Wettbewerbsregeln, Anwendbarkeit

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von Reinhard Ellger

Die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV dienen der Aufrechterhaltung und dem Schutz eines funktionsfähigen Wettbewerbs auf dem europäischen Binnenmarkt. Dieser hängt wesentlich von der Reichweite der Wettbewerbsregeln der Art. 81-86 EG/101-106 AEUV in persönlicher (1.), sachlicher (2.) und räumlicher (3.) Hinsicht sowie vom Umfang der im Vertrag vorgesehenen Ausnahmen von der Geltung der Wettbewerbsregeln (4.) ab.

1. Persönlicher Anwendungsbereich

Der persönliche Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln wird durch den Unternehmensbegriff bestimmt. Die Adressaten der Wettbewerbsregeln der Art. 81-86 EG/101-106 AEUV sind „Unternehmen“; dementsprechend trägt der 1. Abschnitt des 1. Kapitels (Wettbewerbsregeln) des VII. Titels die Überschrift: Vorschriften für Unternehmen. Der Begriff des Unternehmens ist für Anwendung und Reichweite der Wettbewerbsregeln grundlegend; gleichwohl hat der EG-Vertrag/AEUV darauf verzichtet, eine Legaldefinition für das in ihm verwendete Unternehmenskonzept aufzunehmen. In der Verwaltungspraxis der Kommission und der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte hat sich ein funktionaler Unternehmensbegriff durchgesetzt: als Unternehmen wird „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung (oder: Einheit) unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“ aufgefasst (st. Rspr., siehe etwa EuGH Rs. C-41/90 – Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21; EuGH Rs. C-309/99 – Wouters, Slg. 2002, I-1563, Rn. 46; EuG Rs. T-319/99 – FENIN, Slg. 2003, II-357, Rn. 35; EuG Rs. T-155/04 – Eurocontrol, Slg. 2006, II-4797, Rn. 50). Damit hängt die Abgrenzung der Unternehmen von anderen Einrichtungen des sozialen Lebens, die nicht den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV unterliegen, im Wesentlichen davon ab, wann eine Einheit eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ ausübt. Bei der Unterscheidung wirtschaftlicher von nicht-wirtschaftlichen Tätigkeiten ist der Sinn und Zweck des Unternehmensbegriffs im Rahmen der Wettbewerbsregeln der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV zu berücksichtigen: einerseits sollen Tätigkeiten des Staates, die er in Ausübung seiner Hoheitsgewalt vornimmt, aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln ausgeschieden werden. Den Art. 39(4), 45(1) und 55 EG/45(4), 51(1) und 62 AEUV lässt sich entnehmen, dass der EG/AEUV keine Anwendung auf Tätigkeiten finden soll, die die Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Hoheitsgewalt vornehmen. Andererseits dient die Definition des Unternehmensbegriffs dazu, die privaten Verbraucher außerhalb des Anwendungsbereichs der Wettbewerbsregeln zu halten. Ein Ziel des Wettbewerbs (unter mehreren Zielen) ist es, den Konsumenten ein nach ihren Präferenzen gestaltetes, im Verhältnis zur Leistung günstiges Angebot an Waren und Dienstleistungen anzubieten. Der private Endverbraucher soll durch die Wettbewerbsregeln der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV geschützt werden. Daher begründet die Nachfragetätigkeit des privaten Endverbrauchers nicht seine Unternehmenseigenschaft i.S. dieser Bestimmungen (EuGH verb. Rs. C-180/98, C-184/98 – Pavlov, Slg. 2000, I-6451, Rn. 75 ff.) Zudem werden auch nicht-wirtschaftliche Tätigkeiten anderer Art aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln ausgeschlossen, weil diese auf den Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs abzielen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und des EuG wird die wirtschaftliche Tätigkeit durch das Angebot von Waren und Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt gekennzeichnet. Eine bestimmte Dauerhaftigkeit der wirtschaftlichen Betätigung ist nicht Voraussetzung des Unternehmensbegriffs. Waren und Dienstleistungen werden auf Märkten grundsätzlich gegen Entgelt angeboten. Gleichwohl hindert der Umstand, dass im Einzelfall einmal eine Leistung unentgeltlich am Markt angeboten wird, nicht die Unternehmenseigenschaft des Anbieters, soweit nur üblicherweise Leistungen dieser Art entgeltlich erbracht werden. Weiterhin ist es für die Unternehmenseigenschaft unerheblich, ob der Leistungserbringer die Absicht der Gewinnerzielung verfolgt. Die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte und die Verwaltungspraxis der Kommission stellen für das Kriterium der wirtschaftlichen Betätigung vor allem auf das Angebot von Waren und Dienstleistungen auf Märkten ab; der Einkauf solcher Güter ist nur dann wirtschaftliche Betätigung, wenn er dazu dient, Güter oder Dienstleistungen im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit anzubieten.

a) Einzelfälle

Erfolgt der Einkauf jedoch, um die erworbenen Gegenstände für nicht-wirtschaftliche Zwecke, etwa rein soziale Zwecke, zu verwenden, ist auch der Einkauf als nicht-wirtschaftlich zu qualifizieren, selbst wenn es sich um sehr umfangreiche Einkaufsaktivitäten handelt (EuG Rs. T-319/99 – FENIN, Slg. 2003, II-357, Rn. 37). Einer nicht-wirtschaftlichen Tätigkeit gehen Einrichtungen der Sozialversicherung nach, wie etwa der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung, die Aufgaben von ausschließlich sozialem Charakter erfüllen, diese Tätigkeit auf dem Grundsatz der nationalen Solidarität beruht und ohne Gewinnzweck ausgeübt wird, weil die Leistungen gesetzlich vorgesehen sind und unabhängig von der Höhe der Beiträge der Versicherten erbracht werden (EuGH Rs. C-244/94 – Fédération française des sociétés d ássurances, Slg. 1995, I-4013, Rn. 22; EuGH verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/01 – AOK-Bundesverband, Slg. 2004, I-2524, Rn. 47; EuG Rs. T-319/99 – FENIN, Slg. 2003, II-357, Rn. 37 [gesetzliche Krankenversicherung]; EuGH Rs. C-67/96, – Albany International, Slg. 1999, I-5751, Rn. 60 ff. [Rentenversicherung]). Die Ausgrenzung der Systeme der sozialen Sicherheit aus dem Unternehmensbegriff des Wettbewerbsrechts überlässt den Mitgliedstaaten die Ausgestaltung dieser Einrichtungen. Auch unselbständig beschäftigte Arbeitnehmer sind nicht Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV. Ebenso wenig fallen Tarifverträge zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen über die Entlohnung und andere Arbeitsbedingungen in den Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln (EuGH Rs. C-115/99 bis C-117/99 – Albany, Slg.1999, I-5863 ff., Rn. 60 ff.; EuGH Rs. C-67/96 – Albany International, Slg. 1999, I-5751, Rn. 63).

Demgegenüber bieten die Angehörigen der freien Berufe, wie z.B. Rechtsanwälte, Fachärzte oder Zollspediteure, Leistungen auf Märkten an; sie üben daher eine wirtschaftliche Tätigkeit aus und sind als Unternehmen i.S.v. Art. 81 ff. EG/101 ff. AEUV zu qualifizieren. Handelsvertreter sind selbständige Unternehmer, die für einen Prinzipal in dessen oder im eigenen Namen Waren vertreiben. Soweit ein Handelsvertreter dergestalt in die Vertriebsorganisation seines Prinzipals eingegliedert ist, dass er kein Risiko (außerhalb seines Provisionsrisikos) zu tragen hat, ist er kein Unternehmen i.S. der Wettbewerbsregeln (echter Handelsvertreter). Trägt er hingegen ein eigenes wirtschaftliches Risiko in Bezug auf den Verkauf der Waren des Prinzipals (unechter Handelsvertreter), indem er etwa für die Lagerung der zu vertreibenden Waren aufzukommen hat, ist er Unternehmen i.S.v. Art. 81 ff. EG/101 ff. AEUV.

Selbständig tätige Künstler, Erfinder und Sportler sind als Unternehmen aufzufassen, soweit sie am Wirtschaftsleben teilnehmen, indem sie ihre Leistungen wirtschaftlich verwerten. Insbesondere der professionell betriebene Sport kann Teil des Wirtschaftslebens sein und als solcher den Wettbewerbsregeln unterliegen.

b) Öffentliche Unternehmen

Die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV unterscheiden hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit nicht danach, ob es sich bei den in Frage stehenden Unternehmen um öffentliche oder private Unternehmen handelt. Öffentliche Unternehmen sind solche, bei denen der Staat aufgrund einer Kapitalbeteiligung oder auf anderem Wege (beispielsweise über die Besetzung der Leitungsgremien des Unternehmens) einen beherrschenden Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen besitzt (EuGH verb. Rs. 188-190/80 – Transparenzrichtlinie, Slg. 1982, 2545, Rn. 12). Für die Unternehmenseigenschaft solcher Einrichtungen kommt es nicht auf die Rechtsform an, die der betreffende Staat für sein Tätigwerden gewählt hat: privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Organisationsformen werden gleich behandelt. Ebenso verhält es sich mit der Ausgestaltung der Leistungsbeziehungen zwischen öffentlichem Unternehmen und seinen Abnehmern: auch hier schließt die Wahl einer öffentlich-rechtlichen Form die wirtschaftliche Betätigung und damit die Unternehmenseigenschaft der Einrichtung nicht aus. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass eine durch Verordnung erfolgte Ausgestaltung der Benutzungsbedingungen eines öffentlichen Telekommunikationsunternehmens für den Zugang seiner Kunden zu seinen Netzen ungeachtet der Ausübung einer delegierten Rechtssetzungskompetenz eine wirtschaftliche Tätigkeit sei und der Telekommunikationsanbieter insoweit als (seine Marktmacht missbrauchendes) Unternehmen i.S.v. Art. 82 EG/102 AEUV zu qualifizieren sei (EuGH Rs. 41/83 – British Telecom, Slg. 1985, 873, Rn. 17 ff.). Für die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages ist es weiterhin unerheblich, ob ein öffentliches Unternehmen rechtlich verselbständigt ist oder ob der Staat selbst oder eine seiner Untergliederungen unmittelbar wirtschaftlich handelt. In einem solchen Fall ist der Staat selbst Unternehmen. Voraussetzung ist allerdings immer, dass sich die betreffende Einrichtung wirtschaftlich betätigt. Die wirtschaftliche Betätigung öffentlicher Unternehmen bzw. des Staates als Unternehmer ist vom hoheitlichen Handeln staatlicher Institutionen abzugrenzen. Der Unternehmensbegriff in den Art. 81 ff. EG/101 ff. AEUV ist ein Begriff des Gemeinschaftsrechts und als solcher autonom auszulegen; die rechtlichen Qualifizierungen bestimmter Handlungsweisen als wirtschaftlich oder hoheitlich können die gemeinschaftsrechtliche Einordnung nicht präjudizieren; sonst wären die Mitgliedstaaten in der Lage, durch die jeweilige Zuordnung einer Betätigung zum wirtschaftlichen oder hoheitlichen Bereich in ihrem eigenen Recht den Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV zu bestimmen und bestimmte Sektoren deren Anwendung zu entziehen. Allerdings sind die unterschiedlichen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten bei der Unterscheidung des wirtschaftlichen vom hoheitlichen Handeln auch der gemeinschaftsrechtlichen Auslegung des Unternehmensbegriffs zu berücksichtigen. So ist anerkannt, dass wesentliche Staatsaufgaben, etwa im Bereich der Landesverteidigung, von Sicherheit und Ordnung und der sozialen Sicherheit, nicht als wirtschaftliche Betätigung zu beurteilen sind. Demgemäß wird etwa eine internationale Einrichtung, die von Mitgliedstaaten gegründet wurde, um die Zusammenarbeit der Staaten auf dem Gebiet der Forschung, Planung und Ausbildung von Personal für Zwecke der Luftraumkontrolle und der Flugsicherheit zu fördern sowie für einen Teil der Mitgliedstaaten Aufgaben bei der Überwachung und Sicherung des zivilen Flugverkehrs durchzuführen, nicht wirtschaftlich tätig und ist daher auch kein Unternehmen i.S.v. Art. 81 oder 82 EG/101 oder 102 AEUV ist (EuGH Rs. C-364/92 – Eurocontrol, Slg. 1994, I-43 ff., Rn. 22 ff.). Anerkannt ist die hoheitliche Betätigung auch für die Kontrolle von Hafengewässern aus Gründen des Umweltschutzes, auch wenn dafür Gebühren erhoben werden (EuGH Rs. C-343/95 – Diego Cali & Figli, Slg. 1997, I-1547, Rn. 16 ff.). Demgegenüber hat der Gerichtshof in nicht wenigen Entscheidungen Tätigkeiten als wirtschaftlich beurteilt, die in manchen Mitgliedstaaten durch öffentliche Unternehmen bzw. staatliche Einrichtungen ausgeübt wurden. Danach bildet die Arbeitsvermittlung (EuGH Rs. C-41/90 – Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979, Rn. 22 ff.), das Angebot von Bodenabfertigungsdiensten gegen Gebühr durch ein öffentliches Unternehmen, das im Auftrag des Mitgliedstaats den (staatlichen) Flughafen betreibt (EuGH Rs. C-82/01P – Aéroports de Paris, Slg. 2002, I-9297, Rn. 74 ff.) sowie die gebührenpflichtige Sammlung von Abfällen und Verpackungsmaterialien im Rahmen der Müllabfuhr durch Kommunen wirtschaftliche Betätigung (Komm., Eco-Emballages, ABl. 2001 L 233/37, 45, Rn. 70). Die damit betrauten Einrichtungen sind Unternehmen i.S.v. Art. 81 ff. EG/101 ff. AEUV.

c) Erfordernis der Rechtsfähigkeit?

Diskutiert wird im Schrifttum die Frage, ob die „Einheiten“, die einer wirtschaftlichen Betätigung nachgehen und daher als Unternehmen zu qualifizieren sind, Rechtssubjektivität besitzen müssen. Richtigerweise ist davon auszugehen, dass dies für die materiellrechtliche Erfassung der Unternehmen nicht zu fordern ist; nach dem Schutzzweck der Wettbewerbsregeln wird jede (rechtsfähige oder unselbständige) Stelle erfasst, die in der Lage ist, sich an wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen zu beteiligen oder eine marktbeherrschende Stellung missbräuchlich auszunutzen. Die Frage weist aber auch einen verfahrensrechtlichen Aspekt auf, nämlich den, an wen die Wettbewerbsbehörden eine Verfügung, z.B. zur Abstellung von wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen, zu richten haben. Adressat solcher Verfügungen ist – falls das unter die Wettbewerbsregeln fallende Unternehmen nicht selbst rechtsfähig ist – der rechtsfähige Träger des Unternehmens. Fallgestaltungen, bei denen die wirtschaftliche Betätigung und die rechtliche Trägerschaft an der Einheit der wirtschaftlichen Betätigung auseinander fallen können, kommen etwa bei Konzernen und beim Tätigwerden staatlicher Stellen im wirtschaftlichen Bereich vor.

d) Unternehmensvereinigungen.

Art. 81(1) EG/101(1) AEUV nennt neben den Unternehmen selbst auch noch Unternehmensvereinigungen als Adressaten des Kartellverbot, um insoweit eine Schutzlücke zu schließen, die bestehen würde, wenn den Unternehmen die Möglichkeit gegeben wäre, über Unternehmensvereinigungen wettbewerbsbeschränkende Abreden zu treffen. Unternehmensvereinigungen sind Zusammenschlüsse mehrerer Unternehmen, deren Zwecke darin bestehen, die Interessen ihrer Mitglieder zu fördern.

2. Der sachliche Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln: Zwischenstaatlichkeitsklausel

Die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV erfordert gemäß Art. 81(1), 82 S. 1 EG/101(1) und Art. 102 S. 1 AEUV neben der Unternehmenseigenschaft der handelnden wirtschaftlichen Einheiten, dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Die Funktion dieser sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel liegt einerseits darin, den Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV von den Gesetzen gegen Wettbewerbsbeschränkungen der Mitgliedstaaten abzugrenzen. Andererseits ist die Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handelsverkehrs materielles Tatbestandsmerkmal der Art. 81, 82 EG/101, 102 AEUV. Die Norm hat insoweit eine Doppelfunktion. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel hat für die Entwicklung der EG-Wettbewerbspolitik und des EG-Wettbewerbsrechts eine große praktische Bedeutung gehabt. Von Anfang an hat der EuGH keinen Zweifel daran gelassen, die Zwischenstaatlichkeitsklausel denkbar weit auszulegen, um den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrages einen möglichst großen Anwendungsbereich zu geben und die integrationspolitischen Ziele des EG-Vertrages (Errichtung eines gemeinsamen Marktes) möglichst wirkungsvoll durchzusetzen. (EuGH Rs. 56/65 – Société technique minière, Slg. 1966, 282, 303; ähnlich EuGH verb. Rs. 56/64 und 58/64 – Consten und Grundig, Slg. 1966, 322, 389). Zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts von den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsgesetzen (Wettbewerbsrecht (Verhältnis des europäischen zum nationalen Recht)). Die Kommission hat im Jahr 2004 „Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags“ (ABl. 2004 C 101/81) vorgelegt, die zwar die mitgliedstaatlichen Gerichte und die Gemeinschaftsgerichte sowie die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nicht binden, aber gleichwohl eine beachtliche Hilfe für die Interpretation der Zwischenstaatlichkeitsklausel bieten, da sie sich eng an die in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte entwickelten Vorgaben für die Auslegung dieser Klausel halten.

Der Begriff des „Handels zwischen den Mitgliedstaaten“ ist weit auszulegen und erfasst alle grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Tätigkeiten im Binnenmarkt. Er setzt nicht voraus, dass sich die wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen unmittelbar auf dem Gebiet mindestens zweier Mitgliedstaaten auswirken müssen. Eine mittelbare Wirkung reicht aus. Weiterhin erfordert die Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel die Eignung der in Frage stehenden Maßnahme zur Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten. Eine solche Eignung einer Maßnahme ist nach der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte dann anzunehmen, wenn sich aufgrund objektiver rechtlicher und tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass die Maßnahme (Vereinbarung, abgestimmte Verhaltensweise oder Beschluss gemäß Art. 81(1) EG/101(1) AEUV oder die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 82 EG/102 AEUV) den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell beeinflussen kann (EuGH Rs. 172/80 – Züchner, Slg. 1981, 2021, Rn. 18; EuGH verb. Rs. 240/82 u.a. – Stichting Sigarettenindustrie, Slg. 1985, 3831, Rn. 48; EuG verb. Rs. T-25/95 u.a. – Cimenteries CBR, Slg. 2000, II-491, Rn. 3930). Für die Ermittlung, ob die objektiven rechtlichen und tatsächlichen Umstände eine Beeinträchtigung hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen, sind alle Umstände des Einzelfalles, etwa die Art der Vereinbarung oder des Verhaltens, die betroffenen Waren sowie die Stellung und Bedeutung der beteiligten Unternehmen zu berücksichtigen. Nicht notwendig ist es, das durch die Vereinbarung oder Verhaltensweise beeinträchtigte tatsächliche Volumen des zwischenstaatlichen Handels zu berechnen. Der Begriff des Warenverkehrs ist neutral. Er kann auch beeinflusst werden, wenn die Maßnahme zu einem Anstieg des Handelsvolumens geführt hat. Die Zwischenstaatlichkeitsklausel eröffnet den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bereits dann, wenn sich der zwischenstaatliche Handel mit der Vereinbarung oder Verhaltensweise anders entwickelt hat als er sich ohne die Maßnahme entwickelt hätte. Für die Beeinflussung des Warenverkehrs sind sowohl unmittelbare wie mittelbare als auch tatsächliche wie auch potenzielle (mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwartende) Wirkungen der Maßnahme zu berücksichtigen. Unmittelbare Auswirkungen betreffen die Waren, die von einer Vereinbarung betroffen sind, während mittelbare Auswirkungen Produkte betreffen, die mit den von der Vereinbarung oder Verhaltensweise erfassten Waren verwandt sind, z.B. Vorprodukte.

Es bedarf keiner näheren Erläuterung, dass Vereinbarungen und missbräuchliche Verhaltensweisen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen bzw. in mehreren Mitgliedstaaten durchgeführt werden, in aller Regel geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Darüber hinaus erfüllen in der Regel aber auch Kartelle, die das Gebiet eines Mitgliedstaates vollständig abdecken und Verhaltensweisen von Unternehmen, deren marktbeherrschende Stellung das Gebiet eines ganzen Mitgliedstaates erfasst, die Zwischenstaatlichkeitsklausel. Vereinbarungen über die horizontale oder vertikale Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, die nur das Gebiet eines Mitgliedstaates betreffen, erfüllen nicht regelmäßig die Erfordernisse der Zwischenstaatlichkeitsklausel, sondern sind näher zu untersuchen. Schließlich können die zu berücksichtigenden Umstände auch zu dem Ergebnis führen, dass Kartelle oder missbräuchliche Verhaltensweisen, die nur einen Teil eines Mitgliedstaates betreffen, geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, wenn das Teilgebiet des Mitgliedstaates einen wesentlichen Teil des gemeinsamen Marktes darstellt. Die außerordentlich große Reichweite der Zwischenstaatlichkeitsklausel wird begrenzt durch das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Spürbarkeit der Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten. Dieses Erfordernis gehört in den tatbestandlichen und systematischen Zusammenhang der Zwischenstaatlichkeitsklausel und ist klar zu unterscheiden von dem Spürbarkeitserfordernis, welches als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal im Rahmen der Wettbewerbsbeschränkung zu prüfen ist (Kartellverbot und Freistellung). Beide Spürbarkeitskriterien haben unterschiedliche Anforderungen. Im Rahmen der Prüfung der Zwischenstaatlichkeitsklausel dient das Kriterium dazu, Vereinbarungen und Verhaltensweisen aus dem Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV auszuscheiden, die aufgrund der schwachen Marktstellung der beteiligten Unternehmen die betroffenen Produktmärkte nur wenig beeinträchtigen. Die Kommission hat einige quantitative Kriterien entwickelt, bei deren Vorliegen der Handel zwischen Mitgliedstaaten in der Regel nicht beeinträchtigt wird. Diese quantitativen Kriterien weisen zwei kumulativ anwendbare Elemente auf, nämliche eine Marktanteilsschwelle und eine absolute Umsatzschwelle. Die Spürbarkeit ist dann nicht gegeben, wenn der gemeinsame Marktanteil der an einer Vereinbarung beteiligten Unternehmen 5 % nicht überschreitet und bei horizontalen Vereinbarungen der aggregierte gemeinschaftsweite Jahresumsatz aller beteiligten Unternehmen bzw., bei Vertikalvereinbarungen, der gemeinschaftsweite Jahresumsatz des Lieferanten EUR 40 Mio. nicht übersteigt. Sind diese Werte höher, ist im Einzelnen zu prüfen, ob das Erfordernis der Spürbarkeit bejaht werden kann. Insgesamt hat die sehr weite Auslegung der Zwischenstaatlichkeitsklausel dazu geführt, dass nur noch regionale oder lokal begrenzte Vereinbarungen oder Verhaltensweisen in den Anwendungsbereich des mitgliedstaatlichen Wettbewerbsrechts fallen, während für alle wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen von einiger Bedeutung der Anwendungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV eröffnet ist.

3. Territorialer Geltungsbereich der Wettbewerbsregeln

Der territoriale Geltungsbereich der Wettbewerbsregeln des EG/AEUV erfasst das Gebiet der 27 Mitgliedstaaten der Union. Darüber hinaus gelten die Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts in der Fassung der Art. 53 und 54 des EWR-Vertrages auch in den EFTA-Staaten, die mit der Gemeinschaft am 2.5.1992 den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) geschlossen haben, der am 1.1.1994 in Kraft getreten ist. Da in der Zwischenzeit die ehemaligen EFTA-Mitgliedstaaten Schweden, Finnland und Österreich der Gemeinschaft beigetreten sind, gilt der EWR im Verhältnis zu Norwegen, Island und Liechtenstein. Die Schweiz, die den EWR-Vertrag unterzeichnet hat, ist dem EWR nicht beigetreten. Vom territorialen Geltungsbereich der Wettbewerbsregeln zu unterscheiden ist die Frage, ob und inwieweit die Wettbewerbsregeln auf Vereinbarungen und Verhaltensweisen Anwendung finden, die auf dem Territorium von Drittstaaten vorgenommen werden, sich aber innerhalb der Gemeinschaft auswirken (Wettbewerbsrecht, internationales).

4. Ausnahmebereiche

Anders als das deutsche GWB 1957, das einen umfangreichen Katalog von (nach und nach aus dem Gesetz entfernten) Wirtschaftssektoren vorsah, in denen es keine oder nur eingeschränkte Anwendung haben sollte, hat der EG-Vertrag von Anfang an auf einen Katalog von Ausnahmen von der Geltung der Wettbewerbsregeln für bestimmte Wirtschaftsbereiche verzichtet. So sind im EG/AEUV nur ganz wenige Vorschriften vorgesehen, die der Gemeinschaft die Befugnis einräumen, unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auszuschließen oder zu begrenzen.

a) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse

Nach Art. 86(2) EG/106(2) AEUV sind Unternehmen, die Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und Finanzmonopole (die im Rahmen dieser Vorschrift keine große praktische Bedeutung erlangt haben) unter bestimmten, eng gefassten Tatbestandsvoraussetzungen von der Geltung der Vorschriften des EG-Vertrags/AEUV, insbesondere der Wettbewerbsregeln, ausgenommen. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse werden von allem durch Unternehmen erbracht, die dazu verpflichtet sind, Universaldienstleistungen anzubieten. Dies sind Leistungen, die ein Unternehmen zugunsten aller Nutzer im Gebiet eines Mitgliedstaates flächendeckend auch dann erbringt, wenn sie im Einzelfall unrentabel sind. Dazu gehören etwa Energieversorgungsunternehmen, die damit beauftragt sind, die Versorgung mit Strom oder Gas in einem bestimmten Gebiet zu einheitlichen Tarifen und Bedingungen für alle Nutzer sicherzustellen (EuGH Rs. C-393/92 – Almelo, Slg. 1994, I-1477, Rn. 51; EuGH Rs. C-159/94 – Französische Energiemonopole, Slg. 1997, I-5815, Rn. 55 f.) und das Angebot von Universaldienstleistungen durch die Post (EuGH Rs. C-340/99 – TNT Traco, Slg. 2001, I-4109, Rn. 53 ff.) sowie im Bereich der Telekommunikation. Auch Unternehmen, die – wie Rettungs- und Notfalldienste – Leistungen der Daseinsvorsorge erbringen, können unter Art. 86(2) EG/ 106(2) AEUV fallen (EuGH Rs. C-475/99 – Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, Rn. 55 ff.). Die Vorschrift setzt voraus, dass die Unternehmen durch Gesetz oder einen anderen Hoheitsakt eines Mitgliedstaates zur Erbringung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verpflichtet werden. Art. 86(2) EG/ 106(2) AEUV geht davon aus, dass die Vorschriften des Vertrages und damit auch die Wettbewerbsregeln in der Regel auch auf Unternehmen anwendbar sind, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen. Derartige Unternehmen sind nur dann von der Geltung der Wettbewerbsregeln ausgenommen, wenn deren Anwendung die Erfüllung der besonderen Aufgaben dieser Unternehmen rechtlich oder tatsächlich verhindern würde und durch diese Ausnahme die Entwicklung des Handelsverkehrs in der Gemeinschaft nicht in einem Maße beeinträchtigt wird, das dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderläuft.

b) Landwirtschaft

Nach Art. 36 EG/42 AEUV finden die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags/AEUV auf die Produktion von und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen nur insoweit Anwendung, soweit dies der Rat und das Parlament nach dem in Art. 37 EG/43 AEUV vorgesehenen Verfahren unter Berücksichtigung der in Art. 33 EG/39 AEUV niedergelegten Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik bestimmen. Von dieser Ermächtigung hat der Rat zunächst in der VO 26/62 Gebrauch gemacht. Diese Verordnung ist durch die VO 1184/2006 vom 24.7.2006 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnisse abgelöst worden, die nunmehr die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln im Landwirtschaftssektor näher ausgestaltet.

Literatur

Daniel G. Goyder, EC Competition Law, 3. Aufl. 1998; Laurence Idot, Droit Communautaire de la Concurrence, 2004; Ernst-Joachim Mestmäcker, Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004; Volker Emmerich, Kartellrecht, 11. Aufl. 2008; Eugen Lange, Hermann-Josef Bunte (Hg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 2: Europäisches Kartellrecht, 10. Aufl. 2006; Thorsten Mäger, § 16: Kartellrecht, in: Reiner Schulze, Manfred Zuleeg (Hg.), Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006; Jonathan Faull, Ali Nikpay, The EC Law of Competition, 2. Aufl. 2007; Ulrich Immenga, Ernst-Joachim Mestmäcker (Hg.), Wettbewerbsrecht EG/Teil 1 und 2, 4. Aufl. 2007; Peter Roth, Vivien Rose (Hg.), European Community Law of Competition, 6. Aufl. 2008.

Abgerufen von Wettbewerbsregeln, Anwendbarkeit – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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