Prospekthaftung: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 17:41 Uhr

von Alexander Hellgardt

1. Einleitung und Begrifflichkeiten

Die meisten europäischen Rechtsordnungen kennen eine spezielle Haftung für das Inverkehrbringen von unrichtigen oder unvollständigen Prospekten. Diese Haftung lässt sich teilweise bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. So stammen die Leitentscheidungen zur deliktischen Prospekthaftung in England aus den Jahren 1873 (Peek v. Guerney (1873) LR 6 HL 377) und 1889 (Derry v. Peek (1889) LR 14 App Cas 337). In Deutschland wurde im Börsengesetz von 1896 erstmals eine spezialgesetzliche Prospekthaftung normiert; die aktienrechtliche Gründerhaftung war bereits 1884 in das |ADHGB aufgenommen worden.

Unter Prospekthaftung versteht man die Haftung für fehlerhafte, d.h. inhaltlich unrichtige oder unvollständige Prospekte. Neueren Datums ist die Haftung für die pflichtwidrige Nichtveröffentlichung eines Prospekts. Erfasst werden nicht sämtliche Prospekte, sondern vornehmlich solche, die beim erstmaligen öffentlichen Angebot oder der Börsenzulassung von massenhaft vertriebenen Kapitalanlagen zu veröffentlichen sind. Das besondere Bedürfnis nach einem Prospekt folgt in diesen Fällen daraus, dass beim erstmaligen Angebot einer Kapitalanlage, etwa dem Börsengang (initial public offering, IPO) einer Aktiengesellschaft, zwischen dem Anbieter und dem Publikum eine Informationsasymmetrie hinsichtlich der Renditeaussichten der Anlage und damit ihres Wertes besteht. Anders als beim Vertrieb von Waren, deren Qualität sich durch eine körperliche Untersuchung überprüfen lässt, sind die Ersterwerber (Zeichner) von Kapitalanlagen allein auf die Angaben des Emittenten, Anbieters und eventuell der emissionsbegleitenden Bank angewiesen. Gleichzeitig weisen Kapitalanlagen, insbesondere Aktien, einen hohen Grad an Standardisierung auf, der eine einheitliche Information des Publikums sinnvoll erscheinen lässt. Sind die Kapitalanlagen dann einmal emittiert, bildet sich – zumindest bei börsennotierten Papieren – ein Markt- oder Börsenpreis, der potentiellen Käufern einen Anhaltspunkt für die Werthaltigkeit der Anlage geben kann. Die Prospekthaftung behandelt daher nur den Fall der Emission (auch Primärmarkt genannt), während die Haftung für im späteren Börsenhandel (Sekundärmarkt) bestehende Informationspflichten erst ein relativ neues Phänomen ist (siehe dazu Kapitalmarktpublizität).

2. Vorfrage: Prospektpflichten

Aufgrund der besonderen Wichtigkeit verlässlicher Informationen über erstmalig öffentlich vertriebene Kapitalanlagen und in Reaktion auf diverse Skandale haben die meisten westeuropäischen Staaten gesetzliche Prospektpflichten eingeführt. Teilweise folgte die Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts auch aus den Börsenordnungen. Im besonders wichtigen Bereich der Wertpapieremissionen nahm die EG in den 1980er Jahren eine Minimalharmonisierung vor. Die Börsenzulassungsprospekt-RL (RL 80/‌390) regelte die Prospektpflichten bei der Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse. Dagegen koordinierte die RL 89/‌298 die Bedingungen für die Erstellung, Kontrolle und Verbreitung des Prospekts, der im Falle öffentlicher Angebote von Wertpapieren veröffentlicht werden musste. Diese europarechtlich angelegte Zweiteilung wurde von vielen Mitgliedstaaten allerdings nicht nachvollzogen, die stattdessen sämtliche Wertpapierprospekte dem strengeren Regime der Börsenzulassungsprospektrichtlinie unterwarfen. Das erwies sich letztlich als wesentliches Hindernis für die Entstehung eines europaweit einheitlichen Kapitalmarkts und führte zum Erlass der Wertpapierprospekt-RL (RL 2003/‌71), die im Rahmen einer Maximalharmonisierung ein europaweit einheitliches Regime für Wertpapierprospekte schuf. Die Differenzierung zwischen Börsenzulassungsprospekten und Prospekten für das (außerbörsliche) öffentliche Angebot wurde gänzlich aufgegeben. Vervollkommnt wurde die Maximalharmonisierung der Wertpapierprospektpflichten durch den Erlass der VO 809/‌2004 zur Umsetzung der Wertpapierprospekt-RL. Dabei handelt es sich um eine Durchführungsmaßnahme auf Stufe 2 des sogenannten Lamfalussy-Verfahrens, die den Inhalt und die Gestaltung von Wertpapierprospekten im Wege unmittelbar geltenden Europarechts vereinheitlicht hat.

Was ein Wertpapier im Sinne der Prospektrichtlinie ist, regelt Art. 4(1) Nr. 18 der Finanzmarkt-RL (auch MiFID, RL 2004/‌39, Finanzinstrumente). Es handelt sich vor allem um Aktien, Schuldverschreibungen und sonstige Wertpapiere, die zum Kauf oder Verkauf solcher Wertpapiere führen (derivative Wertpapiere). Neben diesem europarechtlich vereinheitlichten Bereich der Wertpapierprospekte existieren in einer Reihe europäischer Staaten weitere Prospektpflichten für den Vertrieb nicht wertpapiermäßig verbriefter Kapitalanlagen. So kennt etwa das österreichische Recht eine Prospektpflicht für den Vertrieb von „Veranlagungen“ und in Deutschland wurde 2005 eine Prospektpflicht für den Vertrieb von „Vermögensanlagen“ eingeführt.

3. Europarechtliche Vorgaben für die Prospekthaftung

Im auffälligen Gegensatz zum Detaillierungsgrad der Prospektpflichten selbst steht die fehlende Vereinheitlichung der Prospekthaftung auf europäischer Ebene. Die Wertpapierprospekt-RL enthält in Art. 6 lediglich eine Minimalvorgabe. Danach stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass je nach Fall zumindest der Emittent oder dessen Verwaltungs-, Management- bzw. Aufsichtsstellen, der Anbieter, die Person, die die Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt beantragt, oder der Garantiegeber für die in einem Prospekt enthaltenen Angaben haftet. Gemäß Art. 6(1)(2) sind die verantwortlichen Personen im Prospekt eindeutig zu benennen nebst einer Erklärung, dass ihres Wissens die Angaben in dem Prospekt richtig sind und darin keine Tatsachen verschwiegen werden, die die Aussage des Prospekts verändern können. Nach Art. 6(2)(I) stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Bereich der Haftung für die Personen gelten, die für die in einem Prospekt enthaltenen Angaben verantwortlich sind. Europarechtlich vorgegeben ist damit nur, dass es überhaupt eine Prospekthaftung geben muss und dass sie mindestens eine der genannten Personen oder Institutionen treffen muss.

Hintergrund dieser Minimalvorgaben im Haftungsbereich waren die Unsicherheiten über die Ausgestaltung der Haftungssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten, die als Hindernis für eine materielle Harmonisierung der Prospekthaftung angesehen wurden. Ein vom deutschen Bundesministerium der Finanzen beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Auftrag gegebenes Gutachten über die Rechtslage in den damaligen 15 EU-Mitgliedstaaten, konnte die Verhandlungen insoweit nicht mehr entscheidend beeinflussen.

4. Ausgestaltungen in den europäischen Rechtsordnungen

Obwohl die Prospekthaftung in den Mitgliedstaaten ganz verschiedene rechtsdogmatische Ausgangspunkte nimmt, haben sich doch vielfach ähnliche Standards der Haftung herausgebildet.

a) Rechtsgrundlagen

Eine ganze Reihe von EU-Mitgliedstaaten hat die zivilrechtliche Haftung für fehlerhafte Prospekte in einer speziellen Haftungsnorm geregelt. Die meisten Länder des romanischen Rechtskreises wenden die deliktsrechtliche Generalklausel (Deliktsrecht) an. In Frankreich wird etwa der Großteil der zivilrechtlichen Prospekthaftungsfälle im Rahmen von Adhäsionsverfahren vor den Strafgerichten nach Art. 1382 Code civil entschieden. Teilweise – so etwa in Spanien – wird die Prospekthaftung des Emittenten auch als Haftung für die Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten angesehen. In den Niederlanden ist die Prospekthaftung nach Art. 6:194 BW als Unterfall der deliktischen Haftung für irreführende Werbung ausgestaltet. Häufig treten neben die spezialgesetzlichen Vorschriften auch die allgemeinen Regelungen, so insbesondere in England, wo die Rechtsbehelfe des common law neben die Regelungen des Financial Services and Markets Act 2000 treten.

b) Anspruchsteller und Anspruchsgegner

Anspruchsberechtigt sind stets die Ersterwerber neu emittierter Wertpapiere. Unklarer ist die Rechtslage hinsichtlich solcher Anleger, die ein Wertpapier noch durch den fehlerhaften Prospekt beeinflusst auf dem Sekundärmarkt erworben haben. In bestimmten Grenzen, die von dem Bestreben um eine überschaubare Begrenzung der Haftung gekennzeichnet sind, erkennen manche Mitgliedstaaten – so etwa Deutschland, Österreich sowie England (im Rahmen der Haftung für deceit, wenn die Erklärung auch an Folgeerwerber gerichtet war) – den Folgeerwerbern einen eigenen Anspruch zu.

Durchgehend gehören die Wertpapieremittenten selbst zu den Haftpflichtigen im Rahmen der Prospekthaftung. Bedenken, die insbesondere in den skandinavischen Staaten hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den Kapitalerhaltungsregeln bestanden, sind im Zuge der Umsetzung der Prospektrichtlinie ausdrücklich ausgeräumt worden. Uneinheitlich ist die Rechtslage dagegen bezüglich der Haftung von Organmitgliedern der Emittenten. Zwar lässt die Mehrheit der europäischen Rechtsordnungen eine solche Haftung zu, häufig wird sie aber nicht von den spezialgesetzlichen Anspruchsgrundlagen umfasst, sondern folgt aus deliktischen Haftungsnormen, die normalerweise höhere Tatbestandsanforderungen (z.B. vorsätzliches Handeln) stellen. Ähnlich ist die Rechtslage hinsichtlich der Haftung von Abschlussprüfern und anderen Experten, die an der Erstellung des Prospekts beteiligt sind. Diese basiert häufig auf deliktischen oder quasi-vertraglichen Grundlagen, die tendenziell höhere Anforderungen an die Haftungsbegründung stellen. Unproblematisch ist dagegen die Haftung der Emissionsbank in den meisten Mitgliedstaaten anerkannt.

c) Verschulden

Die allermeisten europäischen Rechtsordnungen kennen eine Prospekthaftung bereits für einfache Fahrlässigkeit. Je nach Rechtsgrundlage und angestrebter Rechtsfolge erfordert die Haftung teilweise aber auch vorsätzliches Handeln. Allein Deutschland (und teils auch Österreich) kennt eine Beschränkung der spezialgesetzlichen Prospekthaftung auf grobe Fahrlässigkeit. Dies lässt sich am besten damit erklären, dass im Rahmen der Haftung für die Verletzung gesetzlicher Pflichten keine gesonderte Prüfung der Verletzung von Sorgfaltspflichten mehr erfolgt, sondern der Rechtsverstoß die einfache Fahrlässigkeit indizieren würde; der Maßstab der groben Fahrlässigkeit stellt daher eine gesonderte Prüfung der Vorwerfbarkeit sicher.

d) Umfang der Haftung und Kausalität

Uneinheitlich wird der Umfang des Schadens bemessen, den der geschädigte Anleger ersetzt verlangen kann. Während einige europäische Rechtsordnungen – etwa Griechenland, Italien, Schweden – eine Beschränkung der Haftung auf den Unterschiedsbetrag zwischen tatsächlich gezahltem Preis und hypothetischem fairen Preis vorsehen, gewähren die meisten Mitgliedstaaten eine Rückabwicklung des Wertpapiererwerbs. Dadurch erhält der Anleger jedoch zugleich die Möglichkeit, das Risiko eines nicht auf dem fehlerhaften Prospekt basierenden Kursverlustes auf den Emittenten abzuwälzen.

In der Mehrzahl der Mitgliedstaaten gilt der Grundsatz, dass bei Veröffentlichung eines fehlerhaften Prospekts die Kenntnis des einzelnen Anlegers von dem fehlerhaften Prospekt nicht Tatbestandsvoraussetzung ist. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass der fehlerhafte Prospekt den Gesamtprozess der Emissionspreisbildung negativ beeinflusst hat und daher jeder Anleger, der die Wertpapiere zu dem verfälschten Preis gekauft hat, einen kausalen Schaden erleidet.

5. Internationales Privatrecht

Die Wertpapierprospekt-RL enthält keine Vorgaben zur Anknüpfung der Prospekthaftungsansprüche. In den nationalen Kollisionsrechten enthält allein Art. 156 des schweiz. IPRG eine explizite Kollisionsnorm, wonach die Ansprüche entweder nach dem auf die Gesellschaft anwendbaren Recht oder nach dem Recht des Staates geltend gemacht werden, in dem die Emission erfolgt ist (Marktort). Nach ganz herrschender Ansicht sind Prospekthaftungsansprüche für die Zwecke des IPR deliktsrechtlich zu qualifizieren. Die Ansprüche fallen unter den Anwendungsbereich der Rom II-VO (VO 864/‌ 2007); insbesondere werden sie nicht von den Bereichsausnahmen in Art. 1(2)(c) und (d) erfasst. Während das Schrifttum zum deutschen IPR bisher die Anknüpfung an den Marktort (also den Belegenheitsort der betreffenden Börse oder den Ort, an dem ein öffentliches Angebot gemacht wird) favorisiert, spricht nach dem Erlass der Prospekt-RL vieles dafür, akzessorisch an die Prospektpflicht anzuknüpfen. Denn die Wertpapierprospekt-RL knüpft sämtliche Pflichten bei einem gemäß Art. 2(1)(m) bestimmten Herkunftsmitgliedstaat an und die anderen Mitgliedstaaten haben dessen materielles Recht im Sinne eines „Europäischen Passes“ anzuerkennen. Somit liegt eine engere Verbindung gemäß Art. 4(3) Rom II-VO zum Recht des Herkunftsmitgliedstaates im Sinne der Prospekt-RL vor.

6. Entwicklungstendenzen

Nachdem die Chance einer europäischen Vereinheitlichung der Prospekthaftung im Rahmen der Wertpapierprospekt-RL nicht wahrgenommen wurde und der Aktionsplan für Finanzdienstleistungen umgesetzt ist, ist mit einer baldigen Harmonisierung der Prospekthaftung auf europäischer Ebene nicht zu rechnen. Auch die RL 2006/‌46 zur Verantwortlichkeit der Direktoren hat nur Mindestvorgaben der Verantwortlichkeit für den Jahresabschluss börsennotierter Gesellschaften, nicht aber Regelungen über die Prospekthaftung gebracht.

Verschiedenartige Prospekthaftungsregeln können aber die grenzüberschreitende Kapitalaufnahme behindern, wenn sowohl Emittenten als auch Anleger den Inhalt der anwendbaren Haftungsregeln nicht vorhersehbar kalkulieren können. Spätestens nach einem europaweiten Börsenskandal wird daher der Ruf nach einheitlichen Prospekthaftungsvorschriften wieder auf die Tagesordnung kommen. Impulse könnten auch von einer Vereinheitlichung des allgemeinen deliktischen Haftungsrechts ausgehen.

Literatur

Klaus J. Hopt, Die Verantwortlichkeit der Banken bei Emissionen, 1991; Catarina af Sandeberg, Prospectus Liability from a Scandinavian Perspective, European Business Law Review 13 (2003) 323 ff; Stefan Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, § 19; Klaus J. Hopt, Hans-Christoph Voigt (Hg.), Prospekt- und Kapitalmarktinformationshaftung, 2005; Michael Brellochs, Publizität und Haftung von Aktiengesellschaften im System des Europäischen Kapitalmarktrechts, 2005; Eilís Ferran, Cross-border Offers of Securities in the EU, European Company and Financial Law Review 2007, 461 ff.; Paul L. Davies, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, 8. Aufl. 2008, Kap. 25; Alexander Hellgardt, Kapitalmarktdeliktsrecht, 2008; Jan von Hein, Die Internationale Prospekthaftung im Lichte der Rom II-Verordnung, in: Perspektiven des Wirtschaftsrechts: Beiträge für Klaus J. Hopt, 2008, 371 ff.

Abgerufen von Prospekthaftung – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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