal von Anbietern geringwertiger Produkte nicht ohne weiteres imitiert werden. Da sie damit rechnen müssen, häufig aus der Garantie in Anspruch genommen zu werden, können sie diese nämlich nur zu einem deutlich höheren Preis anbieten als die Anbieter hochwertiger Produkte. Das Anbieten von vertraglichen Garantien signalisiert dem Verbraucher folglich eine bestimmte Qualität, die er ansonsten aufgrund der besonderen Vertragsschlusssituation bei Fernabsatzverträgen nicht erkennen könnte. Der gleiche Effekt kann durch die Verwendung von Gütesiegeln und Mitgliedschaften in anerkannten Branchenverbänden erreicht werden. Auch sie senden Signale über die ansonsten nicht beobachtbare Qualität von Waren sowie (Finanz‑)Dienstleistungen aus und verringern deshalb die bei Fernabsatzverträgen typischerweise gegebene informationelle Schieflage. Privatautonome Regelungsmechanismen ergänzen damit die verschiedenen Instrumente des ''public ordering ''und tragen so zur ordnungsgemäßen Abwicklung von Fernabsatzverträgen sowie zur Funktionsfähigkeit des Fernabsatzmarktes bei.
Die Verordnungen zum europäischen internationalen Schuldrecht Rom I (VO 593/‌2008) und Rom II (VO 864/‌2007) enthalten eine identische ''ordre public''-Klausel. Die Anwendung einer Vorschrift des nach der jeweiligen Verordnung bezeichneten Rechts kann nur dann versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist (Art. 21 Rom I-VO und Art. 26 Rom II-VO). Der Inhalt des europäischen ''ordre public'' lässt sich aber kaum exakt umschreiben. Zu den Bestandteilen werden jedenfalls die Auswirkungen der [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] und auch der [[Europäische Wirtschaftsverfassung|europäischen Wirtschaftsverfassung]] in Bezug auf Wettbewerbsbeschränkungen, ferner jedenfalls grundlegende Aussagen der EMRK zu rechnen sein.
 
Auch die nationalen Kollisionsnormen kennen ''ordre public''-Klauseln im Rahmen der Kollisionsnormen. Inhaltlich geht es um Verstöße gegen inländische Grundwerte. Auch hier spricht man wegen des Einflusses des Gemeinschaftsrechts und der EMRK von einer Europäisierung und einer Vergemeinschaftung des nationalen ''ordre public''.
 
Nach deutschem Kollisionsrecht ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist (so Art. 6 EGBGB). Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Die Bezugnahme auf die Grundrechte hat freilich keine selbständige Bedeutung erlangt. Nach dem Vorbild der Haager Konventionen wird verlangt, dass der Verstoß offensichtlich ist. Eine ''ordre public''-Klausel kennen auch ausländische Kodifikationen, so etwa Art. 16 ital. IPRG. Abgewehrt wird des Öfteren das [[islamisches Recht|islamische Recht]], etwa wegen Verstößen gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. Im Allgemeinen wird eine Inlandsbeziehung bzw. Binnenbeziehung des Sachverhalts verlangt. Sie kann insbesondere durch den Aufenthalt der Betroffenen begründet sein.
 
Es besteht Übereinstimmung, dass es auf das Ergebnis im Einzelfall ankommt. Die Anwendung der ausländischen Rechtsnorm muss zu einem untragbaren Resultat führen. Es kommt nicht darauf an, ob das ausländische Recht auf den gleichen Grundsätzen wie die inländische Gesetzgebung beruht. Nicht das ausländische Recht selbst (abstrakte Normenkontrolle), sondern erst seine Anwendung im Inland muß gegen die inländische Rechtsordnung verstoßen. D.h. auch wenn ein ausländischer Rechtssatz für sich gesehen anstößig ist, muss seine Anwendung noch nicht dazu führen. Der Grad der Inlandsbeziehung, die etwa mit gewöhnlichem Aufenthalt und Staatsangehörigkeit gegeben sein kann, ist für die einzelne Konstellation freilich schwer zu konkretisieren.
 
Einigkeit besteht über den Ausnahmecharakter des ''ordre public''<nowiki>; allerdings ist die Praxis unterschiedlich großzügig. Der ordre public ist von </nowiki>''Franz Kahn'' als „der noch unerkannte und der noch unfertige Teil des internationalen Privatrechts“ bezeichnet worden. Heute versucht man sein Eingreifen freilich wenn möglich, durch differenzierte Anknüpfungen, aber auch Sonderanknüpfungen, die Durchsetzung eigener Eingriffsnormen (international zwingender Normen) und andere Techniken zu vermeiden.
 
Rechtsfolge der Anwendung des ''ordre public'' ist, dass ein Ersatzrecht angewendet werden muss. Hier wird teilweise zunächst einmal eine Anknüpfung nach anderen Gesichtspunkten verlangt, ehe die Anwendung des eigenen Rechts als Ersatzrecht zugelassen wird (Art.&nbsp;16 Abs.&nbsp;2 ital. IPRG).
 
== 4. ''Ordre public'' im internationalen Verfahrensrecht ==
Im internationalen Zivilverfahrensrecht spielt der ''ordre public'' mehrfach eine Rolle. So enthalten die Regeln über die [[Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen]] regelmäßig ein entsprechendes Anerkennungshindernis. Der ''ordre public'' ist aber auch für das internationale Zustellungsrecht ([[Zustellung]]), die internationale Rechtshilfe sowie das internationale Insolvenzrecht ([[Insolvenz, grenzüberschreitende]]) von Bedeutung.
 
Der Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kann etwa der Anerkennung von Zahlungsurteilen entgegenstehen. Eine identische ''ordre public''-Klausel enthalten Art.&nbsp;34 Brüssel&nbsp;I-VO (VO&nbsp;44/‌2001) für Zivil- und Handelssachen sowie Art.&nbsp;22 Brüssel&nbsp;IIa-VO (VO&nbsp;2201/‌2003) für Ehesachen und [[Elterliche Verantwortung|elterliche Verantwortung]]. Die Anerkennung scheitert, wenn sie der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde. Das Gericht des Zweitstaates prüft dies allerdings nicht mehr von Amts wegen nach. Eine gewisse Präzisierung versucht die ''ordre public''-Klausel in Art.&nbsp;26 EuInsVO (VO&nbsp;1346/‌ 2000). Danach kann sich jeder Mitgliedstaat weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit die Anerkennung oder Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist.
 
Auch nach den europäischen Anerkennungsregeln handelt es sich beim ''ordre public'' um eine Schranke, die zum Schutz von Grundwerten des nationalen Rechts eingreift. Der verfahrensrechtliche ''ordre public'' sichert nicht nur die materiell-rechtliche, sondern auch die verfahrensrechtliche Gerechtigkeit ab. Insofern geht es um eine generell oder im Einzelfall im Entscheidungsstaat erfolgte Verfahrensgestaltung, welche mit elementaren Wertvorstellungen des Anerkennungsstaates kollidiert.
 
Der EuGH hat zu Art.&nbsp;27 EuGVÜ formuliert, es sei zwar nicht seine Sache, den Inhalt der öffentlichen Ordnung zu definieren, er habe aber über die Grenzen zu wachen (EuGH Rs. C-38/‌98 – ''Renault'', Slg. 2000, I-2973).
 
Für die Ausfüllung des europäischen ''ordre public'' sind die verfahrensrechtlichen Garantien der EMRK herangezogen worden. Insbesondere das Recht auf einen fairen Prozess (Art.&nbsp;6 EMRK) ist ein Bestandteil der Vorbehaltsklausel. So wurde das Recht auf Verteidigung durch einen Anwalt auch ohne ein persönliches Erscheinen des Beklagten anerkannt. In Deutschland durfte daher die Anerkennung einer französischen Entscheidung, die dies missachtete, verweigert werden (EuGH Rs.&nbsp;C-7/‌98 –'' Krombach'', Slg. 2000, I-1935). Insoweit kann man von einem gemeineuropäischen o''rdre public''-Vorbehalt sprechen, für den auch die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie die sich aus völkerrechtlichen Übereinkommen ergebenden allgemeinen Rechtsgrundsätze zählen.
 
Nationale ''ordre public''-Klauseln bezüglich der Anerkennung ausländischer Entscheidungen betreffen ebenfalls Verstöße gegen Grundwerte und verlangen stets eine ergebnisorientierte Einzelfallprüfung. Hier besteht eine größere Toleranz; der ''ordre public'' hat nur eine „abgeschwächte Wirkung“ (''effet atténué''). Eine ''ordre public''-Klausel findet sich im deutschen Recht in §&nbsp;328 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;4 ZPO, der die Voraussetzungen für die Anerkennung ausländischer Urteile betrifft. Eine ausländische Entscheidung wird dann nicht anerkannt, wenn die Anerkennung des Urteils zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere den Grundrechten unvereinbar ist. Entsprechende Vorbehaltsklauseln enthalten auch ausländische Regelungen (so z.B. Art.&nbsp;64 lit.&nbsp;g ital. IPRG). Auch hier geht es nicht nur um materiellrechtliche Abweichungen. Grobe Verfahrensmängel können ebenfalls einen ''ordre public''-Verstoß begründen. Der ''ordre public'' setzt hier ebenfalls eine Beziehung zum Inland, vermittelt insbesondere durch die Staatsangehörigkeit oder den gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten voraus. Folge des ''ordre public''-Verstoßes ist die Nichtanerkennung der ausländischen Entscheidung.
 
== 5. Verzicht auf den ''ordre public''  ==
Einige neuere europäische Verordnungen folgen allein dem Anerkennungsprinzip. Keine ''ordre public''-Klausel enthalten daher die Verordnungen über den europäischen Vollstreckungstitel von 2004 sowie über das europäische Mahnverfahren von 2006. Hier ist mit dem ausdrücklich angeordneten Wegfall des Exequaturerfordernisses die Überprüfung der ausländischen Entscheidung eingeschränkt worden, es ist eine Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen erfolgt. Eine ''ordre public''-Kontrolle ist daher nicht mehr vorgesehen; dem Schuldner stehen lediglich Rechtsbehelfe im Rahmen der Zwangsvollstreckung zur Verfügung. Eine Abschaffung des Exequaturverfahrens kennt auch die Unterhaltsverordnung für Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, der durch das Haager Protokoll von 2007 gebunden ist (Art. 17(1) VO&nbsp;4/‌2009).
 
Im Übrigen wird eine Abschaffung des ''ordre public'' im europäischen Kontext kontrovers diskutiert. Teilweise wird vor einem zu weit gehenden „Systemwechsel“ gewarnt und die Schranke des ''ordre public'' für unabdingbar gehalten. Die Argumentation der EG-Kommission stützt sich vor allem auf das gegenseitige Vertrauen innerhalb des europäischen Justizraums. Eine vermittelnde Ansicht hält den Verzicht vor allem dort für möglich, wo einheitliche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren ausreichende verfahrensrechtliche Garantien bieten, insbesondere den Beklagtenschutz absichern. Es versteht sich von selbst, dass das Vertrauen in die ordnungsgemäße Rechtspflege in den Mitgliedstaaten vor allem dort eine tragfähige Basis bildet, wo zusätzliche Verfahrensgarantien (insb. Benachrichtigung des Beklagten, Mitwirkung am Verfahren, Berichtigung von Entscheidungen) geschaffen worden sind.


==Literatur==
==Literatur==
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 18:19 Uhr

von Dieter Martiny

1. Begriff und Konzept

Dem Ausdruck ordre public (public policy) entspricht sprachlich die „öffentliche Ordnung“. Der Begriff wird in vielfältiger Weise verwendet.

Die öffentliche Ordnung findet sich bereits im EG-Vertrag. Hier erlaubt sie insbesondere eine Einschränkung der Grundfreiheiten. Nach europäischem Primärrecht ist zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit möglich (Art. 30 EG/‌36 AEUV), desgleichen sind Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Art. 46 EG/‌52 AEUV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 55 EG/‌62 AEUV) zulässig. Insofern kann der nationale Gesetzgeber Schranken setzen. Ob hierfür jeweils die Voraussetzungen gegeben sind, entscheidet gegebenenfalls der EuGH. Der ordre public spielt auch im Völkerrecht eine Rolle.

Der ordre public gehört ferner zu den Rechtsinstituten des Allgemeinen Teils des internationalen Privatrechts sowie des internationalen Verfahrensrechts und dient zur Abwehr von den eigenen Grundvorstellungen widersprechendem ausländischem Recht, ausländischen Entscheidungen sowie anderen rechtlich relevanten Einflüssen. Nach der klassischen Konzeption des internationalen Privatrechts ist der ordre public ein geradezu unverzichtbares Bollwerk gegenüber schädlichen ausländischen Normen und Entscheidungen. Er schränkt daher die Bereitschaft zur Anwendung des grundsätzlich als gleichwertig angesehenen fremden Rechts ebenso ein wie die Anerkennung ausländischer Verfahrensakte.

Neben dem mit Rechtsnormen befassten materiellrechtlichen ordre public gibt es begrifflich und rechtstechnisch noch den auf das Verfahren bezogenen verfahrensrechtlichen ordre public mit jeweils unterschiedlicher Herleitung und verschiedenen Anwendungsbereichen. Schwierigkeiten macht auf allen Gebieten, dass der ordre public als unbestimmter Rechtsbegriff der Präzisierung bedarf.

Der Begriff des ordre public wird teilweise, insbesondere in Frankreich, auch synonym für nicht dispositives, d.h. zwingendes Recht gebraucht (ordre public interne). Nur der ordre public international betrifft das internationale Privatrecht.

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Bezüglich des kollisions- und verfahrensrechtlichen ordre public bestehen mehrere miteinander verwobene Problemfelder und nicht widerspruchsfreie Entwicklungstendenzen. Zunächst einmal ist zu bestimmen, wie weit der ordre public auf einer übergeordneten europäischen Ebene und wie weit er auf der nationalen Ebene angesiedelt ist. Ferner ist der Inhalt zu bestimmen. So wird der ordre public auf europäischer Ebene zunehmend nicht mehr nur als Schutzinstrument zugunsten mitgliedstaatlicher Werte verstanden. Vielmehr wird der Inhalt des ordre public zunehmend europäisiert. Grundwerte des primären Gemeinschaftsrechts, aber auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK) werden zur Ausfüllung des ordre public herangezogen. Nationalen Vorstellungen wird bei der Anwendung des ordre public zugleich eine Grenze gesetzt.

Für den europäischen Justizraum strebt vor allem die Europäische Kommission danach, den nationalen ordre public gegenüber Entscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten nicht mehr zuzulassen. Im Interesse eines einheitlichen Justizraums soll eine ungehinderte Anerkennung und Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen gewährleistet werden. Dies setzt letztlich gleiche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren voraus. Dieses Konzept hat inzwischen in mehreren Verordnungen Ausdruck gefunden.

Soweit die ordre public-Klausel noch verwendet wird, versucht man, ihre Anwendung auf Ausnahmefälle zu beschränken. Ferner wird, soweit möglich, inhaltlich genauer umschrieben, wann ein ordre public-Verstoß in Betracht kommt. Damit versucht man, den Ausnahmecharakter des ordre public noch deutlicher zu machen.

Der ordre public wird zunehmend, was in Deutschland ohnehin herrschend ist, lediglich als negativer ordre public verstanden, d.h. er wird nur als Abwehrinstrument gegenüber dem ausländischen Recht eingesetzt. Dagegen wird die auf die Durchsetzung des eigenen (zwingenden) Rechts zielende positive Wirkung des ordre public immer weniger gebilligt (positiver ordre public). Insoweit wird freilich die gleiche kollisionsrechtliche Wirkung mit einer Sonderanknüpfung eigenen international zwingenden Rechts bzw. mithilfe von Eingriffsnormen erreicht.

3. Ordre public im internationalen Privatrecht

Der ordre public spielt immer dann eine Rolle, wenn nach internationalem Privatrecht ausländisches Recht anzuwenden und das Ergebnis der anzuwendenden (ausländischen) Rechtsnorm mit der inländischen Rechtsordnung unvereinbar ist. Die dann erfolgende Abwehr von Auslandsrecht kommt in dem ebenfalls gebräuchlichen Ausdruck „Vorbehaltsklausel“ zum Ausdruck.

Die ordre public-Klausel gehört zum festen Bestand der Haager Konventionen. Hier wird für das Eingreifen der ordre public-Klausel ein „offensichtlicher“ Verstoß verlangt, so etwa in Art. 13 Haager Unterhaltsprotokoll von 2007, Art. 22, 30 Haager Unterhaltsdurchsetzungsübereinkommen von 2007, ebenso in Art. 22 Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 unter Bezug auf das Kindeswohl.

Die Verordnungen zum europäischen internationalen Schuldrecht Rom I (VO 593/‌2008) und Rom II (VO 864/‌2007) enthalten eine identische ordre public-Klausel. Die Anwendung einer Vorschrift des nach der jeweiligen Verordnung bezeichneten Rechts kann nur dann versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist (Art. 21 Rom I-VO und Art. 26 Rom II-VO). Der Inhalt des europäischen ordre public lässt sich aber kaum exakt umschreiben. Zu den Bestandteilen werden jedenfalls die Auswirkungen der Grundfreiheiten und auch der europäischen Wirtschaftsverfassung in Bezug auf Wettbewerbsbeschränkungen, ferner jedenfalls grundlegende Aussagen der EMRK zu rechnen sein.

Auch die nationalen Kollisionsnormen kennen ordre public-Klauseln im Rahmen der Kollisionsnormen. Inhaltlich geht es um Verstöße gegen inländische Grundwerte. Auch hier spricht man wegen des Einflusses des Gemeinschaftsrechts und der EMRK von einer Europäisierung und einer Vergemeinschaftung des nationalen ordre public.

Nach deutschem Kollisionsrecht ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist (so Art. 6 EGBGB). Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Die Bezugnahme auf die Grundrechte hat freilich keine selbständige Bedeutung erlangt. Nach dem Vorbild der Haager Konventionen wird verlangt, dass der Verstoß offensichtlich ist. Eine ordre public-Klausel kennen auch ausländische Kodifikationen, so etwa Art. 16 ital. IPRG. Abgewehrt wird des Öfteren das islamische Recht, etwa wegen Verstößen gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. Im Allgemeinen wird eine Inlandsbeziehung bzw. Binnenbeziehung des Sachverhalts verlangt. Sie kann insbesondere durch den Aufenthalt der Betroffenen begründet sein.

Es besteht Übereinstimmung, dass es auf das Ergebnis im Einzelfall ankommt. Die Anwendung der ausländischen Rechtsnorm muss zu einem untragbaren Resultat führen. Es kommt nicht darauf an, ob das ausländische Recht auf den gleichen Grundsätzen wie die inländische Gesetzgebung beruht. Nicht das ausländische Recht selbst (abstrakte Normenkontrolle), sondern erst seine Anwendung im Inland muß gegen die inländische Rechtsordnung verstoßen. D.h. auch wenn ein ausländischer Rechtssatz für sich gesehen anstößig ist, muss seine Anwendung noch nicht dazu führen. Der Grad der Inlandsbeziehung, die etwa mit gewöhnlichem Aufenthalt und Staatsangehörigkeit gegeben sein kann, ist für die einzelne Konstellation freilich schwer zu konkretisieren.

Einigkeit besteht über den Ausnahmecharakter des ordre public; allerdings ist die Praxis unterschiedlich großzügig. Der ordre public ist von Franz Kahn als „der noch unerkannte und der noch unfertige Teil des internationalen Privatrechts“ bezeichnet worden. Heute versucht man sein Eingreifen freilich wenn möglich, durch differenzierte Anknüpfungen, aber auch Sonderanknüpfungen, die Durchsetzung eigener Eingriffsnormen (international zwingender Normen) und andere Techniken zu vermeiden.

Rechtsfolge der Anwendung des ordre public ist, dass ein Ersatzrecht angewendet werden muss. Hier wird teilweise zunächst einmal eine Anknüpfung nach anderen Gesichtspunkten verlangt, ehe die Anwendung des eigenen Rechts als Ersatzrecht zugelassen wird (Art. 16 Abs. 2 ital. IPRG).

4. Ordre public im internationalen Verfahrensrecht

Im internationalen Zivilverfahrensrecht spielt der ordre public mehrfach eine Rolle. So enthalten die Regeln über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen regelmäßig ein entsprechendes Anerkennungshindernis. Der ordre public ist aber auch für das internationale Zustellungsrecht (Zustellung), die internationale Rechtshilfe sowie das internationale Insolvenzrecht (Insolvenz, grenzüberschreitende) von Bedeutung.

Der Verstoß gegen die öffentliche Ordnung kann etwa der Anerkennung von Zahlungsurteilen entgegenstehen. Eine identische ordre public-Klausel enthalten Art. 34 Brüssel I-VO (VO 44/‌2001) für Zivil- und Handelssachen sowie Art. 22 Brüssel IIa-VO (VO 2201/‌2003) für Ehesachen und elterliche Verantwortung. Die Anerkennung scheitert, wenn sie der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde. Das Gericht des Zweitstaates prüft dies allerdings nicht mehr von Amts wegen nach. Eine gewisse Präzisierung versucht die ordre public-Klausel in Art. 26 EuInsVO (VO 1346/‌ 2000). Danach kann sich jeder Mitgliedstaat weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit die Anerkennung oder Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist.

Auch nach den europäischen Anerkennungsregeln handelt es sich beim ordre public um eine Schranke, die zum Schutz von Grundwerten des nationalen Rechts eingreift. Der verfahrensrechtliche ordre public sichert nicht nur die materiell-rechtliche, sondern auch die verfahrensrechtliche Gerechtigkeit ab. Insofern geht es um eine generell oder im Einzelfall im Entscheidungsstaat erfolgte Verfahrensgestaltung, welche mit elementaren Wertvorstellungen des Anerkennungsstaates kollidiert.

Der EuGH hat zu Art. 27 EuGVÜ formuliert, es sei zwar nicht seine Sache, den Inhalt der öffentlichen Ordnung zu definieren, er habe aber über die Grenzen zu wachen (EuGH Rs. C-38/‌98 – Renault, Slg. 2000, I-2973).

Für die Ausfüllung des europäischen ordre public sind die verfahrensrechtlichen Garantien der EMRK herangezogen worden. Insbesondere das Recht auf einen fairen Prozess (Art. 6 EMRK) ist ein Bestandteil der Vorbehaltsklausel. So wurde das Recht auf Verteidigung durch einen Anwalt auch ohne ein persönliches Erscheinen des Beklagten anerkannt. In Deutschland durfte daher die Anerkennung einer französischen Entscheidung, die dies missachtete, verweigert werden (EuGH Rs. C-7/‌98 – Krombach, Slg. 2000, I-1935). Insoweit kann man von einem gemeineuropäischen ordre public-Vorbehalt sprechen, für den auch die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie die sich aus völkerrechtlichen Übereinkommen ergebenden allgemeinen Rechtsgrundsätze zählen.

Nationale ordre public-Klauseln bezüglich der Anerkennung ausländischer Entscheidungen betreffen ebenfalls Verstöße gegen Grundwerte und verlangen stets eine ergebnisorientierte Einzelfallprüfung. Hier besteht eine größere Toleranz; der ordre public hat nur eine „abgeschwächte Wirkung“ (effet atténué). Eine ordre public-Klausel findet sich im deutschen Recht in § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, der die Voraussetzungen für die Anerkennung ausländischer Urteile betrifft. Eine ausländische Entscheidung wird dann nicht anerkannt, wenn die Anerkennung des Urteils zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere den Grundrechten unvereinbar ist. Entsprechende Vorbehaltsklauseln enthalten auch ausländische Regelungen (so z.B. Art. 64 lit. g ital. IPRG). Auch hier geht es nicht nur um materiellrechtliche Abweichungen. Grobe Verfahrensmängel können ebenfalls einen ordre public-Verstoß begründen. Der ordre public setzt hier ebenfalls eine Beziehung zum Inland, vermittelt insbesondere durch die Staatsangehörigkeit oder den gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten voraus. Folge des ordre public-Verstoßes ist die Nichtanerkennung der ausländischen Entscheidung.

5. Verzicht auf den ordre public

Einige neuere europäische Verordnungen folgen allein dem Anerkennungsprinzip. Keine ordre public-Klausel enthalten daher die Verordnungen über den europäischen Vollstreckungstitel von 2004 sowie über das europäische Mahnverfahren von 2006. Hier ist mit dem ausdrücklich angeordneten Wegfall des Exequaturerfordernisses die Überprüfung der ausländischen Entscheidung eingeschränkt worden, es ist eine Gleichstellung in- und ausländischer Entscheidungen erfolgt. Eine ordre public-Kontrolle ist daher nicht mehr vorgesehen; dem Schuldner stehen lediglich Rechtsbehelfe im Rahmen der Zwangsvollstreckung zur Verfügung. Eine Abschaffung des Exequaturverfahrens kennt auch die Unterhaltsverordnung für Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, der durch das Haager Protokoll von 2007 gebunden ist (Art. 17(1) VO 4/‌2009).

Im Übrigen wird eine Abschaffung des ordre public im europäischen Kontext kontrovers diskutiert. Teilweise wird vor einem zu weit gehenden „Systemwechsel“ gewarnt und die Schranke des ordre public für unabdingbar gehalten. Die Argumentation der EG-Kommission stützt sich vor allem auf das gegenseitige Vertrauen innerhalb des europäischen Justizraums. Eine vermittelnde Ansicht hält den Verzicht vor allem dort für möglich, wo einheitliche Schutzstandards im erststaatlichen Verfahren ausreichende verfahrensrechtliche Garantien bieten, insbesondere den Beklagtenschutz absichern. Es versteht sich von selbst, dass das Vertrauen in die ordnungsgemäße Rechtspflege in den Mitgliedstaaten vor allem dort eine tragfähige Basis bildet, wo zusätzliche Verfahrensgarantien (insb. Benachrichtigung des Beklagten, Mitwirkung am Verfahren, Berichtigung von Entscheidungen) geschaffen worden sind.

Literatur

Franz Kahn, Die Lehre vom ordre public, Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 39 (1898) 1 ff. = Abhandlungen zum internationalen Privatrecht, 1928, 194 ff.; Paul Lagarde, Public Policy, in: IECL III, Kap. 11, 1994; Jürgen Basedow, Die Verselbständigung des europäischen ordre public, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 291 ff.; Dieter Martiny, Die Zukunft des europäischen ordre public im Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht, in: Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger, 2004, 523 ff.; Ansgar Staudinger, Der ordre public-Einwand im Europäischen Zivilverfahrensrecht, The European Legal Forum 2004, 273 ff.; Philia Georganti, Die Zukunft des ordre public-Vorbehalts im europäischen Zivilprozessrecht, 2006; Ioanna Thoma, Die Europäisierung und die Vergemeinschaftung des nationalen ordre public, 2007; Gerte Reichelt, Zur Kodifikation des Europäischen Kollisionsrechts – am Beispiel des ordre public, in: eadem (Hg.), Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 2007, 5 ff.; Th. M. de Boer, Unwelcome foreign law: Public policy and other means to protect the fundamental values and public interests of the European Community, in: Alberto Malatesta, Stefania Bariatti, Fausto Pocar (Hg.), The external dimension of EC Private International Law in family and succession matters, 2008, 295 ff.; Teun H.D. Struycken, L’ordre public de la Communauté européenne, in: Liber amicorum Hélène Gaudemet-Tallon, 2008, 617 ff.; Bartosz Sujecki, Die Möglichkeiten und Grenzen der Abschaffung des ordre public-Vorbehalts im Europäischen Zivilprozessrecht, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008) 458 ff.

Abgerufen von Fernabsatzverträge – HWB-EuP 2009 am 25. April 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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