Antizipierte Nichterfüllung und Rechtsvergleichung: Unterschied zwischen den Seiten

Aus HWB-EuP 2009
(Unterschied zwischen Seiten)
hwb>Admin
 
hwb>Admin
 
Zeile 1: Zeile 1:
von ''[[Peter Huber]]''
von ''[[Ralf Michaels]]''
== 1. Gegenstand und Zweck ==
== 1. Begriff und Zweck ==
=== a) Bestimmung des Begriffs ===
Rechtsvergleichung beschäftigt sich, wie der Begriff im Deutschen klarer ausdrückt als in anderen Sprachen (''comparative law'', ''droit comparé'') mit dem Verhältnis von Rechten. Makrovergleichung beschäftigt sich mit ganzen Rechtsordnungen; Mikrovergleichung betrifft spezielle Institute oder auch spezielle Probleme. Rechtsvergleichung geht damit weiter als die oft als „bloße Auslandsrechtskunde“ abgetane Information über ausländisches Recht. Allerdings darf der Unterschied nicht übertrieben werden. Erstens ist gute Kenntnis des ausländischen Rechts unabdingbare Voraussetzung jeder Rechtsvergleichung. Zweitens hat auch die Auslandsrechtskunde notwendig ein vergleichendes Element: Weil der Rechtsvergleicher regelmäßig aus der Perspektive (und auch oft für die Perspektive) einer bestimmten Rechtsordnung auf eine andere schaut, wird das fremde Recht regelmäßig ganz automatisch im Verhältnis zum eigenen Recht verstanden und erklärt.
Die Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung betrifft diejenigen Fälle, in denen sich ''vor'' dem vereinbarten Fälligkeitszeitpunkt abzeichnet, dass eine der Vertragsparteien („Schuldner“, nicht erfüllende Partei) eine [[Vertrag]]sverletzung bzw. Nichterfüllung begehen wird ([[Erfüllung und ihre Surrogate]]). Zu diesem Zeitpunkt greifen die allgemeinen Regeln über die Nichterfüllung noch nicht ein, weil diese grundsätzlich voraussetzen, dass der Zeitpunkt der Fälligkeit bereits verstrichen ist. Die Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung zielt vor diesem Hintergrund darauf ab, der anderen Vertragspartei („Gläubiger“, „benachteiligte Partei“) angemessene Reaktionsmöglichkeiten zu eröffnen.


Im Zentrum der einschlägigen Regelungen stehen hier typischerweise zwei Rechtsbehelfe: zum einen das Recht, den [[Vertrag]] bereits vor Fälligkeit aufzuheben, wenn offensichtlich ist, dass künftig eine schwer wiegende Nichterfüllung eintreten wird; zum anderen das Recht, von der „nicht erfüllenden“ Partei angemessene Sicherheiten für die künftige Leistungserbringung zu verlangen, in der Zwischenzeit die eigene Leistung auszusetzen, um auf die Nichterbringung der Sicherheiten mit einer Vertragsaufhebung reagieren zu können. Darüber hinaus kommen weitere Sanktionen in Betracht. In erster Linie sind hier Schadensersatzansprüche zu nennen; diese werden allerdings meist nicht als eigenständige Rechtsbehelfe der Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung ausgestaltet, sondern – mit gewissen Besonderheiten in der Begründung – aus den allgemeinen Schadensersatzregeln abgeleitet ([[Schadensersatz]]). Darüber hinaus kann sich im Einzelfall auch die Frage stellen, ob der Gläubiger bereits vor Fälligkeit auf Erfüllung klagen darf.
Der eigentliche Vergleich von Rechtsordnungen, also die Erkenntnis, Erklärung und Bewertung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, ist nur einer mehrerer Schwerpunkte heutiger Rechtsvergleichung als Diszpiplin. Ein zweiter Schwerpunkt betrifft den Einfluss zwischen Rechtsordnungen, insbesondere die [[Rezeption]] einzelner Rechtsinstitute oder auch ganzer Rechtsordnungen. Auf Europa bezogen, umfasst das einerseits den Einfluss auf das europäische Privatrecht durch verschiedene Rechtsordnungen (etwa [[römisches Recht]], die Rechte der Mitgliedstaaten, Recht nichteuropäischer Staaten), andererseits die [[Ausstrahlungen des europäischen Privatrechts auf außereuropäische Rechtsordnungen]]. Ein dritter Schwerpunkt der Rechtsvergleichung, der Anfang des 20. Jahrhunderts viel behandelt wurde und heute wieder im Aufschwung ist, liegt im Verständnis der Rechtsvergleichung als allgemeiner Rechtslehre, also als derjenigen Disziplin, die die verschiedenen Rechtsordnungen in ihrer Gesamtheit und ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen versucht, ohne dabei notwendig die bestehenden Unterschiede zu leugnen oder aufzuheben.


=== b) Funktion und Zweck ===
Verschiedene Zwecke werden der Rechtsvergleichung zuerkannt: Sie soll die nationale Gesetzgebung inspirieren, Richtern bei der Auslegung schwieriger Fragen helfen und die Grundlage für die Vereinheitlichung oder Harmonisierung des Rechts legen – oder auch einfach nur der Erkenntnis dienen und das Bewusstsein erweitern, insbesondere in der Juristenausbildung. All dies sind indes Zwecke, die Rechtswissenschaft immer erfüllen soll. So gesehen ist Rechtsvergleichung nur eine spezielle Form allgemeiner Rechtswissenschaft oder, andersherum, vollständige Rechtswissenschaft (und mit Einschränkungen Rechtspraxis) muss eine vergleichende Komponente beinhalten.
Die Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung will den Gläubiger davor bewahren, trotz klarer Anzeichen für eine drohende Nichterfüllung bis zum Fälligkeitszeitpunkt warten zu müssen, um auf die Störung zu reagieren. Zweck des Rechts zur vorweggenommenen Vertragsaufhebung ist es dabei konkret, dem Gläubiger die Dispositionsfreiheit zurückzugeben, wenn offensichtlich ist, dass bei bzw. nach Fälligkeit Umstände eintreten werden, die ihn zum Rücktritt berechtigen würden. Das Recht auf Sicherheitsleistung und seine Konsequenzen will dem Gläubiger in gewissem Umfang das Prognoserisiko abnehmen. Wenn dieser nämlich den Weg der vorweg genommenen Vertragsaufhebung wählt und sich später herausstellt, dass deren Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, etwa weil die drohende Nichterfüllung sich als nicht so schwer wiegend herausgestellt hat wie gedacht, so kann er sich seinerseits wegen unberechtigter Vertragsaufsage schadensersatzpflichtig machen. Dieses Risiko vermeidet er, wenn er zunächst den milderen Weg über die Sicherheitsleistung wählt.


=== c) Rechtsvergleichender Hintergrund ===
== 2. Methode ==
Aus dogmatisch-theoretischer Sicht lautet die zentrale Frage, ob ein Vertragsbruch bereits vorliegen kann, bevor die betreffende Leistung überhaupt fällig ist. Sie wurde pointiert erstmals in der englischen Entscheidung ''Hochster v. De la Tour''<nowiki> [1853] 2 El & Bl 678 (QB) aufgeworfen und vom Gericht bejaht. Die Entscheidung gilt gemeinhin als Leitentscheidung zur Entwicklung der englischen Lehre vom </nowiki>''anticipatory breach'', weil sie bereits früher vorhandene punktuelle Ansätze, die in eine ähnliche Richtung gingen, verallgemeinerte und auf eine einheitliche dogmatische Grundlage stellte. Seither unterscheidet das englische Recht zwei Formen des ''anticipatory breach'': erstens das vom Schuldner herbeigeführte Unvermögen zur Leistung (''self-disablement'') und zweitens die endgültige Erfüllungsverweigerung des Schuldners (''renunciation/repudiation''). Die bedeutendere, weil weitere, Fallgruppe ist diejenige der Erfüllungsverweigerung; denn in einem Verhalten des Schuldners, durch das er sich zur Leistung außerstande setzt, kann auch eine zumindest stillschweigende Erfüllungsverweigerung gesehen werden. Die wichtigste Rechtsfolge eines ''anticipatory breach'' in einer der beiden Formen ist, dass der Gläubiger ohne Weiteres den Vertrag aufheben und das Erfüllungsinteresse im Wege des Schadensersatzes verlangen kann, wenn der drohende bzw. angedrohte Vertragsbruch ihn auch nach Fälligkeit zur Vertragsaufhebung berechtigt hätte. Hingegen gibt das englische Recht dem Gläubiger kein Recht auf Sicherheitsleistung. Allerdings hat er häufig das – auf Vertrauensgrundsätze gestützte – Recht, seine eigenen Vorbereitungshandlungen auszusetzen und ggf. die Vorleistung zu verweigern. Erfüllungsansprüche kann der Gläubiger – in den engen Grenzen, die das ''[[common law]]'' derartigen Ansprüchen generell setzt ([[Erfüllungsanspruch]]) – weiter geltend machen und unter Umständen sogar vor dem Fälligkeitszeitpunkt klageweise durchsetzen.
In jüngster Zeit werden verstärkt die methodischen und theoretischen Grundlagen der Rechtsvergleichung diskutiert, ohne dass sich bislang ein Konsens herausgebildet hätte oder die Diskussion wesentlichen Einfluss auf die praktische Rechtsvergleichung ausübte. Im Wesentlichen lassen sich zwei Methoden unterscheiden, funktionale und kulturelle Rechtsvergleichung.


Das deutsche [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] von 1900 enthielt keine ausdrückliche Regelung des antizipierten Vertragsbruchs, obwohl die Problematik seit Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts diskutiert worden war. Die Rechtsprechung ging bald dazu über, die 1902 von ''Staub'' entwickelte Lehre von der positiven [[Vertrag]]sverletzung zu nutzen, um den antizipierten Vertragsbruch in den Griff zu bekommen. In der Leitentscheidung aus dem Jahre 1904 (RG 23.2.1904, RGZ 57, 105) bewertete das Reichsgericht die Erfüllungsverweigerung als unberechtigtes „Sichlossagen“ vom Vertrag, das den Vertragszweck gefährde, also als positive Vertragsverletzung; die Parallele zu der englischen Entscheidung ''Hochster v. De La Tour'' ist offensichtlich. Während der nächsten 100 Jahre folgte die Rechtsprechung dieser Einordnung und erweiterte die Lehre vom antizipierten Vertragsbruch auf andere Fälle, in denen die Unzuverlässigkeit des Schuldners vor Fälligkeit so schwerwiegend war, dass dem Gläubiger die Fortsetzung des Vertrages nach [[Treu und Glauben]] nicht mehr zugemutet werden konnte. Der Gläubiger konnte in beiden Fallgruppen sofort vom Vertrag zurücktreten und das Erfüllungsinteresse im Wege des Schadensersatzes verlangen. Die Schuldrechtsreform von 2002 verankerte den antizipierten Vertragsbruch im BGB, indem in §&nbsp;323 Abs.&nbsp;4 BGB ein sofortiges Rücktrittsrecht vor Fälligkeit vorgesehen wird, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des Rücktritts eintreten werden. Für den auf Ersatz des Erfüllungsinteresses gerichteten [[Schadensersatz]] statt der Leistung fehlt zwar eine derartige Regel. Doch wird insofern überwiegend ein Analogieschluss zu §&nbsp;323 Abs.&nbsp;4 BGB gezogen, so dass der Gläubiger sofort Schadensersatz statt der Leistung verlangen kann (§§&nbsp;280 Abs.&nbsp;1, 3, 281 BGB), sofern der Schuldner die Störung zu vertreten hat.
Die funktionale Rechtsvergleichung, popularisiert vor allem durch ''Konrad'' ''Zweigert'' und ''Hein'' ''Kötz'', geht davon aus, dass die Funktion des Rechts in der Lösung gesellschaftlicher Probleme liegt und alle Gesellschaften im wesentlichen mit den gleichen Problemen konfrontiert werden. Vergleichbar sind demnach Rechtsinstitute, die die gleiche Funktion erfüllen, selbst wenn sie dogmatisch ganz unterschiedlich ausgestaltet werden; sie sind damit funktionsäquivalent. So kann etwa die ''[[Common law|common law]]-Figur der ''consideration'' mit [[Formerfordernisse]]n des deutschen Rechts verglichen werden, weil beide die gleichen Funktionen erfüllen: Warnung vor überstürztem Vertragsschluss und Bestätigung der Seriosität eines Vertragsversprechens ([[Seriositätsindizien]]). Die Beziehung von Rechtsnormen auf Probleme soll es auch ermöglichen, das bessere Recht zu bestimmen und auf dieser Grundlage gegebenenfalls nationales Recht zu verbessern oder internationales Einheitsrecht zu schaffen.


Ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht vor Fälligkeit ist im BGB nicht ausdrücklich vorgesehen. Im praktischen Ergebnis gesteht man dem Gläubiger auf unterschiedlichen Grundlagen meist ein entsprechendes Leistungsverweigerungsrecht zu. So darf der Vorleistungsverpflichtete in der Regel die Vorleistung verweigern, wenn der andere Vertragsteil die Erfüllung verweigert; umstritten ist, ob sich dies aus Treu und Glauben (§&nbsp;242 BGB) oder aus einer analogen Anwendung der Unsicherheitseinrede nach §&nbsp;321 BGB ergibt. Bei der Zug-um-Zug-Leistung ist anerkannt, dass eine Seite die Vorbereitungshandlungen aussetzen darf, solange eine Erfüllungsverweigerung oder Leistungsgefährdung auf der anderen Seite vorliegt. In den Fällen der Erfüllungsverweigerung ermöglicht es das deutsche Recht dem Gläubiger, bereits vor Eintritt der Fälligkeit auf Erfüllung zu klagen (§&nbsp;259 ZPO), was den Vorteil hat, dass mit Eintritt der Fälligkeit sofort vollstreckt werden kann.
Die hier so genannte kulturelle Rechtsvergleichung dagegen (manchmal auch als ''comparative legal studies'' oder ''comparative legal cultures'' bezeichnet) lehnt die Reduzierung des Rechts auf seine Funktion ab und versteht stattdessen das nationale Recht als Ausdruck und Ausprägung der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft ([[Rechtskultur]]). Der Schwerpunkt liegt hier auf der Mentalität, die sich in einer Rechtsordnung ausdrückt und die letztlich nicht für Beobachter völlig erklärbar, sondern nur durch Teilnehmer erspürbar sein soll. Weil Kulturen als unüberbrückbar unterschiedlich angesehen werden (insbesondere soll das für den Gegensatz zwischen ''civil'' und ''common law'' gelten) und die Eigenständigkeit verschiedener Kulturen schützenswert sei, wendet sich die kulturelle Rechtsvergleichung meist sowohl gegen die vergleichende Bewertung als auch gegen die Vereinheitlichung des Rechts; sie fordert Toleranz gegenüber dem fremden Recht und der Differenz an sich.


Einige andere Rechtsordnungen enthalten – mehr oder weniger ausführliche – Regeln über die Aufhebung wegen antizipierten Vertragsbruchs. Dies gilt etwa für das amerikanische Recht (sec. 2-609 2-611 UCC), die am UN-Kaufrecht (CISG) (s.u. 2.) orientierten Regelungen des finnischen und des schwedischen Kaufgesetzes, für das niederländische oder das dänische Recht oder auch für das griechische Recht. Wenig diskutiert und allenfalls in Ansätzen geregelt ist die Problematik hingegen in vielen der romanisch geprägten Rechtsordnungen.
Die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen sind kleiner, als die teilweise heftige Diskussion es erscheinen lässt. Beide Ansätze wenden sich dagegen, die Analyse auf Rechtsregeln (''black letter law'') zu beschränken, und suchen stattdessen nach der Rolle des Rechts in der Gesellschaft. Beide Ansätze lassen die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen bestehen auch die funktionale Rechtsvergleichung postuliert als Vermutung nicht, wie oft behauptet wird, die Identität zwischen verschiedenen Rechtsordnungen, sondern die Funktionsäquivalenz, also die Gleichheit in der Problemlösung bei Verschiedenheit im Lösungsweg. Diese Verschiedenheit lässt sich durchaus sinnvoll mit Rechtskultur bezeichnen. Diese Einsicht wird neuerdings für den Versuch genutzt, Rechtskultur und Funktionsäquivalenz unter dem Aspekt des rechtlichen Paradigmas zusammenzubringen. Paradigma bezeichnet dabei die Art und Weise, mit der rechtsordnungsspezifisch (kulturell) über rechtliche Probleme nachgedacht wird bzw. diese (funktionsäquivalent) gelöst werden.


Diejenigen Rechtsordnungen, die ausführliche Vorschriften über das Aufhebungsrecht kennen, enthalten meist auch allgemeine Regeln über das Zurückbehaltungsrecht des Gläubigers. Darüber hinaus kennen viele Staaten beschränkte [[Zurückbehaltungsrecht]]e für die Fälle der drohenden Insolvenz des Schuldners.
== 3. Entwicklung ==
Rechtsvergleichung im weiteren Sinne gibt es, seit es Recht gibt. Im engeren Sinne freilich wurde Rechtsvergleichung erst möglich, als man unterschiedliche Rechtsordnungen strikt zu trennen begann, also insbesondere mit dem Aufkommen des staatlichen Rechtsetzungsmonopols. Solange sich die Gesetzgeber in Europa mit Rechtsetzung im Privatrecht zurückhielten, wurden Privatrechtswissenschaft und &#8209;praxis nicht auf explizit vergleichender Grundlage betrieben, sondern innerhalb des gemeinsamen Rahmens von [[Ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']], ''[[Lex Mercatoria|lex mercatoria]]'' oder [[Naturrecht]]. Der häufige Bezug auf ausländische Autoritäten bedeutete hier nicht die Vergleichung verschiedener Rechtsordnungen sondern die Verwendung von Stimmen zum als gemeinsam verstandenen Recht.


== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Erst seit dem 19.&nbsp;Jahrhundert, als das Privatrecht in den kontinentaleuropäischen Staaten kodifiziert und damit nationalisiert wurde ([[Kodifikation]]), entwickelte sich die moderne europäische Rechtsvergleichung. Rechtsvergleichende Zeitschriften entstanden, rechtsvergleichende Gesellschaften wurden gegründet, die bezeichnenderweise national waren, denn der Hauptzweck der Rechtsvergleichung lag lange in der Inspiration für staatliche Gesetzgebung. Gleichzeitig erlebte die Rechtsvergleichung eine doppelte Beschränkung, die bis heute weitgehend anhält. Erstens konzentrierte man sich wesentlich auf Europa. Frühere Kolonien (mit Ausnahme der USA) wurden als nicht genügend eigenständig angesehen und weitgehend vernachlässigt; nicht europäisch geprägte Rechtsordnungen insbesondere in Asien, Afrika und im Pazifik wurden aus der Rechtsvergleichung ausgegliedert und der neu entstehenden Rechtsethnologie zugeschlagen. Zweitens konzentrierte sich die Rechtsvergleichung ganz wesentlich auf das Privatrecht, das als unpolitisch angesehen wurde und daher als einziger Teilbereich des Rechts für eine streng rechtswissenschaftliche Vergleichung geeignet schien. Ein Hauptfokus der Rechtsvergleichung war dabei lange Zeit der Gesetzesvergleich insbesondere zwischen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die in verschiedene Rechtskreise aufgeteilt wurden ([[Rechtskreislehre]]). Der Vergleich zwischen kontinentaleuropäischem ''civil law'' (das den von Frankreich geprägten romanistischen und den von Deutschland beeinflussten germanistischen Rechtskreis umfasste) und englischem ''common law'', das unkodifiziert war und traditionell stärker auf Fallrecht und induktiver Methode beruhte, stellte dagegen vor erhebliche Herausforderungen.
Das Aufkommen der kaufrechtlichen Vereinheitlichungsbestrebungen in der ersten Hälfte des 20.&nbsp;Jahrhunderts begründete eine bis heute sichtbare Tendenz, die Fälle der antizipierten Nichterfüllung ausführlich zu regeln. Auf der Basis der rechtsvergleichenden Grundlagenarbeiten ''Ernst Rabels'' enthielten die Entwürfe von Anfang an detaillierte Regelungen, die mit gewissen Modifikationen in das Haager Einheitliche Kaufrecht und in das UN-Kaufrecht (CISG) ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) übernommen wurden. Dies wiederum veranlasste einige nationale Gesetzgeber zur Einführung entsprechender Vorschriften in ihre Kodifikationen. So sind etwa §§&nbsp;61 und 62 des finnischen und schwedischen Kaufgesetzes den entsprechenden Vorschriften des CISG nachgebildet und regeln sowohl das Zurückbehaltungsrecht bei Gefahr einer Nichterfüllung als auch die Vertragsaufhebung bereits vor Fälligkeit. Auch die oben (siehe 1.c)) skizzierte Neuregelung des deutschen Rechts von 2002 war vom CISG inspiriert. Die modernen Regelwerke der allgemeinen Vertragsrechtsvereinheitlichung enthalten ebenfalls durchgängig detaillierte Vorschriften über die antizipierte Nichterfüllung, so etwa die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]], die [[Principles of European Contract Law|PECL]] oder der Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]].


== 3. Einzelausgestaltung im Einheitsrecht ==
Seit dem ersten rechtsvergleichenden Weltkongress 1900 in Paris (der etwas willkürlich als Geburtsstunde moderner Rechtsvergleichung angesehen wird) hat die wissenschaftliche Rechtsvergleichung Fortschritte gemacht. Die Rechtsvergleichung geht nun über den Text von Rechtsregeln hinaus und vergleicht das ''law in action''<nowiki>; das erleichtert den Vergleich zwischen </nowiki>''civil'' und ''common law''. Zudem zielt man nun stärker auf die Erarbeitung eines gemeinsamen supranationalen Rechts – wenn schon nicht auf weltweiter, so doch auf europäischer Ebene. Im 20.&nbsp;Jahrhundert haben sich verstärkt internationale Arbeitsgruppen gebildet, die diese Vereinheitlichung vorantreiben, sei es auf politischer oder auf rechtswissenschaftlicher Basis. Die doppelte Beschränkung des 19.&nbsp;Jahrhunderts auf Europa und auf als unpolitisch angesehenes Privatrecht wirkt aber fort. Nur so lässt sich erklären, dass es lange umstritten blieb, ob man westliches mit sozialistischem Recht sinnvoll vergleichen könne. Auch blieb das Privatrechtsverständnis der Rechtsvergleichung lange im Ideal des 19.&nbsp;Jahrhunderts verhaftet; die Wandlungen des Privatrechts im 20.&nbsp;Jahrhundert (Konstitutionalisierung, Materialisierung, Privatrecht als regulatives Instrument) werden noch heute häufig entweder ignoriert oder als Verfälschungen eines Privatrechtsideals abgelehnt. Aus diesem Grunde ist die Verbindung zwischen dem apolitischen Privatrecht der klassischen Rechtsvergleichung und dem regulativen Privatrechtsverständnis des Gemeinschaftsrechts bis heute unvollkommen.
=== a) Vertragsaufhebung ===
Primäres Ziel der Vorschriften zur antizipierten Nichterfüllung ist es, der benachteiligten Partei ein vorweggenommenes Recht zur Vertragsaufhebung zu geben. Die meisten Vereinheitlichungsprojekte stellen alternativ zwei Aufhebungsgründe zur Verfügung, denen gemeinsam ist, dass eine wesentliche Vertragsverletzung drohen muss. Der erste Aufhebungsgrund setzt voraus, dass es offensichtlich ist, dass die wesentliche Vertragsverletzung eintreten wird (Art.&nbsp;9:304 PECL; Art.&nbsp;7.3.3 UNIDROIT PICC; Art.&nbsp;III.-3:504 DCFR). Der zweite erfasst diejenigen Fälle, in denen vernünftiger Grund zu der Annahme besteht, dass eine wesentliche Vertragsverletzung eintreten wird. Hier muss der Gläubiger dem Schuldner grundsätzlich zunächst Gelegenheit geben, die Zweifel an der künftigen Erfüllung durch Sicherheitsleistung zur widerlegen. Wird diese nicht innerhalb angemessener Frist gestellt, entsteht das Aufhebungsrecht (Art.&nbsp;8:105 PECL; Art.&nbsp;7.3.4 UNIDROIT PICC; Art.&nbsp;III.-3:505 DCFR). Der Wortlaut des CISG ist insofern strenger, als es immer voraussetzt, dass der Eintritt einer wesentlichen Vertragsverletzung offensichtlich ist, und auch für diese Fälle die Aufforderung zur Sicherheitsleistung vorschaltet (Art.&nbsp;72 CISG); allerdings ist umstritten, ob das Versäumen der Anzeige das Recht zur Vertragsaufhebung ausschließt oder die aufhebende Partei nur schadensersatzpflichtig macht.


Die allen Regelwerken gemeinsame Hürde der wesentlichen Vertragsverletzung entspricht der allgemeinen Tendenz dieser Regelwerke zur Zurückdrängung der Vertragsaufhebung. Das Erfordernis der Offensichtlichkeit macht deutlich, dass die Vertragsaufhebung vor Fälligkeit nur in Ausnahmefällen zulässig sein soll. Man wird wohl verlangen müssen, dass der drohende Eintritt einer wesentlichen Vertragsaufhebung für einen objektiven Betrachter klar auf der Hand liegen muss, ohne dass es freilich einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedarf. Der typische, wenn auch nicht der einzige, Fall, in dem diese Wahrscheinlichkeitsprognose erfüllt sein wird, ist die ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung des Schuldners; diese wird teilweise ausdrücklich im Normtext erwähnt, teilweise nicht. Einigkeit besteht darin, dass es in den Fällen der Erfüllungsverweigerung keiner Aufforderung zur Sicherheitsleistung bedarf (vgl. etwa Art.&nbsp;72(3) CISG, Art.&nbsp;III.-3:504 DCFR).
== 4. Europäische Privatrechtswissenschaft ==
Die europäische Privatrechtswissenschaft ist aus der Rechtsvergleichung entstanden, geht aber mittlerweile über diese hinaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erste Forderungen nach einem europaweiten auf rechtsvergleichender Grundlage zu erstellenden Privatrecht. Etwa seit Anfang der 1990er Jahre sind solche Stimmen intensiver geworden; man erstrebt ein europäisch-einheitliches Privatrecht, das entweder mithilfe der durch funktionale Rechtsvergleichung gefundenen Gemeinsamkeiten oder auf Grundlage des alten oder eines neu zu schaffenden ''ius commune'' zu erreichen ist. Seitdem hat die innereuropäische Rechtsvergleichung in Lehre und Wissenschaft mehr Beachtung erhalten. Rechtsvergleichende Lehrbücher zum europäischen Privatrecht, teilweise in Form von ''casebooks'' mit Primärtexten aus dem jeweiligen Recht, ermöglichen Studenten den Zugang zu anderen Rechts-ordnungen. Größere rechtswissenschaftliche Untersuchungen zu rechtsdogmatischen Fragen enthalten regelmäßig einen rechtsvergleichenden Teil; explizit rechtsvergleichende Projekte sind höher geschätzt als früher. Schließlich ist auch die internationale Zusammenarbeit angestiegen (teilweise durch Fördergelder der EU). Es gibt mehrere neue rechtsvergleichend-/‌europäischrechtliche Zeitschriften. Vor allem arbeiten verschiedene internationale Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Zielen explizit rechtsvergleichend an einem Europäischen Privatrecht.


=== b) Zurückbehaltungsrecht und Sicherheitsleistung ===
Unter den verschiedenen Projekten ist die Rechtsvergleichung am wichtigsten für das ''common core''-Projekt, das aufgrund detaillierter rechtsvergleichender Fallstudien Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen europäischen Rechtsordnungen erarbeitet und weitgehend ohne eigene Wertungen darstellt. Andere Gruppen wie die Lando-Komission (''[[Principles of European Contract Law]]'') und die daraus hervorgegangene ''[[Study Group on a European Civil Code]]'' sowie die ''European Group on Tort Law'' (''[[Principles of European Tort Law]]'') verbinden rechtsvergleichende Bestandsaufnahme mit normativer Suche nach der besten Lösung (''[[Restatements]]''). Für Projekte der Gemeinschaft, die ein stärker regulatives Privatrechtsverständnis haben, gleich ob sie stärker ein liberal-marktbezogenes oder ein ausgleichend-soziales Privatrecht bevorzugen, ist die Vergleichung der regelmäßig weniger regulativen Privatrechte der Mitgliedstaaten oft weniger wichtig als der Zusammenhang zum Gemeinschaftsrecht. Insgesamt ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von mehreren Elementen europäischer Privatrechtswissenschaft; weder als Grundlage noch als Legitimation ist sie allein ausreichend.
Alle einschlägigen Regelwerke geben dem Gläubiger grundsätzlich das Recht, angesichts einer drohenden Vertragsverletzung die eigene Leistung zurückzuhalten und angemessene Sicherheitsleistung zu verlangen. Im Einzelnen ergeben sich Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung.  


Die [[Principles of European Contract Law|PECL]] und die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] geben dem Gläubiger diese Rechte, wenn vernünftiger Grund zu der Annahme besteht, dass eine wesentliche Vertragsverletzung eintreten wird (Art.&nbsp;8:105(1) PECL, Art.&nbsp;7.3.4 UNIDROIT PICC). Der DCFR geht insofern weiter, als er nicht verlangt, dass die drohende Vertragsverletzung wesentlich sein muss (Art.&nbsp;3:401(2) DCFR).
Ähnliches gilt unter Gegnern einer europäisierten Privatrechtswissenschaft. Lange Zeit waren Rechtsvergleicher fast geschlossen für eine europäisierte Privatrechtswissenschaft; Widerstand kam nur von auf nationales Recht beschränkten Wissenschaftlern. Inzwischen gibt es auch Rechtsvergleicher, die ein notwendig national geprägtes Rechtsverständnis als Argument gegen europäisierte Privatrechtswissenschaft anführen, und andere, die eine europäische Diskussion befürworten, nicht aber eine europäische Privatrechtsvereinheitlichung. Die lange Zeit als fast notwendig angesehene Verbindung zwischen Rechtsvergleichung und &#8209;vereinheitlichung wird so gelockert, was neue Freiheiten für beide Seiten erzeugt.


Die Regelung im UN-Kaufrecht (Art.&nbsp;71 CISG) weicht von diesem Regelungsmuster in einigen Punkten ab. Die drohende Vertragsverletzung muss demnach „einen wesentlichen Teil“ der Pflichten des Schuldners betreffen. Dies bedeutet nach h.M. zwar nicht, dass es sich um eine wesentliche Vertragsverletzung handeln muss; andererseits dürfte auch nicht jede Vertragsverletzung genügen. Der in Art.&nbsp;71 CISG verlangte Wahrscheinlichkeitsmaßstab („wenn sich … herausstellt“) dürfte im Großen und Ganzen der in den anderen Regelwerken verwendeten Formel vom „vernünftigen Grund zur Annahme“ entsprechen. Das CISG definiert die Gründe für die drohende Vertragsverletzung, nämlich den schwer wiegenden Mangel der Fähigkeit zur Vertragserfüllung bzw. der Kreditwürdigkeit des Schuldners oder das Verhalten des Schuldners bei der Vorbereitung oder Erfüllung des Vertrages. Eine derartige Einschränkung enthalten die anderen Regelwerke nicht. Doch ist die Aufzählung im CISG so weit gefasst, dass alle praktisch relevanten Fallgruppen grundsätzlich darunter fallen dürften.
Ob und wie Unterschiede durch Vereinheitlichung überwunden werden sollen, lässt sich nur mit Argumenten beurteilen, die der rechtsvergleichenden Analyse selbst nur beschränkt entnommen werden können. Eben deshalb ist die Rechtsvergleichung für die Herausbildung eines Europäischen Privatrechts zwar nötig aber allein unzureichend. Denn das Europäische Privatrecht muss die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen überwinden oder zumindest verarbeiten, und es muss nicht nur die Rolle des Rechts in der Gesellschaft bestimmen, sondern zuallererst Rechtsregeln und eine europäische Rechtsdogmatik erarbeiten.


=== c) Schadensersatz ===
== 5. Europäische Rechtsetzung ==
Schadensersatzansprüche wegen antizipierter Nichterfüllung richten sich nach den allgemeinen Regeln der einzelnen Regelwerke. Die Frage, ob der Gläubiger schon vor Erfüllung auf Leistung klagen kann, ist prozessual zu qualifizieren und unterliegt deshalb der jeweiligen ''lex fori''.
Für Institutionen der [[Europäische Union|Europäischen Union]] ist rechtsvergleichende Arbeit aus mehreren Gründen wesentlich. Schon die Frage, ob die EU überhaupt tätig werden soll und darf, hat regelmäßig eine rechtsvergleichende Komponente. Ob etwa Rechtsunterschiede bestehen, die den [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarkt]] behindern, ob das nationale Recht gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zur Regelung unzureichend ist; all das lässt sich im Grunde ohne rechtsvergleichende Untersuchung mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen nicht bestimmen. Freilich werden die eigentlich vom [[EG-Vertrag]] geforderten empirischen Untersuchungen insoweit nur sehr selten umfassend geleistet; oft sind Binnenmarktrelevanz und Notwendigkeit der Regelung auf europäischer Ebene bloße unsubstantiierte Behauptungen.
 
Beschließt die EU, eine Regelung zu erlassen, so ist sie allerdings stärker auf rechtsvergleichende Vorarbeiten angewiesen als es bei der Rechtsetzung im Einzelstaat der Fall ist. Wenn die EU neue Regelungsbereiche erschließt, fehlt es ihr insoweit oft an einer eigenen Rechtstradition, an die sie anschließen kann; sie muss schon deshalb auf die Erfahrungen der Mitgliedstaaten zurückgreifen oder sich an den Erfahrungen nichteuropäischer Rechtssysteme orientieren. Dem Erlass gemeinschaftsrechtlicher Regelungen gehen häufig umfangreiche rechtsvergleichende Vorarbeiten voraus, die, wenn sie intern erarbeitet werden, bedauerlicherweise nicht veröffentlicht werden. Für größere Projekte werden oft Wissenschaftler außerhalb der EU-Institutionen mit solchen Vorarbeiten betraut.
 
Schließlich ist Rechtsvergleichung auch in der Implementationsphase wesentlich. Weil das Gemeinschaftsrecht das mitgliedstaatliche Recht nicht einfach ersetzt, sondern auf komplexe Weise mit ihm verzahnt ist, setzen die erfolgreiche Implementierung des Gemeinschaftsrechts und deren in Art.&nbsp;211&nbsp;EGV/‌17 AEUV geforderte Überwachung ein gutes Verständnis der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung voraus, und zwar im Vergleich sowohl mit anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als auch mit dem Gemeinschaftsrecht selbst.
 
== 6. Europäische Rechtsprechung ==
Rechtsvergleichung ist wichtig auch beim [[Europäischer Gerichtshof|Europäischen Gerichtshof]], obwohl dieser auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beschränkt ist und zur korrekten Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts nicht Stellung nimmt. Ob etwa die Anwendung mitgliedstaatlicher Regelungen dadurch die [[Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze)|Grundfreiheiten]] verletzen, dass sie Angehörigen anderer Mitgliedstaaten gegenüber den Anforderungen ihres Heimatrechts zusätzliche Belastungen auferlegen, kann oft nur im Vergleich der betroffenen Rechtsordnungen ermittelt werden. Die [[Auslegung des Gemeinschaftsrechts]] erfolgt zwar grundsätzlich autonom. Das schließt aber nur den unmittelbaren Rückgriff auf das Recht eines einzelnen Mitgliedstaats aus, nicht notwendig aber den auf die rechtsvergleichende Bestandsaufnahme der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Unbestreitbar erforderlich ist die „wertende“ Rechtsvergleichung zur Ermittlung [[Allgemeine Rechtsgrundsätze|allgemeiner Rechtsgrundsätze]]. Daneben wird die Rechtsvergleichung auch zur Ausfüllung von Lücken im Gemeinschaftsrecht herangezogen, wo die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen übereinstimmen oder zumindest eine dominante Tendenz erkennen lassen. Das kann problematisch werden, insofern es die Kompetenzordnung des Gemeinschaftsrechts zu untergraben droht. Wo das Gemeinschaftsrecht eigene Ziele gerade im Widerspruch zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verfolgt, ist der Rückgriff wohl ausgeschlossen.
 
Beim EuGH übernimmt hauptsächlich der Generalanwalt die rechtsvergleichende Vorarbeit, wenn auch mit starken Unterschieden in Umfang und Qualität. Der EuGH kann aber auch die Parteien, insbesondere die Kommission, zu rechtsvergleichender Vorarbeit auffordern; er erarbeitet zudem interne, unveröffentlichte, rechtsvergleichende Studien.
 
Keine echte Rechtsvergleichung ist es, wenn mitgliedstaatliche oder europäische Gerichte sich auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten berufen (was sie nicht immer genügend tun), denn dabei handelt es sich um Diskussion innerhalb ein und derselben Rechtsordnung. Anders ist es bei der rechtsvergleichenden Interpretation des innerstaatlichen Rechts; diese kann langfristig zur Konvergenz eines gemeineuropäischen Privatrechts führen.
 
== 7. Ausblick ==
Insgesamt emanzipiert sich die europäische Privatrechtswissenschaft zur Zeit von der Rechtsvergleichung in ähnlicher Weise, wie sich das Europarecht vor längerem vom Völkerrecht und dem nationalen Verfassungsrecht emanzipiert hat. Nun, da ein erheblicher Kenntnisstand in der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung erreicht ist, ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von vielen Momenten des Europäischen Privatrechts. Sollte ein [[Common Frame of Reference|Gemeinsamer Referenzrahmen]] oder gar ein [[Europäisches Zivilgesetzbuch]] Erfolg haben, so können diese Texte nicht nur auf Rechtsvergleichung beruhen, sondern müssen auch aus anderen Gründen überzeugen. Dass damit die Bedeutung der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung relativiert wird, hilft dem Europäischen Privatrecht, sich stärker auch auf seine normativen Ziele und seine Verbindung zur Gemeinschaft und ihrem sonstigen Recht zu konzentrieren. Gleichzeitig hilft es der europäischen Rechtsvergleichung dabei, wieder verstärkt auch andere Fragen als die der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung ins Auge zu fassen. In dem Maße, in dem das Europäische Privatrecht sich von der Rechtsvergleichung emanzipiert, ist auch zu hoffen, dass die Rechtsvergleichung sich wieder stärker anderen Materien als dem Privatrecht zuwendet und dass der Vergleich mit außereuropäischen Rechtsordnungen, der über lange Zeit stark in den Hintergrund getreten ist, umfassender betrieben wird.


==Literatur==
==Literatur==
''Ernst Rabel'', Das Recht des Warenkaufs, Bd.&nbsp;I, 1936, Bd.&nbsp;II, 1958; ''G.H. Treitel'', Remedies for Breach of Contract, 1988, 318&nbsp;ff.; ''Reinhard Zimmermann'', The Law of Obligations, 1996, 800&nbsp;ff.; ''Christian von Bar'', ''Reinhard Zimmermann'', Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, 2002, 439&nbsp;ff, 450&nbsp;ff., 495&nbsp;ff.; ''Reinhard Zimmermann'', The New German Law of Obligations, 2005, 66&nbsp;ff., 107&nbsp;f.; ''Gareth H. Jones'', ''Peter Schlechtriem'', Breach of Contract, in: IECL&nbsp;VII/1, Kap.&nbsp;15, 1999; ''Peter Huber'', Comparative Sales Law, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 937&nbsp;ff.; ''Peter Huber'', ''Alastair Mullis'', The CISG, 2007, 209&nbsp;ff.; ''Heinz Weidt'', Antizipierter Vertragsbruch, 2008.
International Encyclopedia of Comparative Law (IECL), 1967 ff.; ''Konrad Zweigert'', ''Hein Kötz'', Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, 3. Aufl. 1996; ''Mathias Reimann'', The Progress and Failure of Comparative Law in the Second Half of the Twentieth Century, American Journal of Comparative Law 50 (2002) 671 ff.; ''Pierre Legrand'','' Roderick Munday'' (Hg.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, 2003; ''François R. van der Mensbrugghe'' (Hg.), L’utilisation de la méthode comparative en droit européen, 2003; ''Mathias Reimann'','' Reinhard Zimmermann'' (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006; ''Jan M. Smits'' (Hg.), Elgar Encyclopedia of Comparative Law, 2006; ''Ralf Michaels'', Two Paradigms of Jurisdiction, Michigan Journal of International Law 27 (2006) 1003 ff.; ''James Gordley'', Foundations of Private Law: Property, Tort, Contract, Unjust Enrichment, 2007; ''Esin Örücü'', ''David Nelken'' (Hg.), Comparative Law: A Handbook, 2007.


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]

Version vom 13. September 2016, 10:39 Uhr

von Ralf Michaels

1. Begriff und Zweck

Rechtsvergleichung beschäftigt sich, wie der Begriff im Deutschen klarer ausdrückt als in anderen Sprachen (comparative law, droit comparé) mit dem Verhältnis von Rechten. Makrovergleichung beschäftigt sich mit ganzen Rechtsordnungen; Mikrovergleichung betrifft spezielle Institute oder auch spezielle Probleme. Rechtsvergleichung geht damit weiter als die oft als „bloße Auslandsrechtskunde“ abgetane Information über ausländisches Recht. Allerdings darf der Unterschied nicht übertrieben werden. Erstens ist gute Kenntnis des ausländischen Rechts unabdingbare Voraussetzung jeder Rechtsvergleichung. Zweitens hat auch die Auslandsrechtskunde notwendig ein vergleichendes Element: Weil der Rechtsvergleicher regelmäßig aus der Perspektive (und auch oft für die Perspektive) einer bestimmten Rechtsordnung auf eine andere schaut, wird das fremde Recht regelmäßig ganz automatisch im Verhältnis zum eigenen Recht verstanden und erklärt.

Der eigentliche Vergleich von Rechtsordnungen, also die Erkenntnis, Erklärung und Bewertung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, ist nur einer mehrerer Schwerpunkte heutiger Rechtsvergleichung als Diszpiplin. Ein zweiter Schwerpunkt betrifft den Einfluss zwischen Rechtsordnungen, insbesondere die Rezeption einzelner Rechtsinstitute oder auch ganzer Rechtsordnungen. Auf Europa bezogen, umfasst das einerseits den Einfluss auf das europäische Privatrecht durch verschiedene Rechtsordnungen (etwa römisches Recht, die Rechte der Mitgliedstaaten, Recht nichteuropäischer Staaten), andererseits die Ausstrahlungen des europäischen Privatrechts auf außereuropäische Rechtsordnungen. Ein dritter Schwerpunkt der Rechtsvergleichung, der Anfang des 20. Jahrhunderts viel behandelt wurde und heute wieder im Aufschwung ist, liegt im Verständnis der Rechtsvergleichung als allgemeiner Rechtslehre, also als derjenigen Disziplin, die die verschiedenen Rechtsordnungen in ihrer Gesamtheit und ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen versucht, ohne dabei notwendig die bestehenden Unterschiede zu leugnen oder aufzuheben.

Verschiedene Zwecke werden der Rechtsvergleichung zuerkannt: Sie soll die nationale Gesetzgebung inspirieren, Richtern bei der Auslegung schwieriger Fragen helfen und die Grundlage für die Vereinheitlichung oder Harmonisierung des Rechts legen – oder auch einfach nur der Erkenntnis dienen und das Bewusstsein erweitern, insbesondere in der Juristenausbildung. All dies sind indes Zwecke, die Rechtswissenschaft immer erfüllen soll. So gesehen ist Rechtsvergleichung nur eine spezielle Form allgemeiner Rechtswissenschaft oder, andersherum, vollständige Rechtswissenschaft (und mit Einschränkungen Rechtspraxis) muss eine vergleichende Komponente beinhalten.

2. Methode

In jüngster Zeit werden verstärkt die methodischen und theoretischen Grundlagen der Rechtsvergleichung diskutiert, ohne dass sich bislang ein Konsens herausgebildet hätte oder die Diskussion wesentlichen Einfluss auf die praktische Rechtsvergleichung ausübte. Im Wesentlichen lassen sich zwei Methoden unterscheiden, funktionale und kulturelle Rechtsvergleichung.

Die funktionale Rechtsvergleichung, popularisiert vor allem durch Konrad Zweigert und Hein Kötz, geht davon aus, dass die Funktion des Rechts in der Lösung gesellschaftlicher Probleme liegt und alle Gesellschaften im wesentlichen mit den gleichen Problemen konfrontiert werden. Vergleichbar sind demnach Rechtsinstitute, die die gleiche Funktion erfüllen, selbst wenn sie dogmatisch ganz unterschiedlich ausgestaltet werden; sie sind damit funktionsäquivalent. So kann etwa die common law-Figur der consideration mit Formerfordernissen des deutschen Rechts verglichen werden, weil beide die gleichen Funktionen erfüllen: Warnung vor überstürztem Vertragsschluss und Bestätigung der Seriosität eines Vertragsversprechens (Seriositätsindizien). Die Beziehung von Rechtsnormen auf Probleme soll es auch ermöglichen, das bessere Recht zu bestimmen und auf dieser Grundlage gegebenenfalls nationales Recht zu verbessern oder internationales Einheitsrecht zu schaffen.

Die hier so genannte kulturelle Rechtsvergleichung dagegen (manchmal auch als comparative legal studies oder comparative legal cultures bezeichnet) lehnt die Reduzierung des Rechts auf seine Funktion ab und versteht stattdessen das nationale Recht als Ausdruck und Ausprägung der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft (Rechtskultur). Der Schwerpunkt liegt hier auf der Mentalität, die sich in einer Rechtsordnung ausdrückt und die letztlich nicht für Beobachter völlig erklärbar, sondern nur durch Teilnehmer erspürbar sein soll. Weil Kulturen als unüberbrückbar unterschiedlich angesehen werden (insbesondere soll das für den Gegensatz zwischen civil und common law gelten) und die Eigenständigkeit verschiedener Kulturen schützenswert sei, wendet sich die kulturelle Rechtsvergleichung meist sowohl gegen die vergleichende Bewertung als auch gegen die Vereinheitlichung des Rechts; sie fordert Toleranz gegenüber dem fremden Recht und der Differenz an sich.

Die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen sind kleiner, als die teilweise heftige Diskussion es erscheinen lässt. Beide Ansätze wenden sich dagegen, die Analyse auf Rechtsregeln (black letter law) zu beschränken, und suchen stattdessen nach der Rolle des Rechts in der Gesellschaft. Beide Ansätze lassen die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen bestehen – auch die funktionale Rechtsvergleichung postuliert als Vermutung nicht, wie oft behauptet wird, die Identität zwischen verschiedenen Rechtsordnungen, sondern die Funktionsäquivalenz, also die Gleichheit in der Problemlösung bei Verschiedenheit im Lösungsweg. Diese Verschiedenheit lässt sich durchaus sinnvoll mit Rechtskultur bezeichnen. Diese Einsicht wird neuerdings für den Versuch genutzt, Rechtskultur und Funktionsäquivalenz unter dem Aspekt des rechtlichen Paradigmas zusammenzubringen. Paradigma bezeichnet dabei die Art und Weise, mit der rechtsordnungsspezifisch (kulturell) über rechtliche Probleme nachgedacht wird bzw. diese (funktionsäquivalent) gelöst werden.

3. Entwicklung

Rechtsvergleichung im weiteren Sinne gibt es, seit es Recht gibt. Im engeren Sinne freilich wurde Rechtsvergleichung erst möglich, als man unterschiedliche Rechtsordnungen strikt zu trennen begann, also insbesondere mit dem Aufkommen des staatlichen Rechtsetzungsmonopols. Solange sich die Gesetzgeber in Europa mit Rechtsetzung im Privatrecht zurückhielten, wurden Privatrechtswissenschaft und ‑praxis nicht auf explizit vergleichender Grundlage betrieben, sondern innerhalb des gemeinsamen Rahmens von ius commune, lex mercatoria oder Naturrecht. Der häufige Bezug auf ausländische Autoritäten bedeutete hier nicht die Vergleichung verschiedener Rechtsordnungen sondern die Verwendung von Stimmen zum als gemeinsam verstandenen Recht.

Erst seit dem 19. Jahrhundert, als das Privatrecht in den kontinentaleuropäischen Staaten kodifiziert und damit nationalisiert wurde (Kodifikation), entwickelte sich die moderne europäische Rechtsvergleichung. Rechtsvergleichende Zeitschriften entstanden, rechtsvergleichende Gesellschaften wurden gegründet, die bezeichnenderweise national waren, denn der Hauptzweck der Rechtsvergleichung lag lange in der Inspiration für staatliche Gesetzgebung. Gleichzeitig erlebte die Rechtsvergleichung eine doppelte Beschränkung, die bis heute weitgehend anhält. Erstens konzentrierte man sich wesentlich auf Europa. Frühere Kolonien (mit Ausnahme der USA) wurden als nicht genügend eigenständig angesehen und weitgehend vernachlässigt; nicht europäisch geprägte Rechtsordnungen insbesondere in Asien, Afrika und im Pazifik wurden aus der Rechtsvergleichung ausgegliedert und der neu entstehenden Rechtsethnologie zugeschlagen. Zweitens konzentrierte sich die Rechtsvergleichung ganz wesentlich auf das Privatrecht, das als unpolitisch angesehen wurde und daher als einziger Teilbereich des Rechts für eine streng rechtswissenschaftliche Vergleichung geeignet schien. Ein Hauptfokus der Rechtsvergleichung war dabei lange Zeit der Gesetzesvergleich insbesondere zwischen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die in verschiedene Rechtskreise aufgeteilt wurden (Rechtskreislehre). Der Vergleich zwischen kontinentaleuropäischem civil law (das den von Frankreich geprägten romanistischen und den von Deutschland beeinflussten germanistischen Rechtskreis umfasste) und englischem common law, das unkodifiziert war und traditionell stärker auf Fallrecht und induktiver Methode beruhte, stellte dagegen vor erhebliche Herausforderungen.

Seit dem ersten rechtsvergleichenden Weltkongress 1900 in Paris (der etwas willkürlich als Geburtsstunde moderner Rechtsvergleichung angesehen wird) hat die wissenschaftliche Rechtsvergleichung Fortschritte gemacht. Die Rechtsvergleichung geht nun über den Text von Rechtsregeln hinaus und vergleicht das law in action; das erleichtert den Vergleich zwischen civil und common law. Zudem zielt man nun stärker auf die Erarbeitung eines gemeinsamen supranationalen Rechts – wenn schon nicht auf weltweiter, so doch auf europäischer Ebene. Im 20. Jahrhundert haben sich verstärkt internationale Arbeitsgruppen gebildet, die diese Vereinheitlichung vorantreiben, sei es auf politischer oder auf rechtswissenschaftlicher Basis. Die doppelte Beschränkung des 19. Jahrhunderts auf Europa und auf als unpolitisch angesehenes Privatrecht wirkt aber fort. Nur so lässt sich erklären, dass es lange umstritten blieb, ob man westliches mit sozialistischem Recht sinnvoll vergleichen könne. Auch blieb das Privatrechtsverständnis der Rechtsvergleichung lange im Ideal des 19. Jahrhunderts verhaftet; die Wandlungen des Privatrechts im 20. Jahrhundert (Konstitutionalisierung, Materialisierung, Privatrecht als regulatives Instrument) werden noch heute häufig entweder ignoriert oder als Verfälschungen eines Privatrechtsideals abgelehnt. Aus diesem Grunde ist die Verbindung zwischen dem apolitischen Privatrecht der klassischen Rechtsvergleichung und dem regulativen Privatrechtsverständnis des Gemeinschaftsrechts bis heute unvollkommen.

4. Europäische Privatrechtswissenschaft

Die europäische Privatrechtswissenschaft ist aus der Rechtsvergleichung entstanden, geht aber mittlerweile über diese hinaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erste Forderungen nach einem europaweiten auf rechtsvergleichender Grundlage zu erstellenden Privatrecht. Etwa seit Anfang der 1990er Jahre sind solche Stimmen intensiver geworden; man erstrebt ein europäisch-einheitliches Privatrecht, das entweder mithilfe der durch funktionale Rechtsvergleichung gefundenen Gemeinsamkeiten oder auf Grundlage des alten oder eines neu zu schaffenden ius commune zu erreichen ist. Seitdem hat die innereuropäische Rechtsvergleichung in Lehre und Wissenschaft mehr Beachtung erhalten. Rechtsvergleichende Lehrbücher zum europäischen Privatrecht, teilweise in Form von casebooks mit Primärtexten aus dem jeweiligen Recht, ermöglichen Studenten den Zugang zu anderen Rechts-ordnungen. Größere rechtswissenschaftliche Untersuchungen zu rechtsdogmatischen Fragen enthalten regelmäßig einen rechtsvergleichenden Teil; explizit rechtsvergleichende Projekte sind höher geschätzt als früher. Schließlich ist auch die internationale Zusammenarbeit angestiegen (teilweise durch Fördergelder der EU). Es gibt mehrere neue rechtsvergleichend-/‌europäischrechtliche Zeitschriften. Vor allem arbeiten verschiedene internationale Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Zielen explizit rechtsvergleichend an einem Europäischen Privatrecht.

Unter den verschiedenen Projekten ist die Rechtsvergleichung am wichtigsten für das common core-Projekt, das aufgrund detaillierter rechtsvergleichender Fallstudien Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen europäischen Rechtsordnungen erarbeitet und weitgehend ohne eigene Wertungen darstellt. Andere Gruppen wie die Lando-Komission (Principles of European Contract Law) und die daraus hervorgegangene Study Group on a European Civil Code sowie die European Group on Tort Law (Principles of European Tort Law) verbinden rechtsvergleichende Bestandsaufnahme mit normativer Suche nach der besten Lösung (Restatements). Für Projekte der Gemeinschaft, die ein stärker regulatives Privatrechtsverständnis haben, gleich ob sie stärker ein liberal-marktbezogenes oder ein ausgleichend-soziales Privatrecht bevorzugen, ist die Vergleichung der regelmäßig weniger regulativen Privatrechte der Mitgliedstaaten oft weniger wichtig als der Zusammenhang zum Gemeinschaftsrecht. Insgesamt ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von mehreren Elementen europäischer Privatrechtswissenschaft; weder als Grundlage noch als Legitimation ist sie allein ausreichend.

Ähnliches gilt unter Gegnern einer europäisierten Privatrechtswissenschaft. Lange Zeit waren Rechtsvergleicher fast geschlossen für eine europäisierte Privatrechtswissenschaft; Widerstand kam nur von auf nationales Recht beschränkten Wissenschaftlern. Inzwischen gibt es auch Rechtsvergleicher, die ein notwendig national geprägtes Rechtsverständnis als Argument gegen europäisierte Privatrechtswissenschaft anführen, und andere, die eine europäische Diskussion befürworten, nicht aber eine europäische Privatrechtsvereinheitlichung. Die lange Zeit als fast notwendig angesehene Verbindung zwischen Rechtsvergleichung und ‑vereinheitlichung wird so gelockert, was neue Freiheiten für beide Seiten erzeugt.

Ob und wie Unterschiede durch Vereinheitlichung überwunden werden sollen, lässt sich nur mit Argumenten beurteilen, die der rechtsvergleichenden Analyse selbst nur beschränkt entnommen werden können. Eben deshalb ist die Rechtsvergleichung für die Herausbildung eines Europäischen Privatrechts zwar nötig aber allein unzureichend. Denn das Europäische Privatrecht muss die Unterschiede zwischen Rechtsordnungen überwinden oder zumindest verarbeiten, und es muss nicht nur die Rolle des Rechts in der Gesellschaft bestimmen, sondern zuallererst Rechtsregeln und eine europäische Rechtsdogmatik erarbeiten.

5. Europäische Rechtsetzung

Für Institutionen der Europäischen Union ist rechtsvergleichende Arbeit aus mehreren Gründen wesentlich. Schon die Frage, ob die EU überhaupt tätig werden soll und darf, hat regelmäßig eine rechtsvergleichende Komponente. Ob etwa Rechtsunterschiede bestehen, die den europäischen Binnenmarkt behindern, ob das nationale Recht gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zur Regelung unzureichend ist; all das lässt sich im Grunde ohne rechtsvergleichende Untersuchung mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen nicht bestimmen. Freilich werden die eigentlich vom EG-Vertrag geforderten empirischen Untersuchungen insoweit nur sehr selten umfassend geleistet; oft sind Binnenmarktrelevanz und Notwendigkeit der Regelung auf europäischer Ebene bloße unsubstantiierte Behauptungen.

Beschließt die EU, eine Regelung zu erlassen, so ist sie allerdings stärker auf rechtsvergleichende Vorarbeiten angewiesen als es bei der Rechtsetzung im Einzelstaat der Fall ist. Wenn die EU neue Regelungsbereiche erschließt, fehlt es ihr insoweit oft an einer eigenen Rechtstradition, an die sie anschließen kann; sie muss schon deshalb auf die Erfahrungen der Mitgliedstaaten zurückgreifen oder sich an den Erfahrungen nichteuropäischer Rechtssysteme orientieren. Dem Erlass gemeinschaftsrechtlicher Regelungen gehen häufig umfangreiche rechtsvergleichende Vorarbeiten voraus, die, wenn sie intern erarbeitet werden, bedauerlicherweise nicht veröffentlicht werden. Für größere Projekte werden oft Wissenschaftler außerhalb der EU-Institutionen mit solchen Vorarbeiten betraut.

Schließlich ist Rechtsvergleichung auch in der Implementationsphase wesentlich. Weil das Gemeinschaftsrecht das mitgliedstaatliche Recht nicht einfach ersetzt, sondern auf komplexe Weise mit ihm verzahnt ist, setzen die erfolgreiche Implementierung des Gemeinschaftsrechts und deren in Art. 211 EGV/‌17 AEUV geforderte Überwachung ein gutes Verständnis der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung voraus, und zwar im Vergleich sowohl mit anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als auch mit dem Gemeinschaftsrecht selbst.

6. Europäische Rechtsprechung

Rechtsvergleichung ist wichtig auch beim Europäischen Gerichtshof, obwohl dieser auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beschränkt ist und zur korrekten Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts nicht Stellung nimmt. Ob etwa die Anwendung mitgliedstaatlicher Regelungen dadurch die Grundfreiheiten verletzen, dass sie Angehörigen anderer Mitgliedstaaten gegenüber den Anforderungen ihres Heimatrechts zusätzliche Belastungen auferlegen, kann oft nur im Vergleich der betroffenen Rechtsordnungen ermittelt werden. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts erfolgt zwar grundsätzlich autonom. Das schließt aber nur den unmittelbaren Rückgriff auf das Recht eines einzelnen Mitgliedstaats aus, nicht notwendig aber den auf die rechtsvergleichende Bestandsaufnahme der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Unbestreitbar erforderlich ist die „wertende“ Rechtsvergleichung zur Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze. Daneben wird die Rechtsvergleichung auch zur Ausfüllung von Lücken im Gemeinschaftsrecht herangezogen, wo die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen übereinstimmen oder zumindest eine dominante Tendenz erkennen lassen. Das kann problematisch werden, insofern es die Kompetenzordnung des Gemeinschaftsrechts zu untergraben droht. Wo das Gemeinschaftsrecht eigene Ziele gerade im Widerspruch zu den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verfolgt, ist der Rückgriff wohl ausgeschlossen.

Beim EuGH übernimmt hauptsächlich der Generalanwalt die rechtsvergleichende Vorarbeit, wenn auch mit starken Unterschieden in Umfang und Qualität. Der EuGH kann aber auch die Parteien, insbesondere die Kommission, zu rechtsvergleichender Vorarbeit auffordern; er erarbeitet zudem interne, unveröffentlichte, rechtsvergleichende Studien.

Keine echte Rechtsvergleichung ist es, wenn mitgliedstaatliche oder europäische Gerichte sich auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten berufen (was sie nicht immer genügend tun), denn dabei handelt es sich um Diskussion innerhalb ein und derselben Rechtsordnung. Anders ist es bei der rechtsvergleichenden Interpretation des innerstaatlichen Rechts; diese kann langfristig zur Konvergenz eines gemeineuropäischen Privatrechts führen.

7. Ausblick

Insgesamt emanzipiert sich die europäische Privatrechtswissenschaft zur Zeit von der Rechtsvergleichung in ähnlicher Weise, wie sich das Europarecht vor längerem vom Völkerrecht und dem nationalen Verfassungsrecht emanzipiert hat. Nun, da ein erheblicher Kenntnisstand in der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung erreicht ist, ist die Rechtsvergleichung nur noch eines von vielen Momenten des Europäischen Privatrechts. Sollte ein Gemeinsamer Referenzrahmen oder gar ein Europäisches Zivilgesetzbuch Erfolg haben, so können diese Texte nicht nur auf Rechtsvergleichung beruhen, sondern müssen auch aus anderen Gründen überzeugen. Dass damit die Bedeutung der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung relativiert wird, hilft dem Europäischen Privatrecht, sich stärker auch auf seine normativen Ziele und seine Verbindung zur Gemeinschaft und ihrem sonstigen Recht zu konzentrieren. Gleichzeitig hilft es der europäischen Rechtsvergleichung dabei, wieder verstärkt auch andere Fragen als die der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung ins Auge zu fassen. In dem Maße, in dem das Europäische Privatrecht sich von der Rechtsvergleichung emanzipiert, ist auch zu hoffen, dass die Rechtsvergleichung sich wieder stärker anderen Materien als dem Privatrecht zuwendet und dass der Vergleich mit außereuropäischen Rechtsordnungen, der über lange Zeit stark in den Hintergrund getreten ist, umfassender betrieben wird.

Literatur

International Encyclopedia of Comparative Law (IECL), 1967 ff.; Konrad Zweigert, Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, 3. Aufl. 1996; Mathias Reimann, The Progress and Failure of Comparative Law in the Second Half of the Twentieth Century, American Journal of Comparative Law 50 (2002) 671 ff.; Pierre Legrand, Roderick Munday (Hg.), Comparative Legal Studies: Traditions and Transitions, 2003; François R. van der Mensbrugghe (Hg.), L’utilisation de la méthode comparative en droit européen, 2003; Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006; Jan M. Smits (Hg.), Elgar Encyclopedia of Comparative Law, 2006; Ralf Michaels, Two Paradigms of Jurisdiction, Michigan Journal of International Law 27 (2006) 1003 ff.; James Gordley, Foundations of Private Law: Property, Tort, Contract, Unjust Enrichment, 2007; Esin Örücü, David Nelken (Hg.), Comparative Law: A Handbook, 2007.

Abgerufen von Antizipierte Nichterfüllung – HWB-EuP 2009 am 28. März 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

Die hier veröffentlichten Artikel unterliegen exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht und des Verlages Mohr Siebeck; sie dürfen nur für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Nutzer dürfen auf die öffentlich frei zugänglich gemachten Artikel zugreifen, diese herunterladen, Ausdrucke anfertigen und Kopien der Dateien anfertigen. Weiterhin dürfen Nutzer die Artikel auszugsweise übersetzen und im Rahmen von wissenschaftlicher Arbeit zitieren, sofern folgende Anforderungen erfüllt werden:

  • Nutzung zu nichtkommerziellen Zwecken
  • Erhalt der Text-Integrität des Artikels und seiner Bestandteile
  • Zitieren der Fundstelle gemäß wissenschaftlichen Standards unter Angabe von Autoren, Stichworttitel, Werkname, Jahr der Veröffentlichung (siehe Zitiervorschlag).