Insolvenz der Kapitalgesellschaft: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 16:38 Uhr

von Felix Steffek

1. Grundlagen

a) Gegenstand, Terminologie und wirtschaftliche Zusammenhänge

Bei der Insolvenz der Kapitalgesellschaft geht es im Kern um die Insolvenzgründe haftungsbeschränkter Gesellschaften. Die Insolvenzgründe von Gesellschaften, bei denen keine natürliche Person mit ihrem Privatvermögen unbeschränkt für die Schulden der insolventen Gesellschaft einsteht, sind in Europa im Wesentlichen die Zahlungsunfähigkeit. die Überschuldung und die drohende Zahlungsunfähigkeit. Beide zuerst genannten Tatbestände kannte bereits das klassische römische Recht. Dort fand die Überschuldung als Insolvenztatbestand von Sondervermögen Anwendung, etwa auf das Sondervermögen eines Sklaven bzw. eines Hauskindes (peculium) oder die Erbschaft (hereditas) in Fällen beschränkter Haftung. Die Zahlungsunfähigkeit wies im klassischen römischen Recht allerdings noch gesellschaftlich-soziale Züge auf und war mit einem Ehrverlust (infamia) verbunden.

Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, die fälligen Geldschulden zu begleichen. Ökonomisch geht es um Illiquidität, die sich anhand gegen die Gesellschaft gerichteter Zahlungsansprüche einerseits und dem Zahlungsvermögen der Gesellschaft andererseits bestimmt. Im Zeitablauf lässt sich unterscheiden, ob eine Gesellschaft im Beurteilungszeitpunkt illiquide ist oder erst in der Zukunft illiquide werden wird. Entsprechend unterscheidet man die gegenwärtige von der drohenden Zahlungsunfähigkeit.

Überschuldung ist gegeben, wenn die Passiva die Aktiva einer Kapitalgesellschaft übersteigen. Auf der Passivseite werden grundsätzlich sämtliche Verbindlichkeiten angesetzt, unabhängig davon, ob sie fällig sind oder nicht. Auf der Aktivseite werden diejenigen Vermögensgegenstände eingestellt, welche zur Befriedigung der Gläubiger verwertet werden können.

Der Überschuldungsstatus wird somit eher statisch bestimmt, während die Zahlungsunfähigkeit wegen der Relevanz des Zeitablaufs dynamische Züge trägt. Bedenkt man jedoch, dass die Zahlungsströme der Unternehmung maßgeblich für die Aktiv- und Passivseite des Überschuldungstatus sind, erhellt der mittelbare Zusammenhang der beiden Insolvenzgründe. Freilich können sie unabhängig von einander bestimmt werden und vorliegen. Nicht jede überschuldete Gesellschaft ist zahlungsunfähig und umgekehrt. Wegen der Vermutung, dass eine nicht überschuldete Gesellschaft wegen des Schuldendeckungspotentials der freien Aktiva bei einem effizienten Kreditmarkt Liquidität erhalten wird, spricht vieles dafür, dass im Zeitablauf regelmäßig zuerst Überschuldung und danach Zahlungsunfähigkeit eintreten wird.

b) Zweck und Funktionen

Die Insolvenzgründe als solche haben nur insofern einen Zweck bzw. eine Funktion als sie unterschiedliche finanzwirtschaftliche Umstände betreffend die Liquidität bzw. das Schuldendeckungspotential der Gesellschaft beschreiben. Die Insolvenzgründe der drohenden Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 der deutschen Insolvenzordnung und der drohenden Insolvenz gemäß para. 11 Schedule B1 des englischen Insolvency Act 1986 wurden beispielsweise eingeführt, um eine Vermögens- bzw. Liquiditätslage zu definieren, die wirtschaftlich günstiger als die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit ist, und Kapitalgesellschaften die frühe Einleitung eines Insolvenzverfahrens im eigenen Sanierungsinteresse ermöglicht.

Abgesehen davon ergeben sich Zwecke und Funktionen der Insolvenzgründe erst im Zusammenspiel mit den Normen, die sie in Bezug nehmen. Zweck und Funktion der Insolvenzgründe als zentrale Voraussetzung der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ist die Auslösung einer an den Gläubigerinteressen orientierten Corporate Governance. Dabei legen die Insolvenzgründe als Terminierungsregeln den Zeitpunkt fest, in dem das Ungleichgewicht zwischen Haftung und Verfügungsrechten wirtschaftlich unerträglich wird, weil das unternehmerische Risiko auf die Gläubiger der Kapitalgesellschaft verlagert wird.

Daneben gibt es zahlreiche andere Normtypen, die Insolvenzgründe in Bezug nehmen und andere Zwecke und Funktionen als die Verfahrensauslösung aufweisen. Dazu zählen Haftungsnormen wie die Haftung wegen wrongful trading gemäß sec. 214 Insolvency Act 1986 im englischen Recht, die responsabilité pour insuffisance d'actif gemäß Art. L. 651-2 Code de Commerce im französischen Recht und die Konkursverschleppungshaftung gemäß § 69 Konkursordnung i.V.m. § 1311 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch im österreichischen Recht. Hier geht es präventiv – d.h. ex ante – um die Vermeidung einer gläubigerschädigenden Insolvenzverschleppung durch Haftungsandrohung und kompensatorisch – d.h. ex post – um die rechtliche Erzwingung eines Haftungsbeitrags von denjenigen Geschäftsleitern, die für die eingetretene Insolvenzverschleppung verantwortlich sind. Weitere Beispiele sind die Normen der Insolvenzanfechtung (im polnischen Recht gemäß Art. 127 ff. Prawo Upadłościowe i Naprawcze) und der Disqualifizierung vom Geschäftsleiteramt (im englischen Recht im Company Directors Disqualification Act 1986 geregelt).

2. Tendenzen der Rechtsentwicklung

a) Zahlungsunfähigkeit

Die Zahlungsunfähigkeit ist in Europa ein für Kapitalgesellschaften durchweg anerkannter Insolvenzgrund: cessation des paiements (Belgien: Art. 2 Abs. 1 Loi sur les faillites; Frankreich: Art. L. 631-1 Abs. 1 Code de Commerce), Zahlungsunfähigkeit (Deutschland: § 17 InsO), inability to pay debts as they fall due (England: sec. 123 Abs. 1 lit. e Insolvency Act 1986; auch cash flow insolvency genannt), insolvenza (Italien: Art. 5 Legge Fallimentare), toestand van hebben opgehouden te betalen (Niederlande: Art. 1 Abs. 1 Faillissementswet), Zahlungsunfähigkeit (Österreich: § 66 Konkursordnung), niewypłacalność (Polen: Art. 11 Abs. 1 Prawo Upadłościowe i Naprawcze), insolvens bzw. obestånd (Schweden: Kap. 1 § 2 Abs. 2 Konkurslagen), platobne neschopný (Slowakei: § 3 Abs. 2 Zákon o Konkurze a Reštrukturalizácii), insolvencia (Spanien: Art. 2 Abs. 2 Ley Concursal), platební neschopnost (Tschechien: § 3 Abs. 1 Insolvenční Zákon), fizetésképtelenség (Ungarn: § 27 Abs. 2 törvény a csődeljárásról és).

Im Kern sind die gesetzlichen Definitionen der Zahlungsunfähigkeit in den genannten Ländern der Begriffsbestimmung in § 17 Abs. 1 der deutschen Insolvenzordnung weitgehend ähnlich: Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Die Mehrzahl der Rechtsordnungen belässt es bei einer derart kurzen Definition und überlässt die weitere Ausformung der Rechtsprechung. Da in der Rechtspraxis in der Situation der Stellung eines Antrags auf Insolvenzverfahrenseröffnung die Zahlungsunfähigkeit regelmäßig unproblematisch festzustellen ist, befassen sich die maßgeblichen Gerichtsentscheidungen meist mit Fällen der Organhaftung und der Insolvenzanfechtung.

Eine Abweichung vom Grundsatz einer kurzen, allein auf der Illiquidität aufbauenden Definition der Zahlungsunfähigkeit findet sich in denjenigen Ländern, deren Tatbestände stattdessen auf die Einstellung der Zahlungen abstellen. Das ist in Belgien (cessé ses paiements), Frankreich (cessation des paiements) und den Niederlanden (opgehouden te betalen) der Fall. Dort hat man die Zahlungseinstellung, die in § 17 Abs. 2 S. 2 der deutschen Insolvenzordnung lediglich als widerlegliche Vermutung der Zahlungsunfähigkeit ausgestaltet ist, zur gesetzlichen Hauptdefinition erhoben. Im funktionalen Ergebnis findet allerdings eine Annäherung an eine Illiquiditätsbetrachtung dadurch statt, dass der französische Code de Commerce in Art. L. 631-1 zusätzlich verlangt, dass es dem Schuldner unmöglich ist, mit dem verfügbaren Vermögen die fälligen Verbindlichkeiten zu befriedigen (l'impossibilité de faire face au passif exigible avec son actif disponible), und die belgische Loi sur les faillites in Art. 2 kumulativ die Kreditunwürdigkeit verlangt. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf diejenigen Definitionen der Zahlungsunfähigkeit abgestellt, welche die Illiquidität als zentrales Charakteristikum haben.

Allgemein akzeptiert sind zwei Abschwächungen im Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit. Sie betreffen den Grad und die Dauer der Illiquidität. Beide Abschwächungen bzw. Ausnahmen sollen vermeiden, dass sanierungsgeeignete Unternehmen abgewickelt werden, deren Insolvenz nicht gravierend oder von Dauer ist. Dabei ist zu beachten, dass die Aspekte der Wesentlichkeit und der Dauer der Zahlungsunfähigkeit funktional nicht immer streng getrennt werden können.

In einigen europäischen Rechtsordnungen setzt der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit voraus, dass die Illiquidität nicht nur geringfügige Deckungslücken betrifft. Der deutsche Bundesgerichtshof hat in einem Leiturteil aus dem Jahr 2005 (BGH 24.5.2005, BGHZ 163, 134) entschieden, dass regelmäßig von Zahlungsfähigkeit auszugehen ist, wenn eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners weniger als 10 % seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten beträgt, es sei denn, es ist bereits absehbar, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird. In dieselbe Richtung geht eine Entscheidung des OLG Graz (20.6.2002, 3 R 102/‌02y), wonach geringfügige Deckungslücken keine Zahlungsunfähigkeit begründen, wenn man aus der Geringfügigkeit auf das alsbaldige Überwinden der Liquiditätsnot schließen kann. Gemäß Art. 15 Abs. 9 des italienischen Legge Fallimentare setzt die Insolvenzerklärung voraus, dass die fälligen und nicht bezahlten Schulden mindestens EUR 30.000,- betragen.

Schließlich geht die Tendenz in Europa dahin, die Zahlungsunfähigkeit zu verneinen, wenn nur eine vorübergehende Zahlungsstockung vorliegt. Der deutsche Bundesgerichtshof hat im bereits genannten Urteil (BGHZ 163, 134) im Jahr 2005 entschieden, (nur) eine Zahlungsstockung liege vor, solange der Zeitraum nicht überschritten werde, den eine kreditwürdige Person benötige, um sich die benötigten Mittel zu borgen. Dafür scheinen dem Gericht bis zu drei Wochen erforderlich, aber auch ausreichend. Annähernd dasselbe dürfte für die cash flow insolvency gemäß sec. 123 Abs. 1 lit. e des englischen Insolvency Act 1986 gelten, für die das englische Schrifttum ähnliche Attribute (near future) verwendet wie das deutsche für die Zahlungsunfähigkeit (absehbare Zukunft). Allerdings hat das Urteil Re Cheyne Plc [2008] BCC 182 (CA) hier Unsicherheiten gebracht. Eine nur vorübergehende Zahlungsstockung reicht auch in Italien, Luxemburg, Schweden, Spanien und Tschechien nicht aus, um den Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit zu erfüllen.

b) Überschuldung

Anders als die Zahlungsunfähigkeit hat sich der Insolvenzgrund der Überschuldung nicht in allen europäischen Insolvenzrechten durchgesetzt. Es gibt u.a. folgende Äquivalente zur Überschuldung gemäß § 19 Abs. 2 der deutschen Insolvenzordnung: inability to pay debts if the value of the company's assets is less than the amount of its liabilities (England: sec. 123 Abs. 2 Insolvency Act 1986, auch balance sheet insolvency genannt), maksejõuetu, kui võlgniku vara ei kata tema kohustusi ja selline seisund (Estland: § 1 Abs. 3 Pankrotiseadus), ylivelkaisuus (Finnland: Kap. 2 § 5 Konkurssilaki), Überschuldung (Österreich: § 67 Konkursordnung), predĺženosť (Slowakei: § 3 Abs. 3 Zákon o Konkurze a Reštrukturalizácii), předlužení (Tschechien: § 3 Abs. 3 Insolvenční Zákon) und im polnischen Recht wird Zahlungsunfähigkeit gemäß Art. 11 Abs. 2 Prawo Upadłościowe i Naprawcze angenommen, wenn Überschuldung vorliegt.

In anderen europäischen Staaten fehlt hingegen eine entsprechende Rechtsfigur. Dazu zählen u.a. Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Luxemburg, Niederlande, Schweden, Spanien und Ungarn. Das Fehlen eines Überschuldungstatbestands bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass eine Rechtsordnung bei der Feststellung eines Insolvenzgrundes auf eine Gegenüberstellung von Aktiva und Passiva verzichtet. In Italien und Spanien kann die Überschuldung als Indiz für die Zahlungsunfähigkeit einer Kapitalgesellschaft Berücksichtigung finden. In Luxemburg führt das Kriterium des Verlusts der Kreditwürdigkeit (ébranlement du crédit), welches zusätzlich zur Zahlungsunfähigkeit vorliegen muss, um den Tatbestand des Insolvenzgrundes zu erfüllen, funktional zu einer Annäherung an die Überschuldung.

c) Drohende Zahlungsunfähigkeit

Mehr als zwei Drittel, nämlich 19 der gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten haben ergänzend den Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit eingeführt. Das ist beispielsweise der Fall in Belgien (Art. 9 Abs. 1 Loi relative au concordat judiciaire), Deutschland (§ 18 Abs. 2 Insolvenzordnung), England (para. 11 lit. a Schedule B1 Insolvency Act 1986), Griechenland (Art. 3 § 2 Πτωχευτικός Κώδικας), den Niederlanden (Art. 214 Abs. 1 Faillissementswet), Österreich (§ 1 Abs. 1 Ausgleichsordnung), Portugal (§ 3 Abs. 4 Código da Insolvência e da Recuperação de Empresas) und Spanien (Art. 2 Abs. 3 Ley Concursal).

Inhaltlich zielt die drohende Zahlungsunfähigkeit auf Konstellationen, in denen die Kapitalgesellschaft im Beurteilungszeitpunkt zwar in der Lage ist, ihre Gläubiger zu befriedigen, aber bereits absehbar ist, dass zu einem Zeitpunkt bzw. in einem Zeitraum in der Zukunft fällige Zahlungsverbindlichkeiten nicht befriedigt werden können. Wegen des Zusammenhangs zwischen der zukünftigen Liquidität und dem auf der Aktivseite einer Überschuldungsbilanz anzusetzenden Unternehmenswert besteht ein gewisser funktionaler Gleichlauf zwischen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit. Dieser ergibt sich auch daraus, dass beide Insolvenzgründe durch Aufstellung eines Finanzplans ermittelt werden können, der nach weitgehend identischen Regeln erstellt wird.

Ein Motiv für die Einführung der drohenden Zahlungsunfähigkeit in die Insolvenzgesetze war häufig, dem Schuldner einen Insolvenzgrund für die fakultative Auslösung eines Sanierungsverfahrens an die Hand zu geben. Dementsprechend verpflichtet die drohende Zahlungsunfähigkeit in den meisten Ländern die Organe der Kapitalgesellschaft nicht zur Insolvenzantragsstellung und gibt auch den außenstehenden Gläubigern kein Antragsrecht. Entsprechend geht der Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit in Deutschland, Frankreich, Griechenland, den Niederlanden und Spanien nur mit dem Recht auf Stellung eines Eigenantrags durch die Kapitalgesellschaft einher. Wegen des gewissen Gleichlaufs mit der Überschuldung ist der dadurch gewonnene Sanierungsspielraum allerdings in denjenigen Ländern geringer, die mit der Überschuldung eine zwingende Verfahrensauslösung verbinden.

d) Weitere Insolvenzgründe

Hin und wieder haben einzelne Rechtsordnungen weitere Insolvenzgründe herausgebildet. Gemäß sec. 123 Abs. 1 lit. a und b Insolvency Act 1986 gilt eine Kapitalgesellschaft nach englischem Recht auch im Fall einer nicht erfüllten statutory demand und einer vergeblichen Vollstreckung als insolvent. Eine statutory demand gemäß sec. 123 Abs. 1 lit. a Insolvency Act 1986 ist die schriftliche, am registrierten Sitz der Gesellschaft niedergelegte Aufforderung eines Gläubigers, eine fällige Schuld in Höhe von mindestens GBP 750,- zu zahlen.

Solche Tatbestände verdanken ihre Existenz dem Bedürfnis der Gläubiger nach einfach zu beweisenden, empirisch und gesellschaftsextern feststellbaren Insolvenzgründen. Materiell stehen beide Tatbestände allerdings der Zahlungsunfähigkeit bzw. cash flow insolvency gemäß sec. 123 Abs. 1 lit. e Insolvency Act 1986 nahe, es hätte sogar Sinn gemacht, sie als bloße Beweisregeln der Zahlungsunfähigkeit zu normieren. Denn eine solvente Gesellschaft wird schon im Eigeninteresse dafür sorgen, dass ein Gläubiger nicht unter Berufung auf eine statutory demand oder eine vergebliche Vollstreckung ein wertzerstörendes Insolvenzverfahren eröffnet.

3. Regelungsstrukturen und Einheitsrecht

Ein materielles Einheitsrecht der Insolvenzgründe gibt es in Europa nicht; eine Diskussion, ob ein solches Einheitsrecht wünschenswert ist, ist noch zu führen. Hier kann es nur darum gehen, Eckwerte wesentlicher Regelungsfragen unter Beachtung von Vereinheitlichungsinitiativen zu skizzieren.

Der liquiditätsorientierte Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit erweist sich nicht nur im Rechtsvergleich als Konstante, er wird auch im Rahmen von Vereinheitlichungsprojekten (UNCITRAL, Weltbank, International Working Group on European Insolvency Law) für unverzichtbar gehalten. Diese Einschätzung gründet in der unternehmensexternen Wahrnehmbarkeit der Illiquidität in Form der Nichterfüllung und der Logik, dass ein Unternehmen, dem in der Krise die liquiditätssteigernde Akquise von Eigen- oder Fremdkapital nicht gelingt, kein valides Geschäftsmodell verfolgt und daher aus dem Markt ausscheiden sollte. Sofern aber, wie nicht selten, ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, die Zahlungsunfähigkeit genüge als alleiniger Insolvenzgrund, wird übersehen, dass sich in der Zahlungseinstellung zwar das Kreditrisiko realisiert, eine Gefährdung für die Gläubigergesamtheit aber bereits dann vorliegt, wenn Haftungskonkurrenzen bestehen, d.h. die Summe außenstehender Gläubigeransprüche den Gesamtbetrag nach Marktwerten bewerteter Aktiva übersteigt.

Eine Möglichkeit für den Gesetzgeber, den Zeitpunkt des Eingreifens des gläubiger- und schuldnerschützenden Insolvenzrechtsregimes im Verhältnis zur Zahlungsunfähigkeit vorzuverlegen, ist die Einführung eines weiteren Insolvenzgrundes. UNCITRAL und Weltbank erwägen die ergänzende Statuierung eines Überschuldungstatbestands. Um nicht wertschöpfende Unternehmen vorschnell den Gefahren eines Insolvenzverfahrens auszusetzen, geht die Tendenz eindeutig zu einer Bewertung der Aktiva anhand eines fair value-Ansatzes im Rahmen des Überschuldungstatbestands. Keine Einigkeit herrscht hinsichtlich der Frage, ob eine positive Fortführungsprognose auch dann die Überschuldung ausschließen soll, wenn eine nach fair value-Gesichtspunkten erstellte Überschuldungsbilanz eine Überschuldung ausweist. Dafür hat sich – zeitlich begrenzt – der deutsche Gesetzgeber in Reaktion auf die Finanzmarktkrise entschieden, um zu verhindern, dass Unternehmen mit validen Geschäftsmodellen wegen des beeinträchtigten Kreditmarkts abgewickelt werden müssen (Art. 5 und 6 Finanzmarktstabilisierungsgesetz v. 17.10.2008).

Eine weitere Möglichkeit stellt die Einführung der drohenden oder zukünftigen Zahlungsunfähigkeit als Insolvenzgrund dar (so etwa die International Working Group on European Insolvency Law). Wie bereits dargelegt, ist der Unterschied zwischen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung mehr prinzipieller (Liquiditäts- vs. Bilanzansatz) als funktionaler Art.

Zu klären ist in beiden Fällen, ob sich nur die Kapitalgesellschaft zu Sanierungszwecken auf die früher eingreifenden Insolvenzgründe berufen darf oder auch die Gläubiger, um bei eingetretenen oder drohenden Haftungskonkurrenzen eine gläubigerorientierte Corporate Governance auszulösen. Entscheidet man sich für ein Berufungsrecht der Gläubiger (oder staatlicher Stellen) ist im nächsten Schritt das Problem des unternehmensexternen Nachweises der Überschuldung bzw. der drohenden Zahlungsunfähigkeit zu bewältigen. Weder die Überschuldung noch die drohende Zahlungsunfähigkeit sind unternehmensextern wahrnehmbar und stellen die Gläubiger sowohl bei der Insolvenzantragsstellung als auch in Haftungsprozessen ex post vor erhebliche Nachweisprobleme. Eine Lösungsmöglichkeit ist die Reduzierung der Darlegungs- und Beweisanforderungen unter der Voraussetzung der handelsbilanziellen Überschuldung im Haftungsprozess mit der Folge, dass dann die sachnäheren Geschäftsleiter das Gegenteil, also die Solvenz, darlegen und beweisen müssen (vgl. BGH 5.11.2007, NJW-RR 2008, 495).

Allerdings erschöpft sich die Vorverlegung der Auslösung eines Insolvenzverfahrens und der Geschäftsleiter- und Gesellschafterhaftung im Vergleich zur Zahlungsunfähigkeit nicht in gesetzgeberischer Ordnungsmacht. Vielmehr steht auch den Gläubigern die Möglichkeit offen, durch vertragliche Regeln ein früher greifendes System der Haftung und an Gläubigerinteressen orientierter Corporate Governance zu installieren (caveat creditor). Das englische Recht eröffnet Gläubigern und Gesellschaften beispielsweise die Möglichkeit, privatautonom Insolvenzgründe zu vereinbaren, bei deren Erfüllung Gläubiger die Rechtsmacht haben, ein Insolvenzverfahren auszulösen (paras. 14 ff. Schedule B1 Insolvency Act 1986). Geschäftsleiter- und Gesellschaftersicherheiten, insbesondere in Form persönlicher Bürgschaften, für die Schulden der Kapitalgesellschaft bewirken, dass die persönlich haftenden Personen Gläubigerinteressen berücksichtigen, sobald eine Inanspruchnahme aus der Sicherheit droht.

4. Kollisionsrecht

Nach Art. 4 der europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO [VO 1346/‌2000]; Insolvenz, grenzüberschreitende) ist das Vorliegen der Insolvenzgründe grundsätzlich nach der lex fori concursus zu bestimmen. Gemäß Art. 4(2) bzw. Art. 9(1) der RL 2001/‌17 über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen sind für die Sanierungsmaßnahmen bzw. die Entscheidung über die Eröffnung eines Verfahrens zur Liquidation eines Versicherungsunternehmens, das Liquidationsverfahren und dessen Wirkungen grundsätzlich die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftsmitgliedstaats maßgebend. Gemäß Art. 3(2)1 bzw. Art. 10 (1) der RL 2001/‌24 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten wird das Kreditinstitut im Grundsatz nach den gesetzlichen Vorschriften, Regelungen und Verfahren des Herkunftsmitgliedstaats saniert bzw. liquidiert. In allen Fällen spricht vieles dafür, die Insolvenzgründe in Bezug auf die Kapitalgesellschaft und nicht isoliert in Bezug auf einzelne Niederlassungen anzuwenden.

5. Vereinheitlichungsprojekte

Wichtigere Vereinheitlichungsprojekte materiell- und kollisionsrechtlicher Art mit Relevanz für die Insolvenzgründe sind: UNCITRAL Legislative Guide on Insolvency Law (Überschuldung allenfalls als ergänzender Insolvenzgrund zur Zahlungsunfähigkeit); EuInsVO (gemäß Art. 4 gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen grundsätzlich das Insolvenzrecht – und damit die Insolvenzgründe – des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird); in dieselbe Richtung Art. 11 und 13 UNCITRAL Model Law on Cross-Border Insolvency; RL 2002/‌74 zur Änderung der RL 80/‌987 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (Definition der Zahlungsunfähigkeit gemäß Art. 2(1): wenn die Eröffnung eines Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge hat, und wenn die zuständige Behörde a) die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat oder b) festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen); ähnlich die Konvention Nr. 173 (Employer’s Insolvency) der International Labour Organization (ergänzend wird in Art. 1(2) auf die Statuierung des Insolvenzgrunds der Überschuldung hingewiesen); World Bank, Principles and Guidelines for Effective Insolvency and Creditor Rights Systems (Zahlungsunfähigkeit als vorzugswürdiger Insolvenzgrund, Überschuldung nur ergänzend); International Working Group on European Insolvency Law (Insolvenzgründe gemäß § 1.2: Zahlungsunfähigkeit oder wahrscheinliche zukünftige Zahlungsunfähigkeit).

Literatur

Inge Kroppenberg, Die Insolvenz im klassischen römischen Recht, 2001; W.W. McBryde, Axel Flessner, Sebastian Kortmann (Hg.), International Working Group on European Insolvency Law, Principles of European Insolvency Law, 2003; Karsten Schmidt, Insolvenzgründe und Haftung für Insolvenzverschleppung, in: Marcus Lutter (Hg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, Sonderheft 17, 2006; Bob Wessels, Cross-Border Insolvency Law, 2007; Sebastian Cohnen, Der Konkurs der Kapitalgesellschaft in Spanien, 2007; Philip R. Wood, Principles of International Insolvency, 2. Aufl. 2007; Jochen Drukarczyk, Finanzierung, 10. Aufl. 2008; Hans-Peter Kirchhof, Hans-Jürgen Lwowski, Rolf Stürner (Hg.), Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Bde. 1 (§§ 1–102, InsVV) u. 3 (§§ 270–359, Internationales Insolvenzrecht und Insolvenzsteuerrecht), 2. Aufl. 2007 bzw. 2008; Felix Steffek, Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft, 2010; idem, Insolvenzgründe in Europa, Zeitschrift für Insolvenzrecht 2009, Heft 3.

Abgerufen von Insolvenz der Kapitalgesellschaft – HWB-EuP 2009 am 28. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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