Russisches Zivilgesetzbuch

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von Eugenia Kurzynsky-Singer

1. Struktur und Regelungsumfang

Das Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation (ZGB) wurde beginnend ab 1994 schrittweise erlassen und in vier separaten Büchern in Kraft gesetzt, wobei die Abschnitte und Vorschriften bücherübergreifend durchnummeriert wurden.

Das erste Buch vom 21.10.1994 ist am 1.1.1995 in Kraft getreten. Es umfasst im 1. Abschnitt „Allgemeine Bestimmungen“, zu denen „Grundlagen“, „Personen“, „Objekte ziviler Rechte“, „Rechtsgeschäfte und Vertretung“ und „Fristen. Klageverjährung“ zählen; ferner im 2. Abschnitt „Eigentumsrecht und andere dingliche Rechte“ und im 3. Abschnitt „Allgemeiner Teil des Schuldrechts“.

Das zweite Buch wurde am 22.12.1995 verabschiedet und ist am 1.3.1996 in Kraft getreten. Es enthält den 4. Abschnitt des russischen Zivilgesetzbuches und regelt sowohl vertragliche Schuldverhältnisse (Kapitel 30 bis 58) als auch Delikts- (Kapitel 59) und Bereicherungsrecht (Kapitel 60). Die einzelnen Vertragstypen fallen durch sehr ausführliche und spezifizierte Regelungen auf. Geregelt sind neben klassischen Materien wie Kauf- und Werkvertrag beispielsweise auch Rente, Ausführung von Arbeiten im Bereich der wissenschaftlichen Forschung, Beförderung, Spedition, Finanzierung durch Abtretung einer Geldforderung, Bankeinlage, Bankkonto, Zahlungsverkehr, Versicherung, Kommissionsgeschäft, Agentur, treuhänderische Vermögensverwaltung, Franchising.

Das das Erbrecht und das internationale Privatrecht umfassende dritte Buch wurde am 26.11.2001 erlassen und ist am 1.3.2002 in Kraft getreten.

Das vierte und letzte Buch des neuen ZGB ist am 18.12.2006 erlassen worden und am 1.1.2008 in Kraft getreten. Es regelt umfassend das Recht des geistigen Eigentums, indem es alle darauf bezogenen Normen in dem Zivilgesetzbuch zusammenfügt.

Auf eine gesonderte Kodifikation des Handelsrechts wurde in Russland verzichtet. Das Zivilgesetzbuch gilt im gleichen Maße für natürliche Personen, im ZGB als „Bürger“ bezeichnet (vgl. Überschrift von Kapitel 3) wie für Unternehmer, stellt für die letzten aber teilweise abweichende Regelungen auf, so z.B. hinsichtlich des Vertretenmüssens in Art. 401. Weiterhin enthält das ZGB Vorschriften, die den Verbraucherschutz sicherstellen sollen. Als Anknüpfungspunkt ist dabei allerdings nicht die Verbrauchereigenschaft einer Vertragspartei, sondern die Situation gewählt, in der eine Vertragspartei typischerweise eine stärkere Position hat (vgl. z.B. Regelungen über die Allgemeine Geschäftsbedingungen, Art. 428 oder über den Einzelhandel, Art 492 ff). Darüber hinaus existiert das Gesetz „Über den Schutz der Rechte der Verbraucher“, das neben privatrechtlichen auch öffentlich-rechtliche Vorschriften enthält.

Das Familien- und Arbeitsrecht ist nicht im Zivilgesetzbuch sondern durch eigenständige Gesetze, nämlich Familiengesetzbuch vom 29.12. 1995 und Arbeitsgesetzbuch vom 30.12.2001 geregelt.

2. Entstehungssituation

Die Neukodifikation des Zivilrechts in Russland war Folge eines tiefgreifenden Veränderungsprozesses, dem das gesamte Osteuropa seit dem Anfang der neunziger Jahre ausgesetzt war. Spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 war auch das auf die sozialistische Planwirtschaft ausgerichtete sowjetische Zivilrecht überholt. Die gesellschaftliche Neuorientierung brachte eine sich rasch entwickelnde Marktwirtschaft mit sich, die eine umfassende Neuordnung des Zivilrechts erforderte.

Die Kodifizierung des Zivilrechts unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Transformation sah sich besonderen Schwierigkeiten gegenüber: Die raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geboten eine gewisse Eile bei der Neukodifizierung des Zivilrechts, dabei war der Vorgang der Transformation in der Geschichte beispiellos, so dass eine gründliche konzeptionelle Vorbereitung für den Entwurf fehlte. Das russische Zivilgesetzbuch konnte nicht langsam entwickelt und den sich verändernden gesellschaftlichen Umständen angepasst werden. Es musste die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen vorwegnehmen, in gewissem Sinne ein Gesetzbuch einer entwickelten Marktwirtschaft darstellen, ohne diese bereits vorfinden zu können. Die Kodifikation war ein Produkt der Übergangsperiode, beeinflusst von den Orientierungsschwierigkeiten der Gesellschaft, sollte aber gleichzeitig eine stabile, klare und zeitgemäße Gesetzgebung sein. Die Kodifikation sollte die Abkehr von der sowjetischen Plan- hin zu einer modernen Marktwirtschaft einleiten und die tragenden Elemente hergebrachter sozialistischer Rechtskultur durch neue privatrechtlichen Prinzipien ersetzen und damit zu einem zentralen Reformelement werden.

Die Arbeiten am neuen ZGB begannen alsbald nach dem im Dezember 1991 erfolgten Zusammenbruch der Sowjetunion. Das Forschungszentrum für Privatrecht beim Präsidenten der Russischen Föderation wurde mit der federführenden Vorbereitung eines Entwurfs beauftragt. Diese staatliche wissenschaftliche Einrichtung wurde durch eine Anweisung des Präsi-denten Russischer Föderation vom 27.12.1991 ins Leben gerufen. Sie untersteht dem Staatspräsidenten und ist größtenteils mit fest angestellten Juristen besetzt. Zur Ausarbeitung des Entwurfs wurde eine Arbeitsgruppe aus führenden russischen Juristen gebildet, zu der hauptsächlich bei der Erarbeitung beider ersten Büchern auch westliche, vor allem niederländische Rechtsberater hinzugezogen wurden. Alle vier Bücher des russischen ZGB sind durch das Bemühen gekennzeichnet, die modernsten Erfahrungen der Gestaltung des Vermögensrechts in der Kodifikation zu berücksichtigen. Dies führte aber nicht zu einer unreflektierten Übernahme fremden Rechts. Trotz mancher Anstöße und punktuellen Entlehnungen aus anderen Rechten ist das russische Zivilgesetzbuch ein eigenständiges und in den russischen Zivilrechtstraditionen verankertes Werk.

3. Kontinuität und Brüche in der Entwicklung des russischen Zivilrechts

Die Entwicklung des russischen Zivilrechts ist von zwei deutlichen Zäsuren, der Oktoberrevolution von 1917 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991, aber auch durch, angesichts der Tragweite dieser Zäsuren, erstaunliche Kontinuität, gekennzeichnet.

Das vorrevolutionäre russische Zivilrecht wurde in seiner Entwicklung durch die absolutistische Herrschaft des Zaren sowie durch die im europäischen Vergleich rückständigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes gehemmt. Dennoch verfügte Russland vor der Revolution bereits über eine entwickelte Zivilrechtsdogmatik, die sich in die kontinental-europäische Tradition einordnete. So wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Entwurf des Zivilgesetzbuches ausgearbeitet, der von Ideen und Erfahrungen der westeuropäischen Kodifikationen damaliger Zeit beeinflusst war. Vor dem ersten Weltkrieg wirkten insbesondere deutsche Universitätsprofessoren aufgrund von Regierungsabsprachen an der Ausbildung russischer Juristen und an der Förderung der russischen Rechtswissenschaft mit. Zu nennen ist insbesondere das russische Seminar für römisches Recht in Berlin, das in Jahren 1887–1896 Dozenten für die rechtswissenschaftliche Fakultäten in Russland ausbildete. Zu den Absolventen dieser Einrichtung gehörten bedeutende Zivilisten wie L.I. Petražickij, A.S. Krivcov, I.A. Pokrovskij, deren Werke, in der Sowjetunion fast vergessen, in den letzten Jahren aber wiederentdeckt wurden und dadurch heute noch die russische Zivilrechtswissenschaft beeinflussen.

Der Oktoberrevolution folgte eine Instrumentalisierung des Zivilrechts für die Zwecke der kommunistischen Ideologie. In dieser Zeit war das Zivilrecht seiner Funktion als Mittel der Konfliktlösung zwischen privatrechtlichen Subjekten beraubt und diente vor allem als Kontroll- und Regulierungsmechanismus. Die Rechte des Individuums wurden den Interessen des Staates unterstellt. Die Planwirtschaft und die Führungsrolle der Partei wurden zu Grundprinzipien des sozialistischen Zivilrechts erklärt.

Dennoch war die privatrechtliche Tradition nicht völlig abgebrochen. 1922 wurde im Zuge der neuen ökonomischen Politik (NEP) das Zivilgesetzbuch der Russischen Sowjetischen Föderativen Republik (RSFSR), das zu einem nicht unerheblichen Teil auf dem vorrevolutionären Entwurf beruhte, ausgearbeitet und in Kraft gesetzt. Auch das nachfolgende Zivilgesetzbuch der RSFSR (ZGB RSFSR) von 1964 setzte diese Kontinuität fort, indem es wiederum viele Vorschriften seines Vorläufers aus dem Jahr 1922 übernahm. Damit enthielten beide Zivilgesetzbücher der RSFSR trotz einer überdeutlichen ideologischen Ausrichtung einen Kern bürgerlich-rechtlicher Vorschriften.

Gleichwohl war die Rolle des Zivilrechts in dem sozialistischen Rechtssystem weit geringer als das Vorhandensein einer Kodifizierung es vermuten lässt. Die Kooperationsbeziehungen zwischen den staatlichen Betrieben wurden zwar de jure durch die zivilrechtlichen Bestimmungen geregelt, doch wurde die praktische Bedeutung dieser Normen auf ein formales Minimum zugunsten der bürokratischen Lenkung reduziert. Die Transaktionen unter den Bürgern wurden weitestgehend in den Bereich der Schattenwirtschaft verdrängt. Das ZGB RSFSR erlaubte lediglich ein auf ein notwendiges Minimum beschränktes und gegenüber dem Staatseigentum nachrangiges persönliches Eigentum (vgl. Präambel, Art. 93, 105 ff.) und verbot die Erzielung nicht erarbeiteter Einkünfte (Art. 93).

Die zweite Zäsur stellte der Übergang Russlands zur Marktwirtschaft dar, der durch die Reformen Gorbatschows eingeleitet wurde. Im Zuge dieser Reformen wurden die Grundlagen der Zivilgesetzgebung der UdSSR vom 31.5.1991, die bereits einige marktwirtschaftlich ausgerichtete Regelungen enthielten, erlassen. Sie sollten am 1.1.1992 in Kraft treten, wurden aber wegen des Zusammenbruchs der UdSSR im Dezember 1991 obsolet. Die Grundlagen ergänzten aber aufgrund eines Beschlusses des Obersten Sowjets der Russischen Föderation vom 14.7.1992 die Zivilgesetzgebung Russlands in der Übergangsperiode. Das geltende russische Zivilgesetzbuch vollendete anschließend den Systemwechsel.

Die Neuausrichtung der Zivilgesetzgebung bedeutete aber keinen kompletten Bruch mit den Rechtstraditionen. Das sich neu entwickelnde Zivilrecht war von Anfang an und ist immer noch durch vielfältige Einflüsse des in der Sowjetunion praktizierten und vor allem gelehrten Zivilrechts geprägt, zumal die Verfasser der Gesetzesvorlagen sowie viele weitere führende zeitgenössische russische Juristen selbst im sowjetischen Recht ausgebildet worden sind.

Die Kontinuität der Zivilrechtsentwicklung wird bereits durch den Vergleich der Struktur des Zivilgesetzbuches der Russischen Föderation und des ZGB RSFSR von 1964 deutlich. Neben dem allgemeinen Teil, Eigentumsrecht, Vertragsrecht und Erbrecht enthielt das ZGB RSFSR ebenso wie das ZGB Regelungen über das geistige Eigentum, das sich damals im Urheberrecht und im Erfinderrecht erschöpfte, sowie Regelungen betreffend ausländische Personen, die als Vorläufer der IPR-Regelungen des ZGB betrachtet werden können. Die Materien des Familien- und Arbeitsrechts waren aus ideologischen Gründen nicht im ZGB RSFSR, sondern in separaten Gesetzbüchern geregelt. Nach der damals herrschenden Rechtsdoktrin standen hier im sozialistischen Recht, anders als im Recht der kapitalistischen Länder, keine vermögensrechtlichen Beziehungen im Vordergrund, was diese Regelungskomplexe aus dem Bereich des Bürgerlichen Rechts heraushob und zu selbständigen Rechtsgebieten machte. Das russische Zivilgesetzbuch behielt trotz des ideologischen Wechsels diese Tradition bei.

Ferner weist die Struktur der allgemeinen Teile beider Gesetzbücher große Ähnlichkeit auf. In diesem Bereich wurden einige Vorschriften des sowjetischen ZGB RSFSR, die nicht unmittelbar mit der sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zusammenhängen, in das neue Zivilgesetzbuch zum Teil wörtlich übernommen.

Im Gegensatz zum sozialistischen Recht wird im ZGB das Eigentum zu einem zentralen Begriff. Das ZGB schreibt einen wirksamen Rechtsschutz sowie eine Gleichbehandlung aller Eigentümer vor. Dennoch enthält es im Bereich der Eigentumsregelungen auch Relikte aus dem sozialistischen Recht. Dazu gehören insbesondere die in Art. 212 ZGB festgehaltenen unterschiedlichen Eigentumsformen, nämlich das Privateigentum, Staatseigentum, Munizipaleigentum und sonstige Eigentumsformen sowie als dingliche Rechte das „Recht der Bewirtschaftung“ und das der „operativen Verwaltung“, die den staatlichen und kommunalen Einheits- bzw. Fiskusunternehmen eingeräumt werden können (Art. 216, 294 ff. ZGB).

4. ZGB als Verfassung des Wirtschaftslebens

Das russische Zivilgesetzbuch ist als ein „systembildender Akt“ des gesamten russischen Zivilrechts konzipiert. Dementsprechend fängt es mit Bestimmungen verfassungsrechtlicher Art an, die zum einen die Grundprinzipien, insbesondere die wirtschaftlichen Freiheiten, festlegen (Art 1), zum anderen Vorschriften über die Kompetenzverteilung im Bereich der Zivilgesetzgebung und die Normenhierarchie enthalten (Art. 3).

Als „Grundsätze, auf denen die Zivilgesetzgebung beruht“ nennt Art. 1 Teil 1 ZGB die Gleichheit der Beteiligten zivilrechtlicher Beziehungen, die Unantastbarkeit des Eigentums, die Vertragsfreiheit, die Unzulässigkeit willkürlicher Eingriffe in Privatangelegenheiten, ungehinderte Ausübung bürgerlicher Rechte und deren Schutz.

Der zweite Teil dieses Artikels präzisiert den Grundsatz der Privatautonomie und stellt Voraussetzungen auf, unter denen bürgerliche Rechte, deren Entstehung in Art. 8 ZGB geregelt ist, eingeschränkt werden können. Art. 3 Teil 3 ZGB garantiert freien Verkehr der Waren, Dienstleistungen und Finanzmittel auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation und legt die Beschränkungsvoraussetzungen fest.

Art. 3 ZGB wiederholt die in der Verfassung festgeschriebene Zuweisung der Gesetzgebungskompetenz für das Zivilrecht. Gemäß Art. 5 der russischen Verfassung hat Russland (diese Bezeichnung des Landes ist mit der Bezeichnung „Russische Föderation“ gemäß Art. 1 Abs. 2 der Verfassung gleichbedeutend) eine föderative Struktur. Es besteht demnach aus „Republiken, Regionen, Gebieten, bundesbedeutsamen Städten, einem autonomen Gebiet und autonomen Bezirken als gleichberechtigten Föderationssubjekten“, die gemäß Art. 73 der Verfassung außerhalb der Kompetenzen der Föderation mit der vollen Staatsgewalt ausgestattet sind. Die Zivilgesetzgebung einschließlich des Rechts des geistigen Eigentums gehört gemäß Art. 71 Punkt „o“ der Verfassung zur Zuständigkeit der Föderation.

Außerdem enthält Art. 3 Bestimmungen darüber, unter welchen Voraussetzungen untergesetzliche Akte auf dem Gebiet des Zivilrechts erlassen werden dürfen. Darüber hinaus regelt es das Verhältnis der zivilrechtlichen Normen untereinander. An der Spitze der Zivilgesetzgebung steht gemäß Art. 3 Teil 2 S. 2 ZGB das Zivilgesetzbuch. Die in anderen Gesetzen enthaltenen Normen des Zivilrechts müssen diesem Gesetzbuch entsprechen. Die untergesetzlichen Akte auf dem Gebiet des Zivilrechts dürfen neben dem Zivilgesetzbuch auch anderen formellen Gesetzen nicht widersprechen.

Die Erhebung des Zivilgesetzbuches zum Zivilgesetz obersten Ranges ist zunächst aus der Entstehungssituation erklärbar. Diese Lösung erlaubte es, bestimmte Fragen in ihren Grundlagen bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu regeln und so einen Rahmen für die weitere Entwicklung des russischen Zivilrechts vorzugeben, gleichzeitig aber die Erarbeitung der Einzelheiten zu vertagen. Diese Vorgehensweise sollte eine gewisse Stabilität der Übergangsgesetzgebung gewährleisten. Darüber hinaus erschien diese Regelung in Verbindung mit den Kompetenzvorschriften geeignet, einer Aushöhlung des Zivilrechts durch untergesetzliche Akte, so wie sie in der Sowjetunion oft praktiziert wurde, vorzubeugen. Eine ähnliche Struktur des Zivilrechts ist in den Zivilgesetzbüchern einer Reihe weiterer der [[Gemeinschaft Unabhängiger Staaten|GUS]] angehörender Staaten enthalten (vgl. z.B. Zivilgesetzbücher Usbekistans [Art. 3] Tadschikistans [Art. 2 Teil 1]; Ukraine [Art. 4 Teil 2]; Kasachstans [Art. 3 Teil 2]; Kirgisiens [Art. 2 Teil 4]). Zu berücksichtigen ist aber, dass die herausgehobene Stellung des ZGB in der Normenhierarchie in keiner Weise verfassungsrechtlich abgesichert wird. Das Zivilgesetzbuch ist als ein Föderales Gesetz gemäß Art. 105 der Verfassung der Russischen Föderation erlassen worden und kann damit keinen Anwendungsvorrang gegenüber anderen auf dem Gebiet des Zivilrechts erlassenen Föderalen Gesetzen beanspruchen. Eine gewisse Höherrangigkeit des ZGB gegenüber zivilrechtlichen Einzelgesetzen scheint sich in der russischen Doktrin aber durchgesetzt zu haben. Dem ZGB wird der Rang eines primus inter pares zugeschrieben, dessen Regelungen sich im Falle einer Kollision mit den Vorschriften anderer föderaler Gesetze durchsetzen sollten. In der Praxis stellt sich das Kollisionsproblem in der Regel nicht, da alle Gesetzesprojekte, die zivilrechtlichen Fragen betreffen, einer Expertise durch den Rat zur Kodifizierung und Vervollkommnung der Zivilgesetzgebung beim Präsidenten der Russischen Föderation unterworfen werden.

5. Zwischenbilanz und Ausblick

Es kann festgehalten werden, dass es sich bei dem russischen Zivilgesetzbuch um eine Kodifikation der Übergangszeit handelt, in der viele Einflüsse des sozialistischen Rechts ausgemacht werden können. Dazu gehören unter anderem die bereits erwähnte Beibehaltung verschiedener Eigentumsformen, weit ausgedehnte Formvorschriften, Einsprengsel von öffentlichem Recht wie Konfiskation (Art. 243) und Requirierung (Art. 242). Einige Regelungen wie z.B. das Nebeneinander von geschlossenen Aktiengesellschaften und den Gesellschaften mit beschränkter Haftung spiegeln auch die zu ihrer Entstehungszeit herrschende Unsicherheit wieder. Dennoch hat die Kodifikation wichtige Impulse für die Entwicklung des Zivilrechts mit sich gebracht.

Die Fortentwicklung des russischen ZGB durch die Rechtsprechung der Instanzgerichte erfolgt allerdings nur zögerlich. Der Grund dafür ist wohl in dem Erbe der sowjetischen Rechtspraxis zu suchen. Der Staatsaufbau der Sowjetunion beruhte auf dem Rätemodell, das keine Gewaltenteilung kannte. An der Spitze der ungeteilten Staatsgewalt stand der im Prinzip allzuständige Oberste Sowjet (Rat), dessen Präsidium gemäß Art. 121 Nr. 5 der sowjetischen Verfassung von 1977 zur Auslegung der Gesetze befugt war. Obwohl nicht ausdrücklich gesagt, kam den Ergebnissen der Auslegung eine offizielle und verbindliche Wirkung zu. Die Funktion der Gerichte war dementsprechend eingeschränkt. Sie hatten sich möglichst auf die Anwendung des Wortlauts der Gesetze zu beschränken.

Die Verfassung der Russischen Föderation sieht heute in Art. 10 eine Gewaltenteilung vor. Dennoch muss eine unabhängige Rechtsprechung, die im Stande wäre, das Zivilrecht anhand der zu entscheidenden Fällen weiter zu entwickeln, sich erst etablieren. Anzumerken ist, dass die herrschende Meinung in der russischen Zivilrechtswissenschaft heute noch davon ausgeht, dass die Auslegung der zivilrechtlichen Gesetze sich am Wortlaut zu orientieren hat und eine teleologische Interpretation der Norm, die von dem Gesetzestext abweicht, nicht zulässig sei. Die Möglichkeit einer gesetzeskorrigierenden Auslegung wird weiterhin dadurch erschwert, dass das Prinzip des Treu und Glaubens im russischen Zivilrecht kein allgemeines Rechtsprinzip ist, das bei der Auslegung der Gesetzesvorschriften zu berücksichtigen wäre, sondern nur dann zur Anwendung kommt, wenn eine Gesetzeslücke besteht, die im Wege der Analogie nicht geschlossen werden kann (Art. 6 Punkt 2 ZGB).

Eine besondere Rolle spielen bei der Auslegung des Zivilrechts die russischen Obersten Gerichte: das Oberste Gericht, das den Gerichten der allgemeinen Jurisdiktion und das Oberste Wirtschaftsgericht, das den staatlichen Wirtschaftsgerichten (zu russisch arbitražnye sudy, auch Arbitragegerichte genannt) vorstehen. Gemäß Art. 126, 127 der Verfassung der Russischen Föderation sind die obersten Gerichtsorgane befugt, den Gerichten Erläuterungen hinsichtlich der Gesetzesanwendung zu erteilen. Diese Erläuterungen erfolgen außerhalb von kontradiktorischen Verfahren in Form von sog. Informationsbriefen oder Übersichten der Rechtsprechungspraxis. Die Beschlüsse („postanovlenija“) des Plenums des Obersten Wirtschaftsgerichts sind gemäß Art. 13 Punkt 2 des Gesetzes „Über die Wirtschaftsgerichte“ bindend. Den Beschlüssen des Obersten Gerichts kommt eine de facto Bindungswirkung zu.

Die Fortentwicklung des russischen Zivilrechts bleibt aber in erster Linie Sache der Politik. Im Juli 2008 unterschrieb der russische Präsident, Dmitrij Medwedew, eine Präsidentenverordnung („Ukaz“) in der eine Überarbeitung des Zivilgesetzbuches angeordnet wird. Das Forschungszentrum für Privatrecht beim Präsidenten der Russischen Föderation sowie der am 5.10. 1999 per Präsidentenverordnung geschaffene Rat zur Kodifizierung und Vervollkommnung der Zivilgesetzgebung beim Präsidenten der Russischen Föderation werden damit beauftragt bis zum 1.6.2009 eine Konzeption der Zivilrechtsentwicklung zu erarbeiten und für eine breite öffentliche Diskussion dieser Konzeption zu sorgen. Als Ziele dieser Zivilrechtsreform werden in der Präsidentenverordnung neben der Anpassung der Zivilgesetzgebung an die wirtschaftliche Entwicklung und der Berücksichtigung der gerichtlichen Rechtsanwendungspraxis auch die Annährung an das Recht der Europäischen Union sowie gleichzeitig die Aufrechterhaltung der Einheitlichkeit in der zivilrechtlichen Regulierungen der GUS angehörenden Staaten genannt.

Literatur

Hans Arnold, Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation im Entstehen, Recht der Internationalen Wirtschaft 1995, 897 ff.; Oleg Sadikov, Das neue Zivilgesetzbuch Rußlands, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 4 (1996) 259 ff.; Stefanie Solotych, Das Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation. Erster Teil. Textübersetzung mit Einführung, 1996; Lane H. Blumenfeld, Russia’s New Civil Code, International Lawyer 30 (1996) 477 ff.; Oleg Sadikov, Das zweite Buch des neuen Zivilgesetzbuches Rußlands, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 7 (1999) 903 ff.; Rolf Knieper, Stability and Transition in the Civil Code of the Russian Federation, McGill Law Journal 44 (1999) 259 ff.; Leigh Sprague, Russia’s Civil Code (Diamond in the Rough): A Model Code in a Dysfunctional State, Journal of East European Law (Columbia University) 2000, 1 ff.; Christopher Osakwe, Russian Civil Code, 2000; Stefanie Solotych, Das Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation. Zweiter Teil. Textübersetzung mit Einführung, 2001; Tamara E. Abova, Postatejnyj kommentarij k graždanskomu kodeksu Rossijskoj Federacii, 2007

Quellen

Der erste Teil des ZGB RF findet sich in Federal’nyj zakon (Föderationsgesetz, FZ) Nr. 51 vom 30.11.1994, Sobranie Zakonodatel’stva Rossijskoj Federacii (SZ RF) 1994, Nr. 32, Pos. 3301; im Internet in russischer Sprache: http://www.consultant.ru/‌popular/‌gkrf1; eine deutsche Übersetzung liefert Stefanie Solotych, Das Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation. Erster Teil. Textübersetzung mit Einführung, 1996; eine englische Übersetzung liefert Christopher Osakwe, Russian Civil Code, 2000. Der zweite Teil des ZGB RF findet sich im FZ Nr. 14 vom 26.1.1996, SZ RF 1996, Nr. 5, Pos. 410; im Internet in russischer Sprache: http://www.consultant.ru/‌‌popular/‌gkrf2/‌; eine deutsche Übersetzung liefert Stefanie Solotych, Das Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation. Zweiter Teil. Textübersetzung mit Einführung, 2001; eine englische Übersetzung liefert Christopher Osakwe, Russian Civil Code, 2000. Der dritte Teil des ZGB RF findet sich in FZ Nr. 146 vom 26.11.2001, SZ RF 2001, Nr. 49, Pos. 4552; im Internet in russischer Sprache: http://www.consultant.ru/‌popular/‌gkrf3/; eine deutsche Übersetzung findet sich in WIRO 2002, 274 ff (nur Regelungen bzgl. IPR); eine englische Übersetzung liefert Peter B. Maggs, The Civil Code of the Russian Federation, Part 3, 2002. Der vierte Teil des ZGB RF findet sich in FZ Nr. 230 vom 22.12.2006, SZ RF 2006, Nr. 52, Pos. 5496; im Internet in russischer Sprache: http://www.consultant.ru/‌popular/‌gkrf4/‌; eine nur unvollständige deutsche Übersetzung findet sich in Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 2009, 205 ff und 305 ff.; eine englische Übersetzung liefern Peter B. Maggs, Alexei N. Zhiltsov, Civil Code of the Russian Federation, Fourth Part, 2008. Informationen über die Konzeption der Zivilrechtsentwicklung finden sich in russischer Sprache unter http:/‌/‌privlaw.ru/‌‌index.php?section_id=2.

Abgerufen von Russisches Zivilgesetzbuch – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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