Rechtskreislehre: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 17:47 Uhr

von Hein Kötz

1. Der Begriff des Rechtskreises oder der Rechtsfamilie

Die Lehre von den Rechtskreisen beschäftigt sich mit der Frage, ob und nach welchen Kriterien die existierenden nationalen Rechtsordnungen sich in große Gruppen (Rechtskreise, Rechtsfamilien) einteilen lassen. Die Frage ist in der rechtsvergleichenden Forschung immer wieder erörtert worden und daher offenbar von hohem theoretischem Reiz. Mit Hilfe der Antworten, die auf diese Frage gegeben werden, lässt sich die Masse der bestehenden Rechtsordnungen in eine gewisse Ordnung bringen, durch die sich der Stoff einer rechtsvergleichenden Darstellung gliedern lässt und die die Verständigung unter den Rechtsvergleichern erleichtert. Auch der Begriff der Mischrechtsordnungen setzt voraus, dass zunächst bestimmte Rechtskreise oder Rechtsfamilien gebildet und sodann eine bestimmte Rechtsordnung, weil sie sich ihnen nicht ohne weiteres zurechnen lässt, als Mischrechtsordnung charakterisiert wird. Mitunter wird auch die rechtsvergleichende Forschung durch die Bildung von Rechtskreisen erleichtert. Denn wenn eine oder auch zwei Rechtsordnungen als für einen bestimmten Rechtskreis „repräsentativ“ gelten können, so kann es plausibel sein, dass man eine rechtsvergleichende Untersuchung auf diese „repräsentativen“ Rechtsordnungen beschränkt und ihre Ergebnisse bis zum Beweis des Gegenteils als für den gesamten Rechtskreis maßgeblich ansieht.

2. Kriterien

Mehrere Rechtsordnungen lassen sich einem bestimmten Rechtskreis nur dann zurechnen, wenn sie sich hinreichend „nahe stehen“, miteinander „verwandt“ oder einander „ähnlich“ sind. Es kommt deshalb alles darauf an, nach welchen Kriterien der Grad der Verwandtschaft oder Nähe beurteilt werden soll. Eine einheitliche Auffassung darüber gibt es nicht und kann es auch nicht geben, weil es durchaus legitim ist, dass der eine Forscher dieses, der andere jenes Kriterium als für den besonderen Zweck seiner Untersuchung entscheidend ansieht. Konrad Zweigert schlug 1961 vor, nebeneinander mehrere Kriterien heranzuziehen, die in ihrer Gesamtheit für den spezifischen „Stil“ einer Rechtsordnung maßgeblich seien. Zu den stilprägenden Faktoren zählte er die historische Herkunft und Entwicklung einer Rechtsordnung, die in ihr vorherrschende spezifisch juristische Denkweise, einzelne besonders stiltypische Rechtsinstitute, die Art der bestimmenden Rechtsquellen und ihre Auslegung und Fortbildung (Rechtsquellen), schließlich ideologische Faktoren. Mit welchem relativen Gewicht jeder einzelne dieser Faktoren anzusetzen sei, blieb freilich offen. Im Ergebnis kamen dabei Rechtskreise heraus, die sich nicht allzu sehr von jenen unterschieden, zu denen auch schon andere Autoren aufgrund anderer Kriterien gelangt waren: Da war zunächst der Rechtskreis des common law, dann der des civil law, innerhalb dessen zwischen dem romanischen, dem deutschen und dem skandinavischen Rechtskreis unterschieden wurde. Hinzu kamen der sozialistische Rechtskreis (sozialistisches Recht), der heute vom Erdboden fast verschwunden ist, ferner das islamische Recht, das Hindu-Recht und der fernöstliche Rechtskreis, dem damals das japanische und koreanische Recht sowie das Recht der Volksrepublik China zugerechnet wurden. Diese Einteilung liegt dem Lehrbuch von Konrad Zweigert und Hein Kötz (1. Aufl. 1971) zugrunde, findet sich aber in ähnlicher Form auch schon bei Pierre Arminjon, Boris Nolde, Martin Wolff und bei René David.

3. Kritik

An der Lehre von den Rechtskreisen in ihrer „klassischen“ Ausprägung ist in den letzten Jahren zunehmend Kritik geäußert worden. Allerdings wird dabei oft übersehen oder bagatellisiert, dass die „klassische“ Lehre sich keineswegs als so engherzig und dogmatisch versteht, wie es ihr von vielen Kritikern angedichtet wird. David hat schon früh darauf hingewiesen, dass sie meist ein bloß didaktisches Ziel verfolgt, nämlich dem Anfänger zeigen will, wie sich die zunächst verwirrende Vielfalt der nationalen Rechtsordnungen in eine erste lockere Ordnung bringen lässt. Anerkannt war auch, dass die Kriterien, nach denen sich Rechtsfamilien oder Rechtskreise bilden lassen, nicht starr vorgegeben, sondern von jedem Autor so auszuwählen sind, wie ihm dies mit Rücksicht auf den Untersuchungsgegenstand, die Untersuchungsmethode und das Untersuchungsziel zweckdienlich erscheint. Es ist auch kein Zufall, dass die oben genannten Kriterien den Lehrbüchern zur Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts entwickelt worden sind. Es liegt deshalb auf der Hand, dass derjenige zu anderen Kriterien und damit auch zu anderen Einteilungen gelangen wird, der sich rechtsvergleichend mit den Gebieten des Verfassungs- oder Strafrechts beschäftigt, ebenso derjenige, der sich auf das Familien- oder Erbrecht verschiedener Länder oder auf ihr Verfahrensrecht oder auf das Recht der Wettbewerbsbeschränkungen oder der Kapitalmarktregulierung konzentriert. Ferner geht auch die „klassische“ Lehre von den Rechtskreisen davon aus, dass den nationalen Rechtsordnungen keine „réalité biologique“ zukommt (David), sie sich vielmehr „im Fluss“ befinden und ständigem Wandel ausgesetzt sind. Daraus folgt, dass auch die Zuordnung zu bestimmten Rechtskreisen nicht „statisch“, sondern ihrerseits „im Fluss“ ist und daher eine Einteilung, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen plausibel erscheint, nicht nur auf historisch frühere Phasen nicht passt, sondern sich auch in Zukunft verändern kann. Diesem Umstand mag man dadurch Rechnung tragen, dass man mit H. Patrick Glenn nicht zwischen Rechtskreisen, sondern zwischen Rechtstraditionen (legal traditions) unterscheidet.

Auch hat man kritisiert, dass die traditionelle Lehre zuviel Gewicht auf das law in the books, zuwenig auf das law in action legt und sich deshalb zu stark daran orientiert, ob die Gesetze, Rechtsinstitute und systematischen Strukturen bestimmter Rechtsordnungen den gleichen historischen Wurzeln entstammen oder im Wege der Rezeption von einer „Mutterrechtsordnung“ übernommen worden sind und deshalb eine oberflächliche, nur „technische“ Verwandtschaft aufweisen. Diese Kritik mag begründet sein, richtet sich dann aber nicht gegen die Lehre von den Rechtskreisen an sich, sondern dagegen, dass den Kriterien, die auch sie anerkennt, nicht genügend Gewicht beigelegt worden ist. Denn auch sie stellt sich keineswegs blind gegenüber dem Umstand, dass es für die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit von Rechtsordnungen auf ihre „lebende Rechtskultur“ (Lawrence Friedman) ankommt, also etwa darauf, ob das Verhältnis der Bürger zu den Regeln und Institutionen des Rechts von den gleichen Verhaltensmustern, Einstellungen, Erwartungen und Wertungen geprägt ist (Rechtskultur). Für Patrick Atiyah und Robert S. Summers ist es für den Charakter einer Rechtsordnung in hohem Maße typisch, ob die Urteilsbegründung, die Gesetzesauslegung (Auslegung von Rechtsnormen) und das gerichtliche Verfahren mehr durch „formale“ oder mehr durch „inhaltliche“ Elemente geprägt sind. Sie kommen nach einer vergleichenden Analyse des englischen und des anglo-amerikanischen Rechts zu dem Ergebnis, dass zwischen diesen Rechtsordnungen, obwohl sie beide gewöhnlich dem Rechtskreis des common law zugerechnet werden, erhebliche Unterschiede bestehen, so erhebliche in der Tat, dass das englische Recht mit seiner Neigung zu einer stärker „formalen“ Argumentation den kontinentalen Systemen viel näher zu stehen scheint als dem US-amerikanischen. Ebenso kann man Rechtsordnungen in der Weise untersuchen und voneinander unterscheiden, dass man auf die charakteristischen Merkmale abstellt, von denen die Ausbildung, die berufliche Tätigkeit, die ständische Organisation und die ökonomischen Interessen der in ihnen tonangebenden Juristen – der von Max Weber so genannten „Rechtshonoratioren“ – geprägt werden. Auch ist die praktische Bedeutung von Rechtsregeln und rechtsförmigen Verfahren in manchen Ländern geringer als in anderen, etwa weil Gerichte nicht vorhanden, überlastet oder aus anderen Gründen nicht funktionsfähig sind, von den Bürgern als Konfliktlösungsmechanismus nicht akzeptiert werden oder die Richter sich bestechen oder Urteile sich in der Praxis nicht vollstrecken lassen. In solchen Ländern mit „schwachem“ Rechtssystem lässt sich manchmal mit Hilfe ökonomischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer oder anthropologischer Ansätze bestimmen, welche außerrechtlichen Anreize für das Verhalten der Menschen maßgeblich sind, und auch danach lassen sich Unterscheidungen treffen und Einteilungen vornehmen.

Literatur

Pierre Arminjon, Boris Nolde, Martin Wolff, Traité de droit comparé I, 1950, 42 ff.; Adolf Schnitzer, Vergleichende Rechtslehre I, 2. Aufl. 1961, 133 ff.; Konrad Zweigert, Zur Lehre von den Rechtskreisen, in: Twentieth Century Comparative and Conflicts Law: Legal Essays in Honor of Hessel E. Yntema, 1961, 24 ff.; Léontin-Jean Constantinesco, Rechtsvergleichung III, 1983, 73 ff.; Patrick Atiyah, Robert S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987; Lawrence Friedman, Some Thoughts on Comparative Legal Culture, in: Comparative and Private International Law: Essays in Honor of John H. Merryman, 1990, 49 ff.; René David, Camille Jauffret-Spinosi, Les grands systèmes de droit contemporains, 10. Aufl. 1992, 13 ff.; Konrad Zweigert, Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, 62 ff.; Hein Kötz, Abschied von der Rechtskreislehre?, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 6 (1998) 493 ff.; H. Patrick Glenn, Legal Traditions of the World, 2. Aufl. 2004; idem., Comparative Legal Families and Comparative Legal Traditions, in: Mathias Reimann, Reinhard Zimmermann (Hg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 421 ff.

Abgerufen von Rechtskreislehre – HWB-EuP 2009 am 23. November 2024.

Nutzungshinweise

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