Corpus Juris Civilis: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr
1. Justinian und das Corpus Juris
Nach der Bibel kann das Corpus Juris Civilis als die einflussreichste Schrift in der Geschichte Europas gelten. Denn es war im Wesentlichen durch das Corpus Juris Civilis, dass das antike römische Recht die europäische Rechtstradition (die später auch auf viele außereuropäische Teile der Welt ausstrahlte) nachhaltig und charakteristisch geprägt hat (Rezeption).
Das Corpus Juris Civilis entstand im 6. Jahrhundert n. Chr. in Konstantinopel, der Hauptstadt des oströmischen Reiches; Westrom befand sich seit 476 unter germanischer Herrschaft. Es war Teil eines umfassenden Restaurationsprogramms Kaiser Justinians (527-565): Das alte imperium Romanum sollte als nunmehr christliches Weltreich glanzvoll wiedererstehen. Diesem Ziel dienten die Feldzüge, durch die jedenfalls vorübergehend Teile des ehemals weströmischen Reiches zurückgewonnen wurden, ihm dienten die monumentalen Bauten insbesondere in Konstantinopel und Ravenna, ihm diente eine auf einen Cäsaropapismus zielende Kirchenpolitik, und ihm diente das Gesetzgebungswerk, das (freilich erst seit der Gesamtausgabe des Dionysius Gothofredus von 1583) als Corpus Juris Civilis bekannt ist. Verwirklicht wurde es durch Justinians Justizminister Tribonian, der sich dabei auf eine in den oströmischen Rechtsschulen von Beryt und Konstantinopel wiederbelebte wissenschaftliche Tradition stützen konnte und der eine Reihe von Professoren dieser Rechtsschulen (Dorotheus, Theophilus) zur Mitarbeit heranzog.
2. Codex
Das justinianische Corpus Juris bestand aus drei Teilen, die alle als Gesetzbücher veröffentlicht und in Kraft gesetzt wurden: Institutionen, Digesten und Codex. Unter ihnen ist der Codex der, jedenfalls auf den ersten Blick, konventionellste Teil. Es handelt sich um eine Sammlung von Kaisergesetzen (constitutiones principis; deshalb auch: Kaiserkonstitutionen). Solche Sammlungen hatte es bereits in vorjustinianischer Zeit gegeben (darunter insbesondere den Codex Theodosianus von 438/439), und sie bildeten eine wichtige Grundlage für Tribonian und seine Kommission. Dieser (erste) Codex Justinianus entstand in den Jahre 528 und 529. Um ein Gesetzbuch im modernen Sinne des Wortes handelte es sich dabei nicht. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Konstitutionen nicht nur Regelungen allgemeiner oder grundsätzlicher Art enthielten, sondern auch eine Fülle von Reskripten, d.h. Entscheidungen des Kaisers (bzw. seiner Kanzlei) zu ihm vorgelegten Rechtsfällen.
3. Digesten
Das Hauptstück des Corpus Juris Civilis sind die Digesten (von digerere = ordnen, sammeln; der entsprechende griechische Begriff ist Pandekten, von πάν δέχεσαι = alles umfassen). Hierbei handelt es sich um eine gewaltige Sammlung von Auszügen („Fragmenten“) aus der juristischen Literatur des klassischen römischen Rechts. Tatsächlich bilden, da die klassischen Juristenschriften alsbald nicht mehr verfügbar waren, die Digesten die Hauptquelle unseres Wissens vom klassischen römischen Recht (und von seiner Entwicklung aus den republikanischen Ursprüngen; denn zum einen enthalten die Digesten auch einzelne Fragmente aus der Zeit der „Vorklassik“, zum anderen werden die republikanischen Juristen von ihren Nachfolgern häufig zitiert). Die von Tribonian gebildete und geleitete Kommission sichtete zu diesem Zweck fast 2.000 Bücher im Umfang von mehr als drei Millionen Zeilen. Ungefähr ein Drittel der in die Digesten aufgenommenen Fragmente stammt von dem spätklassischen Juristen Domitius Ulpianus, der ab 202 n. Chr. einige Jahre lang der kaiserlichen Kanzlei a libellis vorstand – er war damit für die Beantwortung privater Eingaben zuständig –, und der 222 als praefectus praetorio zum höchsten Reichsbeamten in Zivilverwaltung und Rechtsprechung ernannt wurde. Die Ordnung der Digesten folgt im Wesentlichen dem prätorischen Edikt, also einem historisch gewachsenen, ab dem Ende der Republik nicht mehr veränderten Dokument, das für die ordentliche Gerichtsbarkeit von zentraler Bedeutung war. Gegliedert sind die Digesten in 50 Bücher, die ganz überwiegend in Titel unterteilt sind, die ihrerseits die aneinandergereihten Fragmente enthalten. Jedem Fragment ist eine inscriptio vorangestellt, die den Verfasser und die Fundstelle angibt. Dem Schwerpunkt der römischen Jurisprudenz entsprechend, nimmt das Privatrecht (einschließlich Zivilprozess) auch in den Digesten den weitaus größten Raum, nämlich die Bücher 2-46, ein. Dass die Digesten als Gesetz erlassen wurden, erscheint für den modernen Juristen vor allem deshalb seltsam, weil die darin enthaltenen Fragmente der juristischen Literatur entstammten: Entscheidungssammlungen, Ediktskommentare, Gesamtdarstellungen des Zivilrechts oder einzelner Rechtsbereiche, Zusammenstellungen von Gutachten oder Disputationen, Monographien: ein buntes Sammelsurium von Texten unterschiedlichster Art.
Seit geraumer Zeit fragt sich die romanistische Forschung, wie ein derart umfangreiches und komplexes Werk in einem Zeitraum von nur drei Jahren (530-533) entstehen konnte. Als gesichert gilt heute die Massentheorie von Friedrich Bluhme. Sie beruht auf der Beobachtung, dass die Fragmente innerhalb der Digestentitel in bestimmter Weise geordnet sind. Den Kern einer ersten Gruppe bilden die Kommentarwerke der spätklassischen Autoren Ulpian und Paulus zu einer Darstellung des Zivilrechts durch den frühklassischen Juristen Massurius Sabinus (das ist die sog. „Sabinusmasse“); es folgen Exzerpte aus den Ediktskommentaren der Hoch- und Spätklassiker („Ediktsmasse“), aus den Responsen und Quaestionessammlungen des Papinian, Paulus und Ulpian („Papiniansmasse“) sowie gelegentlich noch aus vermischten anderen Schriften („Appendixmasse“). Bluhme nahm deshalb an, dass die Digestenkommission in drei Unterkommissionen aufgeteilt war, von denen jede für eine bestimmte „Masse“ der klassischen Schriften zuständig war; die Werke der Appendixmasse seien offenbar erst nachträglich herangezogen worden. Weitere Einzelheiten der Arbeitsweise der „Kompilatoren“ (von compilare = ausbeuten) und der Voraussetzungen ihrer Arbeit sind bis heute unklar geblieben. Haben sie sich auf einen privaten Vorläufer der Digesten (predigesto) oder auf andere nennenswerte Vorarbeiten aus dem Unterrichtsbetrieb der oströmischen Schulen stützen können? Derartige Thesen werden heute ebenso skeptisch beurteilt wie der ehrgeizige Versuch Tony Honorés, aufgrund umfassender Stilanalysen der zur Verfügung stehenden prosopographischen Daten und der Anwendung quantitativer Methoden die Zuordnung der Arbeitspensen zu individuellen Bearbeitern und Bearbeiterteams zu rekonstruieren.
4. Das Problem der Interpolationen
Die Digesten wurden Ende des Jahres 533 fertiggestellt. Die darin enthaltenen Fragmente entstammten jedoch einer lange versunkenen Zeit, denn die Epoche des klassischen römischen Rechts koinzidierte in etwa mit der des Prinzipats. Die großen spätklassischen Juristen Papinian und Ulpian starben 212 und 223 (der eine wurde auf Befehl des Caracalla hingerichtet, der andere vor den Augen des Alexander Severus ermordet); und die schweren Erschütterungen, denen das römische Reich nach dem Tod des letzten Kaisers der Severerdynastie (des soeben erwähnten Alexander Severus, 222-235) ausgesetzt war, bedeuteten dann das Ende der klassischen Jurisprudenz. Das für die Digesten „ausgebeutete“ Material war also mindestens dreihundert Jahre alt. Inzwischen hatten sich die Lebensverhältnisse grundlegend gewandelt. Wenn der christliche Kaiser Justinian in Konstantinopel nunmehr das ius vetus des heidnischen Rom sammeln ließ, zu einem sanctissimum templum iustitiae erhob und mit staatlichem Geltungsanspruch ausstattete, so war dies ein erstaunlicher, für den Klassizismus Justinians charakteristischer Vorgang. Doch bedurfte es gewisser Anpassungen. Der Arbeitsauftrag Tribonians (Constitutio Deo auctore = C. 1,17) bestand deshalb auch darin, veraltete Rechtsregeln und Rechtsinstitute zu beseitigen, Widersprüche zu tilgen sowie dazu gegebenenfalls in die Texte des klassischen Rechts einzugreifen und in ihnen Veränderungen vorzunehmen. Dies sind die berühmten (oder auch notorischen) Interpolationen. Dass die Digesten derartige interpolierte Texte enthalten, steht damit außer Frage. Zweifelhaft und jeweils von Fall zu Fall umstritten ist nur, in welchem Umfang dies der Fall ist. Die Problematik hatte über lange Perioden der europäischen Rechtsgeschichte hinweg – nämlich soweit und solange das römische Recht (und das heißt: das Recht des Corpus Juris Civilis) Grundlage der gemeinrechtlichen Jurisprudenz und damit für die praktische Rechtsanwendung bedeutsam war (ius commune) – nur geringe Bedeutung. Für das unverfälschte Recht der klassischen Zeit interessierten sich vor allem die Protagonisten des juristischen Humanismus des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, und es ist deshalb kein Wunder, dass sie die Interpolationenforschung begründeten (Jacobus Cuiacius, Antonius Faber). Von zentralem Interesse wurde das Thema dann wieder, als mit der sich abzeichnenden Kodifikation des Privatrechts in Deutschland die romanistische Forschung die römischen Rechtsquellen „unberührt durch gemeinrechtliche Anwendbarkeitsrücksichten und deren erdrückendes Übergewicht“ (Ernst Landsberg) in den Blick zu nehmen begann. Es setzte nun unter inhaltlichen wie stilistischen Aspekten eine großangelegte Suche nach den Veränderungen klassischer Juristentexte durch die Kompilatoren ein, um so das klassische römische Recht aus dem justinianischen herauszupräparieren (Fridolin Eisele, Otto Gradenwitz). Bis zum Jahre 1909 hatte die Interpolationenforschung einen derartigen Umfang angenommen, dass die Herausgeber der Romanistischen Abteilung der Savigny-Zeitschrift zur Erstellung eines Index interpolationum aufriefen, den dann, nach vielen Jahren der Vorbereitung, Ernst Levy und Ernst Rabel in Form eines dreibändigen Werkes ausführten (1929-35). Ganze Jahrgänge der Savigny-Zeitschrift wurden in jener Zeit von endlosen Nachweisen vermeintlich unklassischer Ausdrücke und Wendungen dominiert. Heute hat sich, vor allem unter dem Einfluss Max Kasers, wieder eine sehr viel konservativere, von deutlich stärkerem Vertrauen auf die Glaubwürdigkeit der Überlieferung geprägte Haltung durchgesetzt. Gleichzeitig wird heute aber auch angenommen, dass in gewissem Umfang bereits mit vorjustinianischen Überarbeitungen der klassischen Juristentexte zu rechnen ist (Textstufenforschung: Fritz Schulz, Franz Wieacker).
5. Institutionen
Für ein Gesetzbuch ebenso eigenartig wie die Digesten war der Inhalt des ersten Teils des Corpus Juris Civilis, der Institutionen. Denn die Institutionen waren ein amtliches Einführungslehrbuch des römischen Privat- und Zivilprozessrechts. Mit seiner Redaktion waren, wiederum unter der Leitung von Tribonian, die Professoren Theophilus (Konstantinopel) und Dorotheus (Beryt) betraut worden, und es wurde gegen Ende des Jahres 533, noch einige Wochen vor den Digesten, verkündet. Dass auch die Institutionen in vergleichsweise kurzer Zeit fertiggestellt werden konnten, lag daran, dass Theophilus und Dorotheus sich auf ein in der nachklassischen Zeit außerordentlich verbreitetes Lehrbuch stützen konnten, mit dem sie aus ihrem Unterrichtsbetrieb bestens vertraut waren: die aus der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. stammenden Institutionen des Provinzialjuristen Gaius (von Justinian als „Gaius noster“ bezeichnet). Die Vorzüge der Institutionen des Gaius, die auch die justinianischen Institutionen prägen, liegen in der klaren Sprache und in der didaktisch geschickten, auf das Wesentliche reduzierten Darstellungsweise, vor allem aber in dem Bemühen um eine systematische Aufbereitung des Lehrstoffes: „Das Neuartige und Einzigartige des Werks ist sein System“ (Wieacker) (Pandektensystem). Die obersten Positionen dieses Systems, das seine Spuren in so gut wie jeder modernen Privatrechtskodifikation hinterlassen hat, sind die Kategorien personae, res, actiones – also gewissermaßen das „Wer?“, das „Was?“ und das „Wie?“ des Rechts. „Res“ betrifft dabei das „Vermögen“ und umfasst Sachenrecht, Erbrecht und Schuldrecht. Gegenüber den Institutionen des Gaius neu gestaltet wurde vor allem das letzte der vier Bücher der justinianischen Institutionen: dies lag an der völligen Umgestaltung des Zivilprozesses gegenüber der klassischen Zeit. Bis heute prägt unsere Rechtsordnungen auch etwa die Unterteilung der Schuldverhältnisse in deliktische und vertragliche („summa divisio“), aber auch die ebenfalls schon auf Gaius zurückgehende Erkenntnis, dass es daneben weitere Schuldverhältnisse gibt („ex variis causarum figuris“ in einer überarbeiteten Fassung der Gaianischen Institutionen, quasi-vertragliche und quasi-deliktische Obligationen bei Justinian). Außer Gaius zogen die Redaktoren aber auch weitere Einführungsliteratur, Auszüge aus den Kommentaren der Digestenjuristen und die justinianischen Reformkonstitutionen aus den Jahren seit 528 heran.
6. Noch einmal: Codex
Durch diese Reformkonstitutionen und eine Sammlung von amtlichen Entscheidungen strittiger Rechtsfragen (Quinquaginta Decisiones, 530) war eine Überarbeitung des 529 verkündeten (Ersten) Codex erforderlich geworden. Sie führte dazu, dass Ende 534 der endgültige (Zweite) Codex in Kraft treten konnte, der seither den dritten Teil des justinianischen Gesetzgebungswerkes bildete. Er enthält insgesamt mehr als 4.600 Konstitutionen, die meisten aus der Zeit der Severerkaiser und Diokletians. Über 400 Konstitutionen stammen aus der Regierungszeit Justinians.
7. Novellen
Das Inkrafttreten des Codex bedeutete nicht das Ende der Reformgesetzgebung Justinians. Vielmehr hat der Kaiser auch in der Folgezeit seine Reformtätigkeit „in fast beängstigender Rastlosigkeit“ (Wieacker) fortgesetzt und dabei nicht zuletzt auch wichtige Teilbereiche des Privatrechts (vor allem des Familien- und Erbrechts) neu geordnet. Diese novellae leges (Novellen) wurden überwiegend in Griechisch, der neuen Amtssprache in Konstantinopel, abgefasst. Eine geplante amtliche Sammlung ist nicht mehr zustande gekommen; stattdessen sind uns nur einige private Sammlungen erhalten, insbesondere die Epitome Juliani (eine verkürzende Bearbeitung von 124 Gesetzen der Jahre 535-555 in lateinischer Sprache), das sog. Authenticum (eine Sammlung von 134 Novellen, ebenfalls in lateinischer Sprache; sie wurde im Mittelalter fälschlich für den Originaltext gehalten) und die sog. griechische Novellensammlung (sie gelangte erst nach dem Untergang von Byzanz/Konstantinopel in den Westen und enthielt ursprünglich 168 Novellen, von denen einige auch von Justinians Nachfolgern stammten). Im Mittelalter wurde noch eine unter dem Namen Libri Feudorum bekannte Sammlung des langobardischen („lombardischen“) Lehnsrechts in das Corpus Juris Civilis aufgenommen (Feudalrecht); außerdem wurde der Codex um drei Gesetze der Kaiser Friedrich I. und II. ergänzt (darunter die berühmte Authentica Habita, in der der Kaiser die Professoren und Studenten in Bologna unter seinen besonderen Schutz nahm).
8. Studienreform und Kommentierverbot
Gleichzeitig mit den Digesten verkündete Justinian im Dezember 533 eine umfassende Studienreform. Denn da hinfort nur noch die drei Teile des justinianischen Gesetzbuchs anzuwenden und zu befolgen waren – alles ältere Recht habe, so die Constitutio Tanta (= C. 1,17,2) „zu verstummen“ und trat damit außer Kraft –, mussten sie auch im Studienbetrieb an die Stelle der vorjustinianischen Rechtsliteratur treten: die Institutionen (anstelle der Institutionen des Gaius) sowie die Bücher 1-4 der Digesten im ersten Jahr, weitere Teile der Digesten in den Jahren zwei bis vier, und das Studium des Codex im fünften Jahr. Im Übrigen dekretierte Justinian, dass kein Rechtsgelehrter es in Zukunft wagen möge, den Digesten Kommentare hinzuzufügen „und durch seine Geschwätzigkeit die Kürze unseres Gesetzbuches zu verderben“. Erlaubt sein sollten nur Übertragungen ins Griechische, Hinweise auf Parallelstellen und kurze Inhaltsangaben. Bezog sich dies Kommentierverbot von vornherein nicht auf die Professoren an den staatlich autorisierten Rechtsschulen? Betraf es nur den Gebrauch von Erläuterungswerken vor Gericht? Oder galt das Verbot nur für das Schreiben von Kommentaren in die Gesetzbücher selbst? Wie dem auch sei, jedenfalls begannen tatsächlich noch in der Regierungszeit Justinians die ersten Kommentare zu erscheinen.
9. Überlieferung
In Ostrom (Byzanz) kam es nach einer Phase der erneuten Vulgarisierung zu einer Renaissance des justinianischen Rechts in mehrfach überarbeiteter und immer stärker gestraffter Form sowie in griechischer Sprache (ius Graeco-Romanum: Basiliken-Gesetzgebung, Hexabiblos). Im Westen blieben im Wesentlichen die Institutionen, der Codex und die Novellen bekannt. Mit der Wiederentdeckung und intellektuellen Aneignung der Digesten im späten 11. Jahrhundert begann, ausgehend von Bologna, die Geschichte der abendländischen Rechtswissenschaft (ius commune; Rezeption). Die einzige aus der Spätantike stammende, möglicherweise noch zu Lebzeiten Justinians entstandene Handschrift gelangte zunächst nach Pisa und wird seit 1406 in Florenz aufbewahrt (daher: littera Florentina). Von ihr verfügte man seit etwa 1080 in Bologna über eine heute verschollene Abschrift, den Codex Secundus; doch enthielt diese Abschrift auch Korrekturen und Ergänzungen aufgrund einer von der Florentina unabhängigen, ebenfalls nicht mehr erhaltenen Handschrift. Der Codex Secundus wurde zur Grundlage des mittelalterlichen Rechtsunterrichts und aller weiteren von Bologna aus verbreiteten Handschriften. Diese wurden kollektiv als littera Bononiensis oder Digestenvulgata bezeichnet und weisen mittelalterliche Textveränderungen auf. Seit dem 16. Jahrhundert folgen die Editionen der Digesten hauptsächlich der Florentina. Das gilt auch für die heute maßgebliche Ausgabe von Theodor Mommsen.
Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung der Frage, inwieweit die justinianische Gesetzgebung das klassische römische Recht widerspiegelt, ist das einzige Werk der klassischen römischen Literatur, von dem wir ein weitgehend erhaltenes Manuskript besitzen: die Institutionen des Gaius. Dieser Text wurde 1816 von Barthold Georg Niebuhr in der Kapitelbibliothek von Verona auf einem mit einem anderen Text überschriebenen Pergament (Palimpsest) entdeckt und ist seither zum großen Teil wieder lesbar gemacht worden.
Literatur
Fritz Schulz, Einführung in das Studium der Digesten, 1916; Leopold Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, 1953, §§ 78-86, 91; Max Kaser, Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, 1986; Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Bd. I, 1988 (§§ 6-8), Bd. II, 2006 (§§ 79-85); Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, 13. Aufl. 2001, § 11; Tony Honoré, Tribonian, 1978; Eltjo J.H. Schrage, Utrumque Ius: Eine Einführung in das Studium der Quellen des mittelalterlichen gelehrten Rechts, 1992, 15 ff.; Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian, 2005.
Quellen
Für den Text der Digesten ist grundlegend die große kritische Ausgabe von Theodor Mommsen, Digesta Iustiniani Augusti, Bd. I (1868), Bd. II (1870); für den Codex diejenige von Paul Krüger, Codex Iustinianus (1877). Darauf bruhen auch die entsprechenden Teile der heute regelmäßig benutzte Gesamtausgabe des Corpus Juris Civilis: Theodor Mommsen, Paul Krüger, Rudolf Schoell, Wilhelm Kroll, Corpus Juris Civilis, editio stereotypa, Bd. I: Institutionen und Digesten, 1872; Bd. II: Codex, 1877; Bd. III: Novellen, 1895; alle Bde. in verschiedenen Neuauflagen und Nachdrucken. Eine deutsche Übersetzung des Corpus Juris Civilis aufgrund der damals gebräuchlichen Texte ist Carl E. Otto, Bruno Schilling, Carl Friedrich Ferdinand Sintenis, Das Corpus Juris Civilis in's Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, Bde. I-VII, 1830-33 (Neudruck 1984); eine moderne deutsche Übersetzung (freilich bislang nur für Institutionen und die Digesten bis Buch 27) bieten Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Hans Hermann Seiler, Corpus Iuris Civilis, Text und Übersetzung, Bd. I (Institutionen), 2. Aufl. 1997 (Taschenbuchausgabe, 2. Aufl. 1999); Bd. II (Digesten 1-10), 1995; Bd. III (Digesten 11-20), 1999; Bd. IV (Digesten 21-27), 2005. Englische Übersetzungen: Peter Birks, Grant McLeod, Justinian’s Institutes, 1987; Theodor Mommsen, Paul Krüger, The Digest of Justinian (herausgegeben von Alan Watson), Bde. I-IV, 1985. Für die Institutionen des Gaius vgl. Emil Seckel, Bernhard Kübler, Gai institutionum commentarii quattuor, 8. Aufl. 1939; William M. Gordon, Olivia F. Robinson, The Institutes of Gaius, 1988; Ulrich Manthe, Gaius Institutionen, 2004.