Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und Kodifikation: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Wolfgang Wurmnest]]''
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== 1. Gegenstand und Zweck des Missbrauchsverbots ==
== 1. Begriff ==
Alle europäischen Rechtsordnungen und auch die Wettbewerbsregeln der Europäischen Gemeinschaft unterwerfen Unternehmen, die aufgrund ihrer herausragenden Stellung am Markt überhaupt keinem oder keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt sind, einer besonderen ex post-Verhaltenskontrolle (vgl. nur Art. 82 EG/‌102 AEUV, §§ 19, 20 Abs. 1 GWB). Eine solche ist notwendig, da Unternehmen mit wirtschaftlicher Macht nur eingeschränkt an die Gesetzmäßigkeiten des Wettbewerbs gebunden sind. Geschäftspraktiken, die von kleineren Unternehmen auf kompetitiven Märkten als erwünschtes Mittel im Wettbewerb eingesetzt werden, können in den Händen eines Marktbeherrschers zur Waffe gegen den Wettbewerb mutieren. Die Missbrauchskontrolle soll deshalb sicherstellen, dass Unternehmen ihre Marktmacht nicht mit wettbewerbswidrigen Mitteln zur Festigung oder zum Ausbau ihrer Macht ausnutzen können. Neben dem [[Kartellverbot und Freistellung|Kartellverbot]] und einer strukturell ausgerichteten [[Fusionskontrolle]] stellt das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung die dritte Säule eines modernen Wettbewerbsrechts dar. In bestimmten Wirtschaftszweigen, vor allem den leitungsgebundenen Industrien (Telekommunikationsindustrie, Energiewirtschaft), die erst vor kurzer Zeit liberalisiert worden sind, wird die allgemeine Missbrauchsaufsicht durch Regulierungsvorschriften ergänzt, die dem Marktbeherrscher ''ex ante ''ein bestimmtes Verhalten vorschreiben.  
Der Begriff der Kodifikation kann in wörtlicher oder in technischer Weise verstanden werden. Wörtlich bedeutet er die Herstellung eines „codex“. Im antiken Buchwesen wurde damit ein Satz hölzerner Tafeln bezeichnet, die mit beschreibbarem Material bedeckt und in Buchform zusammengebunden waren. Im späten Römischen Reich wurden die Sammlungen von Kaiserkonstitutionen „codices“ genannt, bekanntestes Beispiel ist der „Codex Iustinianus“, der dritte Teil des ''[[Corpus Juris Civilis]]''.


Der Begriff der marktbeherrschenden Stellung geht auf den Ausdruck „wirtschaftliche Machtstellung“ zurück, mit dem monopolähnliche Märkte umschrieben werden. Ein echtes Monopol (von griech. ''monos''<nowiki> [allein] und </nowiki>''polein''<nowiki> [verkaufen]) bezeichnet einen Markt, auf dem es nur einen Anbieter gibt; existiert nur ein Nachfrager, spricht man von einem Monopson. In der ökonomischen Theorie wird Monopolmacht oftmals als „Macht über den Preis“ charakterisiert. Denn ein Monopolist verfügt im preistheoretischen Modell über die Möglichkeit, durch eine Verringerung der Ausbringungsmenge seinen Gewinn zu maximieren. Dies unterscheidet seine Situation von Unternehmen, die dem Druck des Wettbewerbs ausgesetzt sind. Solche Unternehmen können ihre Gewinne nur maximieren, wenn sie ihre Kosten senken und durch günstigere Preise höhere Umsätze erzielen. Im Wirtschaftsleben bestehen echte Monopole vor allem auf staatlich geschützten Märkten. Auf Wettbewerbsmärkten sind sie selten. Aber auch wenn es mehrere Unternehmen auf einem Markt gibt, kann eine monopolähnliche Situation vorliegen, für die das Missbrauchsverbot gilt. Dies kann der Fall sein, wenn Unternehmen, die auf Märkten mit hohen Marktzutrittsschranken agieren, über sehr hohe Marktanteile verfügen und die anderen Unternehmen im Markt deutlich kleiner sind.</nowiki>
Im Folgenden ist allein vom technischen Kodifikationsbegriff die Rede, der auf ''Jeremy Bentham'' zurückgeht. Danach meint Kodifikation die systematische und vollständige Aufzeichnung des Rechtsstoffs eines bestimmten Sachgebiets in einem Gesetzbuch. Nach herkömmlichem Begriffsverständnis kann nur staatlich gesetztes Recht kodifiziert werden. Rechtstexte, die durch private Wissenschaftlergruppen oder internationale Institutionen erarbeitet worden sind, wie etwa die ''[[Principles of European Contract Law]]'' (PECL) oder die [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT'' Principles of International Commercial Contracts'']] (PICC) können daher als nur „kodifikationsähnlich“ oder als „Privatkodifikationen“ bezeichnet werden, auch wenn sie von ihrer Struktur her einer echten Kodifikation vergleichbar sind.


== 2. Tendenzen der Rechtsentwicklung ==
Im Schrifttum ist die Verwendung des Kodifikationsbegriffs oftmals unpräzise. Rechtssammlungen nach Art des ''Corpus Juris'' ''Civilis ''oder des Sachsenspiegels sind keine Kodifikationen im technischen Sinn, da in ihnen Bestehendes lediglich aneinandergefügt wurde. Auch staatliche Gesetzgeber betiteln ihre Rechtsakte häufig zu Unrecht als „Gesetzbuch“ oder „Kodifikation“.
Die Komplexität der Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen zwingt den Gesetzgeber zum Erlass von Generalklauseln mit sehr weiten Tatbestandsmerkmalen. Die notwendige Konkretisierung wird der Judikative überlassen. In den letzten Dekaden ist es dabei zu einer schrittweisen Angleichung der nationalen Kartellrechte an das in Art.&nbsp;82 EG/‌102 AEUV verankerte Verbot der „missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung“ gekommen.


In der Anfangszeit der europäischen Integration wurde noch vielfach erwartet, dass diese Angleichung von der Gemeinschaft angestoßen würde, um eine einheitliche europäische Wettbewerbsordnung zu verwirklichen. Nachdem der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]] in der VO 17/‌62 das Recht übertragen wurde, die EG-Wettbewerbsregeln zentral durchzusetzen, war eine solche Rechtsvereinheitlichung „von oben“ aber nicht mehr unbedingt notwendig. Das Nebeneinander von EG-Recht und nationalem Recht führte auch nicht in nennenswertem Umfang zu Konflikten mit den nationalen Rechtsordnungen, da die Mitgliedstaaten – von Deutschland abgesehen, welches nach dem Zweiten Weltkrieg infolge des nachhaltigen Drucks der US-amerikanischen Besatzungsmacht mit der bis dahin dominierenden Kartelltradition brechen konnte, – entweder über kein Kartellrecht verfügten bzw. bestehende Regelungen nur sporadisch anwendeten.  
== 2. Ursprung und Ziele der Kodifikationsidee ==
Der geistige Boden der Kodifikationsidee wurde während des 16. und 17.&nbsp;Jahrhunderts durch ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren bereitet. Einer davon war die Kritik des juristischen [[Humanismus]] am [[ius commune (Gemeines Recht)|''ius commune'']], die auf die historische Relativität des ''Corpus Juris Civilis'' hinwies, ebenso auf seine Lücken und Widersprüche. Die hieraus resultierende Rechtsunsicherheit wurde für unnötige und langdauernde Prozesse verantwortlich gemacht. Aus dieser Haltung heraus entstand der Wunsch nach einer neuen, klaren und widerspruchsfreien Gesetzgebung, die den Bedürfnissen der Zeit entsprach.


Im Zuge der Verbreitung des Wettbewerbsgedankens in Europa durch den immer weiter voranschreitenden Ausbau des [[Europäischer Binnenmarkt|europäischen Binnenmarktes]] gaben sich viele Staaten ein Kartellgesetz bzw. reformierten ihre Rechte grundlegend. Um Wertungswidersprüche zu vermeiden, wurde dabei Art.&nbsp;82 EG – oftmals wortgleich – in das nationale Recht transponiert. Zu einem solchen Schritt haben sich etwa die Benelux-Staaten, Dänemark, Griechenland, Großbritannien, Italien, Schweden und praktisch alle osteuropäischen Staaten entschlossen. Einige dieser Rechtsordnungen haben ihre Kartellbehörden und Gerichte darüber hinaus auf den Grundsatz der gemeinschaftskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet. Aber auch in denjenigen Staaten, die vom EG-Recht abweichende Vorschriften zur Kontrolle einzelunternehmerischer Verhaltensweisen besitzen oder in denen eine Rechtspflicht zur Beachtung der Entscheidungspraxis des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] nicht gesetzlich normiert ist, orientieren sich die Rechtsanwender oftmals an der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts.  
Ein zweiter entscheidender Faktor lag im Hervorbringen eines neuen Verständnisses von Staat und Gesellschaft durch das Vernunftrecht ([[Naturrecht]]). Danach lag Staat und Recht ein sozialer Vertrag aller Individuen zugrunde, der den Zweck hatte, die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Diese Freiheit bedurfte gleichzeitig der Einschränkung durch eine klare und einfache Gesetzgebung, einer „standing rule to live by“ ''(John Locke)''. Einen anderen wichtigen Beitrag zur Kodifikationsidee erbrachte das Vernunftrecht mit seiner Methode, das Recht nach mathematischem Vorbild systematisch aufzuarbeiten. Erst dieses Verfahren ermöglichte es in der Folge, den Rechtsstoff in geordneter Weise niederzuschreiben.


Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu solch einer Angleichung oder zu einer gemeinschaftsrechtkonformen Auslegung des nationalen Rechts hat zu keiner Zeit bestanden. Auch unter Geltung der VO 1/‌2003, die die VO 17/‌62 abgelöst hat, ist es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, strengere Sonderregelungen für einseitige Handlungen von Einzelunternehmen zu treffen, selbst wenn der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts eröffnet ist. Aus dieser Gemengelage divergierender Schutzstandards ergeben sich jedoch diffizile Abgrenzungsprobleme. Es steht daher zu erwarten, dass die Kommission in einigen Jahren versuchen wird, eine Reform der VO 1/‌2003 anzustoßen und die parallele Anwendbarkeit von nationalen Rechtsregeln auszuschalten, wenn das Verhalten eines Marktbeherrschers zu einer Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels führt. Dann wäre – wie jetzt schon im Bereich des Kartellverbots – die Anwendbarkeit der nationalen Regeln zur Kontrolle einzelunternehmerischer Verhaltensweisen auf rein nationale Sachverhalte beschränkt.
Zum Durchbruch verhalf der Kodifikationsidee schließlich „das Bündnis des Vernunftrechts mit der Aufklärung“ (''Franz Wieacker''). Das Recht sollte nicht länger durch ein undurchsichtiges und widersprüchliches Quellensystem der Willkür von Richtern und Anwälten ausgeliefert sein. Mit Hilfe der Kodifikation, die alle Rechtsregeln in einer verständlichen Weise zusammenfasste, sollte fortan „every man his own lawyer“ (''Jeremy Bentham'') sein können und den Berufsadvokaten nicht länger benötigen. Die europäischen Herrscher des aufgeklärten Absolutismus nahmen diese Ideen bereitwillig auf: Sie sahen in der Kodifikation nicht nur die Möglichkeit, die Herrschaft des Rechts über die Willkür zu sichern, den Rechtsbetrieb zu rationalisieren und so insgesamt das Wohlergehen ihrer Untertanen zu steigern, sondern vor allem auch ein Mittel, ihr Rechtssetzungsmonopol zu unterstreichen.


Die allgemein zu beobachtende Angleichungstendenz an Art.&nbsp;82 EG/‌102 AEUV – eine Norm, die seit 50 Jahren in ihrem Kernbestand unverändert ist – darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Missbrauchsaufsicht über Marktbeherrscher eine Materie ist, die sehr in Bewegung ist. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Auslegung und Anwendung von Kartellrechtsnormen nicht ohne Blick auf die wirtschaftliche Seite des Sachverhalts auskommen kann, die jeweils herrschende ökonomische Theorie sich laufend fortentwickelt und über das Verhältnis von rechtlichen und ökonomischen Kriterien bei der Auslegung und Anwendung des Kartellrechts in den letzten Jahren ein erbitterter Streit ausgebrochen ist. Angestoßen wurde er durch die Pläne der [[Europäische Kommission|Europäischen Kommission]], die Auslegung und Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln stärker ökonomisch zu fundieren (sog. ''more economic approach''). Die Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse bei der Auslegung und Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln ist keinesfalls neu. Schon bisher wurde bei der Durchsetzung des EG-Wettbewerbsrechts – wie auch bei der Anwendung der nationalen Kartellrechte – ökonomischer Sachverstand herangezogen, um Fälle sachgerecht entscheiden zu können. Dabei haben sich die Behörden und Gerichte von dem Gedanken leiten lassen, den Wettbewerb als Prozess aufrechtzuerhalten. Diese ergebnisoffene Konzeption des Wettbewerbs, die auf die Lehren der ordoliberalen Freiburger Schule und das Rechtsdenken ''Friedrich August von Hayeks ''zurückgeht, baut auf der Erkenntnis auf, dass sich die Vorteile des Wettbewerbs für die Verbraucher nur entfalten können, wenn wettbewerbliche Strukturen bestehen und die Märkte offen gehalten werden.
Aus den beschriebenen Zielen der Kodifikation ergaben sich folgende Anforderungen an ihre Ausgestaltung:


Die Kommission plädiert nunmehr für eine partielle Neuausrichtung. Der Wettbewerb soll nicht mehr als Wert an sich geschützt werden, sondern nur als Mittel zum Zweck der Erreichung anderer Ziele, namentlich der Maximierung der Wohlfahrt, wobei die Kommission eine Ausrichtung am Maßstab der Konsumentenwohlfahrt präferiert. In den letzten Jahren ist sie daher dazu übergegangen, die (kurzfristigen) Auswirkungen der untersuchten Geschäftspraxis auf die Konsumenten zu ermitteln und in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. Die Mitteilung vom Dezember 2008 über die Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 EG auf Behinderungsmissbräuche stellt diesbezüglich klar, dass nur solche Verhaltensweisen untersagt werden sollen, bei denen ein marktbeherrschendes Unternehmen durch sein Verhalten vorhandenen oder potenziellen Wettbewerbern den Zugang zu Lieferquellen oder Märkten erschwert oder unmöglich macht und als Folge aller Wahrscheinlichkeit nach die Preise zum Nachteil der Verbraucher gewinnbringend erhöhen kann. Damit wird die Auslegung des EG-Wettbewerbsrechts etwas an das US-amerikanische Antitrustrecht angenähert. Die Antitrustbehörden haben bereits in den 1980er Jahren die Maximierung der Konsumentenwohlfahrt zum alleinigen Schutzziel des Antitrustrechts ausgerufen. Der ''U.S. Supreme Court'' hat bislang allerdings nicht ausdrücklich bestätigt, dass das Antitrustrecht lediglich eine bestimmte Gruppe von Marktteilnehmern schützen soll. Auch der EuGH hat den von der Kommission angestrebten Kurswechsel bislang nicht bestätigt. Die neuere Entscheidungspraxis hält an der bisherigen Rechtsprechungslinie fest, nach der ein Verstoß gegen Art.&nbsp;82 EG/‌102 AEUV bejaht werden kann, wenn ein Eingriff in die tatsächliche Struktur des Wettbewerbs vorliegt, ohne dass den Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden entstanden sein muss (EuGH C&nbsp;95/‌04 P – ''British Airways'', Slg. 2007, I-2331, Rn.&nbsp;106).
(1)&nbsp;Sie musste vollständig und abschließend sein, durfte also weder innere Lücken enthalten noch durch weitere Rechtsquellen ergänzt werden. „Whatever is not in the code of laws, ought not to be the law“ ''(Bentham)''.


== 3. Einzelausgestaltung des Missbrauchsverbots ==
(2)&nbsp;Damit der Bürger sein Leben an ihr ausrichten konnte, musste die Kodifikation einfach und verständlich sein. Zentrale Voraussetzung hierfür war, dass sie nicht auf Latein, sondern in der Sprache des Volkes geschrieben war. Dieses Erfordernis sollte die Kodifikationsidee später stark mit den Gedanken des Nationalstaats und der nationalen Identität verbinden.
Die Rechtsangleichung „von unten“ hat dazu geführt, dass praktisch alle europäischen Rechtsordnungen die Missbrauchskontrolle dem gleichen Grundmodell unterwerfen. Verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem jeweiligen nationalen Markt insgesamt oder einem Teil dieses Marktes durch ein oder mehrere Unternehmen.  


=== a) Die beherrschende Stellung ===
(3)&nbsp;Schließlich musste die Kodifikation auch publiziert werden, denn nur so konnte der Bürger Kenntnis von ihr erlangen. Das Publizitätserfordernis führte zur Praxis der offiziellen Verkündung der Gesetze. Seinen Ausdruck fand es ferner darin, dass in einigen nationalen Kodifikationen ausdrücklich die Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums niedergelegt wurde.
''Einzelmarktbeherrschung'' – Weitgehende Übereinstimmung besteht darüber, dass lediglich solche Unternehmen besonderen Verhaltensanforderungen unterliegen, die über einen hohen Grad von Marktmacht verfügen. Ob dies der Fall ist, wird in einem Doppelschritt ermittelt. Zunächst ist der sachlich und räumlich relevante Markt abzugrenzen. Anschließend ist der vom Gesetz vorgeschriebene Beherrschungsgrad auf diesem Markt festzustellen.


Die Abgrenzung des sachlich ''relevanten Marktes'' erfolgt ganz überwiegend nach dem Bedarfsmarktkonzept. Es stellt darauf ab, welche Güter und Leistungen aus der Sicht der Nachfrager funktionell austauschbar sind. Die Verwendung des stärker ökonomisch ausgerichteten hypothetischen Monopolistentests (SSNIP-Test), der auf Grundlage der Nachfrage- und der Kreuzpreiselastizität eine exaktere sachliche und räumliche Marktabgrenzung zu erreichen versucht, ist für die Bestimmung von Marktmacht im Rahmen der Missbrauchskontrolle oftmals ungeeignet. Dieser Test baut auf vorgefundenen Marktpreisen auf, die im Rahmen eines gedanklichen Experiments an den Monopolpreis angenähert werden. Daher führt er zu falschen Ergebnissen, wenn das Preisniveau durch den Marktbeherrscher verfälscht wurde. Hat ein Unternehmen etwa seine vom Wettbewerb unkontrollierten Verhaltensspielräume durch das Setzen überhöhter Preise ausgenutzt, grenzt der SSNIP-Test den Markt zu weit ab, da Nachfrager bei Monopolpreisen auf entfernte Substitute ausweichen, die sie unter Wettbewerbsbedingungen nicht als funktionell austauschbar ansehen würden (sog. ''cellophane fallacy'').  
== 3. Die weltweite Kodifikationsbewegung ==
Die Methode der Kodifizierung des Rechts blieb nicht auf das Zivilrecht beschränkt, sondern wurde schon früh ebenso auf das Handelsrecht (''[[Code unique]]''), das Strafrecht und das Prozessrecht angewendet. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Entstehung der nationalen Zivilgesetzbücher, mit der die Kodifizierung anderer Rechtsbereiche aber häufig einher ging.  


Die Feststellung des ''notwendigen Beherrschungsgrads'' auf dem abgegrenzten Markt ist unproblematisch, wenn ein Unternehmen über eine Monopolstellung verfügt, also ohne Wettbewerber ist. Unternehmen gelten aber auch dann als marktbeherrschend, wenn sie sich weitgehend unabhängig von ihren Konkurrenten bewegen können. Ob dies der Fall ist, lässt sich nur auf Grund einer umfassenden Analyse der Marktverhältnisse beurteilen, wobei vornehmlich Marktstrukturkriterien und in geringerem Umfang auch Unternehmensmerkmale und Marktverhaltenskriterien zu berücksichtigen sind. Im Rahmen der Marktstrukturanalyse sind der Marktanteil und das Bestehen hoher Marktzutrittschranken wichtige Indikatoren. Das deutsche Recht enthält sogar eine Vermutungsregel, nach der im Falle eines ''non liquet'' von dem Bestehen einer beherrschenden Stellung ausgegangen werden kann, wenn ein Marktanteil von mindestens einem Drittel nachgewiesen werden kann. Als unternehmensbezogene Merkmale kommen etwa die Markentreue der Abnehmer oder der Grad der Strukturierung von Produktion und Vertrieb in Betracht. Als wichtigstes verhaltensbezogene Merkmal ist die Aufrechterhaltung diskriminierender Preisstrukturen über einen nicht unerheblichen Zeitraum zu nennen.
=== a) Die Kodifikationsbewegung in Europa ===
Den Beginn des Kodifikationszeitalters markierten die sog. „vernunftrechtlichen“ Kodifikationen ([[Naturrecht]]), namentlich das [[Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten|preußische ALR]] (1794), der französische ''[[Code civil]]'' (1804) und das österreichische [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] (1811). Die genannte Bezeichnung beruht auf der engen Verbundenheit dieser Gesetzbücher mit der oben beschriebenen vernunftrechtlichen Idee einer umfassenden Gesellschaftsplanung durch staatliche Gesetzgebung.  


In einigen Rechten erfasst das Missbrauchsverbot auch ''Marktmacht im Vertikalverhältnis''. So gelten etwa in Deutschland, Frankreich und Österreich auch solche Unternehmen als marktbeherrschend, von denen kleine oder mittlere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistung in der Weise abhängig sind, dass ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen, nicht bestehen. Damit kann eine beherrschende Stellung bejaht werden, selbst wenn das betreffende Unternehmen im Horizontalverhältnis Wettbewerb ausgesetzt ist. Darüber hinaus haben einige Rechtsordnungen, etwa Deutschland, die ''Marktmachtschwelle deutlich abgesenkt'', um auch Unternehmen, die lediglich gegenüber kleineren und mittleren Konkurrenten über Marktmacht verfügen, besonderen Verhaltensanforderungen unterwerfen zu können.
Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft erfuhr die Kodifikationsbewegung dann aber zunächst einen Rückschlag. In Deutschland traten die gegensätzlichen Positionen im berühmten Kodifikationsstreit zwischen ''Anton F.J. Thibaut ''und ''Friedrich Carl von'' ''Savigny ''hervor. Während ''Thibaut'' leidenschaftlich ein gemeinsames Zivilgesetzbuch für die deutschen Staaten forderte und dabei vor allem die Vorzüge einer Vereinfachung und Vereinheitlichung des Rechts rühmte, sprach sich ''Savigny ''in seiner berühmten Programmschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814) vehement dagegen aus. Er sah'' ''in der Kodifikation einen unorganischen und willkürlichen Eingriff in den geschichtlichen Charakter des Rechts. Rechtseinheit sei zwar wünschenswert, könne aber nur auf Grundlage einer „organisch fortschreitenden Rechtswissenschaft“ hergestellt werden. Neben dem Erstarken der historischen Rechtsschule waren es aber vor allem politische Ursachen, die die Kodifikationsidee bremsten: In Deutschland, Italien und der Schweiz fehlte es an der notwendigen staatlichen Einheit, zugleich sahen die restaurativen Kräfte, die zurück an die Macht gelangt waren, in der Kodifikationsidee eine Untergrabung ihrer Legimitation.


''Gemeinsame Marktbeherrschung'' – Um den wettbewerblichen Besonderheiten oligopolistischer Märkte Rechnung tragen zu können, ist auch ein Missbrauch einer gemeinsamen marktbeherrschenden Stellung durch mehrere Unternehmen verboten. Kollektiv marktbeherrschend sind zum einen Unternehmen, zwischen denen enge strukturelle und vertragliche Verbindung bestehen, so dass sie über die Fähigkeit verfügen, als Einheit am Markt aufzutreten. Dies ist etwa bei den Mitgliedern eines freigestellten Kartells der Fall. Die Möglichkeit als Einheit am Markt aufzutreten kann zum anderen durch eine oligopolistische Reaktionsinterdependenz entstehen. Voraussetzung ist, dass die Marktstrukturen so ausgestaltet sind, dass jedes Unternehmen im Wissen um die einfache Neutralisierbarkeit seines Wettbewerbsvorstoßes einen solchen gar nicht erst unternimmt, sondern sich unter Verzicht auf Wettbewerb wie die anderen Oligopolisten im Markt verhält (Oligopolfrieden). Dies kann der Fall sein, wenn auf Anbieterseite ein hoher Konzentrationsgrad besteht, die Nachfrage unelastisch ist und der Markt sehr transparent ist.
Aus den genannten Gründen nahm die zweite große Kodifikationswelle erst Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts ihren Anfang. Sie brachte die sog. Gesetzbücher der Nationalstaaten hervor, die deshalb so bezeichnet werden, weil sie jeweils Ausdruck einer neuen Staatsgründung waren und in erster Linie die nationale Rechtsvereinheitlichung zum Ziel hatten. Den Anfang machte Italien, das sich 1865 seinen ersten ''[[Codice civile]]'' gab. In Deutschland und in der Schweiz ergingen wegen der einstweilen noch fehlenden Bundeskompetenz zunächst verschiedene regionale Zivilgesetzbücher, durch das deutsche [[Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch||ADHGB]] (1861) und das [[Schweizerisches Obligationenrecht|schweizerische OR]] (1883) konnten aber immerhin bereits wichtige Teilbereiche landesweit vereinheitlicht werden (''[[Code unique]]''). Mit dem deutschen [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] (1896) und dem [[Schweizerisches Zivilgesetzbuch|schweizerischen ZGB]] (1907) wurden schließlich auch die ersehnten Bundeszivilgesetzbücher geschaffen. Beide Werke waren dank gründlicher wissenschaftlicher Vorarbeiten die reifsten ihrer Art und konnten fortan mit dem ''Code civil'' um weltweite Anerkennung und Rezeption wetteifern.  


=== b) Missbrauchstatbestand ===
Andere europäische Zivilgesetzbücher des 19.&nbsp;Jahrhunderts lassen sich nicht eindeutig einer der beiden Hauptwellen zurechnen, wurden aber jedenfalls inhaltlich stark vom ''Code civil'' beeinflusst. Hierzu gehören das (insgesamt dritte) niederländische Zivilgesetzbuch (1838), der erste ''Código civil'' Portugals (1867) und der spanische ''[[Código civil]]'' (1889). Als späte Nachwellen des BGB und des schweizerischen ZGB werden aufgrund deren starker Vorbildwirkung die Zivilkodifikationen der Türkei (1926; [[Türkisches Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht]]) und Griechenlands (1940; [[Griechisches Zivilgesetzbuch]]) bezeichnet.
Da es nicht möglich ist, alle Typen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen abschließend zu normieren, arbeiten alle europäischen Rechte mit einer Generalklausel, die um einen Katalog besonders bedeutender Missbrauchstypen ergänzt wird. Die Vielfalt der Erscheinungsformen möglicher Missbräuche führt dazu, dass eine eindeutige Zuordnung von Tatbeständen zur Generalklausel bzw. den Regelbeispielen nicht möglich ist. Auf sehr allgemeiner Ebene lässt sich folgende Trennlinie ziehen: Zum einen wird es Marktbeherrschern verwehrt, Unternehmen auf vor- und nachgelagerten Wirtschaftsstufen auszubeuten, insbesondere durch das Fordern unangemessen hoher Verkaufspreise bzw. unangemessen niedriger Ankaufspreise (sog. Ausbeutungsmissbrauch). Zum anderen wird ihnen verboten, die Wettbewerbsmöglichkeiten von Konkurrenten ohne sachlichen Grund zu beeinträchtigen (sog. Behinderungs- oder Verdrängungsmissbrauch).  


''Ausbeutungsmissbrauch'' – Lange Zeit richteten sich gesetzliche Maßnahmen gegen Monopolstellungen in Europa vornehmlich gegen das Fordern überhöhter Preise. Schon ''Aristoteles ''hat die Bestrebungen des Staates und der Individuen kritisiert, durch die Errichtung von Monopolstellungen das Preisniveau über ein „gerechtes Maß“ zu erhöhen. Auch eine Reihe römischer Gesetze drohte Händlern Strafen an, die durch Absprachen oder einseitige Maßnahmen den Handel mit Lebensmitteln und anderen Waren verteuerten. Durch die Rezeption des [[römisches Recht|römischen Recht]]s, aber vor allem der Lehren des ''Aristoteles'', bildete sich im Mittelalter die Lehre vom ''iustum pretium ''heraus. Diese maßgeblich von ''Thomas von Aquin'' geprägte Lehre wurde später als Begründung vielerlei Vorschriften zum Schutz gegen willkürliche Preissteigerungen, Prellerei und Wucher herangezogen. Diese Verbote hatten aber wenig mit dem Schutz freier Wettbewerbsprozesse zu tun. Ihr Primärzweck war es, die durch Zünfte, Gilden und die Obrigkeit festgelegten „angemessenen“ Preise zu sichern und „sündhaftes Gewinnstreben“ zu verhindern. Daher wurde es etwa Händlern verboten, Waren an einem Ort aufzukaufen und an einen anderen Ort zu verbringen, um sie dort zu einem erhöhten Preis weiterzuverkaufen. Das gleiche galt für das Zurückhalten von Waren, um eine Angebotsknappheit auszunutzen. Diese Verbote gegen die Preistreiberei blieben in abgeschwächter Form auch nach Einführung der Gewerbefreiheit prägend, oftmals kamen sie im strafrechtlichen Gewand daher.  
Eine weitere Kodifikationswelle nahm ab den 1920er Jahren in den sozialistischen Staaten ihren Lauf. Neben den Zivilgesetzbüchern der Sowjetrepubliken gingen hieraus etwa das ungarische Zivilgesetzbuch (1959), das [[polnisches Zivilgesetzbuch|polnische Zivilgesetzbuch]] (1964) und das Zivilgesetzbuch der DDR (1975) hervor. Die während dieser Welle entstandenen Kodifikationen sind nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allesamt ersetzt oder grundlegend reformiert worden ([[Russisches Zivilgesetzbuch]] [1996]). Auch in Westeuropa hat es während des 20.&nbsp;Jahrhunderts einige wichtige Neukodifikationen gegeben, so 1942 in Italien (''[[Codice civile]]''), 1966 in Portugal und ab 1970 in den Niederlanden (''[[Burgerlijk Wetboek]]'').


Diese Tradition wirkt bis heute fort. Damit unterscheidet sich die Rechtslage in Europa vom US-amerikanischen Antitrustrecht. Der ''Sherman Act'' von 1890 verbietet allein die (versuchte) Monopolisierung von Märkten, also den Einsatz von Behinderungspraktiken zur Erlangung oder dem Ausbau von Markmacht. Außerhalb spezialgesetzlicher Regulierung wird das Recht des Marktbeherrschers, die Monopolrente zu verlangen, als Kernelement des freien Wettbewerbs begriffen. In der Rechtsanwendung wird diese transatlantische Differenz allerdings kaum spürbar. Untersagungsverfügungen wegen überhöhter Preise sind in Europa selten geblieben. Mittlerweile hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass komplexe Preiskontrollverfahren dem Wettbewerb wenig helfen. Sie machen nur auf Märkten Sinn, auf denen der Wettbewerb nicht funktionieren kann. Solche Märkte sind aber zumeist einer spezialgesetzlichen Preisregulierung unterworfen. Auf Märkten, die dem Wettbewerb offen stehen, können kartellbehördlich verfügte Niedrigpreise sogar kontraproduktiv wirken. Sie mögen dem Verbraucher einen kurzfristigen Preisvorteil verschaffen. Langfristig senken sie jedoch den von hohen Marktpreisen ausgehenden Anreiz für Newcomer zum Marktzutritt und tragen somit zur Zementierung bestehender Monopolstrukturen bei. Die Untersagung von Ausbeutungsmissbräuchen kann sich bei der Variante der Preisspaltung gemäß §&nbsp;19 Abs.&nbsp;4 Nr.&nbsp;3 GWB mit dem Preisstrukturmissbrauch durch die Diskriminierung von Abnehmern als Unterfall eines Verdrängungsmissbrauchs überschneiden.  
Im skandinavischen Rechtskreis ist die Kodifikationsidee ebenfalls auf Sympathie gestoßen. Projekte zur umfassenden Niederlegung des Zivilrechts in einem zentralen Gesetzbuch konnten sich zwar nie durchsetzen, einzelne Rechtsbereiche wie das Kaufrecht dafür aber sogar regional einheitlich kodifiziert werden ([[Skandinavische Rechtsvereinheitlichung]]).


''Verdrängungsmissbrauch'' – In allen europäischen Rechtsordnungen und auch im Gemeinschaftsrecht liegt heute der Schwerpunkt der Rechtsdurchsetzung auf der Untersagung von Missbräuchen, mit denen ein Unternehmen mit wirtschaftlicher Macht danach trachtet, den bereits geschwächten Wettbewerb auf dem beherrschten Markt oder einem Drittmarkt noch weiter zu beschränken. Die Erkenntnis, dass die Sicherung kompetitiver Strukturen dem Wettbewerbsprozess mehr hilft als die Unterbindung von Ausbeutungsmissbräuchen, hat sich in Europa erst im späten 20. Jahrhundert allgemein durchsetzen können. Diese Entwicklung geht maßgeblich auf den Einfluss der Lehren des Ordoliberalismus zurück. Die ordoliberalen Denker um ''Walter Eucken ''und ''Franz Böhm'' erkannten solche Formen der Wettbewerbsbeschränkung als Rechtsproblem, nachdem Kartelle mit Billigung der deutschen Gerichte die gewerbliche Existenz lästiger Außenseiter vernichten durften. Sie forderten daher eine strenge Missbrauchsaufsicht, um den Restwettbewerb auf vermachteten Märkten zu schützen. Im Gemeinschaftsrecht war lange umstritten, ob Art.&nbsp;82 EG/‌102 AEUV allein Ausbeutungsmissbräuche oder auch Verdrängungsmissbräuche erfasst. Erst in seinem Grundlagenurteil aus dem Jahre 1973 hat der EuGH sich dafür ausgesprochen und klargestellt, dass das Missbrauchsverbot auch Verdrängungsmissbräuche verbietet (EuGH Rs.&nbsp;6/‌72 – ''Continental Can'', Slg. 1973, 215, Rn.&nbsp;26).
=== b) Die Kodifikationsbewegung auf anderen Kontinenten ===
Tiefe Spuren hat die Kodifikationsbewegung auch in den ehemaligen europäischen Kolonien in Lateinamerika ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts in lateinamerikanische Rechtsordnungen]]) und Nordafrika ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts auf islamische Länder|Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins islamische Recht]]) hinterlassen. Gleiches gilt für die Staaten Ostasiens ([[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins japanische Recht]]; [[Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins chinesische Recht]]). Die in diesen Regionen geschaffenen Zivilgesetzbücher haben sich meist sehr stark an ein oder mehrere europäische Vorbilder angelehnt.


Die missbräuchliche Verdrängung, Abschreckung oder Disziplinierung von Konkurrenten kann durch sehr unterschiedliche Geschäftspraktiken verwirklicht werden. So kann ein Marktbeherrscher seine für eine bestimmte Leistung oder ein bestimmtes Produkt bestehende marktbeherrschende Stellung dazu einsetzen, seine Marktmacht auf einen nachgelagerten Markt oder einen benachbarten Markt auszudehnen (''monopoly leveraging''). Ein solcher Marktmachttransfer kann insbesondere durch die Kopplung zweier Produkte oder über eine Zugangs- oder Geschäftsverweigerung erreicht werden. Weiterhin kann ein Marktbeherrscher eine Verfälschung des Wettbewerbs durch eine Manipulation der angebotsseitigen oder nachfrageseitigen Marktstruktur bewirken. Die angebotsseitige Marktstruktur wird verändert, wenn sich der Marktbeherrscher dem Wettbewerbsdruck entzieht, indem er aktuelle Wettbewerber eliminiert bzw. diszipliniert oder potentielle Rivalen vom Marktzutritt abhält. Der Prototyp dieses Missbrauchs ist der Einsatz wettbewerbswidriger Kampfpreise. Die Veränderung der nachfrageseitigen Marktstruktur wird durch Verhaltensweisen erreicht, die das künftige Nachfrageverhalten der Abnehmer signifikant beeinflussen und dadurch einen Marktverschlusseffekt (''foreclosure'') bewirken. Eine solche Verschlusswirkung kann etwa durch langfristige Vertriebs- oder Bezugsbindungen bewirkt werden, aber auch durch Rabattschemata mit einem großen Kundenbindungseffekt.  
=== c) Die Kodifikationsbewegung im Rechtskreis des ''common law'' ===
Auch im Rechtskreis des ''[[common law]]'' hat die Kodifikationsidee immer wieder gewichtige Fürsprecher gefunden, allen voran in der Person ''Jeremy Benthams''. Die Vorteile, die er und seine Nachfolger sich von einer Kodifizierung des unsystematischen, nur Fachleuten zugänglichen und schriftlich nicht fixierten ''common law'' versprachen, liegen auf der Hand. Gleichwohl sind entsprechende Vorhaben in England bislang immer gescheitert, so auch der in den 1960er Jahren begonnene Versuch zur Schaffung eines „Contract Code“, der nicht über das Entwurfsstadium hinausgelangte. Generelles Misstrauen gegenüber der Methode, ganze Lebensbereiche abstrakten Rechtsregeln zu unterwerfen, sowie die Befürchtung, durch eine Kodifizierung des ''common law'' an Einfluss zu verlieren, gelten als Hauptursachen für den Widerstand der englischen Juristen.


Da die meisten Praktiken marktbeherrschender Unternehmen in ihren Wirkungen auf den Wettbewerb sehr ambivalent sind, ist die Scheidung von Behinderungsmissbräuchen und legalem Handeln im Wettbewerb stets eine diffizile Maß- und Gradfrage. Eine Untersagung kann daher nicht allein an eine bestimmte Verhaltensform anknüpfen, sondern hat stets auch Zweck und Wirkungen der betreffenden Geschäftspraxis im konkreten Marktumfeld im Rahmen einer Gesamtschau zu berücksichtigen.
<nowiki>Erfolgreicher ist die Kodifikationsbewegung demgegenüber in den USA gewesen. Dies lässt sich zwar nicht anhand der Kodifizierung des Zivilrechts in Louisiana (1808) belegen, die Folge der starken Verwurzelung dieses Bundesstaats in der spanischen und der französischen Rechtstradition war und deshalb als Sonderfall zu betrachten ist (ähnlich wie die Kodifizierung des Zivilrechts in der kanadischen Provinz Québec [1866 und 1994]). Doch war vor allem Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts die Kodifikationsbewegung auch in vielen anderen Bundesstaaten sehr stark. Eine ihrer Anführer war der Rechtsanwalt </nowiki>''David Dudley Field''. Sein Entwurf für eine Zivilprozessordnung trat 1848 im Staat New York in Kraft und war später Vorbild für die Verfahrensordnung zahlreicher anderer Bundesstaaten. Etwas weniger Erfolg war ''Fields'' Entwurf für ein Zivilgesetzbuch beschieden. Der New Yorker Gesetzgeber lehnte ihn ab, doch wurden Teile von ihm später in anderen Bundesstaaten übernommen. Im 20.&nbsp;Jahrhundert erfolgte mit dem ''Uniform Commercial Code'' (UCC) die Kodifizierung eines zwar begrenzten, aber dafür praktisch sehr bedeutsamen Rechtsbereichs. Ziel des UCC war vor allem die Vereinheitlichung des Rechts der einzelnen Bundesstaaten. Und auch die US-amerikanischen ''[[Restatements]]'' sind in ihrer Zielsetzung einer systematischen und möglichst vollständigen Rechtsaufzeichnung deutlich von der Kodifikationsidee inspiriert, selbst wenn sie mangels staatlicher Inkraftsetzung keine Kodifikation im strengen Sinne darstellen.
 
== 4. Krise der Kodifikationsidee? ==
Ungeachtet der Tatsache, dass bis in die Gegenwart hinein regelmäßig neue Zivilgesetzbücher in Kraft getreten sind, ist seit etwa Mitte des 20.&nbsp;Jahrhunderts von einer Krise der Kodifikationsidee die Rede, die meist unter dem von ''Natalino Irti'' geprägten Schlagwort vom „Zeitalter der Dekodifikation“ diskutiert wird. Die dahinterstehende Frage lautet, ob in der heutigen Zeit die Kodifikation noch die angemessene oder überhaupt mögliche Form der Gesetzgebung ist. Weitgehend unbestritten sind die Erscheinungsformen des Phänomens der „Dekodifikation“: Erstens ist neben die Kodifikationen inzwischen eine erhebliche Zahl von Nebengesetzen getreten, die oftmals auch eine neue juristische Terminologie einführen und von den allgemeinen Grundprinzipien des Zivilrechts abweichen. Beispiele finden sich etwa im Arbeitsrecht ([[Europäisches Arbeitsrecht]]) und im modernen Verbraucherschutzrecht ([[Verbraucher und Verbraucherschutz]]). Zweitens sind immer mehr Materien der Kodifikation in die Fallgruppen der Rechtsprechung abgewandert, so dass das Zivilgesetzbuch vielfach nicht mehr die tatsächlich geltende Rechtslage widerspiegelt. Veranschaulichen lässt sich dies etwa anhand des französischen Deliktsrechts, dessen wenige Gesetzesvorschriften angesichts einer weit ausdifferenzierten Rechtsprechung heute praktisch keine Bedeutung besitzen. Weiter haben die modernen Verfassungen den Kodifikationen einen erheblichen Bedeutungsverlust zugefügt: Indem sie deren Aufgabe übernommen haben, die Grundrechte des Bürgers zu sichern, entfalten sie einen erheblichen mittelbaren Einfluss auf das Privatrecht. Schließlich erhalten die nationalen Kodifikationen inzwischen auch von außerhalb der Staatsgrenzen Konkurrenz: Internationale Konventionen, vor allem aber das supranationale Recht der [[Europäische Gemeinschaft|Europäischen Gemeinschaft]], dringen immer häufiger in klassische Regelungsbereiche der Kodifikation ein.
 
Über die Ursachen für die beschriebenen Symptome herrscht ebenfalls weitgehend Einigkeit: In der demokratisch verfassten pluralistischen Industriegesellschaft ist die Aufstellung allgemeinverbindlicher Regeln deutlich schwieriger als im 19.&nbsp;Jahrhundert. Technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel erfordern eine ständige Anpassung und Weiterentwicklung des Rechts. Die unsystematische Maßnahmegesetzgebung, die es dem Gesetzgeber erlaubt, auf neu auftretende Probleme schnell und gezielt zu reagieren, hat daher zunehmend die Oberhand gewonnen. Ursache der „Normenflut“ ist aber nicht nur die gestiegene Komplexität der Lebensverhältnisse, sondern auch die Wandlung des Staatsverständnisses: Während der liberale Staat des 19.&nbsp;Jahrhunderts sich darauf beschränkte, die grundlegenden Spielregeln für den Privatrechtsverkehr aufzustellen, sieht der moderne Sozialstaat als Wohlfahrtsstaat seine Aufgabe darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten der Benachteiligten umzugestalten. Schließlich ist auch ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren mit einem so umfangreichen Werk wie dem einer Kodifikation schwierig zu vereinbaren: Das Parlament als formeller Gesetzgeber besitzt selten die notwendige Sachkunde, zudem ist es den Sachzwängen der Tagespolitik unterworfen. Vor allem aber nehmen zahlreiche „informelle Gesetzgeber“ in Form organisierter Interessengruppen Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren, wodurch die inhaltliche Ausgewogenheit und systematische Geschlossenheit eines Entwurfs häufig Schaden nehmen und manche Vorhaben sogar ganz zum Scheitern gebracht werden.
 
Aus der beschriebenen Diagnose ist als Therapie zunächst vielfach die radikale Absage an eine Zukunft des Kodifikationsgedankens gefolgert worden. Hierin sieht die Mehrzahl der Stimmen heute aber eine Übertreibung: Die Kodifikation enthalte weiterhin zahlreiche Materien von zentraler Bedeutung und sei keinesfalls nur noch subsidiäre Rechtsquelle. Unsorgfältige und unsystematische Spezialgesetzgebung sei nicht unausweichliches Schicksal, sondern oftmals das Ergebnis fehlender Kompetenz und fehlenden Bemühens der an der Entstehung eines Gesetzes beteiligten Personen. Die Langlebigkeit des ''[[Code civil]]'', des [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] und des [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] beweise, dass eine Kodifikation keineswegs zu einer Versteinerung des Rechts führen müsse. Zudem zeige die Erfahrung, dass Maßnahmegesetze ihr Ziel häufig gerade nicht erreichten, während sich umgekehrt auch aus jüngster Zeit zahlreiche Beispiele für gelungene Kodifikationsarbeiten anführen ließen.
 
== 5. Aufgaben der Kodifikation in heutiger Zeit ==
Halten die Anhänger der Kodifikationsidee deren Zeit also noch nicht für abgelaufen, so plädieren sie gleichwohl dafür, die Aufgaben eines zentralen Gesetzbuches zu überdenken. Dem Publizitätsgebot wird in der gegenwärtigen Kodifikationsdebatte keine Bedeutung mehr zugemessen. Die Erwartung, dass der juristische Laie die Gesetze kennen und verstehen könne, erweise sich heute mehr denn je als unrealistisch. Auch das ursprüngliche Ideal der Vollständigkeit der Kodifikation, das selbst vom preußischen ALR als dem umfangreichsten aller Gesetzbücher nicht mit letzter Konsequenz verfolgt worden war, müsse heute stark relativiert werden. Häufig sei es empfehlenswert, neuartige, noch nicht gefestigte Materien zunächst in Nebengesetzen zu behandeln. Daneben müssten vielfach aber auch Rechtsprechung und Wissenschaft mit der Weiterentwicklung des Rechts betraut werden (etwa mittels bewusster Regelungslücken, unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln). Die Funktionen der Rechtsvereinheitlichung und der Stiftung nationaler Identität galten lange Zeit auch schon als überholt, erleben derzeit hingegen eine Renaissance in der Debatte über ein [[Europäisches Zivilgesetzbuch]].
 
Als wichtigste und nach wie vor unverzichtbare Aufgabe der Kodifikation wird heute die der Systematisierung des Rechtsstoffs angesehen. Diese mache innere Zusammenhänge zwischen verschiedenartigen Problemkomplexen deutlich und leiste so einen wichtigen Beitrag gerade auch zur Bewältigung neuartiger Herausforderungen. Zudem sei die Kodifikation notwendiger Hintergrund für die gesamte Sondergesetzgebung, indem sie die grundlegenden Rechtsbegriffe und &#8209;institute bereitstelle. Dem inhaltlichen Vorzug der Systematisierung stehe ein formaler an der Seite: Die Kodifikation ermögliche es, die Rechtsordnung in periodischen Abständen zu bereinigen, indem veraltetes Recht ausgeschieden und neu entstandenes Recht mittels einer „Rekodifikation“ in das bestehende System eingearbeitet wird. Nur so könne die Zersplitterung des Rechts in eine Unzahl von Quellen, die auch der geschulte Jurist nicht mehr überblicken kann, verhindert werden. Die Kodifikation soll also einen zentralen Beitrag zum Rechtszugang und zur Rechtsklarheit leisten.
 
== 6. Fazit und Ausblick ==
Kodifikation ist nach den Worten ''Franz Wieackers'' eine „einzigartige, schwer errungene und schwer zu verteidigende Schöpfung der Rechtsgesittung“. Die kontinentaleuropäische Rechtstradition ist seit dem 18.&nbsp;Jahrhundert untrennbar mit dieser Schöpfung verbunden, die aber auch in der übrigen Welt deutliche Spuren hinterlassen hat. Die ursprünglichen Ziele der Kodifikation mussten im 20.&nbsp;Jahrhundert korrigiert werden, doch wird sie auch im 21.&nbsp;Jahrhundert ein bewährtes Werkzeug der Rechtstechnik bleiben.


==Literatur==
==Literatur==
''Roman Piotrowski'', Cartels and trusts, their origin and historical development from the economic and legal aspect, 1933; ''Hermann Kellenbenz'', Monopol, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. III, 1984, 634&nbsp;ff.; ''David J. Gerber'', Law and Competition in Twentieth Century Europe – Protecting Prometheus, 1998; ''Whish'','' Richard'', Competition Law, 5.&nbsp;Aufl. 2003, 653&nbsp;ff.; ''Ernst-Joachim Mestmäcker'', ''Heike Schweitzer'', Europäisches Wettbewerbsrecht, 2.&nbsp;Aufl. 2004, 377; ''Robert O’Donoghue'','' Jorge Padilla'', The Law and Economics of Article 82 EC, 2006; ''Thomas'' ''Eilmansberger'', Art. 82 (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung), in: Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht, Bd.&nbsp;1, 2007; ''Wernhard Möschel'', Art.&nbsp;82 (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) und §&nbsp;19 (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung), in: Ulrich Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker (Hg.), Kommentar zum Europäischen und Deutschen Kartellrecht, Bde. 1 und 3, 4.&nbsp;Aufl. 2007; ''Einer Elhauge'','' Damien Geradin'', Global Competition Law and Economics, 2007, 227; ''Heike Schweitzer'', The History, Interpretation and Underlying Principles of Section 2 Sherman Act and Article 82 EC, in: Claus-Dieter Ehlermann, Mel Marquis (Hg.), European Competition Law Annual 2007: A Reformed Approach to Article 82 EC, 119&nbsp;ff.  
''Franz Wieacker'', Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee, in: Festschrift für Gustav Boehmer, 1954, 34&nbsp;ff.; ''Helmut Coing'', An Intellectual History of European Codification in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Samuel S. Stoljar, (Hg.), Problems of Codification, 1977, 16&nbsp;ff.; ''Karsten Schmidt'', Die Zukunft der Kodifikationsidee: Rechtsprechung, Wissenschaft und Gesetzgebung vor den Gesetzeswerken des geltenden Rechts, 1985; ''Hein Kötz'', Taking Civil Codes Less Seriously, Modern&nbsp;Law Review 50 (1987) 1&nbsp;ff.; ''Shael Herman'','' ''Schicksal und Zukunft der Kodifikationsidee in Amerika, in: Reinhard Zimmermann (Hg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, 1995, 45&nbsp;ff.;'' Reinhard Zimmermann'', Codification: History and Present Significance of an Idea, European Review of Private Law 3 (1995) 95&nbsp;ff.;'' Bruno Oppetit'', Essai sur la codification, 1998;'' Natalino Irti'', L’eta della decodificazione, 4.&nbsp;Aufl. 1999; ''Pio Caroni'', Gesetz und Gesetzbuch: Beiträge zu einer Kodifikationsgeschichte, 2003; ''Johannes H.A.Lokin'', ''Willem&nbsp;J. Zwalve'', Hoofdstukken uit de Europese Codificatiegeschiedenis, 3.&nbsp;Aufl. 2006.'' ''


[[Kategorie:A–Z]]
[[Kategorie:A–Z]]
[[en:Codification]]

Aktuelle Version vom 8. September 2021, 12:25 Uhr

von Jan Peter Schmidt

1. Begriff

Der Begriff der Kodifikation kann in wörtlicher oder in technischer Weise verstanden werden. Wörtlich bedeutet er die Herstellung eines „codex“. Im antiken Buchwesen wurde damit ein Satz hölzerner Tafeln bezeichnet, die mit beschreibbarem Material bedeckt und in Buchform zusammengebunden waren. Im späten Römischen Reich wurden die Sammlungen von Kaiserkonstitutionen „codices“ genannt, bekanntestes Beispiel ist der „Codex Iustinianus“, der dritte Teil des Corpus Juris Civilis.

Im Folgenden ist allein vom technischen Kodifikationsbegriff die Rede, der auf Jeremy Bentham zurückgeht. Danach meint Kodifikation die systematische und vollständige Aufzeichnung des Rechtsstoffs eines bestimmten Sachgebiets in einem Gesetzbuch. Nach herkömmlichem Begriffsverständnis kann nur staatlich gesetztes Recht kodifiziert werden. Rechtstexte, die durch private Wissenschaftlergruppen oder internationale Institutionen erarbeitet worden sind, wie etwa die Principles of European Contract Law (PECL) oder die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts (PICC) können daher als nur „kodifikationsähnlich“ oder als „Privatkodifikationen“ bezeichnet werden, auch wenn sie von ihrer Struktur her einer echten Kodifikation vergleichbar sind.

Im Schrifttum ist die Verwendung des Kodifikationsbegriffs oftmals unpräzise. Rechtssammlungen nach Art des Corpus Juris Civilis oder des Sachsenspiegels sind keine Kodifikationen im technischen Sinn, da in ihnen Bestehendes lediglich aneinandergefügt wurde. Auch staatliche Gesetzgeber betiteln ihre Rechtsakte häufig zu Unrecht als „Gesetzbuch“ oder „Kodifikation“.

2. Ursprung und Ziele der Kodifikationsidee

Der geistige Boden der Kodifikationsidee wurde während des 16. und 17. Jahrhunderts durch ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren bereitet. Einer davon war die Kritik des juristischen Humanismus am ius commune, die auf die historische Relativität des Corpus Juris Civilis hinwies, ebenso auf seine Lücken und Widersprüche. Die hieraus resultierende Rechtsunsicherheit wurde für unnötige und langdauernde Prozesse verantwortlich gemacht. Aus dieser Haltung heraus entstand der Wunsch nach einer neuen, klaren und widerspruchsfreien Gesetzgebung, die den Bedürfnissen der Zeit entsprach.

Ein zweiter entscheidender Faktor lag im Hervorbringen eines neuen Verständnisses von Staat und Gesellschaft durch das Vernunftrecht (Naturrecht). Danach lag Staat und Recht ein sozialer Vertrag aller Individuen zugrunde, der den Zweck hatte, die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Diese Freiheit bedurfte gleichzeitig der Einschränkung durch eine klare und einfache Gesetzgebung, einer „standing rule to live by“ (John Locke). Einen anderen wichtigen Beitrag zur Kodifikationsidee erbrachte das Vernunftrecht mit seiner Methode, das Recht nach mathematischem Vorbild systematisch aufzuarbeiten. Erst dieses Verfahren ermöglichte es in der Folge, den Rechtsstoff in geordneter Weise niederzuschreiben.

Zum Durchbruch verhalf der Kodifikationsidee schließlich „das Bündnis des Vernunftrechts mit der Aufklärung“ (Franz Wieacker). Das Recht sollte nicht länger durch ein undurchsichtiges und widersprüchliches Quellensystem der Willkür von Richtern und Anwälten ausgeliefert sein. Mit Hilfe der Kodifikation, die alle Rechtsregeln in einer verständlichen Weise zusammenfasste, sollte fortan „every man his own lawyer“ (Jeremy Bentham) sein können und den Berufsadvokaten nicht länger benötigen. Die europäischen Herrscher des aufgeklärten Absolutismus nahmen diese Ideen bereitwillig auf: Sie sahen in der Kodifikation nicht nur die Möglichkeit, die Herrschaft des Rechts über die Willkür zu sichern, den Rechtsbetrieb zu rationalisieren und so insgesamt das Wohlergehen ihrer Untertanen zu steigern, sondern vor allem auch ein Mittel, ihr Rechtssetzungsmonopol zu unterstreichen.

Aus den beschriebenen Zielen der Kodifikation ergaben sich folgende Anforderungen an ihre Ausgestaltung:

(1) Sie musste vollständig und abschließend sein, durfte also weder innere Lücken enthalten noch durch weitere Rechtsquellen ergänzt werden. „Whatever is not in the code of laws, ought not to be the law“ (Bentham).

(2) Damit der Bürger sein Leben an ihr ausrichten konnte, musste die Kodifikation einfach und verständlich sein. Zentrale Voraussetzung hierfür war, dass sie nicht auf Latein, sondern in der Sprache des Volkes geschrieben war. Dieses Erfordernis sollte die Kodifikationsidee später stark mit den Gedanken des Nationalstaats und der nationalen Identität verbinden.

(3) Schließlich musste die Kodifikation auch publiziert werden, denn nur so konnte der Bürger Kenntnis von ihr erlangen. Das Publizitätserfordernis führte zur Praxis der offiziellen Verkündung der Gesetze. Seinen Ausdruck fand es ferner darin, dass in einigen nationalen Kodifikationen ausdrücklich die Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums niedergelegt wurde.

3. Die weltweite Kodifikationsbewegung

Die Methode der Kodifizierung des Rechts blieb nicht auf das Zivilrecht beschränkt, sondern wurde schon früh ebenso auf das Handelsrecht (Code unique), das Strafrecht und das Prozessrecht angewendet. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Entstehung der nationalen Zivilgesetzbücher, mit der die Kodifizierung anderer Rechtsbereiche aber häufig einher ging.

a) Die Kodifikationsbewegung in Europa

Den Beginn des Kodifikationszeitalters markierten die sog. „vernunftrechtlichen“ Kodifikationen (Naturrecht), namentlich das preußische ALR (1794), der französische Code civil (1804) und das österreichische ABGB (1811). Die genannte Bezeichnung beruht auf der engen Verbundenheit dieser Gesetzbücher mit der oben beschriebenen vernunftrechtlichen Idee einer umfassenden Gesellschaftsplanung durch staatliche Gesetzgebung.

Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft erfuhr die Kodifikationsbewegung dann aber zunächst einen Rückschlag. In Deutschland traten die gegensätzlichen Positionen im berühmten Kodifikationsstreit zwischen Anton F.J. Thibaut und Friedrich Carl von Savigny hervor. Während Thibaut leidenschaftlich ein gemeinsames Zivilgesetzbuch für die deutschen Staaten forderte und dabei vor allem die Vorzüge einer Vereinfachung und Vereinheitlichung des Rechts rühmte, sprach sich Savigny in seiner berühmten Programmschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814) vehement dagegen aus. Er sah in der Kodifikation einen unorganischen und willkürlichen Eingriff in den geschichtlichen Charakter des Rechts. Rechtseinheit sei zwar wünschenswert, könne aber nur auf Grundlage einer „organisch fortschreitenden Rechtswissenschaft“ hergestellt werden. Neben dem Erstarken der historischen Rechtsschule waren es aber vor allem politische Ursachen, die die Kodifikationsidee bremsten: In Deutschland, Italien und der Schweiz fehlte es an der notwendigen staatlichen Einheit, zugleich sahen die restaurativen Kräfte, die zurück an die Macht gelangt waren, in der Kodifikationsidee eine Untergrabung ihrer Legimitation.

Aus den genannten Gründen nahm die zweite große Kodifikationswelle erst Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang. Sie brachte die sog. Gesetzbücher der Nationalstaaten hervor, die deshalb so bezeichnet werden, weil sie jeweils Ausdruck einer neuen Staatsgründung waren und in erster Linie die nationale Rechtsvereinheitlichung zum Ziel hatten. Den Anfang machte Italien, das sich 1865 seinen ersten Codice civile gab. In Deutschland und in der Schweiz ergingen wegen der einstweilen noch fehlenden Bundeskompetenz zunächst verschiedene regionale Zivilgesetzbücher, durch das deutsche |ADHGB (1861) und das schweizerische OR (1883) konnten aber immerhin bereits wichtige Teilbereiche landesweit vereinheitlicht werden (Code unique). Mit dem deutschen BGB (1896) und dem schweizerischen ZGB (1907) wurden schließlich auch die ersehnten Bundeszivilgesetzbücher geschaffen. Beide Werke waren dank gründlicher wissenschaftlicher Vorarbeiten die reifsten ihrer Art und konnten fortan mit dem Code civil um weltweite Anerkennung und Rezeption wetteifern.

Andere europäische Zivilgesetzbücher des 19. Jahrhunderts lassen sich nicht eindeutig einer der beiden Hauptwellen zurechnen, wurden aber jedenfalls inhaltlich stark vom Code civil beeinflusst. Hierzu gehören das (insgesamt dritte) niederländische Zivilgesetzbuch (1838), der erste Código civil Portugals (1867) und der spanische Código civil (1889). Als späte Nachwellen des BGB und des schweizerischen ZGB werden aufgrund deren starker Vorbildwirkung die Zivilkodifikationen der Türkei (1926; Türkisches Zivilgesetzbuch und Obligationenrecht) und Griechenlands (1940; Griechisches Zivilgesetzbuch) bezeichnet.

Eine weitere Kodifikationswelle nahm ab den 1920er Jahren in den sozialistischen Staaten ihren Lauf. Neben den Zivilgesetzbüchern der Sowjetrepubliken gingen hieraus etwa das ungarische Zivilgesetzbuch (1959), das polnische Zivilgesetzbuch (1964) und das Zivilgesetzbuch der DDR (1975) hervor. Die während dieser Welle entstandenen Kodifikationen sind nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allesamt ersetzt oder grundlegend reformiert worden (Russisches Zivilgesetzbuch [1996]). Auch in Westeuropa hat es während des 20. Jahrhunderts einige wichtige Neukodifikationen gegeben, so 1942 in Italien (Codice civile), 1966 in Portugal und ab 1970 in den Niederlanden (Burgerlijk Wetboek).

Im skandinavischen Rechtskreis ist die Kodifikationsidee ebenfalls auf Sympathie gestoßen. Projekte zur umfassenden Niederlegung des Zivilrechts in einem zentralen Gesetzbuch konnten sich zwar nie durchsetzen, einzelne Rechtsbereiche wie das Kaufrecht dafür aber sogar regional einheitlich kodifiziert werden (Skandinavische Rechtsvereinheitlichung).

b) Die Kodifikationsbewegung auf anderen Kontinenten

Tiefe Spuren hat die Kodifikationsbewegung auch in den ehemaligen europäischen Kolonien in Lateinamerika (Ausstrahlung des europäischen Privatrechts in lateinamerikanische Rechtsordnungen) und Nordafrika (Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins islamische Recht) hinterlassen. Gleiches gilt für die Staaten Ostasiens (Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins japanische Recht; Ausstrahlung des europäischen Privatrechts ins chinesische Recht). Die in diesen Regionen geschaffenen Zivilgesetzbücher haben sich meist sehr stark an ein oder mehrere europäische Vorbilder angelehnt.

c) Die Kodifikationsbewegung im Rechtskreis des common law

Auch im Rechtskreis des common law hat die Kodifikationsidee immer wieder gewichtige Fürsprecher gefunden, allen voran in der Person Jeremy Benthams. Die Vorteile, die er und seine Nachfolger sich von einer Kodifizierung des unsystematischen, nur Fachleuten zugänglichen und schriftlich nicht fixierten common law versprachen, liegen auf der Hand. Gleichwohl sind entsprechende Vorhaben in England bislang immer gescheitert, so auch der in den 1960er Jahren begonnene Versuch zur Schaffung eines „Contract Code“, der nicht über das Entwurfsstadium hinausgelangte. Generelles Misstrauen gegenüber der Methode, ganze Lebensbereiche abstrakten Rechtsregeln zu unterwerfen, sowie die Befürchtung, durch eine Kodifizierung des common law an Einfluss zu verlieren, gelten als Hauptursachen für den Widerstand der englischen Juristen.

Erfolgreicher ist die Kodifikationsbewegung demgegenüber in den USA gewesen. Dies lässt sich zwar nicht anhand der Kodifizierung des Zivilrechts in Louisiana (1808) belegen, die Folge der starken Verwurzelung dieses Bundesstaats in der spanischen und der französischen Rechtstradition war und deshalb als Sonderfall zu betrachten ist (ähnlich wie die Kodifizierung des Zivilrechts in der kanadischen Provinz Québec [1866 und 1994]). Doch war vor allem Mitte des 19. Jahrhunderts die Kodifikationsbewegung auch in vielen anderen Bundesstaaten sehr stark. Eine ihrer Anführer war der Rechtsanwalt David Dudley Field. Sein Entwurf für eine Zivilprozessordnung trat 1848 im Staat New York in Kraft und war später Vorbild für die Verfahrensordnung zahlreicher anderer Bundesstaaten. Etwas weniger Erfolg war Fields Entwurf für ein Zivilgesetzbuch beschieden. Der New Yorker Gesetzgeber lehnte ihn ab, doch wurden Teile von ihm später in anderen Bundesstaaten übernommen. Im 20. Jahrhundert erfolgte mit dem Uniform Commercial Code (UCC) die Kodifizierung eines zwar begrenzten, aber dafür praktisch sehr bedeutsamen Rechtsbereichs. Ziel des UCC war vor allem die Vereinheitlichung des Rechts der einzelnen Bundesstaaten. Und auch die US-amerikanischen Restatements sind in ihrer Zielsetzung einer systematischen und möglichst vollständigen Rechtsaufzeichnung deutlich von der Kodifikationsidee inspiriert, selbst wenn sie mangels staatlicher Inkraftsetzung keine Kodifikation im strengen Sinne darstellen.

4. Krise der Kodifikationsidee?

Ungeachtet der Tatsache, dass bis in die Gegenwart hinein regelmäßig neue Zivilgesetzbücher in Kraft getreten sind, ist seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts von einer Krise der Kodifikationsidee die Rede, die meist unter dem von Natalino Irti geprägten Schlagwort vom „Zeitalter der Dekodifikation“ diskutiert wird. Die dahinterstehende Frage lautet, ob in der heutigen Zeit die Kodifikation noch die angemessene oder überhaupt mögliche Form der Gesetzgebung ist. Weitgehend unbestritten sind die Erscheinungsformen des Phänomens der „Dekodifikation“: Erstens ist neben die Kodifikationen inzwischen eine erhebliche Zahl von Nebengesetzen getreten, die oftmals auch eine neue juristische Terminologie einführen und von den allgemeinen Grundprinzipien des Zivilrechts abweichen. Beispiele finden sich etwa im Arbeitsrecht (Europäisches Arbeitsrecht) und im modernen Verbraucherschutzrecht (Verbraucher und Verbraucherschutz). Zweitens sind immer mehr Materien der Kodifikation in die Fallgruppen der Rechtsprechung abgewandert, so dass das Zivilgesetzbuch vielfach nicht mehr die tatsächlich geltende Rechtslage widerspiegelt. Veranschaulichen lässt sich dies etwa anhand des französischen Deliktsrechts, dessen wenige Gesetzesvorschriften angesichts einer weit ausdifferenzierten Rechtsprechung heute praktisch keine Bedeutung besitzen. Weiter haben die modernen Verfassungen den Kodifikationen einen erheblichen Bedeutungsverlust zugefügt: Indem sie deren Aufgabe übernommen haben, die Grundrechte des Bürgers zu sichern, entfalten sie einen erheblichen mittelbaren Einfluss auf das Privatrecht. Schließlich erhalten die nationalen Kodifikationen inzwischen auch von außerhalb der Staatsgrenzen Konkurrenz: Internationale Konventionen, vor allem aber das supranationale Recht der Europäischen Gemeinschaft, dringen immer häufiger in klassische Regelungsbereiche der Kodifikation ein.

Über die Ursachen für die beschriebenen Symptome herrscht ebenfalls weitgehend Einigkeit: In der demokratisch verfassten pluralistischen Industriegesellschaft ist die Aufstellung allgemeinverbindlicher Regeln deutlich schwieriger als im 19. Jahrhundert. Technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel erfordern eine ständige Anpassung und Weiterentwicklung des Rechts. Die unsystematische Maßnahmegesetzgebung, die es dem Gesetzgeber erlaubt, auf neu auftretende Probleme schnell und gezielt zu reagieren, hat daher zunehmend die Oberhand gewonnen. Ursache der „Normenflut“ ist aber nicht nur die gestiegene Komplexität der Lebensverhältnisse, sondern auch die Wandlung des Staatsverständnisses: Während der liberale Staat des 19. Jahrhunderts sich darauf beschränkte, die grundlegenden Spielregeln für den Privatrechtsverkehr aufzustellen, sieht der moderne Sozialstaat als Wohlfahrtsstaat seine Aufgabe darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten der Benachteiligten umzugestalten. Schließlich ist auch ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren mit einem so umfangreichen Werk wie dem einer Kodifikation schwierig zu vereinbaren: Das Parlament als formeller Gesetzgeber besitzt selten die notwendige Sachkunde, zudem ist es den Sachzwängen der Tagespolitik unterworfen. Vor allem aber nehmen zahlreiche „informelle Gesetzgeber“ in Form organisierter Interessengruppen Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren, wodurch die inhaltliche Ausgewogenheit und systematische Geschlossenheit eines Entwurfs häufig Schaden nehmen und manche Vorhaben sogar ganz zum Scheitern gebracht werden.

Aus der beschriebenen Diagnose ist als Therapie zunächst vielfach die radikale Absage an eine Zukunft des Kodifikationsgedankens gefolgert worden. Hierin sieht die Mehrzahl der Stimmen heute aber eine Übertreibung: Die Kodifikation enthalte weiterhin zahlreiche Materien von zentraler Bedeutung und sei keinesfalls nur noch subsidiäre Rechtsquelle. Unsorgfältige und unsystematische Spezialgesetzgebung sei nicht unausweichliches Schicksal, sondern oftmals das Ergebnis fehlender Kompetenz und fehlenden Bemühens der an der Entstehung eines Gesetzes beteiligten Personen. Die Langlebigkeit des Code civil, des ABGB und des BGB beweise, dass eine Kodifikation keineswegs zu einer Versteinerung des Rechts führen müsse. Zudem zeige die Erfahrung, dass Maßnahmegesetze ihr Ziel häufig gerade nicht erreichten, während sich umgekehrt auch aus jüngster Zeit zahlreiche Beispiele für gelungene Kodifikationsarbeiten anführen ließen.

5. Aufgaben der Kodifikation in heutiger Zeit

Halten die Anhänger der Kodifikationsidee deren Zeit also noch nicht für abgelaufen, so plädieren sie gleichwohl dafür, die Aufgaben eines zentralen Gesetzbuches zu überdenken. Dem Publizitätsgebot wird in der gegenwärtigen Kodifikationsdebatte keine Bedeutung mehr zugemessen. Die Erwartung, dass der juristische Laie die Gesetze kennen und verstehen könne, erweise sich heute mehr denn je als unrealistisch. Auch das ursprüngliche Ideal der Vollständigkeit der Kodifikation, das selbst vom preußischen ALR als dem umfangreichsten aller Gesetzbücher nicht mit letzter Konsequenz verfolgt worden war, müsse heute stark relativiert werden. Häufig sei es empfehlenswert, neuartige, noch nicht gefestigte Materien zunächst in Nebengesetzen zu behandeln. Daneben müssten vielfach aber auch Rechtsprechung und Wissenschaft mit der Weiterentwicklung des Rechts betraut werden (etwa mittels bewusster Regelungslücken, unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln). Die Funktionen der Rechtsvereinheitlichung und der Stiftung nationaler Identität galten lange Zeit auch schon als überholt, erleben derzeit hingegen eine Renaissance in der Debatte über ein Europäisches Zivilgesetzbuch.

Als wichtigste und nach wie vor unverzichtbare Aufgabe der Kodifikation wird heute die der Systematisierung des Rechtsstoffs angesehen. Diese mache innere Zusammenhänge zwischen verschiedenartigen Problemkomplexen deutlich und leiste so einen wichtigen Beitrag gerade auch zur Bewältigung neuartiger Herausforderungen. Zudem sei die Kodifikation notwendiger Hintergrund für die gesamte Sondergesetzgebung, indem sie die grundlegenden Rechtsbegriffe und ‑institute bereitstelle. Dem inhaltlichen Vorzug der Systematisierung stehe ein formaler an der Seite: Die Kodifikation ermögliche es, die Rechtsordnung in periodischen Abständen zu bereinigen, indem veraltetes Recht ausgeschieden und neu entstandenes Recht mittels einer „Rekodifikation“ in das bestehende System eingearbeitet wird. Nur so könne die Zersplitterung des Rechts in eine Unzahl von Quellen, die auch der geschulte Jurist nicht mehr überblicken kann, verhindert werden. Die Kodifikation soll also einen zentralen Beitrag zum Rechtszugang und zur Rechtsklarheit leisten.

6. Fazit und Ausblick

Kodifikation ist nach den Worten Franz Wieackers eine „einzigartige, schwer errungene und schwer zu verteidigende Schöpfung der Rechtsgesittung“. Die kontinentaleuropäische Rechtstradition ist seit dem 18. Jahrhundert untrennbar mit dieser Schöpfung verbunden, die aber auch in der übrigen Welt deutliche Spuren hinterlassen hat. Die ursprünglichen Ziele der Kodifikation mussten im 20. Jahrhundert korrigiert werden, doch wird sie auch im 21. Jahrhundert ein bewährtes Werkzeug der Rechtstechnik bleiben.

Literatur

Franz Wieacker, Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee, in: Festschrift für Gustav Boehmer, 1954, 34 ff.; Helmut Coing, An Intellectual History of European Codification in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Samuel S. Stoljar, (Hg.), Problems of Codification, 1977, 16 ff.; Karsten Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee: Rechtsprechung, Wissenschaft und Gesetzgebung vor den Gesetzeswerken des geltenden Rechts, 1985; Hein Kötz, Taking Civil Codes Less Seriously, Modern Law Review 50 (1987) 1 ff.; Shael Herman, Schicksal und Zukunft der Kodifikationsidee in Amerika, in: Reinhard Zimmermann (Hg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, 1995, 45 ff.; Reinhard Zimmermann, Codification: History and Present Significance of an Idea, European Review of Private Law 3 (1995) 95 ff.; Bruno Oppetit, Essai sur la codification, 1998; Natalino Irti, L’eta della decodificazione, 4. Aufl. 1999; Pio Caroni, Gesetz und Gesetzbuch: Beiträge zu einer Kodifikationsgeschichte, 2003; Johannes H.A.Lokin, Willem J. Zwalve, Hoofdstukken uit de Europese Codificatiegeschiedenis, 3. Aufl. 2006.

Abgerufen von Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung – HWB-EuP 2009 am 19. April 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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