Erbrecht

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von Inge Kroppenberg

1. Begriff und Gegenstand des Erbrechts

Das private Erbrecht hat drei Regelungsgegenstände. Es bringt die Übertragung des Vermögens des Erblassers auf die erbrechtlich berechtigten Personen zustande. Es stellt Erbfolgeordnungen zur Verfügung (Erbfolge). Und schließlich ist Erbrecht Vermögensadministrationsrecht. Nicht zum privaten Erbrecht gehören dagegen das Erbschaftssteuerrecht und die staatliche Hinterbliebenenversorgung.

Ein wichtiges Regelungsanliegen des Erbrechts ist das rechtliche Schicksal des Güter- und Schuldenbestands einer natürlichen Person für die Zeit nach ihrem Tod. Insoweit hat das Erbrecht eine vermögensrechtliche Zuordnungsfunktion. Alle Erbrechtsordnungen stellen daher einen Erwerbsmodus zur Verfügung, der bewirkt, dass das Vermögen des Erblassers geordnet zu seinem Rechtsnachfolger gelangt. Im englischen Recht gibt diese zentrale Aufgabe des Erbrechts dem Rechtsgebiet sogar seinen Namen: law of Succession.

Das Erbrecht ist jedoch mehr als reines Vermögenssukzessionsrecht. Jedes Erbrecht regelt auch die Erbfolge. Die rechtsgeschäftliche Erbfolge überlässt es dem Erblasser, einen geeigneten Rechtsnachfolger zu bestimmen. Sie schafft einen Ordnungsrahmen für die Ausübung der privatrechtlichen Gestaltungsbefugnis von Todes wegen. Die rechtsgeschäftliche Erbfolge ist von der Testierfreiheit geprägt (Testierfreiheit, freedom of testation). Die privaten Erbrechtsordnungen tragen aber auch dem Umstand Rechnung, dass nicht alle Erblasser von Todes wegen verfügen. In subsidiären gesetzlichen Erbfolgeordnungen bestimmen sie deshalb erbberechtigte Personen, die der Familie des Erblassers angehören. Sie sind zu Erben berufen, wenn dieser seine Testierfreiheit nicht ausgeübt hat.

Beim dritten Regelungsbereich des Erbrechts handelt es sich um ein Vermögensadministrationsrecht für die Rechtsnachfolger. Im englischen Recht sind Erbschaftsverwaltung und Nachlassverteilung dagegen getrennt. Hier treten die erbrechtlich Begünstigten (beneficiaries) zeitlich nicht unmittelbar mit dem Erbfall und auch nicht direkt an die Stelle des Erblassers (Universalsukzession). Treuhänderisch gebundener Rechtsnachfolger ist vielmehr der executor oder administrator des Nachlasses als sog. personal representative des Erblassers. Die Schuldenregulierung, die Nachlassverwaltung und die Verfügung über Nachlassgegenstände liegen allein in seinen Händen. Erst wenn alle Erbschaftsschulden getilgt sind, wird der verbleibende Reinnachlass an die testamentarisch und gesetzlich Berechtigten ausgekehrt. Zur Bildung einer Erbengemeinschaft kommt es nicht.

2. Geschichte des Erbrechts

Die Entwicklung des Erbrechts ist eng mit den Funktionen verbunden, die es zu verschiedenen Zeiten hatte. Sie haben sich in Europa zusammen mit den Sozialstrukturen immer wieder grundlegend verändert. Das lässt sich schon in der Antike beobachten. Hier beförderte der Übergang vom bäuerlich geprägten italischen Gemeinwesen zur Stadtkultur, die Ausweitung von Handel, Geldverkehr und anderer Formen der Kapitalbildung sowie das politische Erstarken Roms zum Weltreich die Überlagerung der Familienerbfolge durch die Testierfreiheit. In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Agrargesellschaft gewann das Erbrecht eine Funktion hinzu. Es sicherte nicht nur den Übergang privater Vermögen, sondern vor allem politische Macht. Das drückte sich in den Stufungen des Eigentums im Lehensrecht aus, die das Erbrecht mit sicherten und konkrete Herrschaftsbeziehungen vermittelten. Im 18. Jahrhundert dienten namentlich Familienfideikommisse und Anerbenrechte dazu, wirtschaftliche und politische Macht in einer Hand zu konzentrieren.

Zwei Faktoren bestimmten den Funktionswandel des Erbrechts in Europa in der Folgezeit: die Veränderung der Familienstrukturen durch die Industrialisierung und die Trennung der politischen von der wirtschaftlichen Macht im Zuge der bürgerlichen Revolutionen. In Frankreich löste die französische Revolution diese Verbindung unumkehrbar auf. Die Diskussion um das Erbrecht drehte sich hier in der Folgezeit vor allem um das Spannungsverhältnis von privater Verfügungsbefugnis und dem Prinzip der égalité. In Deutschland gelang es hingegen in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts nicht, die politischen Rechte des Individuums festzuschreiben. Die Freiheit, über Standesgrenzen hinweg Eigentum zu erwerben und zu vererben, trat an die Stelle der politischen Freiheit. Hier liegt die Verbindung von Eigentum und Erbrecht begründet, die sich bis heute in den Verfassungen vieler europäischer Staaten erhalten hat.

So notwendig das Erbrecht war, um die ökonomische Kraft des einzelnen wirtschaftlich tätigen Bürgers zu stärken, und so sehr das Erbrecht neben dem Eigentum Grundlage für die Entfaltung des bürgerlichen Handels- und Wirtschaftsverkehrs war, im bürgerlichen Zeitalter geriet es zugleich in ein Dilemma. Mit dem Eigentum hatte sich, theoretisch vorbereitet durch John Locke, die Vorstellung der Wertschaffung durch Arbeit und Leistung verbunden, über die formal rechtsgleiche Individuen in Verträgen disponieren. Der erbrechtliche war dagegen der Prototyp des arbeitslosen Erwerbs und die Erbschaft somit „unverdientes Vermögen“ (Jens Beckert). Das Erbrecht war zum Relikt eines Statusrechts in einer sich formierenden Leistungs- und Kontraktgesellschaft geworden. Max Weber hat das so formuliert: „Derjenige Rechtserwerb, welcher dem Erbrecht entstammt, bildet nun in der heutigen Gesellschaft das wichtigste Überbleibsel jener Art von Besitzgrund legitimer Rechte, die einst – gerade auch in der ökonomischen Sphäre – ganz oder nahezu alleinherrschend war. Denn in der Sphäre des Erbrechts kamen und kommen … für den Einzelnen Tatbestände zur Geltung, auf welche sein eigenes Rechtshandeln prinzipiell wenigstens keinen Einfluss übt, die für jenes [nämlich das Rechtshandeln unter Lebenden] vielmehr in weitem Umfang die von vornherein gegebene Grundlage darstellen“ (Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, Kap. VII, § 2).

Aufgrund der Bedeutung des Erbrechts für den bürgerlichen Wirtschaftsverkehr sprachen sich freilich nur wenige Autoren gegen den erbrechtlichen Erwerb als solchen aus. Vielmehr wollten ihn einige von ihnen lebzeitig uminterpretieren, etwa indem sie ein dem Vertrag ähnliches Konsensverhältnis zwischen Erblasser und Erben konstruierten (Immanuel Kant, Wilhelm von Humboldt). Der Marxismus sah dagegen im bürgerlichen Erbrecht aufgrund seiner vermögenskonzentrierenden Wirkung eine ausbeuterische Institution und plädierte für seine vollständige Abschaffung. In den bürgerlichen Kodifikationen Kontinentaleuropas ist von diesen Erschütterungen freilich nichts mehr zu spüren. Alle halten eine Erbrechtsordnung für unverzichtbar und regeln sie ausführlich.

3. Gesellschaftliche Ent­wicklungen

Der Konsolidierung der Rechtsmaterie „Erbrecht“ entspricht auf den ersten Blick eine gestiegene gesellschaftliche Bedeutung des erbrechtlichen Vermögenstransfers. Prognosen über zukünftige Nachlassgrößen betonen einen Anstieg, der auf den Wohlstandsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeführt wird. Bedingt durch den demografischen Wandel, insbesondere den Rückgang der Kinderzahl in den europäischen Ländern und den Anstieg der Lebenserwartung, führe die gute wirtschaftliche Situation der älteren Generation zum Anfall großer Vermögen innerhalb der jüngeren „Erbengesellschaft“. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Erbschaften gesamtgesellschaftlich keine Vermögensmehrung bedeuten, sondern Vermögensumverteilungen zur Folge haben, die im Einzelfall zur Konzentration von Vermögen führen. Auch sollte nicht verkannt werden, dass der demografische Wandel selbst eine gewisse Schmälerung der im Erbgang anfallenden Vermögen erwarten lassen dürfte. Erblasser leben länger und wenden mehr für Alter und Pflege auf. Schließlich zeigen soziologische Studien, dass große Vermögen im Wege des Erbgangs vor allem in den oberen Einkommensgruppen transferiert werden. Nicht alle Schichten der Gesellschaft profitieren also im gleichen Maße von einem Erbboom.

Die zweite grundlegende Änderung in den gesellschaftlichen Grundlagen des Erbrechts betrifft das Verständnis von Familie. Sie reduzierte sich auf die so genannte Kernfamilie und meint heute jede Form des Zusammenlebens eines Paares mit nicht notwendig gemeinschaftlichen Kindern. Spätestens mit der Industrialisierung verlor sie ihre Funktion als Produktions-, Erwerbs- und Versorgungsgemeinschaft. Versorgungscharakter hat das (Familien‑)Erbrecht heute nur noch für den Ehegatten. Die Kinder erben dagegen oft erst in einem Zeitpunkt, in dem sie bereits wirtschaftlich selbstständig sind. Sie sind also im Unterschied zum überlebenden Ehegatten weniger angewiesen auf den erbrechtlichen Erwerb. In den geltenden Erbrechten kann man das daran ablesen, dass die Paarbeziehung gestärkt wird, indem das gesetzliche Erbrecht des überlebenden Partners auf Kosten der Kinder ausgedehnt wird (Erbfolge), so geschehen in der Neufassung des Erbrechts in den Niederlanden. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich diese Entwicklung weiter versteti-gen wird, namentlich durch die Einbeziehung von nichtehelichen Paaren. Gleichgeschlechtliche Lebenspartner sind in vielen europäischen Erbrechtsordnungen bereits de lege lata gesetzlich erbberechtigt.

Die beschriebenen Veränderungen in den Grundlagen des Erbrechts betreffen indes nicht nur die Erwerber von Nachlässen, sondern auch die Erblasser. Dass sie älter werden, stellt an ihre Verfügungen von Todes wegen besondere Anforderungen. Sofern sie Regelungen für die Zeit nach ihrem Tod treffen, ist ihr Verfügungsverhalten zunehmend komplexer geworden. Die differenzierten Regelungsinstrumentarien unter Lebenden haben die Erblasser vom Erbrecht unabhängiger werden lassen als in früheren Zeiten (Testierfreiheit). Das gilt offenbar gerade für den überaus testierfreundlichen anglo-amerikanischen Rechtskreis, in dem erbrechtliche Rechtsgeschäfte mit lebzeitigen in der Wirkung vergleichbar sind, weil der Erwerb ohnehin stets unter Lebenden erfolgt (Universalsukzession). Schließlich enthalten die Erblasservermögen außerhalb Kontinentaleuropas nicht selten Bestandteile, die sich unter Lebenden besser übertragen lassen als von Todes wegen. In Deutschland werden dagegen immer noch vorrangig die „klassischen“ Vermögensarten vererbt, Geld und Immobilien. Auch ist die Akzeptanz des Familienerbrechts wie in anderen europäischen Staaten relativ hoch. So wurde oder wird das Pflichtteilsrecht (Pflichtteilsrecht) vielerorts gerade reformiert und konsolidiert. In Deutschland soll es beschränkt werden. Von einem Funktionsverlust des Erbrechts kann aber keine Rede sein. Die Komplexität moderner Lebensverhältnisse spiegelt sich in den erbrechtlichen Rechtsbeziehungen wider. Sie sind jedoch auch jenseits der Herausforderungen, die Erbfälle mit Auslandsbezug bringen, durchaus nicht rein nationaler Natur. Dennoch werden gegenwärtig in den einzelnen Staaten die Lösungen für übergreifende Fragen entworfen.

4. Tendenzen der Rechts­entwicklung

Möglicherweise wäre ein europäisches internationales Kollisions- und Verfahrensrecht (Erbrecht, internationales) oder ein materielles europäisches Erbrecht besser geeignet, diese tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen aufzugreifen und zeitgemäße rechtliche Antworten zu geben. Allerdings fehlt der Europäischen Gemeinschaft die Befugnis zur Angleichung des materiellen Erb- und Testamentrechts der Mitgliedstaaten bisher noch. Nicht auszuschließen ist, dass die kollisionsrechtlichen Vereinheitlichungsbestrebungen Auswirkungen auf die nationalen Erbrechtsordnungen haben werden. Es wäre daher zumindest fahrlässig, im materiellen Erbrecht keine Überlegungen zur Rechtsvereinheitlichung anzustellen.

Die Diskussion darüber hat erst begonnen. Die traditionelle Auffassung betont die großen Unterschiede in den nationalen Rechtsordnungen. Sie betreffen erbrechtliche Kernfragen wie die Ausgestaltung des Vermögenstransfers, die Anerkennung des Erbvertrags als Verfügungstyp und die Konzeption des Pflichtteilsrechts. Die Ansätze sind vielgestaltig, dürften allerdings weniger Ausdruck grundlegend verschiedener ökonomischer, politischer oder gar moralischer Überzeugungen im europäischen Kulturkreis sein. Eher handelt es sich um unterschiedliche Lösungsvarianten für dieselben zentralen Regelungsanliegen und grenzübergreifenden gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen alle Erbrechtsordnungen stehen. Eine neuere Auffassung widerspricht der traditionellen denn auch, bezieht sich auf die praesumptio similitudinis und ruft zu historisch rechtsvergleichender Grundlagenarbeit auf (Alain Verbeke/Yves-Henri Leleu, Dieter Leipold, Marius J. De Waal). Sie soll hier für drei erbrechtliche Institute geleistet werden: die Erbenmehrheit, die Erbunwürdigkeit und die Erbfähigkeit.

5. Erbfähigkeit

Die Erbfähigkeit ist die erbrechtliche Ausprägung der Rechtsfähigkeit. Sie ist in allen europäischen Erbrechtsordnungen eine vom Berufungsgrund unabhängige Voraussetzung des Erbschaftserwerbs. Rechtsordnungen wie etwa die italienische, luxemburgische und die spanische unterscheiden die absolute von der relativen Erbunfähigkeit. Während eine absolut erbunfähige Person sowohl von der rechtsgeschäftlichen wie von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen ist, scheidet die relativ erbunfähige Person aus dem Kreis der rechtsgeschäftlich erbberechtigten Personen aus, weil die Verfügung von Todes wegen, die sie begünstigt, unwirksam ist. Als Rechtsbegriff ist die Erbfähigkeit einer natürlichen Person von der Testierfähigkeit zu unterscheiden, die das erbrechtliche Pendant zur Geschäftsfähigkeit unter Lebenden ist.

Juristische Personen sind erbfähig, wenn sie im Zeitpunkt des Erbfalls bestehen. Einige europäische Rechtsordnungen knüpfen die Erbfähigkeit juristischer Personen an weitere formelle oder materielle Voraussetzungen. Während der Erbschaftserwerb zum Teil von einer staatlichen Genehmigung abhängig gemacht wird (Italien stets, Frankreich für Vereinigungen von öffentlichem Nutzen, Luxemburg für juristische Personen des öffentlichen Rechts), sind in Spanien vom Gesetz nicht erlaubte Vereinigungen oder Körperschaften erbunfähig. In Belgien können juristische Personen hingegen nur erben, wenn das materiell von ihrer Zweckbestimmung umfasst ist. In Frankreich, das sich mit der Erbfähigkeit juristischer Personen traditionell schwer tut, sind Vereinigungen mit „petite personalité“ nicht erbfähig. Die englische Rechtsordnung kennt diese Beschränkungen des Erwerbs der „toten Hand“ dagegen nicht mehr.

Eine natürliche Person ist erbfähig, wenn sie zum Zeitpunkt des Erbfalls lebt oder bereits gezeugt wurde und danach lebend geboren wird. Das entspricht dem Grundsatz conceptus pro iam nato habetur, der seine Ursprünge im römischen Recht hat. Ist eine erbrechtlich begünstigte Person minderjährig, so wird ihr Erbteil im englischen Recht bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres oder einer früheren Heirat vom administrator in einem gesetzlichen (statutory) trust verwaltet. Stirbt sie vor dem Eintritt der Volljährigkeit, gilt sie als bereits vor dem Erblasser verstorben. Nicht etwa fällt ihr Nachlassteil an deren Erben.

Beim Versterben zweier oder mehrerer Personen treffen die meisten Erbrechtsordnungen Europas, unter ihnen die Deutschlands, Frankreichs und der Niederlande, Vorsorge für den Fall, dass nicht bewiesen werden kann, dass eine von ihnen die andere überlebt hat. In diesem Fall beerbt keiner der Verstorbenen den anderen. Es wird vielmehr vermutet, dass sie gleichzeitig verstorben sind (sog. Kommorientenvermutung). Anders wiederum in England: Kann der Todeszeitpunkt mehrerer gemeinsam verstorbener Personen nicht ermittelt werden, wird vermutet, dass die jüngere die ältere überlebt hat.

6. Erbunwürdigkeit

Die Erbunwürdigkeit ist in den europäischen Rechtsordnungen ein Ausschlussgrund von der Erbfolge. Diese wirkt sich dabei unterschiedlich aus: Entweder eine erbunwürdige Person ist von der rechtsgeschäftlichen und der gesetzlichen Erbfolge gleichermaßen ausgeschlossen und die Erbschaft fällt dem nächstberechtigten Erben an (Deutschland). Oder die Erbunwürdigkeit ist wie in England, Österreich, Spanien, Schweiz und Portugal ein Fall der relativen Erbunfähigkeit. Unterschiede in der Ausgestaltung bestehen des Weiteren, was die Gründe und den Eintritt der Erbunwürdigkeit anbelangt.

In den meisten europäischen Rechtsordnungen (etwa in Deutschland, Griechenland, Spanien, Portugal) tritt die Erbunwürdigkeit nur ein, wenn sie gerichtlich geltend gemacht und durch richterliches Gestaltungsurteil rechtskräftig festgestellt worden ist. Ipso iure führt das Vorliegen eines Erbunwürdigkeitstatbestandes dagegen in Österreich, den Niederlanden und der Schweiz zur Erbunwürdigkeit. Frankreich kombiniert beide Modelle je nach Art des Grundes. Die Verzeihung des Erblassers ist in fast allen Rechtsordnungen Europas außer den Niederlanden und Luxemburg ein Grund, die Erbunwürdigkeit wieder aufzuheben. Allerdings werden an die Verzeihungserklärung unterschiedliche Anforderungen gestellt.

Die meisten europäischen Erbrechtsordnungen kennen zwei Arten von Erbunwürdigkeitsgründen. Sie knüpfen inhaltlich an die Indignitätsgründe des römischen Erbrechts der Kaiserzeit an: schwere Verfehlungen gegen die Person des Erblassers selbst, namentlich Tötungsdelikte, aber auch verleumderische Anschuldigungen, sowie Verfehlungen, die die Unterdrückung von letztwilligen Verfügungen oder den Testierakt betreffen und die Freiheit der Willensentscheidung des Erblassers beeinträchtigen. Frankreich, Belgien und Luxemburg bilden insoweit Ausnahmen, als hier Tatbestände, die eine Beeinträchtigung der Willensbildung des von Todes wegen Verfügenden darstellen, die Erbunwürdigkeit nicht begründen.

7. Erbenmehrheit

Es wurde bereits gesagt, dass nur die kontinentaleuropäischen Erbrechtsordnungen Erbengemeinschaften kennen (oben 1.). Mehrere Erben eines Erblassers gehören de iure einer rechtlichen Zwangsgemeinschaft auf Zeit an, die den Nachlass verwaltet, über Nachlassgegenstände verfügt und die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft betreibt. Der Nachlass bleibt während dieser Zeit ein Sondervermögen. Was die Rechtsnatur der Gemeinschaft anbelangt, gibt es in den kontinentaleuropäischen Rechten verschiedene Modelle.

Das deutsche Recht konstruiert die Erbengemeinschaft als Gemeinschaft zur gesamten Hand. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass es keine Bruchteils- oder Anteilsrechte an den einzelnen Nachlassgegenständen gibt oder jedenfalls über diese nicht verfügt werden kann. Wohl aber halten die Miterben Anteile am Nachlassganzen. Im Grundsatz können die Miterben über Nachlassgegenstände nur gemeinschaftlich verfügen. Bei der Nachlassverwaltung gilt das Prinzip der Einstimmigkeit. Ein Miterbe kann jederzeit die Aufhebung der Gemeinschaft verlangen. In Österreich ist die Erbengemeinschaft formal eine Bruchteilsgemeinschaft, die nach dem Mehrheitsprinzip verwaltet wird. Allerdings hat sie insoweit gesamthänderische Züge, als über reale Teile des Nachlasses nur gemeinschaftlich verfügt werden kann. Den Charakter einer Gemeinschaft eigener Art hat die belgische und die französische indivision. Sie erinnert an eine Bruchteilsgemeinschaft, weil der einzelne Miterbe an den Nachlassgegenständen mitberechtigt ist. Freilich steht die einzelne Verfügung unter der auflösenden Bedingung, dass der Nachlassgegenstand dem verfügenden Miterben bei der Auseinandersetzung nicht zugeteilt wird. Der effet déclaratif du partage geht nämlich fiktiv davon aus, dass jeder Miterbe die ihm bei der Auseinandersetzung zugeteilten Gegenstände bereits mit dem Erbfall erworben hat. Eine wirkliche Bruchteilsberechtigung gibt es daher nicht. Die indivision ist eine Rechtsgemeinschaft eigener Art. Die Teilung des Nachlasses (partage) erfolgt einvernehmlich durch die Miterben oder mittels Anrufung des Gerichts. Teilungsanordnungen des Erblassers sind unzulässig.

Literatur

Rainer Schröder, Der Funktionsverlust des bürgerlichen Erbrechts, in: Heinz Mohnhaupt (Hg.), Zur Geschichte des Familien- und Erbrechts: Politische Implikationen und Perspektiven, 1987, 281 ff.; Dieter Leipold, Europa und das Erbrecht, in: Festschrift für Alfred Söllner, 2000, 647 ff.; Walter Pintens, Die Europäisierung des Erbrechts, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 9 (2001) 628 ff.; idem, Grundgedanken und Perspektiven einer Europäisierung des Familien- und Erbrechts, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2003, 329 ff., 417 ff., 499 ff.; Jens Beckert, Unverdientes Vermögen: Soziologie des Erbrechts, 2004; Alain Verbeke, Yves-Henri Leleu, Harmonisation of the Law of Succession, in: Arthur Hartkamp, Martijn Hesselink, Ewoud Hondius, Carla Joustra, Edgar du Perron, Muriel Veldman (Hg.), Towards a European Civil Code, 3. Aufl. 2004, 335 ff.; Nina Dethloff, Familien- und Erbrecht zwischen nationaler Rechtskultur, Vergemeinschaftung und Internationalität: Perspektiven für die Forschung, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 15 (2007) 992 ff.; Rosemarie Nave-Herz, Erbengenerationen in Zahlen, in: Anne Röthel (Hg.), Reformfragen des Pflichtteilsrechts: Symposium vom 30.11.-2.12.2006 in Salzau, 2007, 23 ff.; Marius J. de Waal, A Comparative Overview, in: Kenneth G.C. Reid, Marius J. de Waal, Reinhard Zimmermann (Hg.), Exploring the Law of Succession, 2007, 1 ff; Reinhard Zimmermann, The Present State of European Private Law, The American Journal of Comparative Law 57 (2009) 479 ff., 503 ff.

Abgerufen von Erbrecht – HWB-EuP 2009 am 24. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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