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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 16:03 Uhr

von Andreas Thier

1. Zur Begrifflichkeit

Mit dem Ausdruck „Germanenrechte“ wird ein Komplex von schriftlich überlieferten generell-abstrakten Regelungen mit Geltung für eine bestimmte ethnische Gruppe aus der Zeit zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert bezeichnet, die von den Herrschern der auf dem Gebiet des ehemaligen weströmischen Reiches siedelnden Stammesverbänden veranlasst wurden. Hinzu treten die angelsächsischen Normgebungen Englands in der Zeit zwischen dem 5. Jahrhundert und der normanischen Eroberung im Jahre 1066.

Bis in das 20. Jahrhundert hinein sind die Ethnien, für die diese Gesetze galten, als „Germanen“ gekennzeichnet worden, die durch eine gemeinsame Kultur und durch ähnliche Herrschaftsstrukturen verbunden gewesen und deren Vorläufer bereits durch antike Schriftsteller wie Caesar und vor allem in der Germania des Tacitus (ca. 55–116/‌120 n. Chr.) beschrieben worden seien. Zwar hat die geschichtswissenschaftliche und rechtsgeschichtliche Forschung mittlerweile deutlich gemacht, dass es keinen einheitlichen Typus des „Germanen“ gab. Doch ungeachtet dieses vieldiskutierten „Germanenproblems“ und der immer wieder vorgetragenen Forderung nach der „Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung“ (Jörg Jarnut) hat der Ausdruck „Germanenrechte“ (oder „Germanic codes“) bis heute einen offensichtlich festen Platz im terminologischen Spektrum vor allem der rechtshistorischen Debatte; so trägt etwa die durch Karl August Eckhardt (1901–1979) begründete und bis heute vielbenutzte Reihe von Textausgaben dieser Regeltexte den Titel „Germanenrechte“. Quellennäher ist demgegenüber die in diesen Texten nicht selten verwendete Selbstbezeichnung lex oder leges (Gesetz/‌Gesetze), die ebenfalls zu einem fest etablierten Terminus der Forschung geworden ist. Einem von den Quellen selbst bisweilen benutzten Schema folgend, wird dabei dem Ausdruck lex jeweils der Name des Stammes zugeordnet, für den dieses „Gesetz“ gelten sollte (etwa lex Alamannorum). Galt dagegen eine lex für die ehemals römische Bevölkerung im Gebiet eines Stammes, so wird neben der Stammesbezeichnung der Zusatz Romana verwendet (etwa lex Romana Burgundionum). Allerdings suggeriert der Ausdruck lex jeweils ein gesetzgeberisches Handeln, obgleich nicht wenige der so bezeichneten leges lediglich herrscherlich befohlene Aufzeichnungen bereits bestehender Rechtsgewohnheiten sind und zudem bisweilen auch anderslautende Selbstbeschreibungen tragen (etwa edictum Rothari). Ganz abgesehen davon steht dieser Ausdruck in semantischer Nähe zu der Bezeichnung leges barbarorum, die, in der humanistischen Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts entstanden, im 18. Jahrhundert vor allem im romanischen Sprachraum zur Umschreibung dieser Rechte benutzt wurde. Mit den barbari waren dabei die Stämme der Völkerwanderungszeit gemeint, die den Untergang des weströmischen Reiches herbeiführten. Im Blick auf diese eher pejorative Tendenz wurde dagegen im deutschen Sprachraum seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend der von Heinrich Brunner (1840–1915) eingeführte Ausdruck „Volksrechte“ verwendet, dem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts der Terminus „Stammesrechte“ entgegengestellt wurde. Freilich sind auch diese Ausdrücke nicht unproblematisch, richteten sich doch die so bezeichneten Bestimmungen nicht nur an „Stämme“ oder „Völker“, sondern vielfach auch an die auf dem Gebiet dieser Stämme und Völker lebende ehemals römische Bevölkerung. Doch ungeachtet dieser terminologischen Vielfalt herrscht jedenfalls Einigkeit über den damit bezeichneten Gegenstand der Diskussion, für den nachfolgend die wohl herrschend gewordene Kennzeichnung als lex (und damit der Plural leges) verwendet werden soll.

2. Entstehungszusammenhänge der kontinentaleuropäischen leges

Die Entstehung der kontinentaleuropäischen leges vollzog sich vor dem Hintergrund von Herrschaftsbildungen, die im Zeichen der 375 einsetzenden Völkerwanderung vor allem das heutige Spanien, Frankreich und Italien, später auch Deutschland umfassten. Regelmäßig dienten die leges dabei der Konsolidierung von königlicher Herrschaft über die von ihnen beherrschten Stämme und romanischen Bevölkerungsgruppen. Materiell spiegelte sich dieses Bemühen vor allem in den häufig vorkommenden Regelungen zum Unrechtsausgleich im Interesse des inneren Friedens. Solche Bestimmungen zielten auf Begrenzung der Fehde, also der gewalttätigen Rache für erlittenes Unrecht zur Wiederherstellung der verletzten Ehre, durch die Buße (compositio). Hinzu traten Regelungen über das gerichtliche Verfahren und dabei nicht selten auch den Gottesbeweis etwa in der Form des Zweikampfs. Häufig findet sich darüber hinaus eine wahre Fülle weiterer Regeln etwa zum Handel und zum Handwerk, zur ländlichen Bodenverfassung oder zum Erb- und Familienrecht, die die leges auch zu einer kulturgeschichtlich zentralen Quelle werden lassen.

Es entsprach der personalen Anknüpfung des königlichen Herrschaftsanspruchs, dass die leges grundsätzlich dem Personalitätsprinzip folgten, also nicht für ein Territorium, sondern für bestimmte Personengruppen galten. Konturen der frühmittelalterlichen Herrschaftsordnung treten aber auch im Blick auf die Formen der Normsetzung hervor: Denn in den Prologen und Epilogen wurde nicht selten das Zusammenwirken von König und Stamm (also dessen Adelsschicht) betont, dem dann auch die Benutzung von Ausdrücken wie pactio oder pactus entsprach. Ungeachtet solcher Narrative wurde allerdings auch in unterschiedlich deutlicher Form die zentrale Funktion des Herrschers als Gesetzgeber und oberster Richter hervorgehoben. Allerdings ist unklar, in welchem Umfang dieser Anspruch durch die tatsächliche Anwendung der leges umgesetzt worden ist. Denn es hat sich gezeigt, dass einzelne leges in der Praxis offenbar nicht verwendet wurden, zudem setzt auch die handschriftliche Überlieferung erst seit dem 8. Jahrhundert ein. Das hat zu der Überlegung geführt, dass die lex jedenfalls für manche Herrscher nicht mehr als ein Medium ihres Herrschaftsanspruchs war.

a) Die erste Phase der Normsetzung (5. bis 7. Jahrhundert)

In der dynamischen ersten Stufe der Normgebung bewirkten die leges die Formierung der jeweils betroffenen gens zu einem normativ geordneten Verband, der zugleich seine Position gegenüber der romanischen Bevölkerung und dem römischen Recht zu bestimmen suchte. Das geschah dadurch, dass einerseits orale Rechtstraditionen in die lex scripta überführt wurden, deren Gestaltung von der administrativen Schriftkultur der spätantiken römischen Kanzleien inspiriert war. Andererseits fanden die Regelungsansätze des römischen Rechts in je unterschiedlichem Ausmaß ihren Weg in die leges, die nicht zuletzt deswegen eindrucksvolle Belege für die regional unterschiedlich intensive Verbindung von, modern gesprochen, nationalen Rechtstraditionen und römischer Rechtskultur sind.

Der zeitliche Ausgangspunkt dieser Entwicklungen liegt bei den Westgoten, die mit dem tolosanischen Reich (418/‌19–507) im heutigen Südfrankreich mit Zentrum Toulouse sowie dem toledanischen Reich (507–711) mit dem Zentrum Toledo über mehrere Jahrhunderte weite Teile des heutigen Südwesteuropa beherrschten. Hier schufen die westgotischen Könige eine Reihe von teilweise nur indirekt überlieferten Normgebungen, die mittlerweile in terminologischer Verdichtung als leges Visigothorum bezeichnet werden. Den Auftakt bildete der nach seinem mutmaßlichen Urheber König Eurich (466–484) so benannte, dem römischen Recht verpflichtete Codex Euricianus, der, entstanden wohl zwischen 469 und 477 (neuerdings allerdings auch Alarich II., 485–507, zugeschrieben), lediglich in fragmentarischer Form durch ein Palimpsest (Paris, Bibl. Nat., Ms. lat. 12161, daher sog. Pariser Fragmente) erhalten ist. Mit mehr als 70 Handschriften ungleich besser ist dagegen die Überlieferung eines 506 erlassenen Gesetzbuchs Alarichs II. (485–507). Die in den Handschriften benutzten Kennzeichnungen dieses Gesetzes als lex Romana, liber legum oder – mit Anspielung auf den römischen Kaiser Theodosius II. (408–450) und den von ihm 438 erlassenen Codex Theodosianus – als Corpus Theodosianum deuten bereits auf den Regelungsinhalt hin: Gestützt insbesondere auf die theodosianische Kodifikation, auf spätklassische Sammlungen von Kaisergesetzen (Codex Gregorianus und Codex Hermogenianus) und auf nachträgliche Bearbeitungen der Schriften der römischen Juristen Gaius und Paulus führte die später so genannte lex Romana Visigothorum Rechtsregeln mit Geltung für die romanische Bevölkerung ein, der damit in Abgrenzung von den Westgoten eine eigene Rechtssphäre zugestanden wurde. Dass sich knapp 150 Jahre später beide Seiten zumindest nach der Vorstellung des herrscherlichen Gesetzgebers einander angenähert hatten, zeigt ein anderes großes Gesetzgebungswerk der Westgoten: König Reccesvinth (653–672) erließ um 654 einen liber iudiciorum (so die teilweise in den überliefernden Handschriften verwendete Titulatur), der in der Form von sog. antiqua auch die Normsetzungen mehrerer früherer westgotischer Könige übernahm. Entscheidend im vorliegenden Zusammenhang ist die Bestimmung, die die Anwendung von Romanis legibus seu alienis institutionibus (von römischen Gesetzen oder fremden Institutionen) verbot und damit zugleich dem Territorialitätsprinzip Raum gab. Die Zweigliedrigkeit der westgotischen Rechtsordnung fand damit ihr Ende, was allerdings nur im Blick auf die zumindest erhoffte Annäherung von Römern und Westgoten möglich war. Zwar scheint die Anordnung von 654 weitgehend befolgt worden zu sein, wie das fast vollständige Fehlen von handschriftlichen Zeugnissen der lex Romana Visigothorum im westgotischen Herrschaftsbereich belegt. Jenseits dieses Raumes verbreitete sich die auch als Breviar des Alarich bezeichnete lex Romana Visigothorum allerdings in fast 70 Handschriften vor allem in Italien und im Reich der Franken und bildet bis heute eine der wichtigsten Quellen für das spätantike vorjustinianische Recht. Zusätzlich gefördert wurde die Verbreitung der lex Romana Visigothorum durch die Entstehung von eigens angefertigten Auszügen ihres Textes (sog. Epitomen, vom griechischen Terminus επιτομή – Auszug, Ausschnitt) im 8. Jahrhundert. Eine Sonderstellung nimmt dabei die sog. lex Romana Curiensis ein, die wohl im 8. Jahrhundert in Churrätien (dem Gebiet des damaligen Bistums Chur) erstellt wurde. In der Einbeziehung auch fränkischer Rechtsgewohnheiten spiegelte diese Epitome besonders deutlich das Bestreben ihres Urhebers wider, die Regelungselemente der lex Romana Visigothorum mit der fränkischen Rechtskultur und ihrer Sprachlichkeit zu verbinden.

Inhaltlich ebenfalls weitgehend dem römischen Recht verpflichtet war das edictum Theoderici. Allerdings wurde die Anwendung seiner insgesamt 154 Regelungen mit strafrechtlichem Schwerpunkt sowohl auf Römer wie auf die barbari ausdrücklich angeordnet, die grundsätzliche normative Verschiedenheit beider Gruppen damit also ausdrücklich vorausgesetzt. Allerdings ist die örtliche wie zeitliche Zuordnung dieses Gesetzes umstritten, beruht doch der verfügbare Text lediglich auf einer Edition des Jahres 1579, die sich ihrerseits auf zwei verlorene Manuskripte stützt. Vor allem die deutschsprachige Forschung hat dem bedeutendsten König der in Italien siedelnden Ostgoten, Theoderich dem Großen (474/‌493–526), die Urheberschaft für das edictum Theoderici zugeschrieben. Demgegenüber behauptet eine andere Gruppe von Autoren, es sei im römischen Gallien oder im tolosanischen Westgotenreich durch den westgotischen Herrscher Theoderich II. (453–466) zwischen 459 und 461 erlassen worden.

Wohl weitgehend unbeeinflusst von der gotischen Normbildung entstanden im Reich der Burgunder (443–534) im Rhonegebiet zwei Gesetzeswerke, in denen sich wiederum das Spannungsfeld von der Nähe zur römischen Rechtskultur und der Distanz zwischen Burgundern und Romanen abzeichnet: Vermutlich vor 501 erließ König Gundobad (480–516) ein Gesetz, das, insbesondere in karolingischen Quellen als lex Gundobada bezeichnet, in Anlehnung an eine vereinzelte handschriftliche Überlieferung dieses Titels allgemein den Namen lex Burgundionum trägt. Gundobads Sohn Sigismund (516–523) veranlasste vermutlich im Jahre 517 eine Neufassung des Gesetzes, dessen Rubriken allerdings die Bezeichnung liber Constitutionum verwendeten. In beiden Formen war die lex Burgundionum grundsätzlich nur anwendbar für Burgunder, galt aber auch für Streitfälle zwischen Burgundern und Romanen. Diese Unterscheidung fand ebenso wie bei den Westgoten ihre legislatorische Entsprechung in einer lex Romana Burgundionum, die Gundobad vermutlich noch vor 506 erließ.

Dem Personalitätsprinzip ebenfalls verpflichtet waren die leges, die im fränkischen Großreich entstanden, das sich unter der Herrschaft Chlodwigs I. († 27. Nov. 511) von Nordgallien her ausbreitete. Gerade in der zwischen 507 und 511 geschaffenen lex Salica spiegelten sich zugleich auch die Übergänge von der Oralität zur Schriftlichkeit besonders deutlich wider: Kennzeichnend für diese lex war nämlich die in ihrer Intensität vorbildlose Verarbeitung der Volkssprache durch die Einbeziehung fränkischer Begrifflichkeiten (gekennzeichnet durch den Ausdruck in mallobergo – in der Gerichtssprache). Es war allerdings geradezu bezeichnend für die Durchsetzung der lateinischen Schriftsprache, dass diese Verbindung lateinischer Schriftlichkeit und fränkischer Oralität nur in den frühen Textzeugnissen der lex Salica greifbar ist, während die seit 763/‌764 entstehenden Fassungen der Karolingerzeit deutlicher einer verschriftlichten Latinität verpflichtet sind. Ihren Inhalten nach war die lex Salica trotz der Einflüsse der römischrechtlich beeinflussten burgundischen leges und des westgotischen Codex Euricianus vielleicht am stärksten von der Distanz zur spätantiken römischen Tradition geprägt. Sie ist zugleich ein frühes markantes Beispiel für die in den leges nicht seltene Erwähnung besonderer Sachverständiger, die hier als electi der rectores der Franken bezeichnet wurden.

Als, wie es häufig heißt, „lex Salica revisa“ wurde für ein fränkisches Kleinreich in der Gegend um Köln die sog. lex Ribuaria erlassen. In ihren Regelungen zum Unrechtsausgleich durch die lex Salica geprägt, wurde die lex Riburaria wohl in Ansätzen bereits in der Zeit Chlothars II. (584–629) geschaffen, erhielt ihre endgültige Form aber offenbar erst unter der Herrschaft Dagoberts I. (623–639), der zunächst als Unterkönig Chlothars wirkte.

Deutlicher wird das gemeinschaftliche Zusammenwirken zwischen Herrscher und Beherrschten in der wichtigsten lex der Langobarden, die zwischen 552 und 774 in Italien herrschten. Im Jahre 643 erging das nach dem langobardischen Herrscher Rothari († 652) benannte edictum (bisweilen auch edictus) Rothari. Prolog wie Epilog betonen consilium und consensus des Adels und der iudices, zusätzlich wurde über eine confirmatio des langobardischen Heeres secundum ritus gentis nostrae (nach dem Brauch unseres Volkes) berichtet, die sich in Gestalt einer gairethinx (einem in seiner Deutung heftig umstrittenen Zusammenschlagen von Schildern und Speeren) vollzog. Das Gesetz verbindet in seinen insgesamt 388 capitula eine Fülle unterschiedlicher Rechtsschichten seiner Zeit. Im Ausgangspunkt auf die Fixierung oraler langobardischer Rechtsgewohnheiten (cauuarfida) ausgerichtet, übernahm das edictum aber auch Elemente des römischen Rechts aus dem Codex Theodosianus und den justinianischen Gesetzen (Corpus Juris Civilis), griff aber darüber hinaus auch auf die westgotischen leges zurück. Unter Rotharis Nachfolgern, insbesondere unter Liutprand (712–744), ergingen ergänzende Regelungen, die dem edictum als volumina hinzugefügt wurden und damit zur Entstehung eines einheitlichen edictum regum Langobardorum führten. Seine Texte sollten im 11. Jahrhundert für die sog. Schule von Pavia im liber legis Langobardorum zusammen mit anderem Material den Anknüpfungspunkt früher rechtswissenschaftlicher Analysen bilden, die dann ihrerseits zu einer der Wurzeln des ius commune werden sollten.

b) Kirchlich orientierte leges des 8. Jahrhunderts

Zwar war der christliche Einfluss seit jeher in den leges präsent, waren doch Kleriker schon aufgrund ihres Bildungsstandes wichtige Ansprechpartner der gesetzgebenden Herrscher. In den leges des 8. Jahrhunderts gewannen diese amtskirchlichen Einflüsse dagegen mehr Kraft. So ist die lex Alamannorum in ihrem ersten Teil ganz der privilegierten Position der Kirche gewidmet, während der zweite Teil die überragende Stellung des alamannischen Herzogs herauszuarbeiten sucht. Dagegen verweist der dritte Teil mit Regelungen zum Unrechtsausgleich auf eine Vorstufe dieser lex, den pactus legis Alamannorum, der vermutlich auf den fränkischen Herrscher Chlothar II. (584–629) zurückgeht und die Rechtstraditionen des Frankenreiches in die lex Alamannorum übernimmt. In die Tradition der leges fügt sich auch der Prolog der lex: In den meisten Handschriften wird nämlich die Entstehung des Gesetzes auf eine Reichsversammlung gestützt und damit wiederum die Vorstellung vom wechselseitigen Zusammenwirken von Adel und Herrscher entfaltet. Im Blick auf die Erwähnung des alemannischen Herzogs Lantfried (712–730), dessen Name allerdings nach seinem Konflikt mit den Franken durch den Hinweis auf Chlotar II. ersetzt wurde, sah die Forschung für lange Zeit den alemannischen Herzog als Urheber der lex Alamannorum. Mittlerweile mehren sich allerdings die Stimmen, die für eine Fälschung plädieren, die vermutlich zwischen 735 und 740 im Kloster Reichenau entstand.

Sehr deutlich ebenfalls kirchlichen Interessen verpflichtet war auch die lex Baiuvariorum, deren Entstehungsumstände allerdings heftig umstritten sind, auch wenn der Synode von Aschheim 756 offenbar bereits ein Text dieser lex verfügbar war. Ebenso wie die lex Alamannorum in drei Abschnitte zur Kirche, zum Herzog und zu Regelungen für den Stamm allgemein gegliedert, lässt die lex Baiuvariorum ihre Nähe zur Amtskirche insbesondere mit der Bestimmung erkennen, Kleriker sollten secundum canones behandelt und damit der weltlichen Gewalt entzogen werden. Die Zielsetzung dieser Regelung und ihr Verweis ins Kirchenrecht, aber auch die Benutzung der Ethymologiae des Isidor von Sevilla im Prolog der lex sowie die sehr differenzierte Verwendung einer Abschrift des Codex Euricianus sprechen dafür, dass die lex von hochgebildeten Personen verfasst wurde, die auf eine Fülle von verschiedenen Textvorlagen zurückgreifen konnten. Das spricht für die neuerdings nochmals vorgetragene These, dass der Regeltext „ein geistiges Produkt juristisch gebildeter bayerischer Kleriker“ (Peter Landau) war. Gleichwohl bewegte sich auch dieser Text in der Tradition der leges, wenn etwa im Prolog auf die Bedeutung von gewählten viri sapientes verwiesen oder der auch beispielsweise im edictum Rothari deutlich werdende Gedanke der Rechtsverbesserung durch herrschaftliche Normgebung herausgehoben wurde.

c) Die karolingischen leges

Vermutlich in den Jahren um 802/‌803 entstanden auf Veranlassung Karls des Großen mit der lex Francorum Chamavorum, der lex Frisionum, der lex Saxonum sowie der lex Thuringorum vier Regeltexte für die vom Kaiser unterworfenen Völker. Diese in nur wenigen Manuskripten überlieferten Normen ergingen allerdings bereits in einer Phase, in der Karl mit den Kapitularien, gesetzesähnlichen und in capitula aufgeteilten Herrschaftsakten, einen bereits aus merowingischer Zeit bekannten Normtypus in den Vordergrund rückte. Bezeichnenderweise wurden jetzt auch leges durch Kapitulare ergänzt und fortgeschrieben (capitula legibus addenda). Der Erlass der vier leges, die vor allem auf die lex Salica und die lex Alamannorum zurückgriffen, war offenbar dem von Karl ausdrücklich formulierten Ziel der Verschriftlichung von Recht geschuldet, „damit die Richter nach geschriebenem Recht gerecht urteilen und nicht nach ihrem Gutdünken“ (ut iudices secundum scriptam legem iuste iudicent, not secundum arbitrium suum, Capitulare missorum generale, 802).

3. Die leges Anglo-Saxonum

Die im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen leges regelmäßig in der Volkssprache verfassten Gesetze der angelsächsischen Herrscher setzen etwa im Jahre 615 mit der Normgebung Aethelberts von Kent ein. Ähnlich wie auf dem Kontinent lässt sich dabei auch in der frühen angelsächsischen Normsetzung der Übergang von oral überlieferten Rechtsgewohnheiten zur verschriftlichten herrscherlichen Normativität beobachten. Dem entsprach auch der inhaltliche Schwerpunkt dieser Regelungen, die sich auf die Regelung von Fehde und Buße richteten. Dagegen rückte insbesondere unter Alfred dem Großen (871–901) und Knut von Dänemark (1020–1034) die hoheitliche, königliche Verfolgung von Unrecht in den Vordergrund: So wurden Bußzahlungen jetzt nicht mehr den Verletzten, sondern dem König geschuldet, zahlreiche Delikte wurden mit der Todesstrafe bedroht. Dieser prominenten Rolle des Herrschers entsprach die wachsende Bedeutung einer königlich dominierten Gerichtsbarkeit, die zu einer der wesentlichen institutionellen Grundlagen des common law werden sollte.

Literatur

Zu den kontinentaleuropäischen leges die entsprechenden Einzelartikel in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 1978, Sp. 1879 ff. sowie Hans-Jürgen Becker, Edictum Theoderici in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1971, Sp. 801 ff.; Clausdieter Schott, Der Stand der Leges-Forschung, in: Frühmittelalterliche Studien 13 (1979) 29 ff.; Harald Siems, Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen, 1992; Karl Kroeschell, Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: idem (Hg.), Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, 1995, 65 ff.; Patrick Wormald, The Making of English Law, 1999; Isabella Fastrich-Sutty, Die Rezeption des westgotischen Rechts in der Lex Baiuvariorum, 2001; Patrick Wormald, Leges Anglo-Saxonum, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 18, 2001, 205 ff.; zu den leges allgemein die Einzelartikel in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 18, 2001, 195 ff., 201 ff., 208 ff., 305 ff.; Peter Landau, Die Lex Baiuvariorum: Entstehungszeit, Entstehung und Charakter von Bayerns ältester Rechts- und Geschichtsquelle, 2004; Gerhard Dilcher, Eva-Marie Distler (Hg.), Leges – Gentes – Regna: Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, 2006 (für eine Übersicht s. die Rezension von Andreas Thier, in: Quaderni Fiorentini, 37 (2008) 564 ff.).

Quellen

Die Texte der kontinentaleuropäischen leges sind in der lateinischen Fassung am besten verfügbar in den Editionen der Monumenta Germaniae Historica; nähere Angaben zu den maßgeblichen Editionen in den Einzelartikeln des Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte und des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde zu den einzelnen leges. Deutsche Übersetzungen finden sich in der im Text erwähnten Reihe „Germanenrechte“, die, 1935 im Interesse der nationalsozialistischen Rechtspolitik begründet, 1955 mit einer „neuen Folge“ und überarbeiteten Einzelbänden einen Neuanfang machte. Die englische Normgebung ist ediert von Felix Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen, Bd. 1–3, 1903–1916. Eine deutsche Übersetzung der Texte bis 925 bei Karl August Eckhardt, Leges Anglo-Saxonum 601–925, 1958, ND. 1974. Eine Übersicht englischer Übersetzungen bei Patrick Wormald, Leges Anglo-Saxonum, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 18, 2001, 205 ff.

Abgerufen von Germanenrechte – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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