Auslegung des internationalen Einheitsrechts
1. Grundfragen der Auslegung und Anwendung des internationalen Einheitsrechts
Zur Verwirklichung des Ziels der internationalen Rechtsvereinheitlichung, der Rechtseinheit, ist die bloße Schaffung von Einheitsrecht nicht ausreichend. Vielmehr wird dieses Ziel durch die uneinheitliche Auslegung und Anwendung durch Gerichte gefährdet, sog. Sekundärzersplitterung. Der nationale Rechtsanwender neigt erfahrungsgemäß dazu, Begriffe in dem ihm jeweils bekannten Sinne zu verstehen, ohne dem Bedürfnis nach einem internationalen, autonomen Verständnis der Begriffe Rechnung zu tragen. Begünstigt wird diese Sekundärzersplitterung nicht nur durch das Vorverständnis des nationalen Rechtsanwenders, sondern auch durch die Anwendung der nationalen Methodenlehre bei der Auslegung des Rechtstextes. Dabei ist inzwischen unbestritten, dass die Auslegung nicht im Lichte der nationalen, sondern gemäß einer autonomen-internationalen Methodik zu erfolgen hat. Ferner erfordert das Ziel einer einheitlichen Rechtsanwendung neben einem autonomen Begriffsverständnis auch, dass den (im Wege einer autonomen Auslegung gewonnen) Erkenntnissen von Gerichten anderer Staaten entsprechend Rechnung getragen wird. Art. 7(1) CISG sowie vergleichbare Regelungen in anderen Übereinkommen verpflichten die Vertragsparteien und ihre Gerichte ausdrücklich hierzu. Notwendig ist jedoch nicht nur die Bereitschaft der Richter, Urteile ausländischer Gerichte zu berücksichtigen, sondern auch der Zugang zu diesen Quellen und die Fähigkeit, diese zu verstehen.
Einheitsrechtliche Übereinkommen (zum Gemeinschaftsrecht siehe Auslegung des Gemeinschaftsrechts) sind durch eine besondere Dichotomie geprägt, die Auswirkungen auf die Wahl der richtigen Auslegungsmethode hat. Rechtsquelle ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die Vertragsstaaten verpflichtet, ihr Privatrecht dem Übereinkommen entsprechend anzugleichen. Jedoch ist Sinn und Zweck des Einheitsprivatrechts die einheitliche Gestaltung von Rechtsverhältnissen zwischen Privatpersonen. Mangels einer autoritativen internationalen Gerichtsbarkeit sind fast ausschließlich die Gerichte der Vertragsparteien zur Auslegung und Anwendung berufen. Diese Dichotomie wirkt sich einerseits auf die Wahl der anzuwendenden Auslegungsmethode aus (s.u. 2.). Andererseits kann die konkrete Anwendung einheitsrechtlicher Übereinkommen durch nationale Gerichte durch die Stellung von Völkerrecht in der jeweiligen Rechtsordnung beeinflusst werden.
2. Anwendbare Auslegungsregeln
Vor Inkrafttreten der Wiener Konvention über das Recht der Verträge (WVK) wurde in der einheitsrechtlichen Literatur die Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze bestritten. Seit Inkrafttreten der WVK, die für einheitsrechtliche Übereinkommen insoweit keine Ausnahme beinhaltet, kann die Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Auslegungsmethoden für Abkommen im zeitlichen Anwendungsbereich bereits aus formalen Gründen nicht mehr bestritten werden. Dem Internationalen Gerichtshof zufolge kommt den Auslegungsregelungen, die in Art. 31 WVK nur kodifiziert wurden, gewohnheitsrechtliche Geltung zu, sodass auch Abkommen, die vor Inkrafttreten der WVK geschlossen wurden, hiervon erfasst werden (vgl. etwa IGH, Oil Platforms (Islamic Republic of Iran v. United States of America), Preliminary Objection, Judgment, ICJ Rep. 1996, 803, Rn. 23).
Die Kritik an einer Anwendung dieser völkerrechtlichen Regeln wird damit begründet, dass diese auf die Rechtsbeziehungen zwischen souveränen Staaten zugeschnitten seien, nicht aber auf die zwischen Privatleuten, zwischen denen Vertragsfreiheit herrsche. Die völkerrechtliche Methode orientiere sich zu sehr am subjektiven Willen der Staaten sowie am Konzept der Souveränität. Damit sei sie für die Regelung des internationalen Handels, der auf Rechtssicherheit und somit auf ein objektives Verständnis solch normsetzender Abkommen angewiesen ist, nicht geeignet. Allenfalls für die unmittelbaren Verpflichtungen zwischen den beteiligten Staaten, wie sie üblicherweise in den Anfangs- und Schlussbestimmungen festgehalten seien, könnten die völkerrechtlichen Grundsätze herangezogen werden.
Die Kritikpunkte sind in Teilen grundsätzlich verfehlt, andere teilweise mit Inkrafttreten der WVK entkräftet. Zum einen wird den Auslegungsregeln der WVK von ihren Kritikern die bloße Forderung nach einem de lege ferenda durch die Lehre zu entwickelnden Methodenkatalog gegenübergestellt; ob hiermit der Uniformität gedient wird, kann bezweifelt werden. In der Tat wurden die Regelungen der WVK nicht zur Auslegung von Verträgen zwischen Privaten geschaffen; Gegenstand der Auslegung entsprechend der WVK sind jedoch allein die einheitsrechtlichen völkerrechtlichen Verträge, nicht die Verträge zwischen den Privaten. Die WVK kehrt sich von zuvor im Völkerrecht vertretenen Ansätzen ab und unterscheidet nicht zwischen normsetzenden Verträgen (traités-lois) und rechtsgeschäftlichen Austauschverträgen (traités-contrats). Vielmehr gibt Art. 31(1) WVK dem objektiven Wortlaut gegenüber dem in den travaux préparatoires manifestierten Parteiwillen den Vorzug. Der durch die Vertragswillenslehre betonten subjektiven Auslegung kommt folglich eine bloß nachrangige Bedeutung zu. Der Auslegungskanon der WVK sowie die Regelungen über Konventionskonflikte sind zur Anwendung auf Einheitsrecht durchaus geeignet, und finden in der Praxis der Gerichte auch Anwendung. Allerdings ist die Flexibilität der WVK, mit der sie versucht, den verschiedensten völkerrechtlichen Vertragstypen gerecht zu werden, zugleich ein Nachteil. Somit sollte die WVK als ein Rahmen verstanden werden, der durch die einheitsrechtliche Wissenschaft zu füllen ist.
3. Anwendung völkerrechtlicher Auslegungsregeln auf Privatrecht
Nach Art. 31(1) WVK ist ein völkerrechtlicher Vertrag „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen“. Die WVK bekennt sich damit zur grammatischen, systematischen sowie der teleologischen Auslegungsmethode. Folglich entscheidet sie sich gegen zuvor vertretene Ansätze und stattdessen für einen objektiven Auslegungsansatz, der nicht nach dem ursprünglichen Parteiwillen fragt. Historische Erwägungen, die sich insbesondere aus den travaux préparatoires ergeben, dürfen nach Art. 32 WVK nur als ergänzende Auslegungsmittel herangezogen werden, wenn die übrigen Auslegungsmethoden die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lassen oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führen. Auch wenn Art. 31(1) WVK von der Auslegung des Vertrages als ganzes spricht, so gilt dieses Gebot nicht weniger für die einzelne Norm und ihre Stellung im bzw. ihrem Sinn und Zweck für das gesamte Vertragswerk.
a) Grammatische Auslegung
Ausgangspunkt der Auslegung ist auch nach der WVK der gewöhnliche Wortsinn der vertraglichen Bestimmung, sofern nicht gemäß Art. 31(4) WVK die Parteien eine besondere Bedeutung gewollt haben. Grundsätzlich ist der Wortsinn zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgeblich (s. aber unten c)). Bereits aber bei der Bestimmung dieses gewöhnlichen Wortsinnes ergeben sich für internationale Übereinkommen aus der Mehrsprachigkeit resultierende Schwierigkeiten. Die WVK kann hier nur bedingt Abhilfe schaffen. Nach Art. 33(1)-(3) WVK sind die als authentisch festgelegten Sprachen grundsätzlich in gleicher Weise maßgebend, und es wird vermutet, dass die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben. Sofern sich jedoch entgegen dieser Vermutung Bedeutungsunterschiede ergeben, sieht Art. 33 (4) WVK vor, dass diese unter Anwendung der übrigen Auslegungsregeln der Art. 31, 32 WVK ausgeräumt werden und, sofern auch weiterhin Unklarheiten bestehen, der Sinn und Zweck des Vertrages Vorrang hat. Damit ist der Rechtsanwender keinesfalls auf den Minimalkonsens aller authentischen Textfassungen begrenzt, sondern kann auf den Text vertrauen, der am ehesten mit Sinn und Zweck des Vertrages vereinbar ist. In Zurückweisung zuvor vertretener Auffassungen räumt Art. 33 WVK der Sprache, in welcher der Vertrag erarbeitet wurde, keine hervorgehobene Stellung ein. Soweit der Rechtsanwender allerdings die travaux préparatoires als ergänzendes Auslegungsmittel heranzieht, erlangt diese Sprachfassung eine besondere Bedeutung.
Für die Rechtsanwendung auf nationaler Ebene – also dem primären Anwendungsgebiet des Einheitsrechts – ergeben sich weitere Probleme. Der nationale Rechtsanwender ist in der Regel nicht in der Lage, einen Vergleich der unterschiedlichen authentischen Sprachfassungen durchzuführen. Vielmehr wird er sich im Grundsatz auf die authentische Fassung in seiner Landessprache, sofern vorhanden, bzw. die amtliche Übersetzung verlassen, auch wenn letzterer keinerlei völkerrechtliche Verbindlichkeit zukommt. Soweit sich Divergenzen ergeben, kann – je nach Art der Umsetzung des einheitsrechtlichen Vertrages in das nationale Recht – letzteres sogar die vorrangige Anwendung der Fassung in der Landessprache von dem Richter verlangen, wobei ein Verstoß gegen Völkerrecht in Kauf genommen wird. Aber auch wo für den Richter ein Gebot der völkerrechtskonformen Auslegung besteht, sind Textdivergenzen für den Richter nicht ohne Weiteres offenkundig. Insoweit ist die Wissenschaft berufen, hier Klarheit zu schaffen.
b) Systematische Auslegung
Nach Art. 31(1) WVK ist der Zusammenhang des Vertrages bei dessen Auslegung zu berücksichtigen. Welcher Zusammenhang dafür maßgeblich ist, führen die Abs. 2 und 3 weiter aus. Zum Zusammenhang in diesem Sinne gehören zweifelsohne der Text mit Präambeln und Anlagen. Darüber hinaus zählt Abs. 2 hierzu auch Auslegungserklärungen einer oder aller Vertragsparteien, wobei sich insbesondere bei einseitigen Auslegungserklärungen die Problematik einer Abgrenzung zu Vorbehalten ergibt. Abs. 3 erweitert den Umfang der im Wege einer systematischen Auslegung heranzuziehenden Materialien um a) solche (auch formlosen) spezifischen Übereinkommen, welche die Parteien im Hinblick auf den Vertrag geschlossen haben, b) die spätere Praxis bei der Durchführung des Vertrages durch die Parteien, und c) jeden in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatz. Durch Art. 31(3)(a), (b) bekommt die WVK einen für einheitsrechtliche Übereinkommen wenig wünschenswerten subjektiven Beigeschmack. Die Grenzen zwischen Vertragsauslegung und Änderung drohen zu verschwimmen. Andererseits kann eine einheitliche Praxis der Gerichte der Vertragsparteien über Art. 31(3)(b) für die Auslegung relevant werden, ohne dass es hierzu einer Bestimmung wie Art. 7(1) CISG (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)) bedarf. Völkerrechtssatz im Sinne des Art. 31(3)(c) sind einerseits andere Übereinkommen, aber auch Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze. Damit bietet diese Bestimmung in einem gewissen Rahmen ein Mittel gegen Widersprüche zwischen unterschiedlichen Konventionen (s.u. 4.). Nicht rechtsverbindliche Prinzipienwerke werden allerdings nicht von dieser Regelung umfasst.
c) Teleologische Auslegung
Von besonderer Bedeutung für die Auslegung des Einheitsrechts ist die teleologische Auslegung, die in den Worten der WVK nach dem „Ziel und Zweck“ einer Norm fragt. In einer engen Lesart des Art. 31(1) WVK muss sich der Vertragszweck aus dem Wortsinn der jeweiligen Vertragsbestimmungen ergeben; dieses Verständnis wird auch durch den Kommentar der International Law Commission zu Art. 27 des Entwurfes der WVK betont. Jedoch auch wenn man das Gemeinschaftsrecht ausklammert, wird von der Völkerrechtslehre für rechtsetzende Verträge (und damit auch einheitsrechtliche Übereinkommen) verstärkt eine dynamisch-extensive Auslegung gutgeheißen. Auch in der Rechtsprechung zu einheitsrechtlichen Abkommen, wie etwa der berühmten Entscheidung Fothergill v. Monarch Airlines [1980] 2 All ER 696 (HL), finden sich Beispiele, in denen die Wortlautgrenze zugunsten des Vertragszweckes überschritten wurde. Für eine solche dynamische Auslegung spricht die erleichterte Anpassung des Vertrages an ein sich veränderndes Umfeld und an geänderte Wertvorstellungen, während hingegen ein erweiterter Spielraum für den Richter die Einheitlichkeit der Anwendung gefährdet. Weiter wird eingeschränkt, dass eine Anpassung an geänderte Wertvorstellungen schwerlich möglich ist, wenn – wie im Falle universalen Einheitsrechts – das Übereinkommen selbst einen Minimalkonsens an Werten darstellt. Vorzugswürdig erscheint es, die Klarheit des Wortlautes nicht absolut zu nehmen, sondern vielmehr graduell: Ein sehr klarer Wortlaut kann durch entsprechend schwerwiegende teleologische Erwägungen überwunden werden.
d) Historisch-genetische Auslegung
Auch wenn nach Art. 32 WVK die Berücksichtigung der Umstände des Vertragsabschlusses und insbesondere der vorbereitenden Arbeiten nur als ein ergänzendes Hilfsmittel zulässig ist, spielen die travaux préparatoires faktisch für die Auslegung von (einheitsrechtlichen) Übereinkommen eine große Rolle. Dies ist insofern nicht zu beanstanden, als dass der Maßstab der Mehrdeutigkeit oder Unklarheit gemäß Art. 32(a) WVK selbst sehr unklar ist. Oftmals bieten die Materialien, die von den federführenden internationalen Institutionen herausgegeben werden, besser Aufschluss über das „richtige“ Verständnis des Übereinkommens als etwa die Aufzeichnungen der parlamentarischen Debatten auf nationaler Ebene. Allerdings ist dort, wo eine Wortlautinterpretation im Kontext durch den Sinn und Zweck getragen wird, kein Raum für entgegenstehende Interpretationen unter Berufung auf den eigentlichen Willen der Parteien, der nur in den travaux préparatoires hervorgetreten ist. Und selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, kann eine historisch-genetische Auslegung schwerlich zu einem Ergebnis führen, das nicht zumindest im Ansatz durch eine Auslegung nach Art. 31 WVK getragen wird.
4. Weitere Auslegungsgrundsätze und ‑maximen
Auch wenn sich die WVK nicht zu anderen Auslegungsmethoden, die wie etwa die rechtsvergleichende oder konventionsübergreifende Auslegung insbesondere von der einheitsrechtlichen Literatur vorgetragen werden, oder Auslegungsmaximen bekennt, sind diese nicht zwingend mit der WVK unvereinbar. Vielmehr können diese in einem gewissen Rahmen bei der Anwendung der anderen Auslegungsmethoden berücksichtigt werden.
Verschiedene Autoren in der einheitsrechtlichen Literatur fordern eine konventionsübergreifende Auslegung in dem Sinne, dass die Erkenntnisse über die Begriffe, die in einem Übereinkommen verwendet werden, auf andere Übereinkommen zu übertragen sind. Hierdurch soll nicht nur ein Entscheidungseinklang innerhalb eines Übereinkommens erreicht werden, sondern auch zwischen verschiedenen Übereinkommen. Grundlage für dieses Vorgehen bietet Art. 31(3)(c) WVK, sofern diese Erkenntnisse auch im Übrigen von der Systematik, dem Sinn und Zweck sowie ggf. der Genese des Übereinkommens getragen werden. Allerdings erfordert Art. 31(3)(c) WVK, dass alle Vertragsparteien des auszulegenden Übereinkommens auch Partei des Übereinkommens sind, auf das Bezug genommen wird. Der bewussten Bezugnahme der Parteien bei der Erarbeitung eines Übereinkommens auf die Begrifflichkeiten eines anderen Übereinkommens kann im Wege der historischen Auslegung – soweit zulässig – Rechnung getragen werden.
Umstritten ist in der einheitsrechtlichen Literatur die Notwendigkeit einer rechtsvergleichenden Auslegung als eigenständiger Methode. Die Rechtsvergleichung soll einerseits – auch dort wo keine Regelungen wie Art. 7(1) CISG bestehen – Erkenntnisse über das Verständnis einer einheitsrechtlichen Regelung in der Lesart anderer Rechtsordnungen bringen. Zum anderen soll sie behilflich sein, aus einem umfassenden wertenden Rechtsvergleich der entsprechenden nationalen Regelungen die „beste“ Lösung bzw. teilweise auch eine gemeinsame und damit für alle Vertragsparteien akzeptable Lösung zu gewinnen. Rechtsvergleichenden Studien kommt ein nicht zu unterschätzender Wert für die Ausarbeitung von Übereinkommen zu. Diese Studien können im Wege der historisch-genetischen Auslegung herangezogen werden. Darüber hinaus bietet der funktionelle Charakter der Rechtsvergleichung wertvolle Erkenntnisse über die eigentliche, mit dem Übereinkommen adressierte tatsächliche Problemstellung. Selbst bei Wortlautübereinstimmung verbietet jedoch die Notwendigkeit einer autonomen Auslegung eine unbesehene Übertragung der Erkenntnisse über das nationale Recht auf das einheitsrechtliche Übereinkommen. Ferner werden Gerichte in der Regel nicht in der Lage sein, ihren Erwägungen umfassende rechtsvergleichende Studien zugrunde zu legen.
Im Rahmen desselben Übereinkommens können Auslegungsgrundsätze wie der lex specialis-Grundsatz und – sofern ein Übereinkommen geändert wurde – auch der lex posterior-Grundsatz ohne Weiteres Anwendung finden (für verschiedene Übereinkommen s.u. 6.). Weitere geläufige nationale formale Auslegungsmaximen wie expressio unius, argumentum e contrario sowie aber auch die Gesetze der Logik sind mit der WVK vereinbar. Jedoch kommt ersteren nicht der zwingende Charakter zu, den sie in einigen nationalen Rechtsordnungen besitzen. Vielmehr beschränkt sich ihre Rolle auf Argumentationshilfen im Rahmen systematischer und teleologischer Erwägungen.
Die Anwendung völkerrechtlicher Auslegungsmaximen wie in dubio pro mitius oder contra proferentem, soweit deren Existenz überhaupt anerkannt wird, wird für rechtssetzende und damit auch einheitsrechtliche Übereinkommen verneint.
5. Lückenfüllung und Rechtsfortbildung
Moderne Übereinkommen treffen selbst Aussagen darüber, wie interne Lücken zu füllen sind (vgl. etwa Art. 7(2) CISG). Dennoch stellt sich insbesondere für ältere Übereinkommen, die hierüber keine Aussage enthalten, die Frage nach der Zulässigkeit der Lückenfüllung etwa durch die Bildung von Analogien innerhalb einer Konvention oder gar die Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze. Insbesondere die ältere völkerrechtliche Literatur verneint bereits die Zulässigkeit der Analogie unter Hinweis auf die staatliche Souveränität. Souveränitätsbezogene Einwände können aber in Bezug auf einheitsrechtliche Übereinkommen schwerlich überzeugen. Im Gegenteil, das zum Teil geringe Interesse der (Exekutive bzw. der Parlamente der) Vertragsstaaten an einer Revision eines Übereinkommens, das sich als lückenhaft herausgestellt hat, spricht für eine Lückenfüllung durch den Richter. Ferner sprechen auch fundamentale Gerechtigkeitserwägungen wie auch das Interesse an einer einheitlichen autonomen Auslegung hierfür, droht doch ansonsten der Rückgriff auf das nach den Regeln des internationalen Privatrechts anwendbare nationale Recht durch den Richter. Jedoch auch wenn gute Gründe für eine richterliche Lückenfüllung sprechen, ergibt sich das Problem ihrer genauen Voraussetzungen, zumal in den unterschiedlichen Rechtssystemen die Zulässigkeit analoger Erwägungen ganz unterschiedlich gehandhabt wird.
6. Konventionskonflikte
Durch die starke Vermehrung der Zahl von einheitsrechtlichen Übereinkommen ergibt sich das Problem der Konventionskonflikte. Da derartige Konflikte eine Gefahr für die Ziele des Einheitsrechts darstellen, wird dieser Problematik dementsprechend durch die einheitsrechtliche Literatur eine hohe Bedeutung zugemessen. Die WVK kann hier nur bedingt helfen: Sofern die Parteien etwa durch Vereinbarkeitsklauseln oder Vorrangklauseln keine abweichende Regelung treffen, gilt der lex posterior-Grundsatz (siehe Art. 30(2), (3) WVK). Allerdings bleiben die Verpflichtungen des älteren Vertrages im Verhältnis zu solchen Parteien, die dem jüngeren Vertrag nicht beigetreten sind, relativ insofern wirksam, als er die „gegenseitigen Rechte und Pflichten“ betrifft. Damit bleiben aber die widersprechenden Verpflichtungen einheitsrechtlicher Verträge, die im Grundsatz nicht auf strengen Reziprozitätserwägungen beruhen, im vollen Umfang bestehen. Tritt also ein Staat zwei miteinander unvereinbaren einheitsrechtlichen Übereinkommen bei und kann dieser Konflikt nicht durch Auslegung auf völkerrechtlicher Ebene behoben werden, bricht dieser Staat zwingend eine seiner Verpflichtungen. Die Entscheidung hierüber kann nicht, wie bei „normalen“ völkerrechtlichen Verträgen als politisch betrachtet werden. Vielmehr ist es im Falle des Einheitsrechts an dem Richter, nach den für die jeweilige nationale Rechtsordnung maßgeblichen Regeln zu entscheiden, welches Recht er anwendet und welches er bricht. Die einheitsrechtliche Wissenschaft hat verschiedene Kriterien erarbeitet, anhand derer die Konventionskonflikte zu lösen sind. Im Detail ist hier indes noch vieles ungeklärt. Anerkannt ist, dass materiellrechtliche Übereinkommen Vorrang vor kollisionsrechtlichen Übereinkommen zukommt (vgl. etwa Tribunale di Vigevano, 12.6.2000, IHR 2001, 72 = CISG-online Nr. 493). Dies wird im Übrigen durch teleologische Erwägungen sowie Art. 31 (3)(c) WVK gestützt. Ferner wird der Vorrang des zweckdienlicheren vor dem weniger effizienten Übereinkommens sowie des spezielleren Übereinkommens vor dem allgemeineren vorgeschlagen.
Literatur
International Law Commission, Report of the International Law Commission on its eighteenth session, UN Doc. A/6309/Rev.1, Yearbook of the International Law Commission 1966 II, 217 ff.; Meinhard Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973; Jan Kropholler, Internationales Einheitsrecht, 1975, 258 ff.; F.A. Mann, Uniform Statutes in English Law, The Law Quarterly Review 99 (1983) 377 ff.; Rudolf Bernhardt, Interpretation in International Law, in: idem (Hg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. II, 1995, 1418 ff.; Wilhelm Heinrich Wilting, Vertragskonkurrenz im Völkerrecht, 1996; Christophe Bernasconi, Rules of Interpretation Applicable to Private International Law Treaties, in: Wybo Heere (Hg.), International Law and the Hague’s 750th Anniversary, 1999, 139 ff; Urs Peter Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004; Jürgen Basedow, Depositivierungstendenzen in der Rechtsprechung zum Internationalen Einheitsrecht, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. II, 2000, 777 ff.; Ulf Linderfalk, On The Interpretation of Treaties, 2007; Franco Ferrari, Art. 7 Rn. 8 ff., in: Peter Schlechtriem, Ingeborg Schwenzer (Hg.), Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 5. Aufl. 2008.