Europäischer Pass

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von Jan von Hein

1. Einführung

Im Gegensatz zu den USA verfügt die EU über keine Behörde auf föderaler bzw. supranationaler Ebene, welche die Aufsicht über Finanzdienstleistungen (Banken-, Wertpapier- und Versicherungsaufsicht) wahrnimmt. Eine Kumulation aufsichtsrechtlicher Anforderungen und unnötige Doppelprüfungen durch die Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten führen aber ebenso wie Aufsichtslücken zu Ineffizienzen und behindern den Aufbau eines echten europäischen Binnenmarkts im Finanzsektor. Da die Schaffung einer einheitlichen europäischen Aufsichtsbehörde politisch gegenwärtig unrealistisch ist, müssen in der gegebenen dezentralen Aufsichtsstruktur die inhaltlichen Kriterien so weit vereinheitlicht werden, dass die Anbieter grundsätzlich nur der Aufsicht durch ihren Herkunftsmitgliedstaat unterworfen werden, aber ihre Produkte gleichwohl gemeinschaftsweit anbieten können. Dies ist die Grundidee des „Europäischen Passes“ auf den verschiedenen Gebieten des Finanzsektors für Prospektemittenten, Finanzinstitute, sonstige Zahlungsdienstleister, Verwaltungsgesellschaften, Versicherer und bei Übernahmeangeboten. Nachdem zunächst ein Ansatz der Mindestharmonisierung und wechselseitigen Anerkennung verfolgt worden war, ist man in jüngerer Zeit zu einer Vollharmonisierung übergegangen. Exemplarisch hierfür steht die Prospekt-RL (RL 2003/71). Im Einzelnen bestehen aber Unterschiede zwischen den Europäischen Pässen auf den verschiedenen Gebieten. Als besonders schwierig hat sich die Schaffung eines funktionsfähigen Europäischen Passes im Investmentrecht erwiesen.

2. Wertpapierprospekte

a) Vollharmonisierung

Der Europäische Pass bildet das Herzstück der Prospekt-RL. Diese Richtlinie weicht von dem zuvor verfolgten Konzept einer Mindestharmonisierung, verbunden mit einer wechselseitigen Anerkennung, ab. Infolge der Ausnutzung der verbliebenen Regelungsspielräume durch die Mitgliedstaaten war es unter dem nur in Mindestanforderungen harmonisierten Regime nicht gelungen, grenzüberschreitende Emissionen mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand durchzuführen, wodurch die Schaffung eines integrierten europäischen Kapitalmarkts erheblich behindert wurde. Bei der Prospekt-RL handelt es sich stattdessen um eine Maßnahme der Vollharmonisierung, um eine echte Freizügigkeit von Prospekten innerhalb der EU zu erreichen. Jüngste empirische Erhebungen bestätigen die große Akzeptanz des „Europäischen Passes“ unter den Marktteilnehmern.

b) Gemeinschaftsweite Geltung

Art. 17 Prospekt-RL regelt die gemeinschaftsweite Geltung im Herkunftsmitgliedstaat gebilligter Prospekte (in Deutschland siehe §§ 17, 18 WpPG). Nach Art. 17(1)1 Prospekt-RL setzt das öffentliche Angebot eines Wertpapiers oder dessen Zulassung an einem geregelten Markt in einem oder mehreren Mitgliedstaaten oder in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat lediglich voraus, dass die zuständige Behörde jedes Mitgliedstaats nach dem in Art. 18 Prospekt-RL vorgesehenen Verfahren unterrichtet („notifiziert“) wird. In diesem Fall ist der vom Herkunftsmitgliedstaat gebilligte Prospekt einschließlich etwaiger Nachträge in beliebig vielen Aufnahmemitgliedstaaten für ein öffentliches Angebot oder für die Zulassung zum Handel gültig. Den zuständigen Behörden der Aufnahmemitgliedstaaten ist es ausdrücklich untersagt, für diesen Prospekt erneut ein Billigungs- oder Verwaltungsverfahren durchzuführen (Art. 17(1)2 Prospekt-RL).

c) Herkunftsmitgliedstaat

Der Herkunftsmitgliedstaat ist bei der Emission von „Dividendenwerten“ i.S.d. Art. 2(1)(b) Prospekt-RL (in erster Linie Aktien und sog. depositary receipts) durch Emittenten, die ihren Sitz innerhalb der EU (bzw. des EWR) haben, der Mitgliedstaat, in dem der jeweilige Emittent seinen (statutarischen) Sitz hat (Art. 2(1)(m)(i) Prospekt-RL). Weitere Anforderungen an den Sitzstaat (z.B. die Entfaltung einer tatsächlichen geschäftlichen Tätigkeit) werden, im Gegensatz etwa zur Richtlinie über Zahlungsdienste (Überweisungsverkehr (grenzüberschreitender)), nicht aufgestellt. Für sonstige übertragbare Wertpapiere („Nichtdividendenwerte“ i.S.d. Art. 2(1)(c) Prospekt-RL) statuiert Art. 2(1)(m)(ii) Prospekt-RL unter dort näher bestimmten Voraussetzungen ein Wahlrecht des Emittenten, des Anbieters oder der die Zulassung beantragenden Person. In diesem Fall kann außer für den Sitzstaat des Emittenten für denjenigen Staat optiert werden, in dem die Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen sind oder zugelassen werden sollen bzw. für den Mitgliedstaat, in dem die Wertpapiere öffentlich angeboten werden.

Einzelheiten des Notifizierungsverfahrens sind in Art. 18 Prospekt-RL geregelt. Demnach übermittelt die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaates den zuständigen Behörden der Aufnahmemitgliedstaaten grundsätzlich innerhalb von drei Arbeitstagen nach einem entsprechenden Ersuchen des Emittenten eine sog. Billigungsbescheinigung sowie eine Kopie des Prospekts. Gegebenenfalls ist eine Übersetzung der Zusammenfassung des Prospektinhalts (Art. 5(2) Prospekt-RL) beizufügen.

d) Vorsichtsmaßnahmen

Das Prinzip der gemeinschaftsweiten Geltung gebilligter Prospekte lässt die Befugnisse der Behörden des Aufnahmemitgliedstaates unberührt, unter den engen Voraussetzungen des Art. 23 Prospekt-RL in subsidiärer Kompetenz Vorsichtsmaßnahmen zu treffen (Art. 17(1)1 Prospekt-RL). Stellt die Behörde des Aufnahmemitgliedstaates Unregelmäßigkeiten oder Pflichtverletzungen fest, hat sie zunächst die Behörde des Herkunftsmitgliedstaates zu informieren (Art. 23(1) Prospekt-RL). Nur wenn der Emittent bzw. das die Platzierung betreuende Finanzinstitut die im Herkunftsmitgliedstaat angeordneten Maßnahmen missachtet oder diese sich als ungeeignet erweisen, darf die Behörde des Aufnahmemitgliedstaates – wiederum nach vorheriger Unterrichtung der Herkunftsbehörde – alle für den Anlegerschutz erforderlichen Maßnahmen ergreifen (Art. 23(2) Prospekt-RL).

e) Sprache

Die Frage, in welcher Sprache ein Prospekt abzufassen ist, hat zentrale Bedeutung für die praktische Durchführung grenzüberschreitender Emissionen. Näheres regelt Art. 19 Prospekt-RL. Die Vorschrift differenziert zwischen drei Konstellationen, die besonders für Aktienemissionen relevant sind; für bestimmte Nichtdividendenwerte gilt darüber hinaus eine Spezialregelung in Art. 19(4) Prospekt-RL.

(a) Im einfachsten Fall wird ein Wertpapier nur im Herkunftsmitgliedstaat öffentlich angeboten oder nur dort die Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt beantragt. In diesem Fall ist der Prospekt in einer von der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats anerkannten Sprache zu erstellen (Art. 19(1) Prospekt-RL).

(b) In der zweiten Variante fallen der oder die Staaten, in denen das Wertpapier öffentlich angeboten bzw. auf einem geregelten Markt zugelassen wird, einerseits, und der Herkunftsmitgliedstaat anderseits, auseinander. In diesem Fall ist der Emittent nicht gezwungen, den Prospekt in die Sprachen aller Aufnahmemitgliedstaaten zu übersetzen; vielmehr darf er sich „einer in internationalen Finanzkreisen gebräuchlichen Sprache“ bedienen (Art. 19(2) Prospekt-RL). Mit dieser diplomatischen Verklausulierung ist natürlich in der Sache die englische Sprache gemeint. Die zuständigen Behörden der jeweiligen Aufnahmemitgliedstaaten dürfen allerdings eine Übersetzung der nach Art. 5(2) Prospekt-RL vorgeschriebenen Zusammenfassung des Prospektinhalts verlangen (Art. 19(2)2 Prospekt-RL). Soweit es um die Prüfung des Prospekts durch die Behörde des Herkunftsmitgliedstaates geht, hat der Emittent die Wahl, ob er sich einer von dieser anerkannten Sprache oder des Englischen bedient.

(c) Drittens werden Konstellationen erfasst, in denen das Wertpapier sowohl im Herkunftsmitgliedstaat als auch in einem oder mehreren anderen Staaten emittiert wird (Art. 19(3) Prospekt-RL). In diesem Fall muss der Prospekt in einer von der Behörde des Herkunftsmitgliedstaates akzeptierten Sprache abgefasst sein. Darüber hinaus hat der Emittent dieselben Wahlmöglichkeiten (Sprachen der Aufnahmemitgliedstaaten oder Englisch) wie in der zweiten Variante.

f) Emittenten aus Drittstaaten

Besonderheiten sind schließlich für Emittenten aus Drittstaaten zu beachten. Auch diese kommen vorbehaltlich einer Äquivalenzprüfung in den Genuss des Europäischen Passes. Da diese Emittenten ihren Sitz nicht in der EU haben, muss für sie ein Herkunftsmitgliedstaat auf dem Gebiet der Gemeinschaft definiert werden. Drittstaatsemittenten von Aktien oder anderen Dividendenwerten haben insoweit die Wahl zwischen dem Mitgliedstaat, in dem die Wertpapiere erstmals nach dem Inkrafttreten der Prospekt-RL öffentlich angeboten werden sollen, und dem Mitgliedstaat, in dem der erste Antrag auf Zulassung der Wertpapiere zum Handel an einem geregelten Markt gestellt wird (Art. 2(1)(m)(iii) Prospekt-RL). Für Nichtdividendenwerte gilt auch gegenüber Drittstaatenemittenten die in Art. 2(1)(m)(ii) Prospekt-RL getroffene Optionsmöglichkeit, weil insoweit nicht nach dem Sitz des Emittenten unterschieden wird. Die zuständige Behörde des auf diese Weise bestimmten Herkunftsmitgliedstaates kann einen nach den Rechtsvorschriften eines Drittstaates erstellten Prospekt billigen, wenn dieser nach international anerkannten Standards, insbesondere den Transparenzstandards der IOSCO, erstellt wurde und wenn die Informationspflichten den Anforderungen der Prospekt-RL gleichwertig sind (Art. 20(1) Prospekt-RL). Zur größeren Rechtssicherheit kann die Gleichwertigkeit in diesem Sinne von der Kommission offiziell festgestellt werden (Art. 20(3) Prospekt-RL). Für die Freizügigkeit des Prospekts gelten sodann die oben beschriebenen Art. 17-19 Prospekt-RL auch zugunsten von Drittstaatsemittenten (Art. 20(2) Prospekt-RL). Diese Erweiterung des Europäischen Passes kommt insbesondere Emittenten aus den USA zugute.

3. Bankenaufsicht → Aufsicht über Finanzdienstleistungen

4. MiFID (RL 2004/39) → Märkte für Finanzinstrumente

5. Zahlungsverkehr → Überweisungsverkehr (grenzüberschreitender)

6. Investmentrecht

Der Europäische Pass im Investmentrecht bildet den Gegenstand einer aktuellen Reformdiskussion, die gegenwärtig noch nicht abgeschlossen ist. Bereits die erste Fassung der OGAW-RL (RL 85/611) sah einen Europäischen Pass für richtlinienkonforme Investmentprodukte vor, verfolgte also einen vertriebsbezogenen Ansatz (sog. Produktpass). Mit der Neufassung der Richtlinie im Jahre 2002 kam ein weiterer Europäischer Pass hinzu, der die Kapitalanlagegesellschaften selbst erfasst, sofern sie ein OGAW-konformes Sondervermögen verwalten (Art. 6-6c der konsolidierten OGAW-RL; in Deutschland §§ 12, 13 InvG).

Art. 6 OGAW-RL ermöglicht es einer Verwaltungsgesellschaft, die über eine Zulassung für das Investmentgeschäft verfügt, ihre Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten durch die Errichtung einer Zweigniederlassung oder im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs zu erbringen, ohne dass die Aufnahmemitgliedstaaten hieran weitere Bedingungen wie etwa die Aufbringung eines Dotationskapitals knüpfen dürfen. Voraussetzung für die Errichtung einer Zweigniederlassung oder die erstmalige Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat ist aber wiederum die Notifizierung der Behörden des Aufnahmemitgliedstaates durch die Behörden des Herkunftsmitgliedstaates (zu Einzelheiten siehe Art. 6a, 6b OGAW-RL). Der Europäische Pass gemäß Art. 6 ff. OGAW-RL hat sich jedoch nach einhelliger Ansicht als Misserfolg erwiesen. Zum einen erfasst er nicht alle Typen von Fonds; solche in vertraglicher Form sind ausgenommen. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen dem Produktpass und dem Pass für Anbieter unklar geregelt, sodass der Vertrieb ausländischer Investmentanteile bislang nur bei Innehabung beider Pässe erfolgen kann. Der am 16.7.2008 vorgelegte Entwurf für eine erneute Revision der OGAW-RL (2008/0153 (COD)) hat sich das Ziel gesetzt, den Pass für Verwaltungsgesellschaften effizienter und praxisgerechter auszugestalten, ohne den hohen Standard des Anlegerschutzes zu beeinträchtigen. Das Europäische Parlament hat den Vorschlag am 13.1.2009 mit Änderungen in erster Lesung angenommen (P6_TA-PROV(2009)0012).

7. Übernahmerecht

Die Übernahme-RL (RL 2004/25) überträgt das Konzept des Europäischen Passes auf die für eine Übernahme zu erstellende Angebotsunterlage (Art. 6(2)(II) Übernahme-RL; in Deutschland § 11a WpÜG). Die Billigung einer Angebotsunterlage durch die zuständige Aufsichtsstelle bewirkt, dass die Unterlage, vorbehaltlich einer gegebenenfalls erforderlichen Übersetzung, in allen anderen Mitgliedstaaten, an deren Märkten die Wertpapiere der Zielgesellschaft zum Handel zugelassen sind, anerkannt werden muss. Eine erneute Billigung durch die Aufsichtsstellen der betreffenden Mitgliedstaaten ist nicht erforderlich. Diese Behörden dürfen nur unter engen Voraussetzungen die Aufnahme zusätzlicher Angaben in die Angebotsunterlage verlangen, nämlich wenn diese spezifische Erfordernisse des Marktes, an dem die Wertpapiere notiert sind, bestimmte einzuhaltende Förmlichkeiten oder die steuerliche Behandlung der den Aktionären angebotenen Gegenleistung betreffen.

Bei dem Europäischen Pass im Übernahmerecht ist jedoch die von der Prospekt-RL abweichende Verteilung der Aufsichtszuständigkeit zu beachten: Während nach der Prospekt-RL auch bei der Platzierung von Wertpapieren außerhalb des Sitzstaates die Behörde des Herkunftsmitgliedstaates zuständig bleibt, sieht Art. 4(2) der Übernahme-RL eine gespaltene Zuständigkeit vor und weist Fragen des Angebotsvorgangs und der Angebotsunterlage ohnehin der Aufsicht des Marktstaates zu, wenn die Wertpapiere der Zielgesellschaft nicht auch in deren Sitzstaat zugelassen sind (Kapitalmarktrecht, internationales). Der Europäische Pass hat im Übernahmerecht daher v.a. Bedeutung bei einer Zulassung der Wertpapiere in mehreren Mitgliedstaaten außerhalb des Sitzstaates (Art. 4(2)(b)(II) Übernahme-RL).

8. Versicherungsaufsicht → Versicherungsaufsichtsrecht

9. Zusammenfassung und Ausblick

Eine Gesamtschau der Europäischen Pässe ergibt ein gemischtes Bild: Dem erfolgreichen Modell der Prospekt-RL auf der einen Seite des Spektrums stehen auf der anderen Seite die bislang unbefriedigenden Versuche zur Einführung eines Passes für Verwaltungsgesellschaften im Investmentrecht gegenüber. Dazwischen sind die leidlich funktionierenden Pässe im Bankaufsichts- und sonstigen Wertpapierrecht (MiFID) zu nennen. Wünschenswert wäre es, wenn die Kommission oder CESR sich zwischen den zahlreichen Reformmaßnahmen an einzelnen Richtlinien Zeit für eine Studie nähme, die den acquis auf dem Gebiet des Europäischen Passes systematisch erfasst, um in Zukunft zu insgesamt kohärenteren Regelungen zu gelangen. Ob es auf Dauer gelingen wird, mit Hilfe des Europäischen Passes der Errichtung einer supranationalen Aufsichtsbehörde auf den genannten Gebieten zu entgehen, bleibt abzuwarten.

Literatur

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Abgerufen von Europäischer Pass – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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