Acquis Principles

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von Hans Christoph Grigoleit/Lovro Tomasic

1. Grundlagen

Die Acquis Principles (ACQP) sind ein modellhaftes Regelwerk, in dem Regeln und Grundsätze des innerhalb der EG bereits vereinheitlichten Vertragsrechts in systematischer Weise zusammengestellt und präsentiert werden sollen. Sie dienen ausweislich des Art. 1:101(2) ACQP als „Quelle für die Ausarbeitung, die Umsetzung und die Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts“. Neben den kritisch-rechtsvergleichend basierten Regelsammlungen der „Lando“-Kommission (Principles of European Contract Law) bzw. der Study Group on a European Civil Code stellen die ACQP eine weitere Quelle für die Erarbeitung des (Draft) Common Frame of Reference ([D]CFR) dar. In ihrer Struktur sind die ACQP an den Restatements des American Law Institute und an den Principles of European Contract Law (PECL) angelehnt; insbesondere sind die nummerierten Artikel mit ausführlichen Anmerkungen versehen. Sie sollen in drei Sprachen (Englisch, Französisch und Deutsch) erscheinen.

2. Organisation und Verfahren der Regelaufstellung

An der Konzeption der ACQP ist eine Gruppe von mehr als 50 europäischen Wissenschaftlern (Research Group on the Existing EC Private Law, sog. Acquis Gruppe) unter der Leitung von Hans Schulte-Nölke (Koordinator) und Gianmaria Ajani (Sprecher) beteiligt. Der Arbeit und Zielsetzung der Acquis Gruppe liegt eine Anregung der Europäischen Kommission zugrunde, die auf den Aktionsplan „Ein kohärentes europäisches Privatrecht“ (KOM(2003) 68 endg.) zurückgeht. Die Acquis Gruppe ist Gründungsmitglied des Joint Network on European Private Law, dessen Tätigkeit auf der Grundlage des Sechsten Rahmenprogramms (Beschluss 1513/ 2002) finanziell gefördert wird und das die wesentlichen Vorarbeiten für den CFR leisten soll.

Für die akademische Aufarbeitung der verarbeiteten Quellen und zur vorbereitenden Konzeption der Grundregeln bildet die Acquis Gruppe verschiedene „Untergruppen“, sog. Drafting Teams. Diese analysieren den acquis communautaire im Hinblick auf bestimmte Themen (z.B. vorvertragliche Informationspflichten, Erfüllung, Rechtsbehelfe) und legen Entwürfe für einzelne Teile der Acquis Principles vor. Die Drafting Teams, die zur Verbesserung der Koordination nach übergreifenden Sachgebieten geordnet in „Zwischengruppen“ zusammengefasst sind (z.B. „Contract I“ ~ Vertragsschluss), leiten ihre Entwürfe zunächst an das Redaction Committee und an die Terminology Group weiter. Diese Ausschüsse redigieren die Entwürfe für die Vorlage an die Vollversammlung der Acquis Gruppe („Plenary Meeting“). Die Vollversammlung kommt zweimal jährlich zusammen. In den Sitzungen werden die vorgelegten Entwürfe diskutiert, ggf. modifiziert und schließlich angenommen oder abgelehnt. Die Acquis Gruppe hat sich eine im Wesentlichen demokratische Entscheidungsstruktur gegeben; dadurch soll insbesondere in Streitfragen ein verlässliches Verfahren gewährleistet, die Einbeziehung von Expertenwissen angeregt und die Transparenz der Arbeit erhöht werden.

3. Inhaltliche Grundsätze

a) Methodik der Regelbildung

Der Leitgedanke für die Aufstellung der ACQP ist im Ansatz insoweit „positivistisch“, als das vorhandene EG-Privatrecht als zentrale Quelle herangezogen wird. Angesichts der Zersplitterung dieser Gesetzgebung sollen die ACQP den vorhandenen Regelbestand analysieren, systematisieren und – sofern dies sinnvoll möglich ist – generalisieren. Die in den verschiedenen EG-Rechtsquellen (insbesondere EG-Vertrag, Richtlinien, Verordnungen) vorgefundenen Regeln werden daher in den Systemzusammenhang des allgemeinen und besonderen Vertragsrechts gebracht, auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit geprüft und ggf. nach Maßgabe ihrer Grundgedanken generalisiert. Über das geschriebene EG-Recht hinaus bilden auch die Judikate des EuGH, also dessen Auslegung und Fortbildung des geltenden EG-Rechts, eine primäre Quelle für die ACQP.

Neben den positivrechtlichen bzw. richterrechtlichen EG-Normen werden bei der Konzeption der ACQP häufig auch Normen des internationalen Einheitsrechts, insbesondere des CISG (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)), andere europäische bzw. internationale Modellentwürfe (insbesondere PECL, UNIDROIT PICC sowie (andere) aus rechtsvergleichender Perspektive als hinreichend gefestigt erachtete Grundsätze in Bezug genommen. Die Legitimität einer Berücksichtigung dieser (aus Sicht der vorhandenen EG-Normen) „außerpositiven“ Rechtsquellen in den ACQP bedarf nach deren Grundkonzeption besonderer Begründung, zumal sich die ACQP gerade durch ihre „positivistische“ Ausrichtung von anderen Regelwerken, wie etwa den Entwürfen der Study Group on a European Civil Code, unterscheiden. Indes ist zu berücksichtigen, dass das Privatrecht positivrechtlicher Gestaltung ohnehin nur in denjenigen Grenzen zugänglich ist, die sich aus objektiven Sachgesetzlichkeiten und den Geboten rationaler Regelbildung ergeben, und damit in einem Wechselbezug zu nicht notwendig im positiven Recht zum Ausdruck kommenden Grundsätzen steht. Die erwähnten Quellen können nach Maßgabe ihrer Überzeugungskraft die Gültigkeit außerpositiver Rechtsprinzipien plausibilisieren. In die „positivistische“ Konzeption der ACQP fügen sich die „außerpositiven“ Grundsätze als sekundäre Rechtsquellen, die der Bekräftigung, Verdeutlichung und Ergänzung von positivrechtlich anknüpfbaren Regelungsgehalten dienen können.

Über die Elemente Systematisierung, Generalisierung sowie Ergänzung des geltenden EG-Rechts hinaus hat der methodische Ansatz der Acquis Gruppe nach ihrer ursprünglichen Zielsetzung ebenso wie nach dem von der EU-Kommission verlautbarten Auftrag (etwa KOM(2004) 651 endg., 3 f.), auch eine kritische Tendenz: Der privatrechtliche Regelbestand des geltenden EG-Rechts soll überarbeitet und verbessert, nicht überzeugungskräftige EG-Normen sollen von der Übernahme bzw. Verallgemeinerung in den ACQP ausgeschlossen werden (vgl. dazu näher unten 4.).

Es versteht sich von selbst, dass Modellregeln, die nach dieser Maßgabe konzipiert werden, nicht im Wege objektiv eindeutiger oder gar logischer Schlüsse auf vorhandenes EG-Recht zurückgeführt werden können. Vielmehr sind in vielfältiger Weise wertende Entscheidungen und Gewichtungen erforderlich.

b) Inhaltliche Elemente der vorliegenden Entwürfe

Dem Forschungsprogramm der Acquis Gruppe zufolge sollen die ACQP ebenso wie der DCFR aus drei Teilen bestehen. Im ersten Teil sollen zunächst allgemeine Grundsätze niedergelegt werden, die in Anlehnung an die Begründungserwägungen bei der Gemeinschaftsgesetzgebung die politischen und wirtschaftlichen Zwecksetzungen des bereits geltenden Europäischen Vertragsrechts darstellen. Dazu gehören etwa allgemeine Funktionen des Vertragsrechts, Prinzipien wie die Privatautonomie und die Vertragsbindung sowie damit in Ausgleich zu bringende Gegenprinzipien. Dieser erste Teil soll die Grundlagen des Regelwerks transparent machen und die Auslegung der ACQP konkretisieren. Ein zweiter Teil soll Definitionen der wichtigsten Rechtsbegriffe präsentieren. Im Rahmen der Konzeption der Definitionen sollen terminologische Unstimmigkeiten innerhalb der Gemeinschaftsgesetzgebung aufgedeckt und beseitigt werden.

Während diese beiden (Grundlagen‑)Teile noch nicht eigenständig veröffentlicht sind, sind wesentliche Inhalte des dritten Teils, der den konkreten Regelbestand des allgemeinen und des besonderen Vertragsrechts systematisch abbilden soll, im Jahr 2007 in einer Entwurfsfassung mit Kommentierungen veröffentlicht worden. Die bislang veröffentlichten Entwürfe der ACQP erfassen die Bereiche vorvertraglicher Pflichten, Vertragsschluss und Vertragsinhalt sowie wesentliche Regeln des allgemeinen Vertragsrechts (Art. 1:101-7:202 ACQP). Im Einzelnen sind zunächst einige allgemeine Bestimmungen getroffen worden (Kapitel 1), des Weiteren finden sich Regelungen über vorvertragliche Informationspflichten (Kapitel 2), Diskriminierungsverbote (Kapitel 3), das Zustandekommen von Verträgen (Kapitel 4), Widerrufsrechte (Kapitel 5), nicht im Einzelnen ausgehandelte Klauseln (Kapitel 6), zur Erfüllung (Kapitel 7) sowie schließlich ein – gesondert publizierter – Abschnitt zu den Rechtsbehelfen (Kapitel 8). In den endgültigen ACQP sollen weitere, durch das EG-Recht vorgeprägte Regelungsbereiche aufgenommen werden.

c) Grenzen der Ableitung aus dem geltenden EG-Recht

Der fragmentarische Charakter des Vertragsrechts der EG sowie dessen starke Konzentration auf das Verbraucherschutzrecht bringen es mit sich, dass die Reichweite verlässlicher Ableitungen aus vorhandenem EG-Recht auch auf der Grundlage plausibler Verallgemeinerung begrenzt ist. In bestimmten Bereichen, die einer Ableitung nicht zugänglich sind, wurde daher auf die eigenständige Entwicklung von Vorschriften verzichtet, so dass die ACQP einen systematisierten, aber immer noch fragmentierten Regelbestand aufweisen. Zum Teil wurde aber auch in Bereichen schwacher bzw. fehlender Anknüpfungen vorhandenen EG-Rechts – zur Verdichtung des systematischen Zusammenhangs und zur Verbreiterung des Regelbestands – auf die sekundären Quellen, also auf außerpositive Rechtsgrundsätze, zurückgegriffen (vgl. oben 2.a)).

Der Rekurs auf sekundäre Quellen ist zum Teil in den Kommentaren offen gelegt (vgl. die Kommentierung zu Art. 8:402 ACQP, die zu Art und Umfang des Schadensersatzes auf das CISG, die PECL und die UNIDROIT PICC verweist). Vorschriften, die keine gefestigte Grundlage im acquis communautaire haben, werden (z.T.) ausdrücklich als „grey rules“ gekennzeichnet und ohne nähere Auseinandersetzung unmittelbar aus dem DCFR übernommen. Die Hervorhebung durch die graue Schrift soll die „außerpositive“ Rechtsquelle offen legen. So ist etwa die Regelung des Angebots zum Vertragsschluss in Art. 4:103 ACQP als „grey rule“ an Art. 2:203 PECL bzw. Art. II.-4:201 DCFR angelehnt. Diese „grey rules“ werden auch nicht im Einzelnen im Kommentar erläutert. Vielmehr findet sich ein Verweis auf die „besonderen“ Rechtsquellen, etwa die entsprechenden Vorarbeiten (insbesondere PECL, DCFR, CISG). Die Notwendigkeit einer Aufnahme der „grey rules“ in die ACQP wird zumeist auf einen engen Bezug zum Befund im acquis communautaire gestützt.

Allerdings ist die Tendenz zur Offenlegung einer fehlenden bzw. schwachen Anbindung an den acquis communautaire durch die Verwendung der Kategorie „grey rules“ innerhalb der verschiedenen Regelungsbereiche der ACQP unterschiedlich stark ausgeprägt. Dies wird z.B. in der Regelung des Art. 8:402 ACQP deutlich, die nicht als „grey rule“ gekennzeichnet ist, dessen weitgreifende Definition des ersatzfähigen Schadens sich aber nur zu einem geringen Teil auf das EG-Recht und die Rechtsprechung des EuGH stützen lässt.

4. Bewertung

a) Systematische Aufbereitung des Regelbestands als Anstoß für einen europaweiten Diskurs

Der Plan, das bereits recht breitflächige, aber stark zersplitterte und nicht hinreichend kohärente Vertragsrecht der EG kritisch zu analysieren und zu systematisieren, trägt einem überaus bedeutenden Forschungsinteresse Rechnung. Die Formulierung der ACQP macht den vorhandenen europäischen Regelbestand transparent und ermöglicht es, diesen in einem übergreifenden Zusammenhang zu würdigen. Dadurch wird insbesondere ein entscheidender Anstoß für einen europaweiten Diskurs über den status quo des europäischen Privatrechts und dessen Fortentwicklung gegeben. Bislang ging nämlich weder der Entstehung der privatrechtlichen EG-Vorschriften noch deren Umsetzung ein solcher grenzüberschreitender, auf das Europarecht gerichteter Diskurs voraus. Vielmehr gab es – dem Befund des EG-Privatrechts entsprechend – zersplitterte Diskurse, die sich auf bestimmte Regelungsbereiche und deren isolierte Wirkung in einer nationalen Rechtsordnung konzentrierten.

b) Das Generalisierungsproblem

Eine zentrale Schwierigkeit des Ansatzes der ACQP liegt indessen darin, überzeugende Maßstäbe für die Verallgemeinerung vorhandenen EG-Rechts aufzustellen und anzuwenden. Die meisten der EG-Vorschriften sind auf Verbraucherverträge zugeschnitten, und sie sehen damit nur in bestimmten Bereichen und in punktueller Weise verbraucherschützende Instrumente vor. Die vorliegenden Entwürfe der ACQP tragen dem punktuellen Wertungsrahmen des EG-Privatrechts allerdings nicht hinreichend Rechnung; vielmehr lassen sie bei dessen Verallgemeinerung eine pauschalisierende Tendenz erkennen, indem Anwendungsgrenzen vorhandenen Richtlinienrechts ohne überzeugende Begründung aufgehoben werden.

Ein mahnendes Beispiel für diese pauschalisierende Tendenz bilden die Regelungen zu den vorvertraglichen Informationspflichten. In Art. 2:201 ACQP ist eine allgemeine, generalklauselartige Aufklärungspflicht vorgesehen. Zur Begründung wird in der Kommentierung vor allem auf die Richtlinie zum Verbrauchsgüterkauf (RL 1999/44) verwiesen; die dort in Art. 2 vorgesehene Pflicht des Verkäufers zur Lieferung vertragsgemäßer Güter wird als Informationspflicht verstanden, weil die „Vertragsmäßigkeit“ vom Informationsverhalten der Parteien abhängig ist. Über den Anwendungsbereich der Verbrauchsgüterkauf-RL – und über den verbraucherschützenden Kern des acquis communautaire – hinausgehend wird hieraus in Art. 2:201 ACQP eine Aufklärungspflicht als allgemeiner Grundsatz auch für Verträge außerhalb der Unternehmer-Verbraucher-Beziehung (b2c) formuliert, mit dem Hinweis, ein der Verbrauchsgüterkauf-RL ähnliches, informationsabhängiges Haftungskriterium finde sich auch in Art. 35 CISG, das auf Verträge zwischen Unternehmern (b2b) anwendbar ist (vgl. die Kommentierung zu Art. 2:201 ACQP Rn. 4 ff.). Für Verbraucherverträge sind – ohne überzeugende Abstimmung zur allgemeinen Regel des Art. 2:201 ACQP – weitere generalklauselartige Aufklärungspflichten in den Art. 2:202 Abs. 1, 2:203 ACQP vorgesehen. Als Sanktion der allgemeinen Aufklärungspflicht ist – neben der Verlängerung der Widerrufsfrist und einer ipso iure-Anpassung des Vertragsinhalts – in Art. 2:207 ACQP auch ein Schadensersatzanspruch vorgesehen, der aus dem Gedanken des effet utile abgeleitet wird (vgl. Kommentierung zu Art. 2:207 ACQP Rn. 2 f.).

Diese Form der Regelbildung durch pauschale Generalisierung vager Anknüpfungen führt zu Normen, die keinen hinreichenden Rückhalt im acquis communautaire haben und darüber hinaus auch in einem deutlichen Widerspruch zur Rechtslage in allen europäischen Rechtsordnungen stehen. Der fundamentale Unterschied zwischen vertraglichem Versprechen und außervertraglicher Informationshaftung wird ebenso eingeebnet wie die Besonderheiten des b2c-Kontakts und die vielgestaltigen Sanktionsalternativen, die sowohl im Rahmen der vertraglichen Mängelhaftung als auch bei außervertraglichen Informationsstörungen zu berücksichtigen sind. Es kommt hinzu, dass die generalklauselartige Formulierung der Aufklärungspflichten nahe legt, dass die umfassende Aufklärung durch den Vertragspartner in allen Vertragskontakten den Regelfall bildet, während die informationelle Selbstverantwortung zur Ausnahme degradiert wird. Dieses Regel-/Ausnahmeverhältnis ist unvereinbar mit den strengen Anwendungsgrenzen der Informationspflichten des acquis communautaire, mit dem Befund in den europäischen Rechtsordnungen und mit grundsätzlichen Postulaten einer freien Privatrechtsordnung. Schließlich eröffnet die generalklauselartige Aufklärungspflicht auch den Gerichten ein unangemessen weitreichendes Instrument für die Korrektur missliebiger Vereinbarungen.

c) Das unerfüllte Desiderat einer kritischen Bewertung des acquis communautaire

Mit der Tendenz zu willkürlicher Generalisierung geht ein weiteres Problem der Acquis Principles einher: Die – von der Acquis Gruppe gleichfalls in Angriff genommene (vgl. oben 3.a) – kritische Prüfung der im acquis communautaire vorgefundenen Regelungen findet in den Acquis Principles keinen hinreichenden Ausdruck. Vielmehr ist eine kritische Bewertung des vorhandenen EG-Rechts – vor allem auch aus Zeitgründen – bislang weitgehend unterblieben. Die Acquis Principles vermitteln den Eindruck eines notariellen Selbstverständnisses der Verfasser, das primär auf eine möglichst genaue und vollständige Übernahme des acquis communautaire gerichtet ist; der gestaltende Umgang mit dem geltenden EG-Recht erschöpft sich weitgehend in der soeben beschriebenen, eindimensionalen Generalisierungstendenz.

So sind etwa die zahlreichen Informationspflichten der EG-Richtlinien (Informationspflichten (Arbeitsvertrag); Informationspflichten (Verbrauchervertrag); Informationspflichten (Versicherungsrechtvertrag)) nicht auf ihre Funktionsfähigkeit hin untersucht oder einer individuellen Qualifizierung im Hinblick auf die verschiedenen, in Betracht kommenden Rechtsfolgen unterzogen worden. Auch ist eine Analyse der Effektivität des Widerrufsrechts und der Legitimität seiner Rahmenbedingungen bislang unterblieben. Schließlich sei auch die kritiklose Übernahme und Verallgemeinerung der EG-rechtlichen Antidiskriminierungsvorschriften erwähnt, deren Effektivität im privatrechtlichen Regelungszusammenhang in hohem Maße zweifelhaft ist, weil die Vorschriften dem Böswilligen breitflächige Umgehungsmöglichkeiten eröffnen, während sie für den Gutwilligen unter Umständen erheblichen Aufwand durch querulatorische Behauptung von Rechtsverstößen veranlassen können.

Demgegenüber finden sich in den ACQP nur ganz vereinzelt echte Korrekturen des acquis communautaire. Man mag etwa auf Art. 2:207 (1)2 ACQP verweisen, der das Widerrufsrecht im Fall der Informationspflichtverletzung entgegen der Tendenz der Heininger-Entscheidung des EuGH (Rs. C-481/99, Slg. 2001, I-9945) auf ein Jahr ab Vertragsschluss begrenzt. Indessen verdeutlicht dieses Beispiel auch die insgesamt praktizierte Korrekturintensität: Es handelt sich um allenfalls punktuelle Eingriffe, welche die Kohärenz des Regelbestands verbessern sollen, ohne diesen grundlegend kritisch zu hinterfragen.

Die kritische Analyse des geltenden EG-Privatrechts bleibt damit weiterhin ein dringliches Desiderat. Der Erlass der ersten vertragsrechtlichen Richtlinie, der sog. Haustürgeschäfte-RL (RL 85/577, Haustürgeschäfte), liegt mehr als 20 Jahre zurück. Das Europäische Verbraucherschutzrecht enthält zu einem großen Teil neuartige Elemente, die in der europäischen Privatrechtstradition keine gefestigte Grundlage finden. Die mittlerweile zahlreichen Richtlinien des Verbraucher-Acquis sowie die übrigen privatrechtlichen Rechtsakte beruhen nicht auf eingehender wissenschaftlicher Diskussion und Vorbereitung; vielmehr sind sie im Schutze der Nebel entstanden, die generell über dem europäischen Legislativverfahren liegen, und sie sind auch nach ihrem Inkrafttreten nicht hinreichend kritisch analysiert worden. Den Entwürfen für die Acquis Principles ist es indessen nicht gelungen, dieses eigentümliche Kritikphlegma zu überwinden.

5. Perspektive

Die ACQP stehen verfahrensmäßig in engem Zusammenhang mit dem Common Frame of Reference, dessen Erarbeitung die Kommission angeregt hat, um eine grundlegende Reform des Acquis-Vertragsrechts vorzubereiten. Im Common Frame of Reference sollen Regelungsbereiche des vorhandenen EG-Privatrechts in den systematischen Zusammenhang umfassender, rechtsvergleichend abgesicherter Modellregeln des Vertragsrechts und u.U. auch bestimmter außervertraglicher Rechtsgebiete gestellt werden. Die ACQP bilden – naheliegenderweise – die primäre Quelle für diejenigen Bereiche des Common Frame of Reference, die am acquis communautaire orientiert sind. Hinsichtlich der Einarbeitung des acquis communautaire bestehen im Hinblick auf den bislang veröffentlichten DCFR sehr weitgehend ebenfalls die hinsichtlich der Acquis Principles zu konstatierenden Vorzüge und Bedenken.

Im Übrigen hat die Kommission – nach der Veröffentlichung der ersten Entwürfe für die ACQP – einen Entwurf für eine Richtlinie betreffend die Rechte von Verbrauchern vorgelegt (KOM(2008) 614 final, Verbraucherkreditrecht der Gemeinschaft). Dieser Entwurf soll die von der Haustürwiderrufs-RL, der Fernabsatz-RL (RL 97/7), der Verbrauchsgüterkauf-RL sowie der Klausel-RL (RL 93/13) regulierten Bereiche des Verbraucherschutzes – in Abkehr vom bislang verfolgten Prinzip der Mindestharmonisierung – einer Vollharmonisierung zuführen (vgl. Art. 4 des Entwurfs). Die ACQP mögen bei der Konzeption dieses Entwurfs Berücksichtigung gefunden haben, etwa hinsichtlich der Vereinheitlichung der Regeln des vertriebsspezifischen Widerrufsrechts (Art. 8 ff. des Entwurfs). Indessen bleibt der Entwurf in wesentlichen Teilen insgesamt weit hinter der generalisierenden Tendenz der ACQP zurück. So beschränkt er sich insbesondere hinsichtlich des Anwendungsbereichs seiner Regelungen auf Verbraucherverträge. Auch die allgemeine Definition der Informationspflichten in Art. 5 des Entwurfs hat etwa eine deutlich eingeschränktere Reichweite als die ausufernden Formulierungen der Art. 2:201, 2:202 ACQP. Hinsichtlich der Sanktionen für die Verletzung von Informationspflichten verweist der Entwurf im Wesentlichen auf „wirksame vertragsrechtliche Rechtsbehelfe“ der Mitgliedstaaten (Art. 6(2); vgl. ferner auch Art. 42 des Entwurfs) und verfolgt damit ebenfalls eine deutlich zurückhaltendere Regelungstendenz als Art. 2:207 PECL.

Insgesamt sollten die ACQP als eine erste Bestandsaufnahme und als eine Art Steinbruch für die Reform des vorhandenen EG-Privatrechts und für die künftige Entwicklung der Privatrechtsvereinheitlichung verstanden werden. Der acquis communautaire bedarf weiterhin einer grundlegenden Überarbeitung. Dieses elementare Ziel wird durch die Acquis Principles gefördert, indem sie den Regelstoff in transparenter Weise präsentieren und damit auch die Unzulänglichkeiten des geltenden EG-Privatrechts teils deutlicher zutage treten lassen, teils sogar im Wege pauschalisierender Verallgemeinerung verschärfen. Der wichtigste Reformschritt, eine kritische Prüfung und Aufarbeitung des acquis communautaire auf der Grundlage eines breiten Diskurses, steht indessen noch aus. Im Umgang mit den ACQP ist somit zu berücksichtigen, dass sie weder eine rein systematisierende Wiedergabe des gegenwärtigen Bestands des Gemeinschaftsrechts noch eine wissenschaftlich kritische Evaluierung desselben präsentieren. Vielmehr handelt es sich um ein Regelwerk, das die im acquis communautaire vorgefundenen Normen sammelt, ergänzt und – in zum Teil allzu pauschaler Weise – verallgemeinert. Die ACQP sind im Prozess der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung damit ein wertvoller, aber unbedingt diskussions- und entwicklungsbedürftiger Beitrag.

Literatur

Hans Schulte-Nölke, Europäische Forschergruppe zum Geltenden Gemeinschaftsprivatrecht („Acquis Gruppe“) gegründet, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 10 (2002) 893 ff.; Reiner Schulze, Martin Ebers, Hans Christoph Grigoleit (Hg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis communautaire, 2003; Reinhard Zimmermann, European Contract Law, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2007, 455 ff.; Reiner Schulze, Die Acquis-Grundregeln und der gemeinsame Referenzrahmen, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 731 ff.; Nils Jansen, Reinhard Zimmermann, Grundregeln des bestehenden Gemeinschaftsprivatrechts?, Juristenzeitung 2007, 1113 ff.; Horst Eidenmüller, Florian Faust, Hans Christoph Grigoleit, Nils Jansen, Gerhard Wagner, Reinhard Zimmermann, Der Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Privatrecht, Juristenzeitung 2008, 529 ff.; Thomas Pfeiffer, Von den Principles of European Contract Law zum Draft Common Frame of Reference, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 16 (2008) 679 ff.; idem, Methodik der Privatrechtsangleichung in der EU, Archiv für die civilistische Praxis 208 (2008) 227 ff.; Hans Schulte-Nölke, Reiner Schulze, Ludovic Bernardeau (Hg.), Europäisches Vertragsrecht im Gemeinschaftsrecht, 2008.

Abgerufen von Acquis Principles – HWB-EuP 2009 am 24. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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