Grundfreiheiten (allgemeine Grundsätze): Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 16:15 Uhr
von Oliver Remien
1. Entwicklung und Bedeutung
Die Grundfreiheiten sind mit ihrer grenzöffnenden Wirkung ein Kernelement des europäischen Binnenmarktes und sind für das ganze Recht in Europa und den Mitgliedstaaten bedeutsam. Ihre Einteilung ist umstritten, doch werden zumeist Warenverkehrsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit als Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit unterschieden. Daneben ist inzwischen das nach Art. 18 EG/21 AEUV aus der Unionsbürgerschaft fließende Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger getreten, welches auch privatrechtlich relevant ist. In der Rechtsprechung des EuGH hat sich weithin eine allgemeine Systematik der Grundfreiheiten entwickelt, wobei die Warenverkehrsfreiheit zunächst die Leitrolle spielte. Grundlage ist die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundfreiheiten (EuGH Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1) mit der Maßgabe, dass der Einzelne sich auf sie berufen kann und entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht nicht angewandt werden kann (EuGH Rs. 6/64 – Costa/ENEL, Slg. 1964, 125). Die Anwendung von Rechtsnormen, und zwar gerade auch solchen der Mitgliedstaaten, unterliegt daher in Binnenmarktfällen der Kontrolle des EuGH anhand der primärrechtlichen Grundfreiheiten. Die Anwendung den Binnenmarkt unangemessen beeinträchtigender Rechtsnormen wird damit ausgeschaltet. Insofern wird zuweilen von Negativintegration gesprochen, als Gegenbild zur Rechtsangleichung als Positivintegration. Grundfreiheitenkontrolle und Rechtsangleichung sind grundsätzlich auf das gleiche Ziel gerichtet, den europäischen Binnenmarkt, und stehen zueinander im Verhältnis kommunizierender Röhren. Ist eine Rechtsangleichung erfolgt, liegt jedoch infolge einer Mindestklausel eine strengere nationale Maßnahme vor, so können noch die Grundfreiheiten greifen. Für das Privatrecht entstehen vor allem die zwei besonderen Fragen der Bindung Privater an die Grundfreiheiten und der Überprüfung von Privatrechtsnormen, ggf. auch Kollisionsnormen, anhand der Grundfreiheiten.
2. Adressat und Struktur
Adressat der Grundfreiheiten sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, denen gegenüber sie zu Abwehrrechten und sogar Schutzrechten (EuGH Rs. C-265/95 Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959; EuGH Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659) führen. Die Abgrenzung gegenüber privaten Beeinträchtigungen erfolgt funktional (EuGH Rs. 249/81 – Buy Irish, Slg. 1982, 4005; EuGH Rs. C-16/94 – Dubois, Slg 1995, I-2421). Wird eine privatrechtliche Vereinbarung Gegenstand eines Gesetzes, so ist sie als nationale Maßnahme anzusehen (EuGH Rs. C-112/05 – Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rn. 26). Auch die Gemeinschaft selbst und ihre Organe sind an die Grundfreiheiten gebunden (schon EuGH Rs. 212/82 – Kommission/Rat, Slg. 1983, 4063, 4075; EuGH Rs. 15/83 – Denkavit, Slg. 1984, 2171). Eine Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit ist trotz zweifelhafter Wendungen (EuGH Rs. 58/80 – Dansk Supermarket, Slg. 1981, 181, Rn. 17) ausdrücklich abgelehnt worden, für Vereinbarungen zwischen Unternehmen gelten vielmehr die Wettbewerbsregeln der Art. 81 ff. EG/101 ff. AEUV (EuGH Rs. 65/86 – Bayer AG, Slg. 1988, 5249, Rn. 11 ff.). Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit hat der EuGH für besondere Konstellationen die Bindung Privater anerkannt, so im Hinblick auf private Satzungen nationaler Sportverbände (Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921; verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège, Slg. 2000, I-2549), Tarifverträge und kollektive Arbeitskampfmaßnahmen von Gewerkschaften (Rs. C- 341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767; EuGH Rs. C-438/05 – International Transport Workers’ Federation/ Viking Line, Slg. 2007, I-10779, Rn. 57 ff.). Auch hinsichtlich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung gibt es entsprechende Anzeichen (EuGH Rs. 251/83 – Haug Adrion, Slg. 1984, 4277). In der Literatur wird gelegentlich von „intermediären Gewalten“ gesprochen, die eine Art Rechtsetzungsmacht haben und damit auch an die Grundfreiheiten gebunden sind. Davon abgesehen ist die Drittwirkung grundsätzlich zu verneinen, sie würde stark in die Privatautonomie eingreifen. In der Literatur finden sich Erwägungen dazu, inwieweit aus für die Mitgliedstaaten entstehenden Schutzpflichten eine mittelbare Drittwirkung folgen kann. Auf die Grundfreiheiten berufen können sich nach dem EuGH nicht nur die Anbieter etwa von Waren oder Dienstleistungen, sondern auch die Nachfrager (EuGH Rs. 286/82 und 26/83 – Luisi und Carbone, Slg. 1989, 195, Rn. 15; EuGH Rs. 362/88 – GB-INNO-BM, Slg. 1990, I-667). Führt man dies konsequent durch, so kann es zu Kollisionen von Grundfreiheiten kommen.
Die Struktur der Grundfreiheiten ist annähernd einheitlich – man spricht von der Konvergenz der Grundfreiheiten (Peter Behrens) – und mehrgliedrig, je nach Aufteilung zwei-, drei- oder viergliedrig. Hinsichtlich des Anwendungsbereichs sind zunächst der Vorrang des Sekundärrechts, der sachliche Schutzbereich der einzelnen Grundfreiheiten und deren Abgrenzung voneinander, ggf. nach dem Schwerpunkt der Betätigung (EuGH Rs. C-275/92 – Schindler, Slg. 1994, I-1039) zu beachten. Ferner gilt das – manchmal großzügig gehandhabte – Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs im Binnenmarkt (etwa EuGH Rs. C-332/90 – Steen, Slg. 1992, I-341, 365; EuGH Rs. C-23/93 – TV 10, Slg. 1994, I-4795; EuGH Rs. C-415/93 – Bosman Slg. 1995, I-4921) – bei der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 EG/63 AEUV sogar zu Drittstaaten. Bei reinen Inlandssachverhalten greifen die Grundfreiheiten nicht. Dies kann zu Inländerdiskriminierung führen und zugleich einen nationalen Deregulierungsdruck ausüben. Zudem gibt es besondere Bereichsausnahmen, namentlich für die „Ausübung öffentlicher Gewalt“, Art. 45(1), 55 EG/51(1), 62 AEUV. Auf die Staatsangehörigkeit des Berechtigten stellt nur Art. 49 EG/56 AEUV ausdrücklich ab.
Ein Eingriff in die Grundfreiheit liegt zunächst bei einer unterschiedlichen Behandlung gegenüber Inländern vor, die Grundfreiheiten gebieten also die Inländergleichbehandlung und sind gegenüber Art. 12 EG/18 AEUV speziellere Diskriminierungsverbote. Verboten sind offene (= unmittelbare) wie versteckte (= mittelbare) Diskriminierungen. Darüber hinaus enthalten die Grundfreiheiten aber auch Beschränkungsverbote. Grundlegend ist die zur Warenverkehrsfreiheit entwickelte, aber auf die anderen Freiheiten dann übertragene Dassonville-Formel: „jede Handelsregelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“ (EuGH Rs. 8/74 – Dassonville, Slg. 1974, 873, Rn. 5). Grundsätzlich können auch Privatrechtsregeln solche Handelsregelungen sein. Eingeschränkt wird die Dassonville-Formel durch die berechtigte, aber umstrittene Keck-Rechtsprechung. Nach dieser ist „entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten … zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“ (EuGH verb. Rs. C-267 und 268/91 – Keck, Slg. 1993, I-6097). Der Marktzugang wird dann nicht behindert. Dies führt wohl zu einer Unterscheidung nach produktbezogenen und – „Verkaufsmodalitäten“ – vertriebsbezogenen Regeln. Über die Bedeutung für die Privatrechtskontrolle wird gestritten (näher unten 3.). Keck ist wohl auf die anderen Grundfreiheiten zu übertragen.
Ein Eingriff in eine Grundfreiheit kann gerechtfertigt sein durch geschriebene Rechtfertigungsgründe (Art. 30, 39(3), 46 i.V.m. 55, 57–59 EG/36, 45(3), 52 i.V.m. 62, 64–66 AEUV) und – sofern keine unmittelbare Diskriminierung vorliegt (EuGH Rs. 46/76 – Bauhuis, Slg. 1977, 5) – nach der Cassis de Dijon-Formel (EuGH Rs. 120/78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649) durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses: nach dem EuGH müssen „in Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“ (ebenda Rn. 8; ferner Umweltschutz, EuGH Rs. 302/86 – Kommission/Dänemark – Pfandflaschen, Slg. 1988, 4607). Auch Grundrechte können ein Rechtfertigungsgrund sein (etwa EuGH Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74; EuGH Rs. C-36/02 – Omega, Slg. 2004, I-9609, Rn. 35).
Sind die Rechtfertigungsgründe Schranken der Grundfreiheit, so unterliegen sie doch selbst Schranken (im deutschen Schrifttum sog. „Schranken-Schranken“), insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Maßnahmen müssen daher geeignet und erforderlich sein, die Angemessenheit hat in der Rechtsprechung nur eine geringe Bedeutung, vor allem bei Kollisionen mit Grundrechten oder Bindung privater Organisationen. Nicht erforderlich ist eine Maßnahme insbesondere dann, wenn dem Allgemeininteresse bereits durch gleichwertige Maßnahmen im Herkunftsstaat Rechnung getragen wird, insoweit ist hier primärrechtlich ein Herkunftslandprinzip angelegt, das aber nicht schrankenlos gilt. Bei der Erforderlichkeitsprüfung ist der EuGH tendenziell recht strikt, so dass eine Rechtfertigung oft verneint wird.
3. Privatrechtsnormen und Grundfreiheiten
Auch privatrechtliche Normen können entgegen vereinzelten Stimmen der Literatur der Kontrolle anhand der Grundfreiheiten unterliegen, der EGV unterscheidet insoweit nicht zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht. Verschiedenste Einzelfragen des Privatrechts sind bereits vom EuGH analysiert worden, indes stets punktuell. Die Einzelheiten sind jedoch sehr umstritten und in der Rechtsprechung des EuGH noch wenig entfaltet.
Im Privatrecht stellt sich zudem – anders als im meist territorial bezogenen Öffentlichen Recht – in der Regel zunächst die Kollisionsrechtsfrage, also die Anknüpfung nach internationalem Privatrecht. Schon Kollisionsnormen können wohl gegen Grundfreiheiten verstoßen. Einige Stimmen der Literatur haben sogar versucht, aus den Grundfreiheiten klare Kollisionsregeln abzuleiten, etwa ein Herkunftslandprinzip, einen favor offerentis, doch hat sich dies zu Recht nicht durchgesetzt; die Anerkennung der Grundfreiheiten als Nachfragerfreiheiten und die stete Möglichkeit der Rechtfertigung sprechen dagegen. Wenn die Kollisionsnorm mit den Grundfreiheiten vereinbar ist, so bedeutet dies entgegen einer in der Literatur recht vereinzelt vertretenen Auffassung noch nicht, dass die Anwendung der Sachnorm grundfreiheitenrechtlich zulässig wäre. Vielmehr können sowohl Kollisionsnorm wie Sachnorm an den Grundfreiheiten zu messen sein, die Zulässigkeit der Kollisionsnorm immunisiert die Sachnorm nicht, maßgebend ist das Resultat. Umstritten ist aber, ob nur international zwingende Normen oder auch international oder national dispositive Normen einen Eingriff in die Grundfreiheiten darstellen können. In Alsthom Atlantique hat der EuGH (Rs. C-399/89, Slg. 1991, I-107) in einem dictum einen Eingriff wegen der Möglichkeit der Rechtswahl abgelehnt (Rn. 15: „Im übrigen steht es den Parteien eines internationalen Kaufvertrags im allgemeinen frei, das auf ihre Vertragsbeziehungen anwendbare Recht zu bestimmen und so die Unterwerfung unter das französische Recht zu vermeiden.“). Dies scheint richtig, da durch die Rechtswahl die Beschränkung in die Hand der Parteien gelegt wird, ist jedoch sehr umstritten. Eingriffsnormen sind sicher einer Grundfreiheitenkontrolle zu unterziehen. Sehr umstritten ist die Bedeutung der Keck-Rechtsprechung zu den Verkaufsmodalitäten. Während manche annehmen, dass Privatrechtsnormen zwar nicht immer, aber oft Verkaufsmodalitäten darstellen, wird dies von anderen bestritten. Eine sorgsame Betrachtung ist angebracht.
Klare Grundfreiheitenverstöße können bei diskriminierenden Privatrechtsnormen vorliegen, die aber selten sind. Für das Zivilprozessrecht ist dies in der Rechtsprechung für die Ausländersicherheit (EuGH Rs. C-20/92 – Hubbard, Slg. 1993, I-3777) und den Arrestgrund der Auslandsvollstreckung (EuGH Rs. C-398/92 – Hatrex, Slg. 1994, I-467) bejaht worden. Auch bei Sachrechtsnormen ist es nicht ausgeschlossen, etwa bei der Beschränkung tauglicher Bürgen auf im Inland Ansässige nach § 239 BGB. Wenn bei der AGB-Kontrolle oder der Vermittlung von Pauschalreisen für Parteien mit ausländischer Niederlassung strengere Regeln gelten wie in den Niederlanden, so dürfte das eine Diskriminierung sein. Sogar in der Befristung der Arbeitsverträge von – in der Regel ausländischen – Fremdsprachenlektoren hat der EuGH eine versteckte Diskriminierung gesehen (EuGH Rs. 33/88 – Allué, Slg. 1989, 1591 ff.). Noch problematischer ist das Beschränkungsverbot.
Durch die Fortentwicklung der Grundfreiheiten zum Beschränkungsverbot überholt sein dürfte die Entscheidung in der Sache Koestler, in der der EuGH die Nichtdurchsetzbarkeit von Schulden aus Differenzgeschäften nach damaligem deutschen Recht nicht als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angesehen hatte (EuGH Rs. 15/78, Slg. 1978, 1971, 1980, Rn. 5). Die Anordnung einer bloßen Naturalobligation greift nach heutigem Verständnis aber in die Grundfreiheiten ein. Für gesetzliche Verbote gilt dies gewiss, aber es ist stets die Rechtfertigung zu prüfen und bei Fragen der Sittenwidrigkeit (Sitten- und Gesetzwidrigkeit von Verträgen) – wie etwa Zwergenweitwurf (Benutzung kleinwüchsiger Menschen als Wurfobjekte zwecks Belustigung), Prostitution, Telefonsex, Leihmutterschaft etc. – fraglich, inwieweit ein mitgliedstaatlicher Spielraum besteht (vgl. EuGH Rs. C-36/02 – Omega, Slg. 2004, I-9609). Vorvertragliche Haftung wegen Verletzung einer Informationspflicht über Schwierigkeiten mit Garantieleistungen bei Parallelimporten hat der EuGH in CMC Motorradcenter als zu ungewiss und zu mittelbar für einen Grundfreiheiteneingriff angesehen (EuGH Rs. C-93/92 – CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009). International dispositive Leistungsstörungsvorschriften sind in Alsthom Atlantique nicht an der Warenverkehrsfreiheit gemessen worden, bei international zwingenden Normen würde sich die Frage der Verkaufsmodalitäten stellen. Preisregelungen sind vom EuGH unterschiedlich behandelt worden, zunächst fast freigestellt worden (EuGH Rs. 82/77 – van Tiggele, Slg. 1978, 25, Rn. 16/20; EuGH verb. Rs. 177 und 178/82 – van de Haar, Slg. 1984, 1797), verschiedentlich beanstandet oder als Eingriff angesehen worden, so die französische Buchpreisbindung (EuGH Rs. 229/83 – Leclerc, Slg. 1985, 1) und italienische Mindesthonorarvorschriften für gerichtsbezogene Anwaltsdienstleistungen (EuGH verb. Rs. C-94 und 202/04 – Cipolla, Slg. 2006, I-11421, evtl. Rechtfertigung); in Deutschland stellt sich die Frage bei Architektenhonoraren. Ein bankrechtliches Verbot der Verzinsung von Sichteinlagen soll die Niederlassungsfreiheit verletzen (EuGH Rs. C-442/02 – Caixa Bank France, Slg. 2004, I-8961). Ein Verbot der Kreditkartennummeranforderung vor Ablauf der Widerrufsfrist (Widerrufsrecht) soll die Ausfuhrfreiheit nach Art. 29 EG/35 AEUV verletzen, ein Verbot des Verlangens einer Anzahlung oder Zahlung nicht (EuGH Rs. C-205/07 – Gysbrechts, EuZW 2009, 115).
Bezüglich des Sachenrechts ist die Missachtung eines deutschen Eigentumsvorbehalts durch eine niederländische Pfändungsvorschrift zur Einziehung direkter Steuern vom EuGH nicht als Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit gesehen worden (EuGH Rs. C-69/88 – Krantz, Slg. 1990, I-583). In der Literatur ist hingegen versucht worden, aus der Warenverkehrsfreiheit des Art. 28 EG/34 AEUV weitreichende Folgerungen für das Kreditsicherungsrecht zu ziehen. Hinsichtlich des Gesellschaftsrechts im Binnenmarkt hat der EuGH seit Centros umfassende Folgerungen aus der Niederlassungsfreiheit für richtig gehalten. Auch Geschäftsbezeichnung oder Firma sind zu nennen (Rs. C-255/97 – Pfeiffer, Slg. 1999, I-2835).
Im Lauterkeitsrecht haben die Grundfreiheiten zunächst weitreichende Wirkung entfaltet, so beim Verbot der Werbung unter blickfangmäßiger Herausstellung des Preisvergleichs (EuGH Rs. C-126/91 – Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361), doch wird gerade hier oft die Keck-Rechtsprechung zu den Verkaufsmodalitäten eingreifen. Das Verbot des Verkaufs unter dem Einstandspreis (EuGH verb. Rs. C-267 und 268/91 – Keck, Slg. 1993, I-6097) hat der EuGH nicht als Beschränkung angesehen. Lauterkeitsrecht kann aber durchaus auch produktbeschränkend wirken (EuGH Rs. C-315/92 – Clinique, Slg. 1994, I-317 und andere). Beim geistigen Eigentum hat der EuGH aus der Warenverkehrsfreiheit für mitgliedstaatliche Schutzrechte den Grundsatz der gemeinschaftsweiten Erschöpfung hergeleitet (EuGH Rs. 78/70 – Deutsche Grammophon, Slg. 1971, 487, Rn. 11 f.).
Arbeitskampfrechtliche Regelungen hat der EuGH ebenfalls an den Grundfreiheiten gemessen (EuGH Rs. C-341/05 – Laval, Slg. 2007, I-11767; EuGH Rs. C-438/05 – International Transport Workers’ Federation/Viking Line, Slg. 2007, I-10779). Den Ausschluss eines Anspruchs auf „Abfertigung“ bei Eigenkündigung durch den Arbeitnehmer in Österreich hat der EuGH nicht als Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gewertet (EuGH Rs. C-190/98 – Filzmoser, Slg. 2000, I-493). Die Rechtsprechung bestätigt somit die vorhandene, aber moderate Rolle der Grundfreiheiten bei der Kontrolle von Privatrechtsnormen. Anders als verfassungsrechtliche Grundrechtskontrolle ist sie bisher allein liberalisierend.
Literatur
Wulf-Henning Roth, Der Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Internationale Privatrecht, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 55 (1991) 623 ff.; Peter Behrens, Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, Europarecht 1992, 145 ff.; Luca Radicati de Brozolo, L’influence sur les conflits de lois des principes de droit communautaire en matière de liberté de circulation, Revue critique de droit international privé 82 (1993) 401 ff.; Jürgen Basedow, Der kollisionsrechtliche Gehalt der Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt: favor offerentis, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 59 (1995) 1 ff.; Wulf-Henning Roth, Drittwirkung der Grundfreiheiten?, in: Festschrift für Ulrich Everling 1995, 1231 ff.; Ernst Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996; Thorsten Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999; Malcolm Jarvis, Peter Oliver, Free Movement of Goods in the European Community, 4. Aufl. 2002; Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2003; Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004; Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005; Arthur Hartkamp, Europees recht en Nederlands vermogensrecht, Mr. C. Assers Handleiding tot de beoefening van het Nederlands Burgerlijk Recht, Vermogensrecht algemeen, Deel 1, 2008.