Kapitalaufbringung und ‑erhaltung: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 16:47 Uhr
von Rainer Kulms
1. Regelungszweck
Zu den Kernmerkmalen der juristischen Person gehören ihre Rechtsfähigkeit, die auf das Gesellschaftsvermögen beschränkte Haftung und das durch die Aktien oder den Geschäftsanteil vermittelte Recht des Anteilseigners, Gewinnausschüttungen zu beziehen. Die nationalen Gesellschaftsrechte der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft haben – bei allen Unterschieden im Detail – eine Standardisierung der Rechte der Anteilseigner und des Verhältnisses zum Management herbeigeführt. Der Preis für eine Aktie oder einen Geschäftsanteil beschreibt das Maximum des unternehmerischen Risikos, das der Investor mit dem Erwerb einer Beteiligung eingeht. Die Gesellschaftsanteile sind grundsätzlich frei handelbar. Investoren können ausgewogene Portfoliostrategien entwickeln.
Mit der beschränkten Haftung verbinden sich besondere Risikoanreizprobleme, die die Interessen der Kapitalgeber und ‑eigner und der Gläubiger der Korporation in unterschiedlichem Umfang berühren. Indem die Anteilseigner bei Anteilserwerb den maximalen Verlust ihres „Einsatzes“ ermitteln können, verändert sich die individuelle Risikoabneigung. Gelingt es den Anteilseignern, das Risiko einer unternehmenspolitisch bedenklichen Entscheidung auf die Gläubiger umzulenken, stellt sich ein Zielkonflikt zwischen notwendigen Innovationsinvestitionen, unerwünschter Perpetuierung unrentabler Unternehmen und dem Gläubigerschutz ein. Die Gesellschaftsrechte der Mitgliedstaaten haben auf diese Herausforderung mit einem doppelten Sicherungsmechanismus reagiert. Vorschriften zur Aufbringung des satzungsmäßig festgelegten Kapitals werden durch Normen zur Kapitalerhaltung ergänzt. Im Ausgangspunkt ist es eine Frage der Praktikabilität, ob Korporationen auf ein gesetzliches Mindeststammkapital verpflichtet werden oder Haftungsregeln die Unterschreitung des durch Satzung festgelegten Grundkapitals sanktionieren. Hierbei sind auch Informationskosten zu reduzieren. Die Gläubiger können das mit einer Haftungsbeschränkung verbundene Risiko nur beherrschen, wenn sie in der Korporation einen Vertragspartner mit ausreichendem Eigenkapital vorfinden.
Normen über ein Mindeststammkapital lösen den potentiellen Gegensatz zwischen Anteilseignern und Gläubigern mit Hilfe einer property rule auf; Haftungsregeln entsprechen einer liability rule. Von dieser Unterscheidung sind gedanklich die Regelungsprobleme zu trennen, die bei Gesellschaften in Insolvenznähe auftreten. Soweit eine Insolvenzantragspflicht in Bezug zur Unterschreitung des gesetzlichen Mindeststammkapital gesetzt wird, ist der Gläubigerschutz von einer ex ante-Perspektive bestimmt. Haftungsnormen, die Handlungspflichten für in einer Gesellschaft Verantwortlichen begründen, greifen auf einen von einer ex post-Perspektive bestimmten Lösungsansatz zurück.
Die regulierungspolitische Diskussion in der Europäischen Gemeinschaft über das geeignete Instrumentarium verläuft zweigeteilt. Während die Zweite Richtlinie des Rates zur Koordinierung mitgliedstaatlicher Schutzbestimmungen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts vom 13.12.1976 (Zweite gesellschaftsrechtliche RL (RL 77/91) für Aktiengesellschaften am Konzept des gesetzlichen Mindeststammkapitals festhält, fehlt für Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) und Privatgesellschaften (Europäische Privatgesellschaft) eine vergleichbare Regelung auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts. Dort wird die Diskussion um die Kapitalaufbringung und ‑erhaltung wesentlich durch den vom EuGH ausgelösten Regulierungswettbewerb bestimmt.
2. Europäisches Recht (Aktiengesellschaften)
Die Zweite Gesellschaftsrechtliche RL verpflichtet die Aktiengesellschaften auf das Konzept des gesetzlichen Mindeststammkapitals. Zielgruppe der Richtlinie sind nach Art. 6(3) mittlere und größere Unternehmen. Die Begründungserwägungen stellen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den aktienrechtlichen Gründungsvorschriften, Regeln zur Kapitalaufbringung und ‑erhaltung und den Interessen der Aktionäre und der Gläubiger her. Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung sei ein Mindestmaß an Gleichwertigkeit beim dem Schutz der Aktionäre und der Gläubiger der Gesellschaft. Der Errichtungsakt der Gesellschaft müsse jedem Interessierten die Möglichkeit bieten, sich über die wesentlichen Merkmale der Gesellschaft und die genaue Zusammensetzung des Gesellschaftskapitals zu unterrichten.
Nach dem Verständnis der Richtlinie ist das Kapital der Aktiengesellschaft zugleich Eigenkapital und Risikokapital. Das Gesellschaftskapital soll als Sicherheit für die Gläubiger erhalten werden. Die Richtlinie setzt stillschweigend voraus, dass für die Normen des Mindeststammkapitals ein Regelungsbedarf besteht. Auch nach der Änderung der Zweiten Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie im Jahre 2006 hält das Europäische Gemeinschaftsrecht an dem Konzept des gesetzlichen Mindeststammkapitals für börsen- und nicht börsennotierte Aktiengesellschaften fest: Das gesetzliche Mindestkapital liegt bei EUR 25.000,- doch können die Mitgliedstaaten höhere Mindestbeträge festsetzen. Die Satzung oder das Gründungsprotokoll geben an, in welchem Umfang das gezeichnete Kapital tatsächlich eingezahlt worden ist. Zum Zeitpunkt der Geschäftsaufnahme der Aktiengesellschaft müssen mindestens 25 % des Nennbetrags der Aktien eingezahlt sein. Sacheinlagen sind zulässig. Ausschüttungen an die Aktionäre sind an eine zweifache Bedingung geknüpft: Dividenden und Zinsen für Aktien dürfen nur gezahlt werden, wenn sie das Ergebnis des letzten abgeschlossenen Geschäftsjahres nicht unterschreiten. Dabei ist der Betrag des Ergebnisses um den Gewinnvortrag und die Entnahmen aus früheren Rücklagen zu erhöhen, während Verluste aus früheren Jahren und Beträge für Rücklagen ergebnismindernd wirken. Aktionäre, die eine Ausschüttung empfangen, sind zur Rückzahlung verpflichtet, wenn der Nachweis gelingt, dass ihnen der Verstoß gegen die Ausschüttungsregeln bekannt war oder sie nach den Umständen hiervon Kenntnis haben mussten. In der Vergangenheit waren diese Regeln in Bezug zu den nationalen Bilanzierungsvorschriften zu setzen. Faktisch entschieden der Stellenwert des Gläubigerschutzes und der Wunsch nach Transparenz gegenüber potentiellen Investoren, in welchem Umfang in den einzelnen Mitgliedstaaten bei der Gewinnermittlung drohende Verbindlichkeiten und noch nicht realisierte Erträge berücksichtigt werden durften. Mit der Einführung der International Accounting Standards (International Financial Reporting Standards) haben sich die Gewichte verschoben. Gegenwärtig wird diskutiert, ob der von den International Accounting Standards ausgehenden Tendenz zur verstärkten Aktivierung mit bilanziellen Ausschüttungssperren oder einem weitergehenden Solvenztest zu begegnen ist. Droht der Verlust des gezeichneten Kapitals, hat eine Hauptversammlung zu prüfen, ob die Gesellschaft aufzulösen ist oder andere Maßnahmen – etwa eine Kapitalerhöhung – einzuleiten sind. Eigene Aktien darf die Gesellschaft nur unter eng umschriebenen Voraussetzungen zurückkaufen. Einlagen auf Aktien, die anlässlich einer Kapitalerhöhung ausgegeben werden, müssen ebenfalls in Höhe von mindestens 25 % des Nennbetrags geleistet werden.
Die Zweite gesellschaftsrechtliche RL hat sich nicht zum Ziel gesetzt, für Aktiengesellschaften das Recht der Kapitalaufbringung und ‑erhaltung abschließend zu regeln. Nationale Normen, die das Verbot der Einlagenrückgewähr konkretisieren, bleiben zulässig. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass vermeintliche oder tatsächliche Schutzdefizite nicht automatisch einen Freiraum zur Fortentwicklung von Schutzkonzeptionen eröffnen, die sich aus der Sicht einzelner Mitgliedstaaten bewährt haben. Auch das Fehlen geschriebener gemeinschaftsrechtlicher Normen auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts eröffnet den Regulierungswettbewerb zwischen den nationalen Rechtsordnungen. Selbst wenn Pfadabhängigkeiten einen derartigen Wettbewerb im Hinblick auf Aktiengesellschaften hemmen sollten, nimmt auf nationaler Ebene der Rechtfertigungsdruck gleichwohl zu, sobald einseitige Maßnahmen die Wettbewerbsposition einer nationalen Gesellschaftsrechtsordnung zu schwächen drohen. Nicht zufällig heben die Begründungserwägungen der Richtlinie zur Änderung der Zweiten Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie ausdrücklich die Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit als Politikziel neben dem Aktionärs- und Gläubigerschutz hervor.
3. Gesellschaften mit beschränkter Haftung und andere Privatgesellschaften
Indem die Zweite gesellschaftsrechtliche RL Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Privatgesellschaften aus ihrem Anwendungsbereich herausnimmt, lässt sie den nationalen Gesellschaftsrechtssystemen großen Spielraum für eigenständige Entwicklungen. Im Bereich der privaten, nicht börsennotierten Gesellschaften hat sich lange Zeit ein Status quo zwischen mehreren Formen der Kapitalaufbringung und ‑erhaltung erhalten, der von Pfadabhängigkeit und nationalen Gesellschaftsrechtstraditionen geprägt ist. Dem kontinentaleuropäischen System der Kapitalaufbringung und ‑erhaltung auf der Grundlage eines gesetzlich festgelegten Mindeststammkapital stand das englische System des Kapitalschutzes bei der Private Limited Company gegenüber, das auf ein gesetzliches Mindeststammkapital verzichtet und sich im wesentlichen auf Solvenztests und die Sanktionsmechanismen der wrongful trading-Regel bei Insolvenznähe verlässt. Erst die Centros-Rechtsprechung des EuGH (Rs. C-212/97 – Centros, Slg. 1999, I-1459; Rs. C-208/00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919; Rs. C-167/01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10159) zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften hat Bewegung in die europäische Diskussion um den Kapitalschutz gebracht. So haben die Niederland mit der jüngsten Reform des Rechts der Besloten Vennootschap (B.V.) das gesetzliche Mindestkapital abgeschafft. Nunmehr sichert ein kombinierter Bilanz- und Solvenztest das Kapital und die Interessen der Gläubiger. Haftungsrechtliche Normen, die sich aus einer ex post-Perspektive an die Verantwortlichen der Gesellschaft wenden, sollen Kapitalschutz gewährleisten. Ähnliche Überlegungen liegen dem Kommissionsentwurf für eine Europäische Privatgesellschaft zugrunde. Die Novelle zum deutschen GmbH-Recht aus dem Jahre 2008 hält zwar noch an dem gesetzlichen Mindeststammkapital für ‚reguläre’ Gesellschaften fest, lockert aber gleichzeitig das Konzept des Kapitalschutzes durch property rules auf, indem sie auch Unternehmergesellschaften zulässt, die erst im Laufe der Zeit ein ausreichendes Haftkapital aufbauen. Im Hinblick auf die Entwicklungen in den Niederlanden und im englischen Recht ist festzuhalten, dass auch das deutsche Recht zögernd erste Schritte in Richtung auf einen Solvenztest unternimmt, um die Verantwortlichkeiten der Geschäftsführung bei Insolvenznähe einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu präzisieren.
4. Ausblick
Das Statut über die Societas Europaea (Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea)Europäische Aktiengesellschaft) verzichtet nicht auf das Konzept des gesetzlichen Mindeststammkapitals. Die Begründungserwägungen zu dem Statut führen aus, mit Hilfe eines Mindeststammkapitals in Höhe von EUR 120.000,- solle eine sinnvolle Unternehmensgröße für gemeinschaftsweit tätige Unternehmen sichergestellt werden, ohne für kleinere und mittlere Unternehmen die Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft zu erschweren. Der Entwurf für ein Statut für die Europäische Privatgesellschaft gibt dagegen das Konzept des gesetzlichen Mindeststammkapitals auf. Hierbei geht es vordergründig nur um die Frage, ob sich getrennte Normen für börsen- und nicht börsennotierte Unternehmen empfehlen. Im Kern sind an dieser Stelle die Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsrecht und Insolvenzschutz zu untersuchen.
Die von der Europäischen Kommission eingesetzte hochrangige Expertengruppe auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts kritisiert, ein gesetzlich festgelegtes Mindeststammkapital gebe nur sehr ungenau Aufschluss über die Fähigkeit eines Unternehmens, seine Schulden zu bezahlen. Überdies ließen die Veränderungen in den Rechnungslegungsgrundsätzen immer weniger eine Schlussfolgerung zu, in welchem Umfang ein Unternehmen aktuelle und künftige Verbindlichkeiten bezahlen könne. Der Befund der Expertengruppe gipfelt in dem Vorschlag, ein alternatives System zum Schutz der Gläubiger und Aktionäre zu erarbeiten. An die Stelle des Mindestkapitalkonzepts solle eine Solvenzprüfung treten, die Ausschüttungen an die Aktionäre nur zulasse, wenn die Zahlungsfähigkeit eines Unternehmens nicht gefährdet sei. Einer Solvenzprüfung solle jede Ausschüttung von Dividenden und andere Zahlung (einschließlich der Aktienrückkäufe und Kapitalherabsetzungen mit Rückzahlungen an Aktionäre) unterworfen werden. Dabei setze sich eine derartige Solvenzprüfung aus zwei Elementen zusammen: Die Prüfung der Bilanz und des Nettovermögens sei um eine Liquiditätsprüfung oder einen Vergleich des Umlaufvermögens mit den kurzfristigen Verbindlichkeiten zu ergänzen. Prononcierter fällt der Befund einer interdisziplinären Arbeitsgruppe unter der Leitung von Jonathan Rickford zur Reform der gesetzlichen Mindestkapitalbestimmungen für Aktiengesellschaften aus: Faktisch würden die Gläubiger sich nicht auf die Einhaltung der Vorschriften zum Kapitalschutz verlassen, da die heutigen Rechnungslegungsvorschriften keine genaue Entscheidungsgrundlage mehr für Ausschüttungsentscheidungen lieferten. Stattdessen wird – ähnlich wie schon von der Hochrangigen Expertengruppe – die Einführung eines zweistufigen Solvenztests vorgeschlagen, der die Zahlungsfähigkeit angesichts der Kreditverpflichtungen und der laufenden Verbindlichkeiten für das folgende Geschäftsjahr überprüft. Langfristig wird das Gemeinschaftsrecht auch für Aktiengesellschaften die Trennung zwischen Gesellschaftsrechts und Insolvenzrecht überwinden müssen, um durch liability rules die in einer Korporation Verantwortlichen auf einen wirksamen Kapitalschutz zu verpflichten. Diese haftungsrechtlichen Zusammenhänge werden von der rechtswissenschaftlichen Diskussion auch in den Mitgliedstaaten anerkannt, die sich traditionell dem Konzept des festen Kapitals verpflichtet fühlen. Einer Abkehr vom System des festen Kapitals wird mit einer Kosten-Nutzen-Analyse begegnet. Unter Hinweis auf die traditionelle Verankerung des festen Kapitals in den romanischen und germanischen Rechten wird dessen Beitrag zur soliden Unternehmensführung hervorgehoben. Die Präventivfunktion des Grundkapitals wird als erhaltungsbedürftig verteidigt, die ihren Ausdruck in Ausschüttungssperren und Handlungspflichten der Unternehmensführung bei Insolvenznähe finden soll.
Literatur
Jaap Winter, José Maria Garrido Garcia, Klaus J. Hopt, Jonathan Rickford, Guido Rossi, Jan Schans Christensen, Joelle Simon (The High Level Group of Company Law Experts) (Hg.), Report on A Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe, 2002; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002; Stefan Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004; Jonathan Rickford (Hg.), Reforming Capital – Report of the Interdisciplinary Group on Capital Maintenance, European Business Law Review 15 (2004) 920 ff.; Mathias Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006; Marcus Lutter (Hg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, Sonderheft 17 (2006); Ulrich Seibert, Close Corporations: Reforming Private Company Law, European Business Organization Law Review 8 (2007) 83 ff.; Peter Hommelhoff, Die „Europäische Privatgesellschaft“ am Beginn ihrer Normierung, 2007; Ulrich Noack, Michael Beurskens, Modernising the German GmbH, European Business Organization Law Review 9 (2008) 97ff.; Horst Eidenmüller, Wolfgang Schön (Hg.), The Law and Economics of Creditor Protection, 2008.