Arbeitnehmerfreizügigkeit: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 13:17 Uhr
von Oliver Remien
1. Bedeutung und Struktur
Die unmittelbar anwendbare Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG/45 AEUV ist die Personenverkehrsfreiheit der abhängig Beschäftigten und steht damit neben der Niederlassungsfreiheit der selbständig Tätigen nach Art. 43 EG/49 AEUV. Arbeitnehmer ist ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff (EuGH Rs. 75/63 – Unger, Slg. 1964, 383, 396; EuGH Rs. 66/85 – Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121, Rn 16), der nicht eng auszulegen ist. Unabhängig von der öffentlich- oder privatrechtlichen Ausgestaltung ist Arbeitnehmer eine Person, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen – auch nur geringeren, aber nicht völlig untergeordneten oder unwesentlichen Umfangs – erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH Rs. C-66/85 – Lawrie Blum, Slg. 1986, 2121, Rn. 17, 20; EuGH Rs. C-94/07 – Raccanelli, EuLF (Section I) 2008, 233). Die Vergütung kann auch in Sachleistungen bestehen. Auch Beamte, Studien- und Rechtsreferendare, im Lohnverhältnis stehende Auszubildende und Praktikanten sind Arbeitnehmer, ferner Profisportler (EuGH Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921), sofern die Ausübung des Sports zum Wirtschaftsleben gehört (EuGH Rs. C-519/04 – Meca Medina, Slg. 2006, I-6991). Berufen können sich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit grenzüberschreitend tätige Arbeitnehmer, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, sog. Wanderarbeitnehmer, aber auch der Arbeitgeber (EuGH Rs. C-350/96 – Clean Car, Slg. 1998, I-2521) sowie private Arbeitsvermittler (EuGH Rs. C-208/05 – Innovative Technology Center GmbH, Slg. 2007, I-181). Auch zugunsten einer für Deutschland in Algerien tätigen Belgierin hat der EuGH Art. 39 EG/45 AEUV angewandt (EuGH Rs. C-214/94 – Boukhalfa, Slg. 1996, I-2353). Familienangehörige werden nach besonderen sekundärrechtlichen Normen geschützt, auch im Übrigen ist das Sekundärrecht von großer Bedeutung. Die Unionsbürgerschaft gewährt heute auch Nichtarbeitnehmern ein Freizügigkeitsrecht, dem die Rechtsprechung bedeutsame Folgen auch im Privatrecht gibt. Ein grenzüberschreitender Bezug wird wie allgemein vorausgesetzt, doch kann der Arbeitnehmer sich auch gegenüber seinem Heimatstaat auf die Freizügigkeit berufen, wenn er in einem anderen Mitgliedstaat von ihr Gebrauch gemacht hat (EuGH Rs. C-19/92 – Kraus, Slg. 1993, I-1663; EuGH Rs. C-419/92 – Scholz, Slg. 1994, I-505). Eine Bereichsausnahme für die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung enthält Art. 39(4) EG/45(4) AEUV. Sie wird eng funktionell ausgelegt und erfasst lediglich Tätigkeiten, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates und anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind. Zudem gilt sie nur für den Zugang zur Beschäftigung.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit umfasst nach Art. 39(2) EG/45(2) AEUV die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen, sie gibt nach Art. 39(3) EG/45(2) AEUV ein Einreise-, Aufenthalts- und Verbleiberecht. Die Art. 7-9 der VO 1612/68 geben nähere Bestimmungen über die gleichen Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, auch die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie für inländische Arbeitnehmer, über Trennungsentschädigung (EuGH Rs. 172/73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153) bis hin zum Bestattungsgeld (dazu EuGH Rs. C-237/94 – O’Flynn, Slg. 1996, I-2617). Nach st. Rspr. sind auch Formen der versteckten Diskriminierung verboten (etwa EuGH Rs. C-400/02 – Merida, Slg. 2004, I-8471). Die Befristung der Arbeitsverträge von Fremdsprachenlektoren, die überwiegend Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten betrifft (EuGH verb. Rs. C-259/91, C-331/91 und C-332/91 – Allué, Slg. 1993, I-4309), Wohnsitzerfordernisse (EuGH Rs. C-15/96 – Schöning, Slg. 1998, I-47; EuGH Rs. C-350/96 – Clean Car, Slg. 1998, I-2521) und weiteres sind als versteckte Diskriminierung angesehen worden. Auch unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern, sein Herkunftsland zwecks Gebrauchs der Freizügigkeit zu verlassen, stellen Beeinträchtigungen dar, allerdings nur, wenn sie den Zugang der Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt beeinflussen (EuGH Rs. C-190/98 – Filzmoser Maschinenbau GmbH, Slg. 2000, I-493). Die Beschränkung darf nicht zu ungewiss und indirekt wirken (EuGH Rs. C-431/01 – Martens, Slg. 2002, I-7073). Art. 39(3) EG/45(3) AEUV nennt ausdrücklich die Rechtfertigung von Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. In der Rechtsprechung des EuGH ist hinsichtlich nicht diskriminierender Maßnahmen auch die Rechtfertigung durch zwingende Erwägungen des Allgemeininteresses anerkannt.
2. Adressat und Bindung Privater
Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 EG/45 AEUV ist allgemein formuliert und richtet sich nach Ansicht des EuGH nicht speziell an die Mitgliedstaaten. Es umfasst auch Verträge und sonstige Vereinbarungen von nichtstaatlichen Stellen, zumal kollektive Regelungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich, nicht nur behördliche Maßnahmen (EuGH Rs. 36/74 – Walrave, Slg. 1974, 1405). Sonst könnte es zu Ungleichheiten bei der Anwendung des Diskriminierungsverbots kommen. Durch Sportverbände aufgestellte Regeln über Spielertransfer für Berufsfußballspieler (EuGH Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921), ein Aufstellverbot wegen Transferfristen für professionelle Basketballspieler (EuGH Rs. C-17696 – Lehtonen, Slg. 2000, I-2681) unterliegen daher der Kontrolle. Ob eine tarifvertragliche Bestimmung, nach welcher sich ein junger Fußballspieler, der nach Abschluss seiner Ausbildungszeit einen Vertrag als Berufsspieler mit einem Verein eines anderen Mitgliedstaats abschließt, einer Verurteilung zur Schadensersatzleistung aussetzt, zulässig ist, hat der Gerichtshof noch zu entscheiden (EuGH Rs. C-325/08 – Olympique Lyonnais). Nach Art. 7(4) der VO 16126/68 sind diskriminierende Bestimmungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivverträgen nichtig. Der EuGH hat in Angonese sogar ausgesprochen, das in Art. 39 EG/45 AEUV angeordnete Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gelte auch für Privatpersonen; es ging dort darum, dass ein Arbeitgeber die Bewerber in einem Auswahlverfahren verpflichtete, ihre Sprachkenntnisse ausschließlich durch ein einziges in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaats (Südtirol) ausgestelltes Diplom nachzuweisen, dessen Erlangung nach dem EuGH „als ein praktisch zwangsläufiger Schritt in einer normalen Ausbildung angesehen“ wurde (EuGH Rs. C-281/98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139). Auch das Vertragsschlussverhalten eines privatrechtlichen Vereins wie der Max-Planck-Gesellschaft unterliegt dem Diskriminierungsverbot (EuGH Rs. C-94/07 – Raccanelli, EuLF (Section I) 2008, 233). Für gewisse Konstellationen ist also die Bindung Privater an die Arbeitnehmerfreizügigkeit anerkannt. Diese können sich dann auch auf die Rechtfertigungsgründe des Art. 39(3)/ 45(3) AEUV, zwingende Erwägungen des Allgemeininteresses und die Grundrechte berufen (EuGH Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921).
3. Privatrechtsnormen und Arbeitnehmerfreizügigkeit
In Einzelkonstellationen sind bereits Privatrechtsnormen an der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemessen worden. Die Begrenzung der Höchstdauer der Verträge für Fremdsprachenlektoren auf sechs Jahre (EuGH Rs. 33/88 – Allué I, Slg. 1989, 1591) und einjährige Vertragsdauer mit Verlängerungsmöglichkeit für Fremdsprachenlektoren wurden als mittelbare Diskriminierung angesehen (EuGH verb. Rs. C-259/91, C-331/91 und C-332/91 – Allué II, Slg. 1993, I-4309). Diese Entscheidungen führten sogar zu Befürchtungen, es könnte zu einer weitreichenden gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle über das gesamte Zivilrecht kommen, was jedoch bisher kaum eingetreten ist. Der gesetzliche Ausschluss eines Anspruchs auf Ausgleichszahlung („Abfertigung“) bei Selbstkündigung soll nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt beeinflussen und daher keine Beschränkung sein (EuGH Rs. 190/98 – Filzmoser Maschinenbau GmbH, Slg. 2000, I-493). Für den – in jenem Fall deutschen – Arbeitnehmer der Maschinenfabrik war der Entfall der Abfertigung wohl wirklich kein Hindernis für den Stellenwechsel (nach Deutschland). Bei einer Diskriminierung im Rahmen des Vertragsschlusses scheint die Frage der Rechtsfolge der Diskriminierung unklar, der Gerichtshof hat hier einfach auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der außervertraglichen Haftung verwiesen (EuGH Rs. C-94/07 – Raccanelli, EuLF (Section I) 2008, 233). Nachträgliche Berichtigungen von Personenstandsurkunden in einem anderen Mitgliedstaat müssen nicht ebenso behandelt werden wie inländische, müssen jedoch beachtet werden, wenn ihre Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist (EuGH Rs. C-336/94 – Dafeki, Slg. 1997, I-6761). Im Übrigen scheint die privatrechtliche Wirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit noch wenig ausgelotet.
Literatur
Ernst Steindorff, Anmerkung zu EuGH verb. Rs. 259, 331 und 332/91 Allué II, Juristenzeitung 1994, 95 ff.; Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages, 2003; Christof Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, 2003; Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004; Ulrich Becker, Arbeitnehmerfreizügigkeit, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005; Catherine Barnard, The Substantive Law of the EU, The Four Freedoms, 2. Aufl. 2007.