Europäisches Internationales Familienrecht

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von Dieter Martiny

1. Begriff

Das europäische internationale Familienrecht ist Teil des internationalen Privatrechts. Es betrifft die gemeinschaftsrechtliche Regelung des internationalen Familienrechts. Das materielle Familienrecht in der Europäischen Union ist nicht vereinheitlicht, vielmehr ist das Sachrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten verschieden. Das internationale Privatrecht wird seit einiger Zeit europäisiert. Es werden immer mehr einheitliche europäische prozessrechtliche Regeln und auch materiellrechtliche Kollisionsregeln eingeführt. Diese Entwicklung begann im Familienrecht zunächst mit dem Bestreben, einen einheitlichen europäischen Justizraum in verfahrensrechtlicher Hinsicht zu schaffen, hat inzwischen aber auch das materielle Kollisionsrecht erfasst. Das Familienrecht tangiert die Belange der Beteiligten sowohl in persönlicher als auch in finanzieller Hinsicht in erheblicher Weise. Die Zunahme an grenzüberschreitenden und multinationalen Familienbeziehungen macht daher eine Vereinheitlichung der familienrechtlichen Kollisionsnormen und – auch wenn das umstritten ist – langfristig wohl auch des materiellen Familienrechts in der EU notwendig. Das im Interesse der Unionsbürgerinnen und ‑bürger erstrebte Maß an Rechtssicherheit im internationalen Familienrecht kann einstweilen nur durch eine Harmonisierung der Kollisionsnormen sowie der Regelungen der internationalen Zuständigkeit, der gegenseitigen Anerkennung und der Vollstreckung (Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen) erreicht werden.

Die Entwicklung eines solchen internationalen europäischen Familienrechts ist langwierig und bereitet besondere Schwierigkeiten. Bereits die Gesetzgebungszuständigkeit weist Besonderheiten auf. Die nationale, die europäische und die internationale Sphäre müssen koordiniert werden. Europäische Inhalte müssen angesichts divergierender nationaler Konzepte entwickelt werden. Ein Teil der Vorschläge stammt von der Europäischen Kommission, aber auch von der GEDIP.

Zum Familienrecht in diesem Sinne gehören Kernbereiche wie das Ehe- und das Kindschaftsrecht (Ehe; Familie). Die divergierenden Auffassungen in der Gemeinschaft bezüglich nichtehelicher und gleichgeschlechtlicher Verbindungen (Nichteheliche Lebensgemeinschaften; Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften) führen allerdings zu Unschärfen. So grenzt die Rom I-VO (VO 593/2008) Schuldverhältnisse aus einem „Familienverhältnis“ oder aus „Verhältnissen, die nach dem auf diese Verhältnisse anzuwendenden Recht vergleichbare Wirkungen entfalten“, aus (Art. 1(2)(b)). Nach den Erwägungsgründen sollen Familienverhältnisse die Verwandtschaft in gerader Linie, die Ehe, die Schwägerschaft und die Verwandtschaft in der Seitenlinie umfassen. Für Verhältnisse, die mit der Ehe oder anderen Familienverhältnissen „vergleichbare Wirkungen entfalten“, wird auf eine gemeinschaftsrechtliche Definition verzichtet und nur auf das Recht des Mitgliedstaats, in dem sich das angerufene Gericht befindet, d.h. die lex fori verwiesen.

2. Europäische Kompetenz

Eine gemeinschaftsrechtliche Regelung des internationalen Familienrechts setzt eine taugliche Rechtsgrundlage im EG-Vertrag voraus. Eine Gesetzgebungskompetenz für ein insgesamt einheitliches europäisches Familienrecht besteht nicht. Die Europäische Gemeinschaft besitzt insoweit keine Rechtssetzungskompetenz, sondern ist auf die Regelung grenzüberschreitender familienrechtlicher Sachverhalte beschränkt. Der Vertrag von Amsterdam hat eine Zuständigkeit für einen „schrittweisen Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ eingeführt, die Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen nach Art. 65 EG umfasst (Art. 61(c) EG). Diese betreffen u.a. die Verbesserung und Vereinfachung der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher sowie außergerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Art. 65(a) EG) sowie die „Förderung der Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen und Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten“ (Art. 65(b) EG). Darunter fallen ebenfalls familienrechtliche Vorhaben. Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass nicht nur verfahrensrechtliche Vorschriften gemeint sind, sondern auch eine Koordination der Kollisionsnormen durch Vereinheitlichung erfolgen kann.

Wie auch sonst im europäischen Kollisionsrecht dürfen die Kollisionsnormen auch universell gegenüber Drittstaaten anwendbar sein. Eine gemeinschaftsrechtliche Regelung des internationalen Familienrechts ist grundsätzlich auch mit den gemeinschaftlichen Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vereinbar (s. Art. 5(2), (3) EG/5(3), (4) EU (2007)). Insoweit kommt es allerdings auf den Inhalt des geplanten Rechtsakts an.

Seit Inkrafttreten des Vertrags von Nizza am 1.2.2003 gelten zwei verschiedene Gesetzgebungsverfahren: das regelmäßige Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EG/294 AEUV) und ausnahmsweise die einstimmige Annahme im Rat nach einfacher Anhörung des Europäischen Parlaments (Art. 67(5)). Das Einstimmigkeitsverfahren ist Maßnahmen vorbehalten, die „familienrechtliche Aspekte“ enthalten. Der Rat muss den Vorschlag nach Anhörung des Parlaments einstimmig annehmen.

Die Zuordnung der Vorschläge zu den Gesetzgebungsverfahren ist in der Regel problemlos. Zum Familienrecht im Sinne des Art. 67 EG gehören beispielsweise die Ehesachen und die elterliche Verantwortung. Nach Art. 67(2) 2. Spiegelstrich EG können die Mitgliedstaaten nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig beschließen, dass über einen familienrechtlichen Verordnungsvorschlag ausnahmsweise im Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EG, d.h. mit qualifizierter Mehrheit und Zustimmung des Europäischen Parlaments, entschieden wird. Dies haben Kommission und Rat für das Unterhaltsrecht erfolglos versucht.

An der Zweispurigkeit des Gesetzgebungsverfahrens soll auch der Vertrag von Lissabon nichts ändern. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) enthält ein Kapitel 3 „Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen“. Der Art. 65 EG über die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen findet sich – unter weitgehender Beseitigung des Binnenmarkterfordernisses – als Art. 81(1) AEUV wieder. Grundsätzlich gilt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren von Europäischem Parlament und Rat (Art. 81(2) AEUV). Auch hierzu gibt es eine Einschränkung. Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug werden nämlich vom Rat in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren festgelegt (Art. 81(3) AEUV). Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments (Art. 81(3)(I)2 AEUV).

Nach einer Unterausnahme kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einen Beschluss erlassen, durch den die Aspekte des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug bestimmt werden, die Gegenstand von Rechtsakten sein können, welche im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden (Art. 81(3)(II) AEUV). Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments (Art. 81(2)(II)2 AEUV). Nunmehr spielen aber auch die nationalen Parlamente bei dieser Überleitungsklausel für das Familienrecht eine Rolle. Der Verordnungsvorschlag wird nämlich den nationalen Parlamenten übermittelt (Art. 81(3)(II)1 AEUV). Wird der Vorschlag innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung auch nur von einem nationalen Parlament abgelehnt, so wird der sog. Überleitungsbeschluss nicht erlassen (Art. 81(3) (II)2 AEUV). Weiter geht das Vetorecht der nationalen Parlamente allerdings nicht. Wird der Vorschlag nicht abgelehnt, so kann der Rat den Beschluss erlassen.

3. Internationalprivatrechtliche Ansätze

Die Entwicklung des europäischen internationalen Familienrechts steht zunächst einmal vor den gleichen Problemen wie das sonstige europäische Kollisionsrecht. Die Auswirkungen des europäischen Primärrechts, insbesondere der Grundfreiheiten, sind zu berücksichtigen. Zunehmend wird auch die Personenfreizügigkeit (Art. 18 EG/21 AEUV) aufgrund der Unionsbürgerschaft (Art. 17 EG/20 AEUV) für die kollisionsrechtlichen Fragestellungen und Anknüpfungen fruchtbar gemacht.

Soweit Kollisionsnormen im klassischen Sinne entworfen werden sollen, fehlt es noch an einem gesonderten Allgemeinen Teil, so dass die Haltung etwa zu ordre public oder Rück- und Weiterverweisung (Renvoi) erst noch erarbeitet werden muss. Es ist anzunehmen, dass auch hier der ordre public nur eine sehr eingeschränkte Rolle spielen wird. Rück- und Weiterverweisung dürften sich angesichts weitgehend befürworteter Anknüpfung an den Parteiwillen und den gewöhnlichen Aufenthalt kaum durchsetzen.

Für die Kollisionsnormen ist ein schlüssiges System von Anknüpfungen erst in der Diskussion. Zwar ist die Staatsangehörigkeit für das nationale Kollisionsrecht noch in großem Umfang der entscheidende Anknüpfungspunkt. Der EuGH Europäischer Gerichtshof (EuGH) hat die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit bislang nicht als solche beanstandet. Für das europäische Kollisionsrecht ist sie allerdings zur Vermeidung einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit (Diskriminierungsverbot (allgemein)), aber auch im Hinblick auf die zunehmende Mobilität im Binnenmarkt, nicht als primärer Anknüpfungspunkt geeignet. Gleichwohl steht sie für einen engen Zusammenhang und kann daher insbesondere bei der gemeinsamen Staatsangehörigkeit einen Anknüpfungspunkt bilden.

Um den tatsächlichen Bezügen des Betroffenen zur jeweiligen Umwelt zu genügen, aber auch aus praktischen Gründen steht als Anknüpfungspunkt heute der gewöhnliche Aufenthalt der Betroffenen im Vordergrund. Vorschläge für die objektive Anknüpfung im europäischen internationalen Familienrecht gehen hiervon im Allgemeinen aus. Insbesondere für Ehegatten unterschiedlicher Staatsangehörigkeit kommt die Maßgeblichkeit des Rechts ihres gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts in Betracht.

Ferner zeichnet sich ein Ausbau der Parteiautonomie mit einer begrenzten Rechtswahl auch in familienrechtlichen Angelegenheiten auch bezüglich des Status (z.B. Ehescheidung) ab. Auf diese Weise können die Betroffenen selbst die Rechtsordnung bestimmen, zu der sie eine enge Beziehung haben.

Die einzelnen Anknüpfungen müssen sachgerecht sein, beispielsweise im Kindschaftsrecht dem Kindeswohl dienen. Verfahrensrechtlich zielen die Vorschläge im Allgemeinen auf eine verstärkte Behördenzusammenarbeit ab.

Vor allem im Hinblick auf das Namensrecht wird diskutiert, wieweit es möglich wäre, statt eines auf die Anwendung einer Rechtsordnung, d.h. eines eigentlich kollisionsrechtlichen Ansatzes, eine bloße Anerkennung der jeweiligen ausländischen namensrechtlichen Regelung anzuordnen. Eine solche Anerkennungsregel würde dann eine eigenständige Anknüpfung der jeweiligen Frage durch Kollisionsnormen überflüssig machen. Die Anerkennung könnte sich auf behördliche Akte, eine Statusbegründung oder ganz allgemein auch auf Rechtslagen beziehen.

Einer der Auslöser der Diskussion ist der Fall des Spaniers Garcia Avello, der mit seiner belgischen Ehefrau I. Weber und seinen beiden belgisch-spanischen Kindern in Belgien wohnte. Die Kinder erhielten nach belgischem Recht den Vaternamen – Garcia Avello – als Familiennamen; eine Namensänderung wurde abgelehnt. Nach der im spanischen Recht verankerten Übung setzt sich aber der Kindesname aus dem ersten Namen seines Vaters, gefolgt vom ersten Namen seiner Mutter, zusammen. Nach Auffassung des EuGH verwehren es die Art. 12 EG (Diskriminierungsverbot (allgemein)) und Art. 17 EG (Unionsbürgerschaft), einen Antrag auf Namensänderung von Kindern mit doppelter Staatsangehörigkeit abzulehnen, wenn die Kinder nach dem Antrag den Namen führen sollen, den sie nach dem Recht und der Tradition des zweiten Mitgliedstaates (Spanien) hätten (hier: „Garcia Weber”). Im Ergebnis soll eine Diskriminierung vorliegen, wenn der Name nicht nach dem Heimatrecht geändert werden kann. (EuGH Rs. C-148/02 – Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613).

Der EuGH hat diese Linie in einem Fall fortgesetzt, in dem einem in Dänemark geborenen und hauptsächlich dort lebenden Kind, das allein die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, in Deutschland die Führung eines nach dänischem Recht möglichen, nach deutschem Recht aber unzulässigen Doppelnamens versagt wurde (EuGH Rs. C-353/06 – Grunkin-Paul, NJW 2009, 135). Zwar wurde die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit nicht als solche beanstandet. Entscheidend war jedoch die Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 18 EG. Diese dürfen nicht allein deswegen benachteiligt werden, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch machen. In den Mitgliedstaaten jeweils einen anderen Namen führen zu müssen, stellt einen schwerwiegenden und unverhältnismäßigen Nachteil dar. Die deutschen Behörden durften daher nicht unter Anwendung deutschen Rechts ablehnen, den Nachnamen eines Kindes anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat bestimmt und eingetragen wurde, in dem dieses Kind geboren wurde und seitdem wohnt.

4. Europäische Verordnungen

Bislang findet sich europäisches internationales Familienrecht lediglich in verfahrensrechtlichen Verordnungen. Der Erlass sowohl das materielle Recht als auch das Verfahrensrecht umfassender Verordnungen ist jedoch geplant. Das internationale Unterhaltsverfahrensrecht wird von der Brüssel I-VO (VO 44/2001) erfasst. Ferner gilt die Brüssel IIa-VO (VO 2201/2003) über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der VO 1347/2000.

Inzwischen ist eine eigene Regelung zum internationalen Unterhaltsrecht (Unterhalt) entwickelt worden. Die Unterhalts-VO (VO 4/ 2009) betrifft das internationale Verfahrensrecht, insbesondere die internationale Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen sowie die Zusammenarbeit der nationalen Behörden. Ursprünglich waren auch eigenständige Kollisionsnormen vorgesehen. Nach der Endfassung bestimmt sich das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht für die Mitgliedstaaten, die durch das Haager Protokoll vom 23.11.2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht gebunden sind, nach jenem Protokoll (Art. 15 Unterhalts-VO). Auf diese Weise wird eine weitere Zersplitterung des internationalen Unterhaltsrechts vermieden.

Ferner sollen europäische Kollisionsregeln für das Ehegüterrecht entwickelt werden. Bislang gibt es dazu nur ein Grünbuch und eine erste Auswertung der Antworten darauf.

Einstweilen gescheitert ist der Erlass einer Rom III-VO. Hierfür wollte man Vorschriften betreffend das anwendbare Recht in die Brüssel IIa-VO einfügen. Dies könnte bei einer Aufenthaltsanknüpfung und einem Auslandsaufenthalt zur Anwendung eines fremden Rechts führen, wonach eine Ehescheidung gar nicht oder nur unter Einschränkungen möglich ist. Eine solche Regelung scheiterte am Widerstand Schwedens und Finnlands, da dort das Erreichen einer leichten Scheidung als Menschenrecht gilt (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK).

5. Staatsverträge

Eine sich aus der Innenkompetenz der Gemeinschaft ergebende Außenkompetenz der EG hat der EuGH entwickelt: Die Gemeinschaft kann internationale Vereinbarungen schließen, wenn sie bereits von ihrer internen Kompetenz Gebrauch gemacht hat, um Maßnahmen zur Umsetzung von Gemeinschaftspolitiken zu erlassen, oder wenn dies zur Erreichung eines Ziels der EG erforderlich ist (EuGH Rs. 22/70 – Kommission/Rat, Slg. 1971, 263). Folglich besteht eine Außenkompetenz der Gemeinschaft, wenn Rechtsakte erlassen werden, die sich konkret auf Art. 65 EG/81 AEUV stützen.

Die Außenkompetenz der Gemeinschaft ist ausschließlicher Natur, soweit eine internationale Vereinbarung innergemeinschaftliche Vorschriften berührt oder in ihren Anwendungsbereich eingreift. Dann ist es Sache der Gemeinschaft, externe Vereinbarungen mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen zu schließen. Eine solche Vereinbarung kann vollständig oder nur teilweise in die ausschließliche Außenkompetenz der Gemeinschaft fallen. Im letzteren Fall handelt es sich um eine zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten geteilte (gemischte) Kompetenz. Je nach Materie kann auch eine lediglich konkurrierende Zuständigkeit vorliegen.

Der Gerichtshof nimmt ferner an, dass die Mitgliedstaaten selbst, wenn gemeinsame Rechtsnormen erlassen worden sind, weder einzeln noch gemeinsam handelnd berechtigt sind, mit Drittstaaten Verpflichtungen einzugehen, die diese Normen beeinträchtigen. Auch in einem solchen Fall verfügt die Gemeinschaft für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge über eine ausschließliche Zuständigkeit. Dementsprechend muss die EG nach außen einheitlich auftreten. Allerdings besteht nach wie vor ein Bedürfnis für bilaterale Abkommen von Mitgliedstaaten mit Drittstaaten. Insofern existiert ein Vorschlag von 2008 für eine Verordnung zur Einführung eines Verfahren für die Aushandlung und den Abschluss bilateraler Abkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern in Teilbereichen des Familienrechts, nämlich für die Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehe- und Unterhaltssachen sowie Fragen der elterlichen Verantwortung und das anwendbare Recht in Unterhaltssachen.

Seit dem 3.4.2007 ist die Gemeinschaft als regionale Organisation Mitglied der Haager Konferenz für internationales Privatrecht. Die Gemeinschaft hat eine Zuständigkeitserklärung hinterlegt, in der die Bereiche aufgeführt sind, in denen ihr die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten übertragen haben. Es handelt sich dabei um die Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitenden Bezügen, soweit sie für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind (Titel IV des EG-Vertrags).

Für die Anwendung unter den Mitgliedstaaten beansprucht die verfahrensrechtliche Brüssel IIa-VO grundsätzlich Vorrang vor den einschlägigen Konventionen. Allerdings geht der Vorrang nur so weit, wie die Verordnung reicht. Das materielle Kollisionsrecht wird daher grundsätzlich nicht erfasst. Angestrebt wird, dass die bestehenden Konventionen, insbes. bezüglich der Kindesentführung, von der Verordnung nicht völlig beiseite geschoben, sondern durch weitergehende Regeln ergänzt werden (siehe Art. 11 Brüssel IIa-VO).

Besondere Probleme bereitete das Inkraftsetzen bereits bestehender Haager Konventionen. Der spanisch-britische Streit um die Anwendung des Haager Kinderschutzübereinkommens (KSÜ) (Kinderschutz; Kindschaftsrecht, internationales) in den Beziehungen zu Gibraltar hat lange Zeit das Inkrafttreten des Übereinkommens für die meisten Alt-EU-Mitgliedstaaten verhindert. Die Konvention betrifft nämlich auch Materien, welche von der Brüssel IIa-VO erfasst sind, weswegen die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten beschränkt ist. Der Rat hat inzwischen diejenigen Mitgliedstaaten, welche dem Übereinkommen noch nicht beigetreten waren, ermächtigt, es zu unterzeichnen und auch zu ratifizieren.

Werden die Europäische Gemeinschaft und/ oder ihre Mitgliedstaaten Teilnehmer dieser neuen Haager Übereinkommen, so stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die völkerrechtlichen Übereinkommen zum Gemeinschaftsrecht stehen, da sie sich auf dieselben Gegenstände beziehen. Die durch eine doppelte Regelung in der Praxis zu erwartende Rechtsunsicherheit verlangt nach der Bestimmung eines Anwendungsvorrangs. In den Haager Regelungen sind hierzu bereits vorsorgliche Bestimmungen getroffen worden. Nach Art. 51(4) Haager Unterhaltsübereinkommen von 2007 berührt die Konvention nicht die intragemeinschaftliche Anwendung von Bestimmungen einer regionalen supranationalen Wirtschaftsgemeinschaft, die Teilnehmer der Konvention ist. Nach dem Entwurf der Unterhalts-VO haben ihre Bestimmungen im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander Vorrang vor Konventionen und Verträgen.

Das am 1.1.2009 in Kraft getretene Haager Erwachsenenschutz-Übereinkommen vom 13.1. 2000 (Erwachsenenschutz) fällt dagegen lediglich in die von der EG noch nicht ausgeübte konkurrierende Kompetenz und konnte daher von den Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – problemlos ratifiziert werden.

Auf dem Gebiet des Personenstandswesens sind mehrere europäische Staatsverträge im Rahmen der Internationalen Zivilstandskommission (CIEC) geschlossen worden.

6. Internationales Verfahrensrecht

Eine Regelung der internationalen Zuständigkeit findet sich für Unterhaltssachen bislang in der oben genannten Brüssel I-VO; der Unterhalt gehört hier zu den Zivil- und Handelssachen. Künftig, voraussichtlich ab 18.6.2011, wird die Unterhalts-VO eingreifen, die in erster Linie auf den gewöhnlichen Aufenthalt von Beklagtem oder Unterhaltsberechtigtem abstellt, aber auch eine akzessorische Zuständigkeit sowie Gerichtsstandsvereinbarungen, eine Auffangzuständigkeit sowie ein forum necessitatis (Notzuständigkeit) kennt. Für die Ehescheidung (Ehe) und die elterliche Verantwortung ist die internationale Zuständigkeit in der Brüssel IIa-VO geregelt. Danach kommt es in erster Linie auf den gewöhnlichen Aufenthalt an.

Einheitliche Regeln für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen enthält für Unterhaltssachen bislang die Brüssel I-VO, für Ehesachen und die elterliche Verantwortung die Brüssel IIa-VO. Sondervorschriften befinden sich in der Brüssel IIa-VO bezüglich der internationalen Kindesentführung. Diese wollen über die Haager Kindesentführungskonvention 1980 hinaus die Rückgabe von Kindern sicherstellen. Die Unterhalts-VO sieht für Entscheidungen aus Mitgliedstaaten, die durch das Haager Protokoll von 2007 gebunden sind, eine Abschaffung des Exequaturverfahrens vor. Allerdings besteht ein Recht auf Nachprüfung der Entscheidung im Ursprungsstaat. Die Voraussetzungen für die Anerkennung von Entscheidungen aus den anderen Mitgliedstaaten sind ähnlich wie in der Brüssel I-VO gestaltet worden.

Literatur

Paul Lagarde, Développements futurs du droit international privé dans une Europe en voie d’unification: quelques conjectures, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 68 (2004) 225 ff.; Dieter Henrich, Anerkennung statt IPR: Eine Grundsatzfrage, Praxis der internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2005, 422 ff.; Dagmar Coester-Waltjen, Anerkennung im Internationalen Personen-, Familien- und Erbrecht und das Europäische Kollisionsrecht, Praxis der internationalen Privat- und Verfahrensrechts 2006, 392 ff.; Heinz-Peter Mansel, Anerkennung als Grundprinzip des Europäischen Rechtsraums, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 70 (2006) 651 ff.; Alegría Borrás, Prinzipien des Internationalen Familienrechts, in: Gerte Reichelt (Hg.), Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 2007, 55 ff.; Johan Meeusen, Marta Pertegás, Gert Straetmans, Frederik Swennen (Hg.), International Family Law for the European Union, 2007; Alberto Malatesta, Stefania Bariatti, Fausto Pocar (Hg.), The External Dimension of EC Private International Law in Family and Succession Matters, 2008; Dieter Martiny, Auf dem Weg zu einem europäischen Internationalen Ehegüterrecht, in: Festschrift für Jan Kropholler, 2008, 373 ff.; idem, Die Entwicklung des Europäischen Internationalen Familienrechts: ein juristischer Hürdenlauf, Familie, Partnerschaft, Recht 2008, 187 ff.; Rolf Wagner, Konturen eines Gemeinschaftsinstruments zum internationalen Güterrecht unter besonderer Berücksichtigung des Grünbuchs der Europäischen Kommission, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2009, 269 ff.

Abgerufen von Europäisches Internationales Familienrecht – HWB-EuP 2009 am 10. Dezember 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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