Antizipierte Nichterfüllung: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr
von Peter Huber
1. Gegenstand und Zweck
a) Bestimmung des Begriffs
Die Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung betrifft diejenigen Fälle, in denen sich vor dem vereinbarten Fälligkeitszeitpunkt abzeichnet, dass eine der Vertragsparteien („Schuldner“, nicht erfüllende Partei) eine Vertragsverletzung bzw. Nichterfüllung begehen wird (Erfüllung und ihre Surrogate). Zu diesem Zeitpunkt greifen die allgemeinen Regeln über die Nichterfüllung noch nicht ein, weil diese grundsätzlich voraussetzen, dass der Zeitpunkt der Fälligkeit bereits verstrichen ist. Die Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung zielt vor diesem Hintergrund darauf ab, der anderen Vertragspartei („Gläubiger“, „benachteiligte Partei“) angemessene Reaktionsmöglichkeiten zu eröffnen.
Im Zentrum der einschlägigen Regelungen stehen hier typischerweise zwei Rechtsbehelfe: zum einen das Recht, den Vertrag bereits vor Fälligkeit aufzuheben, wenn offensichtlich ist, dass künftig eine schwer wiegende Nichterfüllung eintreten wird; zum anderen das Recht, von der „nicht erfüllenden“ Partei angemessene Sicherheiten für die künftige Leistungserbringung zu verlangen, in der Zwischenzeit die eigene Leistung auszusetzen, um auf die Nichterbringung der Sicherheiten mit einer Vertragsaufhebung reagieren zu können. Darüber hinaus kommen weitere Sanktionen in Betracht. In erster Linie sind hier Schadensersatzansprüche zu nennen; diese werden allerdings meist nicht als eigenständige Rechtsbehelfe der Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung ausgestaltet, sondern – mit gewissen Besonderheiten in der Begründung – aus den allgemeinen Schadensersatzregeln abgeleitet (Schadensersatz). Darüber hinaus kann sich im Einzelfall auch die Frage stellen, ob der Gläubiger bereits vor Fälligkeit auf Erfüllung klagen darf.
b) Funktion und Zweck
Die Rechtsfigur der antizipierten Nichterfüllung will den Gläubiger davor bewahren, trotz klarer Anzeichen für eine drohende Nichterfüllung bis zum Fälligkeitszeitpunkt warten zu müssen, um auf die Störung zu reagieren. Zweck des Rechts zur vorweggenommenen Vertragsaufhebung ist es dabei konkret, dem Gläubiger die Dispositionsfreiheit zurückzugeben, wenn offensichtlich ist, dass bei bzw. nach Fälligkeit Umstände eintreten werden, die ihn zum Rücktritt berechtigen würden. Das Recht auf Sicherheitsleistung und seine Konsequenzen will dem Gläubiger in gewissem Umfang das Prognoserisiko abnehmen. Wenn dieser nämlich den Weg der vorweg genommenen Vertragsaufhebung wählt und sich später herausstellt, dass deren Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, etwa weil die drohende Nichterfüllung sich als nicht so schwer wiegend herausgestellt hat wie gedacht, so kann er sich seinerseits wegen unberechtigter Vertragsaufsage schadensersatzpflichtig machen. Dieses Risiko vermeidet er, wenn er zunächst den milderen Weg über die Sicherheitsleistung wählt.
c) Rechtsvergleichender Hintergrund
Aus dogmatisch-theoretischer Sicht lautet die zentrale Frage, ob ein Vertragsbruch bereits vorliegen kann, bevor die betreffende Leistung überhaupt fällig ist. Sie wurde pointiert erstmals in der englischen Entscheidung Hochster v. De la Tour [1853] 2 El & Bl 678 (QB) aufgeworfen und vom Gericht bejaht. Die Entscheidung gilt gemeinhin als Leitentscheidung zur Entwicklung der englischen Lehre vom anticipatory breach, weil sie bereits früher vorhandene punktuelle Ansätze, die in eine ähnliche Richtung gingen, verallgemeinerte und auf eine einheitliche dogmatische Grundlage stellte. Seither unterscheidet das englische Recht zwei Formen des anticipatory breach: erstens das vom Schuldner herbeigeführte Unvermögen zur Leistung (self-disablement) und zweitens die endgültige Erfüllungsverweigerung des Schuldners (renunciation/repudiation). Die bedeutendere, weil weitere, Fallgruppe ist diejenige der Erfüllungsverweigerung; denn in einem Verhalten des Schuldners, durch das er sich zur Leistung außerstande setzt, kann auch eine zumindest stillschweigende Erfüllungsverweigerung gesehen werden. Die wichtigste Rechtsfolge eines anticipatory breach in einer der beiden Formen ist, dass der Gläubiger ohne Weiteres den Vertrag aufheben und das Erfüllungsinteresse im Wege des Schadensersatzes verlangen kann, wenn der drohende bzw. angedrohte Vertragsbruch ihn auch nach Fälligkeit zur Vertragsaufhebung berechtigt hätte. Hingegen gibt das englische Recht dem Gläubiger kein Recht auf Sicherheitsleistung. Allerdings hat er häufig das – auf Vertrauensgrundsätze gestützte – Recht, seine eigenen Vorbereitungshandlungen auszusetzen und ggf. die Vorleistung zu verweigern. Erfüllungsansprüche kann der Gläubiger – in den engen Grenzen, die das common law derartigen Ansprüchen generell setzt (Erfüllungsanspruch) – weiter geltend machen und unter Umständen sogar vor dem Fälligkeitszeitpunkt klageweise durchsetzen.
Das deutsche BGB von 1900 enthielt keine ausdrückliche Regelung des antizipierten Vertragsbruchs, obwohl die Problematik seit Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert worden war. Die Rechtsprechung ging bald dazu über, die 1902 von Staub entwickelte Lehre von der positiven Vertragsverletzung zu nutzen, um den antizipierten Vertragsbruch in den Griff zu bekommen. In der Leitentscheidung aus dem Jahre 1904 (RG 23.2.1904, RGZ 57, 105) bewertete das Reichsgericht die Erfüllungsverweigerung als unberechtigtes „Sichlossagen“ vom Vertrag, das den Vertragszweck gefährde, also als positive Vertragsverletzung; die Parallele zu der englischen Entscheidung Hochster v. De La Tour ist offensichtlich. Während der nächsten 100 Jahre folgte die Rechtsprechung dieser Einordnung und erweiterte die Lehre vom antizipierten Vertragsbruch auf andere Fälle, in denen die Unzuverlässigkeit des Schuldners vor Fälligkeit so schwerwiegend war, dass dem Gläubiger die Fortsetzung des Vertrages nach Treu und Glauben nicht mehr zugemutet werden konnte. Der Gläubiger konnte in beiden Fallgruppen sofort vom Vertrag zurücktreten und das Erfüllungsinteresse im Wege des Schadensersatzes verlangen. Die Schuldrechtsreform von 2002 verankerte den antizipierten Vertragsbruch im BGB, indem in § 323 Abs. 4 BGB ein sofortiges Rücktrittsrecht vor Fälligkeit vorgesehen wird, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des Rücktritts eintreten werden. Für den auf Ersatz des Erfüllungsinteresses gerichteten Schadensersatz statt der Leistung fehlt zwar eine derartige Regel. Doch wird insofern überwiegend ein Analogieschluss zu § 323 Abs. 4 BGB gezogen, so dass der Gläubiger sofort Schadensersatz statt der Leistung verlangen kann (§§ 280 Abs. 1, 3, 281 BGB), sofern der Schuldner die Störung zu vertreten hat.
Ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht vor Fälligkeit ist im BGB nicht ausdrücklich vorgesehen. Im praktischen Ergebnis gesteht man dem Gläubiger auf unterschiedlichen Grundlagen meist ein entsprechendes Leistungsverweigerungsrecht zu. So darf der Vorleistungsverpflichtete in der Regel die Vorleistung verweigern, wenn der andere Vertragsteil die Erfüllung verweigert; umstritten ist, ob sich dies aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) oder aus einer analogen Anwendung der Unsicherheitseinrede nach § 321 BGB ergibt. Bei der Zug-um-Zug-Leistung ist anerkannt, dass eine Seite die Vorbereitungshandlungen aussetzen darf, solange eine Erfüllungsverweigerung oder Leistungsgefährdung auf der anderen Seite vorliegt. In den Fällen der Erfüllungsverweigerung ermöglicht es das deutsche Recht dem Gläubiger, bereits vor Eintritt der Fälligkeit auf Erfüllung zu klagen (§ 259 ZPO), was den Vorteil hat, dass mit Eintritt der Fälligkeit sofort vollstreckt werden kann.
Einige andere Rechtsordnungen enthalten – mehr oder weniger ausführliche – Regeln über die Aufhebung wegen antizipierten Vertragsbruchs. Dies gilt etwa für das amerikanische Recht (sec. 2-609 – 2-611 UCC), die am UN-Kaufrecht (CISG) (s.u. 2.) orientierten Regelungen des finnischen und des schwedischen Kaufgesetzes, für das niederländische oder das dänische Recht oder auch für das griechische Recht. Wenig diskutiert und allenfalls in Ansätzen geregelt ist die Problematik hingegen in vielen der romanisch geprägten Rechtsordnungen.
Diejenigen Rechtsordnungen, die ausführliche Vorschriften über das Aufhebungsrecht kennen, enthalten meist auch allgemeine Regeln über das Zurückbehaltungsrecht des Gläubigers. Darüber hinaus kennen viele Staaten beschränkte Zurückbehaltungsrechte für die Fälle der drohenden Insolvenz des Schuldners.
2. Tendenzen der Rechtsentwicklung
Das Aufkommen der kaufrechtlichen Vereinheitlichungsbestrebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründete eine bis heute sichtbare Tendenz, die Fälle der antizipierten Nichterfüllung ausführlich zu regeln. Auf der Basis der rechtsvergleichenden Grundlagenarbeiten Ernst Rabels enthielten die Entwürfe von Anfang an detaillierte Regelungen, die mit gewissen Modifikationen in das Haager Einheitliche Kaufrecht und in das UN-Kaufrecht (CISG) (Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)) übernommen wurden. Dies wiederum veranlasste einige nationale Gesetzgeber zur Einführung entsprechender Vorschriften in ihre Kodifikationen. So sind etwa §§ 61 und 62 des finnischen und schwedischen Kaufgesetzes den entsprechenden Vorschriften des CISG nachgebildet und regeln sowohl das Zurückbehaltungsrecht bei Gefahr einer Nichterfüllung als auch die Vertragsaufhebung bereits vor Fälligkeit. Auch die oben (siehe 1.c)) skizzierte Neuregelung des deutschen Rechts von 2002 war vom CISG inspiriert. Die modernen Regelwerke der allgemeinen Vertragsrechtsvereinheitlichung enthalten ebenfalls durchgängig detaillierte Vorschriften über die antizipierte Nichterfüllung, so etwa die UNIDROIT PICC, die PECL oder der Draft DCFR.
3. Einzelausgestaltung im Einheitsrecht
a) Vertragsaufhebung
Primäres Ziel der Vorschriften zur antizipierten Nichterfüllung ist es, der benachteiligten Partei ein vorweggenommenes Recht zur Vertragsaufhebung zu geben. Die meisten Vereinheitlichungsprojekte stellen alternativ zwei Aufhebungsgründe zur Verfügung, denen gemeinsam ist, dass eine wesentliche Vertragsverletzung drohen muss. Der erste Aufhebungsgrund setzt voraus, dass es offensichtlich ist, dass die wesentliche Vertragsverletzung eintreten wird (Art. 9:304 PECL; Art. 7.3.3 UNIDROIT PICC; Art. III.-3:504 DCFR). Der zweite erfasst diejenigen Fälle, in denen vernünftiger Grund zu der Annahme besteht, dass eine wesentliche Vertragsverletzung eintreten wird. Hier muss der Gläubiger dem Schuldner grundsätzlich zunächst Gelegenheit geben, die Zweifel an der künftigen Erfüllung durch Sicherheitsleistung zur widerlegen. Wird diese nicht innerhalb angemessener Frist gestellt, entsteht das Aufhebungsrecht (Art. 8:105 PECL; Art. 7.3.4 UNIDROIT PICC; Art. III.-3:505 DCFR). Der Wortlaut des CISG ist insofern strenger, als es immer voraussetzt, dass der Eintritt einer wesentlichen Vertragsverletzung offensichtlich ist, und auch für diese Fälle die Aufforderung zur Sicherheitsleistung vorschaltet (Art. 72 CISG); allerdings ist umstritten, ob das Versäumen der Anzeige das Recht zur Vertragsaufhebung ausschließt oder die aufhebende Partei nur schadensersatzpflichtig macht.
Die allen Regelwerken gemeinsame Hürde der wesentlichen Vertragsverletzung entspricht der allgemeinen Tendenz dieser Regelwerke zur Zurückdrängung der Vertragsaufhebung. Das Erfordernis der Offensichtlichkeit macht deutlich, dass die Vertragsaufhebung vor Fälligkeit nur in Ausnahmefällen zulässig sein soll. Man wird wohl verlangen müssen, dass der drohende Eintritt einer wesentlichen Vertragsaufhebung für einen objektiven Betrachter klar auf der Hand liegen muss, ohne dass es freilich einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedarf. Der typische, wenn auch nicht der einzige, Fall, in dem diese Wahrscheinlichkeitsprognose erfüllt sein wird, ist die ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung des Schuldners; diese wird teilweise ausdrücklich im Normtext erwähnt, teilweise nicht. Einigkeit besteht darin, dass es in den Fällen der Erfüllungsverweigerung keiner Aufforderung zur Sicherheitsleistung bedarf (vgl. etwa Art. 72(3) CISG, Art. III.-3:504 DCFR).
b) Zurückbehaltungsrecht und Sicherheitsleistung
Alle einschlägigen Regelwerke geben dem Gläubiger grundsätzlich das Recht, angesichts einer drohenden Vertragsverletzung die eigene Leistung zurückzuhalten und angemessene Sicherheitsleistung zu verlangen. Im Einzelnen ergeben sich Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung.
Die PECL und die UNIDROIT PICC geben dem Gläubiger diese Rechte, wenn vernünftiger Grund zu der Annahme besteht, dass eine wesentliche Vertragsverletzung eintreten wird (Art. 8:105(1) PECL, Art. 7.3.4 UNIDROIT PICC). Der DCFR geht insofern weiter, als er nicht verlangt, dass die drohende Vertragsverletzung wesentlich sein muss (Art. 3:401(2) DCFR).
Die Regelung im UN-Kaufrecht (Art. 71 CISG) weicht von diesem Regelungsmuster in einigen Punkten ab. Die drohende Vertragsverletzung muss demnach „einen wesentlichen Teil“ der Pflichten des Schuldners betreffen. Dies bedeutet nach h.M. zwar nicht, dass es sich um eine wesentliche Vertragsverletzung handeln muss; andererseits dürfte auch nicht jede Vertragsverletzung genügen. Der in Art. 71 CISG verlangte Wahrscheinlichkeitsmaßstab („wenn sich … herausstellt“) dürfte im Großen und Ganzen der in den anderen Regelwerken verwendeten Formel vom „vernünftigen Grund zur Annahme“ entsprechen. Das CISG definiert die Gründe für die drohende Vertragsverletzung, nämlich den schwer wiegenden Mangel der Fähigkeit zur Vertragserfüllung bzw. der Kreditwürdigkeit des Schuldners oder das Verhalten des Schuldners bei der Vorbereitung oder Erfüllung des Vertrages. Eine derartige Einschränkung enthalten die anderen Regelwerke nicht. Doch ist die Aufzählung im CISG so weit gefasst, dass alle praktisch relevanten Fallgruppen grundsätzlich darunter fallen dürften.
c) Schadensersatz
Schadensersatzansprüche wegen antizipierter Nichterfüllung richten sich nach den allgemeinen Regeln der einzelnen Regelwerke. Die Frage, ob der Gläubiger schon vor Erfüllung auf Leistung klagen kann, ist prozessual zu qualifizieren und unterliegt deshalb der jeweiligen lex fori.
Literatur
Ernst Rabel, Das Recht des Warenkaufs, Bd. I, 1936, Bd. II, 1958; G.H. Treitel, Remedies for Breach of Contract, 1988, 318 ff.; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, 1996, 800 ff.; Christian von Bar, Reinhard Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, 2002, 439 ff, 450 ff., 495 ff.; Reinhard Zimmermann, The New German Law of Obligations, 2005, 66 ff., 107 f.; Gareth H. Jones, Peter Schlechtriem, Breach of Contract, in: IECL VII/1, Kap. 15, 1999; Peter Huber, Comparative Sales Law, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 937 ff.; Peter Huber, Alastair Mullis, The CISG, 2007, 209 ff.; Heinz Weidt, Antizipierter Vertragsbruch, 2008.