Einstweiliger Rechtsschutz

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von Christian Heinze

1. Gegenstand und Zweck

„To no one will we sell, to no one will we refuse or delay, right or justice”, dieses Versprechen schleunigen Rechtsschutzes stellt auch 800 Jahre nach der Magna Charta Libertatum von 1215 (1297 c.9, Kap. 40) eine fortdauernde Herausforderung für das Zivilprozessrecht dar. Zu seiner Verwirklichung haben die europäischen Prozessordnungen unterschiedliche Formen der Beschleunigung auf dem Weg zu einem vollstreckbaren Titel entwickelt, die neben dem einstweiligen Rechtsschutz auch Institute wie das Mahnverfahren, die vorläufige Vollstreckbarkeit nichtrechtskräftiger Entscheidungen, den Urkundenprozess und die konzentrierten und vereinfachten Verfahren (insbesondere bei niedrigen Streitwerten) umfassen. Von den übrigen Formen beschleunigter Verfahren unterscheidet sich der einstweilige Rechtsschutz durch seine verfahrensrechtliche und inhaltliche Einstweiligkeit. Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes sind verfahrensrechtlich einstweilig, denn sie behalten die endgültige und abschließende Entscheidung dem Hauptsacheverfahren vor. Sie sind auch inhaltlich einstweilig, weil faktisch endgültige und dem Hauptsacherechtsschutz unwiderruflich vorgreifende Entscheidungen grundsätzlich vermieden werden sollen. Schließlich sind sie (häufig) auch im Hinblick auf den zugrunde liegenden Tatsachenstoff einstweilig, weil die Eilbedürftigkeit des Rechtsschutzes zuweilen eine Einschränkung der gerichtlichen Kognition bedingt. Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes ist es, die Wirksamkeit des Rechtsschutzes in der Hauptsache und damit letztendlich des materiellen Rechts zu sichern (vgl. Ziffer 8.1 der ALI/UNIDROIT Principles of Transnational Civil Procedure).

2. Ursprung und Erscheinungsformen

Das römische Recht kannte keinen einheitlichen Typ des beschleunigten oder summarischen Verfahrens. Beschleunigter und vorläufiger Rechtsschutz war zunächst möglich durch die Interdikte des Prätors, die vor allem den Besitzschutz und den Rechtsfrieden sicherten. Allerdings verblasste der Unterschied zwischen actio und interdictum zunehmend, bis er sowohl bei Justinian wie im weströmischen Vulgarrecht weitgehend gegenstandslos wurde. Erst die Clementina Saepe von 1306 schuf für das kanonische Verfahren einen allgemeinen summarischen Prozess, während das gemeine Recht als „bestimmt summarische“ Verfahren den Mandatsprozess (als Vorläufer des Mahnverfahrens), den Exekutivprozess (als Vorläufer des Urkundenverfahrens) und den Arrestprozess entwickelte, die durch partikularrechtliche Vorläufer der einstweiligen Anordnung ergänzt wurden. Einen anderen Weg ging das englische Recht, das in Anknüpfung an die römischen Interdikte die injunction als Rechtsbehelf der equity auch zur Gewährleistung einstweiligen Rechtsschutzes ausformte.

Im modernen Recht unterscheidet die Prozessrechtsvergleichung drei Grundtypen des einstweiligen Rechtsschutzes, nämlich Maßnahmen zur Sicherung des Vollstreckungszugriffs, Maßnahmen zur vorläufigen Aufrechterhaltung oder Regelung einer Sach- oder Rechtslage sowie Maßnahmen zur endurteilsgleichen Befriedigung (vgl. auch Ziffern 10.1.1-10.1.3 Storme-Principles). Zu ergänzen sind Beweissicherungsmaßnahmen, deren Qualifikation als einstweilige Maßnahmen bisher umstritten ist. Im Gemeinschaftsrecht findet sich der Begriff der einstweiligen oder vorläufigen Maßnahme inzwischen in zahlreichen Rechtsakten (z.B. Art. 242, 243 EG/ 278, 279 AEUV; Art. 31, 47 EuGVO [VO 44/2001]; Art. 20 Brüssel IIa-VO [VO 2201/2003]; Art. 99 Gemeinschaftsmarken-VO [VO 40/94 = Art. 103 VO 207/2009 (konsolidierte Fassung)]; Art. 90 Gemeinschaftsgeschmacksmuster-VO [VO 6/ 2002]; Art. 7, 9 Durchsetzungs-RL [RL 2004/48]; Art. 18(1) E‑Commerce-RL [RL 2000/31]; Art. 11(2) der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken [RL 2005/29]; Art. 2(1)(a) der Unterlassungsklagen-RL [RL 98/27]; Art. 50 TRIPS). Der EuGH definiert die „einstweiligen Maßnahmen einschließlich solcher, die auf eine Sicherung gerichtet sind“ i.S.d. Art. 31 EuGVO als Maßnahmen, die „eine Veränderung der Sach- und Rechtslage verhindern sollen, um Rechte zu sichern, deren Anerkennung im Übrigen bei dem in der Hauptsache zuständigen Gericht beantragt wird“ (EuGH Rs. C-261/90 – Reichert, Slg. 1992, I-2149, Rn. 34). In seiner Rechtsprechung zu Art. 50 TRIPS hat der Gerichtshof demgegenüber bei der Subsumtion unter den Begriff der einstweiligen Maßnahme darauf abgestellt, dass die relevante Maßnahme im nationalen Recht als „sofortige einstweilige Maßnahme“ bezeichnet wird, aus Gründen der Dringlichkeit erlassen wird und nicht rechtlich endgültig ist, weil die Parteien das Recht haben, nach Erlass der Maßnahme ein Hauptsacheverfahren einzuleiten (EuGH Rs. C-53/96 – Hermès, Slg. 1998, I-3603, Rn. 37 f.). Im Folgenden sollen einstweilige Maßnahmen als Maßnahmen definiert werden, die aus Gründen der Dringlichkeit erlassen werden, um bis zum Abschluss eines rechtlich möglichen Hauptsacheverfahrens Beweismaterial oder Vermögen vorläufig zu sichern oder eine bestehende Sach- oder Rechtslage vorläufig aufrechtzuerhalten oder zu regeln, um Rechte zu sichern, deren Anerkennung im Übrigen bei dem Hauptsachegericht beantragt werden kann.

a) Sicherung des Vollstreckungszugriffs und Beschlagnahme

Zur Sicherung der Vollstreckung von Zahlungsanordnungen sehen die meisten europäischen Rechtsordnungen die Möglichkeit einer Pfändung (zuweilen aufgrund eines vorhergehenden Arrestbeschlusses) vor (Deutschland: Arrest, §§ 916, 930, 932 ZPO; Frankreich: saisie conservatoire und sûreté judiciaire, Art. 67 Loi No. 91-650 vom 9.7.1991 i.V.m. Art. 210 ff. Décret No. 92-755 vom 31.7.1992; Italien: sequestro conservativo, Art. 671, 677-679 CPC; Schweiz: Arrest, Art. 271-281 SchKG; Spanien: embargo preventivo, Art. 727 Nr. 1 LEC). Als Alternativmodell findet sich das persönliche Verfügungsverbot in England (freezing injunction, CPR 25.1 Abs. 1 lit. f) und Österreich (§ 379 Abs. 3 Nr. 2-5, Abs. 4 EO), zuweilen auch als subsidiäres Institut der persönliche Arrest (Deutschland: §§ 918, 933 ZPO; England: injunction ne exeat regno; Österreich: § 386 EO). Die Sicherung von beweglichen Sachen erfolgt durch Beschlagnahme, Sequestration oder Veräußerungsverbote (Deutschland: §§ 935, 938 Abs. 2 ZPO, 135 f. BGB; England: CPR 25.1 Abs. 1 lit. c (i); Frankreich: Art. 1961 Code civil, Art. 155 ff. Décret 1992; Italien: Art. 670 Nr. 1 CPC; Österreich: § 382 Nr.1-7 EO; Schweiz: Art. 262 eidg. ZPO; Spanien: Art. 727 Nr. 2, 3, 9 LEC). Das Gemeinschaftsrecht garantiert in Art. 9(2) Durchsetzungs-RL für Immaterialgüterrechtsverletzungen im gewerblichem Ausmaß nach dem Vorbild der englischen freezing injunction die Möglichkeit der vorsorglichen Beschlagnahme beweglichen und unbeweglichen Vermögens einschließlich der Sperrung von Bankkonten und der Beschlagnahme sonstiger Vermögenswerte, wenn die geschädigte Partei glaubhaft macht, dass die Erfüllung ihrer Schadensersatzforderung fraglich ist. Zu diesem Zweck können die zuständigen Behörden auch die Übermittlung von Bank-, Finanz- oder Handelsunterlagen oder einen geeigneten Zugang zu den entsprechenden Unterlagen anordnen. Es gewährleistet ferner durch Art. 9(1)(a) Durchsetzungs-RL die Beschlagnahme oder Herausgabe der Waren, bei denen der Verdacht auf Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums besteht (zu Beschlagnahmeanordnungen auch Art. 7(2) RL 91/250; Art. 8(2) RL 2001/29; Art. 89(1)(b) und (c) Gemeinschaftsgeschmacksmuster-VO).

b) Vorläufige Regelung einer Sach- und Rechtslage

Zweiter Grundtyp der einstweiligen Maßnahme ist die vorläufige Regelung einer Sach- und Rechtslage, die aufgrund ihrer vielgestaltigen Erscheinungsformen regelmäßig durch eine Generalklausel garantiert wird (Deutschland: § 940 ZPO, England: CPR 25.1 Abs. 1 lit. a; Frankreich: Art. 808, 809 Abs. 1 CPC; Österreich: § 381 Nr. 2 EO; Schweiz: Art. 262, insbesondere lit. a und b eidg. ZPO; Spanien: Art. 727 Nr. 11 LEC).

c) Vorläufige Befriedigung

aa) Unterlassungs­anordnungen

Zwischen der vorläufigen Regelung und der vorläufigen Befriedigung stehen die in allen Rechtsordnungen anerkannten einstweiligen Unterlassungsanordnungen (Deutschland: § 940 ZPO, England: CPR 25.1 Abs. 1 lit. a; Frankreich: Art. 808, 809 Abs. 1 CPC; Italien: Art. 700 CPC; Österreich: § 381 Nr. 2 EO; Schweiz: Art. 262 lit. a eidg. ZPO; Spanien: Art. 727 Nr. 7 LEC), die zuweilen in Spezialgesetzen (etwa des geistigen Eigentums) geregelt sind. Nach dem Vorbild von Art. 50(1)(a) TRIPS garantiert auch das Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit einstweiliger Unterlassungsanordnungen zur Abwehr von (drohenden) Immaterialgüterrechtsverletzungen (Art. 9(1)(a) Durchsetzungs-RL; Art. 98(1)1, 99 Gemeinschaftsmarken-VO [= Art. 102, 103 VO 207/2009]; Art. 89(1)(a), 90 Gemeinschaftsgeschmacksmuster-VO; Art. 94(1) Gemeinschaftssortenschutz-VO (VO 2100/94); Art. 8(2), 3 RL 2001/29; Art. 18(1) RL 2000/31).

bb) Leistungs­anord­nungen

Deutlich gespaltener als bei Unterlassungsanordnungen sind die Prozessordnungen Europas bei vorläufigen Zahlungsanordnungen. Am großzügigsten sind hier die französischen Gerichte, die vorläufige Zahlungen im référé-Verfahren (Art. 809 Abs. 2 1. Alt., 484 ff. CPC) sowohl vor wie während eines laufenden Hauptsacheverfahrens nach liberalen Maßstäben gewähren. Ebenfalls eher großzügig mit Zahlungsanordnungen während eines laufenden Hauptsacheverfahrens sind die englischen (interim payment order, CPR 25.1 Abs. 1 lit. k, Abs. 6, 7) und die italienischen Gerichte (Art. 186bis, 186quater CPC). Dem steht eine größere Zurückhaltung in Deutschland, der Schweiz und Spanien gegenüber. Die deutschen Gerichte gestatten vorläufige Leistungsanordnungen im Wesentlichen nur zur Deckung des Unterhaltsbedarfs (sog. Leistungsverfügung analog § 940 ZPO; siehe auch § 381 Nr. 8 lit. a EO). Der Entwurf für eine eidgenössische ZPO ermöglicht die Anordnung einer Geldzahlung durch einstweilige Maßnahme nur in den durch Gesetz bestimmten Fällen (Art. 262 lit. e eidg. ZPO), ähnlich ist die Rechtslage in Spanien aufgrund des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache (homogeneidad, Art. 726 Nr. 2 LEC) und der fehlenden ausdrücklichen Regelung vorläufiger Zahlungsanordnungen im Katalog des Art. 727 (siehe aber Art. 727 Nr. 11 LEC). Der EuGH zählt zwar im Interesse der Wirksamkeit des Eilrechtsschutzes im Grundsatz auch die Anordnung der vorläufigen Erbringung einer vertraglichen Hauptleistung zu den einstweiligen Maßnahmen i.S.d. Art. 31 EuGVO, allerdings zur Vermeidung einer Vorwegnahme der Hauptsache und Umgehung der Hauptsachezuständigkeiten der Art. 2-24 EuGVO nur dann, „wenn die Rückzahlung des zugesprochenen Betrages an den Antragsgegner in dem Fall, dass der Antragsteller nicht in der Hauptsache obsiegt, gewährleistet ist und wenn die beantragte Maßnahme nur bestimmte Vermögensgegenstände des Antragsgegners betrifft, die sich im örtlichen Zuständigkeitsbereich des angerufenen Gerichts befinden oder befinden müssten“ (EuGH Rs. C-391/95 – van Uden, Slg. 1998, I-7091, Rn. 47). Größere Skepsis besteht in allen Mitgliedstaaten im Hinblick auf positive Leistungsanordnungen, soweit sie nicht die Geldzahlung betreffen. Obwohl die Rechtsordnungen solche Anordnungen im Grundsatz gestatten (z.B. Deutschland: Leistungsverfügung analog § 940 ZPO; Frankreich: Art. 809 Abs. 2 Alt. 2 CPC; England: mandatory injunction, CPR 25.1 Abs. 3; Schweiz: Art. 262 lit. d eidg. ZPO) werden sie in der Praxis nur zurückhaltend erlassen.

cc) Durchsetzung von Hilfsansprüchen

Wiederum anders stellt sich das Panorama der europäischen Prozessordnungen bei der Durchsetzung von Hilfs- und Informationsansprüchen (Auskunft, Rechnungslegung, Besichtigung) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes dar. Hier ist vor allem im Immaterialgüterprozessrecht eine Tendenz unverkennbar, eine Durchsetzung der Informationsansprüche bereits im Wege einstweiliger Maßnahmen zu gestatten und das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache auf die Durchsetzung des Hauptanspruchs zu beziehen (Deutschland: § 140b Abs. 7 PatG, § 19 Abs. 7 MarkenG, § 101 Abs. 7 UrhG; England: CPR 25.1 Abs. 1 lit. g, n, o; Spanien: Art. 727 Nr. 4 LEC; siehe auch Art. 9(2)2 Durchsetzungs-RL).

d) Beweissicherung

Eng verwandt mit der Durchsetzung materiellrechtlicher Hilfsansprüche sind Maßnahmen der Beweissicherung und Beweisgewinnung. Solche Maßnahmen zählen Art. 50(1)(b) TRIPS und Art. 7(1) Durchsetzungs-RL ausdrücklich zu den einstweiligen Maßnahmen. Der EuGH will demgegenüber eine vorgezogene Zeugenvernehmung, deren wesentliches Ziel darin besteht, es dem Antragsteller zu ermöglichen, die Chancen und Risiken eines eventuellen Rechtsstreits zu beurteilen, nicht als einstweilige Maßnahme i.S.d. Art. 31 EuGVO qualifizieren (EuGH Rs. C-104/03 – St. Paul Dairy, Slg. 2005, I-3481, Rn. 24). Die nationalen Prozessordnungen sind in dieser Frage gespalten. Traditionell sehen manche Staaten die Beweissicherung eher als vorgezogenen Bestandteil des Beweisverfahrens an (Deutschland: §§ 485 ff. ZPO, Italien: Art. 692 ff. CPC; Österreich: §§ 384 ff. ZPO; Spanien: Art. 293 ff. LEC), während andere Prozessordnungen die Beweissicherung zu den einstweiligen Maßnahmen zählen (England: CPR 25.1 Abs. 1 lit. c (ii) – (iv), lit. h, i, j; Frankreich: Art. 145 CPC). Mit Blick auf die europäischen und internationalen Vorgaben empfiehlt es sich, auch die Beweissicherung als einstweilige Sicherungsmaßnahme anzusehen. Eine solche Sichtweise scheint sich zumindest im Immaterialgüterprozessrecht durchzusetzen (Deutschland: § 140c Abs. 3 PatG, § 19a Abs. 3 MarkenG, § 101a Abs. 3 UrhG; Italien: Art. 121 f., 128-130 Codice della proprietà industriale) und wäre auch konsequent, denn letztendlich geht es um eine einstweilige Sicherung zwar nicht des prozessualen Anspruchs, aber der Aufklärungsmittel zum Beweis desselben. Sie lässt sich auch mit der unglücklichen St. Paul Dairy-Entscheidung des EuGH vereinbaren, soweit die Beweismaßnahme neben der Zweckmäßigkeitsausforschung zumindest auch der Sicherung von Rechten durch Sicherung von Beweisen dient.

3. Tendenzen der Rechtsentwicklung

Die Rechtsentwicklung Europas seit dem römischen Recht deutet auf einen stetigen Bedeutungsgewinn einstweiliger Maßnahmen hin, der sich vor allem auf zwei Ursachen zurückführen lässt. Zum einen erweist sich der Hauptsacherechtsschutz in vielen Staaten schlicht als zu schwerfällig, was sich nicht zuletzt an der Vielzahl der Beschwerden über die Verletzung des Rechts auf eine Entscheidung in angemessener Frist (Art. 6(1) EMRK) ablesen lässt. Zum anderen hat die Ausdifferenzierung der Rechtsordnung, die Schnelligkeit gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technischer Innovation und die Privatisierung der Rechtsdurchsetzung das Bedürfnis für schleunigen Rechtsschutz durch die Zivilgerichte verstärkt. Nicht nur bei Streitigkeiten auf „marktnahen“ Feldern wie dem geistigen Eigentum oder dem Wettbewerbsrecht, sondern etwa auch in familienrechtlichen Auseinandersetzungen über Sorgerecht, Unterhaltszahlung oder Gewaltschutzanordnungen ist die Schnelligkeit der Entscheidung ein entscheidender Faktor für ihre Wirksamkeit. Folge dieses Bedeutungsgewinns ist eine zunehmende Überblendung und Substitution des Hauptsacherechtsschutzes durch Eilverfahren, indem entweder aus Gründen effektiven Rechtsschutzes bereits rechtlich eine Vorwegnahme der Hauptsache gestattet wird oder zumindest faktisch eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz von den Parteien als endgültig akzeptiert wird. Im Widerspruch zur Bedeutung des Eilrechtsschutzes stand bisher seine Berücksichtigung bei europäischen und internationalen Vereinheitlichungsprojekten. Erst in den neunziger Jahren nahmen durch die Rechtsprechung des EuGH und die Rechtssetzung in Spezialgebieten (TRIPS, Durchsetzungsrichtlinie) die europäischen und internationalen Vorgaben für den einstweiligen Rechtsschutz deutlichere Konturen an, so dass sich heute gemeinsame Mindeststandards einstweiliger Maßnahmen identifizieren lassen.

4. Regelungsstrukturen des Gemeinschaftsrechts

a) Garantie des einstweiligen Rechtsschutzes

Im Gemeinschaftsrecht hat der EuGH aus dem Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 47 GRCh, Faires Verfahren) und dem aus dem Mitwirkungsgebot des Art. 10 EG/4(3), 19(1)3 EU(2007)) abgeleiteten Effektivitätsgrundsatz über die Art. 242 und 243 EG/278, 279 AEUV hinaus eine allgemeine Garantie des einstweiligen Rechtsschutzes durch die mitgliedstaatlichen Gerichte entwickelt: Danach muss ein mit einem nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes nationales Gericht in der Lage sein, vorläufige Maßnahmen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen (EuGH Rs. C-432/05 – Unibet, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37 f., 67, 75). Deutlich zurückhaltender ist demgegenüber der EGMR, der Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6(1) EMRK einbeziehen will (EGMR Nr. 41237/98 – Moura Carreira). In internationalen Staatsverträgen findet sich eine Garantie einstweiligen Rechtsschutzes etwa auf dem Gebiet des geistigen Eigentums (Art. 41(1), 50 TRIPS).

b) Zuständigkeit

Bei der internationalen Zuständigkeit zum Erlass einstweiliger Maßnahmen lässt sich regelmäßig ein zweispuriges System beobachten (vgl. Art. 31 EuGVO; Art. 99 Gemeinschaftsmarken-VO = Art. 103 VO 207/2009; Storme-Principles Ziffer 10.4). Zum einen können einstweilige Maßnahmen bei einem in der Hauptsache zuständigen Gericht beantragt werden, auch wenn es noch nicht angerufen wurde. Zum anderen sind daneben auch die Gerichte des Staates zuständig, wo sich die begehrten einstweiligen Maßnahmen auswirken (EuGH Rs. C-391/95 – van Uden, Slg. 1998, I-7091, Rn. 40), insbesondere wo sie vollzogen werden können. Die Zuständigkeitsöffnung zugunsten der Gerichte am Wirkungs- und Vollstreckungsort der Maßnahmen erklärt sich aus der Nähe des Eilrechtsschutzes zur Vollstreckung und dem Interesse am Zusammenfall von Erlassgericht und Vollstreckungsgericht zur schleunigen Vollziehung der Maßnahmen. Sie wirft allerdings aufgrund der Häufung der Zuständigkeiten die Frage nach einer sinnvollen Koordination der Eilmaßnahmen auf. Ein Modell könnte insofern Art. 20(2) Brüssel IIa-VO bieten, demzufolge die Eilmaßnahmen anderer Gerichte außer Kraft treten, wenn das in der Hauptsache zuständige Gericht die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält (zur Reform des Art. 31 EuGVO, insbesondere zur Einführung einer Koordinationsbefugnis KOM(2009) 175 endg., Frage 6).

c) Voraussetzungen einstweiliger Maßnahmen

Voraussetzung für den Erlass einstweiliger Maßnahmen ist grundsätzlich die Plausibilität des zugrunde liegenden materiellen Anspruchs (fumus boni iuris) sowie der besondere Grund für den Erlass einer Maßnahmen gerade im einstweiligen Rechtsschutz (periculum in mora, siehe auch Ziffer 10.2 Storme-Principles). Soweit manche Rechtsordnungen Abschlagszahlungen oder Leistungsanordnungen auch ohne „periculum in mora“ bereits bei hinreichend klarem Recht gestatten, liegt darin die Gefahr einer Verwischung mit den beschleunigten Hauptsacheverfahren. Zwar mag es erwägenswert sein, einen solchen Typ schleuniger summarischer Hauptsacheverfahren in Fällen klaren Rechts zu gestatten, jedoch sollte dieser Verfahrenstyp vom einstweiligen Rechtsschutz getrennt bleiben.

d) Verfahren und Rechtsbehelfe

Grundsätzlich ist dem Antragsgegner vor Erlass einstweiliger Maßnahmen rechtliches Gehör zu gewähren. Sofern der Antragsteller allerdings glaubhaft macht, dass zur Wirksamkeit des Rechtsschutzes eine besonders schleunige oder überraschende Entscheidung erforderlich ist, kann eine einstweilige Maßnahme auch ohne vorherige Anhörung der Gegenseite im ex parte-Verfahren erlassen werden (Art. 7(1)3, Art. 9(4) Durchsetzungs-RL; Art. 50(2) TRIPS; Ziffer 10.3.1 Storme-Principles; Ziffer 8.2 ALI/UNIDROIT-Principles). Das rechtliche Gehör ist allerdings unverzüglich nachzuholen und die einseitige Maßnahme auf Antrag der Gegenseite zu überprüfen und ggf. abzuändern oder aufzuheben (Art. 50(4) TRIPS: Art. 7(1)4, 5, Art. 9(4)2, 3 Durchsetzungs-RL; Ziffer 10.3.1 Storme-Principles; Ziffer 8.2 ALI/UNIDROIT Principles, zum fehlenden rechtlichen Gehör als Anerkennungshindernis KOM(2009) 175 endg., Frage 6). Neben dem Antrag auf Überprüfung einseitiger einstweiliger Maßnahmen wird zur Sicherung des Vorbehalts der Hauptsacheentscheidung ferner als besonderer Rechtsbehelf der Antrag auf Aufhebung der einstweiligen Maßnahme bei Versäumung der Frist zur Hauptsacheklage vorgesehen (Art. 7(3), Art. 9(5) Durchsetzungs-RL; Art. 50(6) TRIPS; vgl. auch Ziffer 10.7.3 Storme-Principles). Schließlich ist die Bindung des Richters an die Parteianträge geringer und dementsprechend sein Ermessen bei der Gestaltung der Eilmaßnahmen regelmäßig stärker ausgeprägt als in Hauptsacheverfahren (Ziffer 10.1.1, 10.3.2 Storme-Principles).

e) Prozessuale Gefährdungshaftung und Sicherheitsleistung

Die Beschleunigung des Verfahrens und die Abkürzung der Einlassungs- und Kognitionsmöglichkeiten erhöht die Gefahr unrichtiger Entscheidungen. Der Antragsteller als Verursacher solcher prozessualen Risiken ist daher einer prozessualen Gefährdungshaftung für die durch einstweilige Maßnahmen entstandenen Schäden des Antragsgegners zu unterwerfen, wenn sich die Maßnahme als unrichtig erweist (Art. 7(4), Art. 9(7) Durchsetzungs-RL; Art. 50(3)7 TRIPS; Ziffer 8.3 ALI/UNIDROIT-Principles). Zur Sicherung des Schadensersatzanspruchs kann das Gericht eine Sicherheitsleistung des Antragstellers anordnen (Art. 7(2), Art. 9(6) Durchsetzungs-RL; Art. 50(3) TRIPS; Ziffer 8.3 ALI/UNIDROIT-Principles).

Literatur

Dieter Leipold, Grundlagen des einstweiligen Rechtsschutzes im zivil-, verfassungs- und verwaltungsrechtlichem Verfahren, 1971; Wolf-Dietrich Walker, Der einstweilige Rechtsschutz im Zivilprozeß und im arbeitsgerichtlichen Verfahren, 1993; Gilles Cuniberti, Les mesures conservatoires portant sur des biens situés á l’etranger, 2000; Xandra Ellen Kramer, Het kort geding in internationaal perspectief, 2001; Steven Gee, Commercial Injunctions, 5. Aufl. 2004; Burkhard Heß, Study No. JAI/ A3/2002/02 on making more efficient the enforcement of judicial decisions within the European Union: Transparency of a Debtor’s Assets, Attachment of Bank Accounts, Provisional Enforcement and Protective Measures, Fassung vom 18.2.2004; Sabine Kofmel Ehrenzeller, Der vorläufige Rechtsschutz im internationalen Verhältnis, 2005; Rolf Stürner, Einstweiliger Rechtsschutz: General Bericht, in: Marcel Storme (Hg.), Procedural Laws in Europe: Towards Harmonisation, 2003, 143 ff.; Christian Heinze, Einstweiliger Rechtsschutz im europäischen Immaterialgüterrecht, 2007; Kathrin Wannenmacher, Einstweilige Maßnahmen im Anwendungsbereich von Art. 31 EuGVVO in Frankreich und Deutschland, 2007. Hilfreicher Link: <http://ec.europa.eu/civiljustice> (Europäisches Justizielles Netz, Stichwort „Vorläufige Maßnahmen und Sicherungsmaßnahmen“, „Vereinfachte und beschleunigte Verfahren“), letzter Zugriff am 10.6.2009.

Abgerufen von Einstweiliger Rechtsschutz – HWB-EuP 2009 am 11. Oktober 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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