Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 28. September 2021, 16:46 Uhr

von Tobias Tröger

1. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen

Historisch nehmen Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit eine Sonderstellung unter den Grundfreiheiten ein, da sie erst spät zu vollwertigen, primärrechtlichen Liberalisierungsgeboten erhoben wurden. Ursprünglich begründete Art. 67(1) EWGV auch nach der Übergangszeit nur eine Verpflichtung, den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten soweit zu liberalisieren, wie dies für das „Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig“ war (vgl. EuGH Rs. 203/‌80 – Casati, Slg. 1981, 2595, Rn. 10). Daher konnten zunächst nur sekundärrechtliche Maßnahmen zu über das Primärrecht hinausgehenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten führen, Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs zu beseitigen. Allerdings trieb der EuGH auch unter diesen Rahmenbedingungen die Entwicklung in Richtung einer umfassenden Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit voran. Er erklärte den Liberalisierungsauftrag aus Art. 1 Kapitalverkehrs-RL (RL 88/‌361) für unmittelbar anwendbar (EuGH Rs. C-358/‌93 – Bordessa, Slg. 1995, I-361, Rn. 33 ff.) und schuf so eine „sekundärrechtliche Grundfreiheit“. Die Entscheidung stimmte mit dem Willen der Mitgliedstaaten überein, die Kapitalverkehrsfreiheit im Vertrag von Maastricht in den Status einer primärrechtlichen Grundfreiheit mit unmittelbarem Liberalisierungsauftrag zu erheben (Art. 73b (1) EG a.F.). Im Zuge dieser Reform des Primärrechts wurde dabei auch die bis dahin in Art. 106 EWGV geregelte Zahlungsverkehrsfreiheit systematisch der Kapitalverkehrsfreiheit zugeschlagen (Art. 73b(2) EG a.F.) und so ihr Charakter als selbständige Grundfreiheit betont. Die Verträge von Amsterdam und Lissabon brachten gegenüber dem so erreichten Stand keine sachlichen Veränderungen.

2. Kapitalverkehrsfreiheit

a) Ordnungspolitisches Anliegen

Die primärrechtliche Garantie der Freiheit des Kapitalverkehrs in Art. 56(1) EG/‌63(1) AEUV beruht auf fundamentalen, ordnungspolitischen Erwägungen. Sie entspringt der Überzeugung, dass die optimale Allokation der knappen Ressource Kapital in erster Linie durch dezentrale Entscheidungen von Marktakteuren gewährleistet wird. Einschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs führen daher grundsätzlich zu gesamtgesellschaftlich nicht wünschenswerten Wohlfahrtsverlusten. Die weitreichende wettbewerbspolitische Stoßrichtung der in Rede stehenden Grundfreiheit wird daran deutlich, dass über die Integration des europäischen Binnenmarktes hinaus auch die Freiheit des Kapitalverkehrs mit Drittstaaten gewährleistet wird.

b) Begriffsbestimmung

Aus Art. 57 EG/‌64 AEUV ist zu schließen, dass die Kapitalverkehrsfreiheit jedenfalls Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien sowie grenzüberschreitende Kapitalverschiebungen im Zusammenhang mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren umfasst. Bei der weiteren Konkretisierung des primärrechtlichen Begriffs kommt den in Annex I der Kapitalverkehrs-RL aufgeführten Transaktionen Hinweischarakter zu, jedoch kann das Richtlinienrecht den Inhalt der Grundfreiheit letztlich nicht determinieren. Erfasst sind vielmehr sämtliche Transfers von Bar- oder Sachkapital über die Grenzen eines Mitgliedstaates, wenn sie zu Investitionszwecken erfolgen.

Der eindeutige Wortlaut des Art. 56(1) EG/‌63 (1) AEUV und die Sonderregeln des Art. 57 EG/‌64 AEUV verdeutlichen, dass die Regelung über das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten hinauszielt und auch der freie Kapitalverkehr mit Drittstaaten gewährleistet wird. Auch deren Bürger können sich nach verbreiteter Meinung vor den Gerichten der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen.

c) Verhältnis zu anderen Grundfreiheiten

Das Verhältnis der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zu den anderen Grundfreiheiten spielt nicht nur im Hinblick auf die besonderen Beschränkungsmöglichkeiten im Steuerrecht eine große Rolle, vgl. Art. 58(1)(a) EG/‌63(1)(a) AEUV. Sie ist auch noch nach der Nivellierung des ursprünglichen Liberalisierungsgefälles für das Privatrecht von erheblicher Bedeutung. Dies folgt in erster Linie daraus, dass die Rechtfertigung privatrechtlicher Beschränkungen von Grundfreiheiten trotz abstrakt gleichförmiger Legitimitätsvoraussetzungen nicht zuletzt dadurch präjudiziert wird, welches Liberalisierungsgebot konkret als einer Beschränkung unterworfen betrachtet wird. Insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Freiheitsbeeinträchtigung kann stets nur im Kontext der betroffenen Gemeinschaftspolitik beurteilt werden.

Im Ausgangspunkt kommt es darauf an, ob die grenzüberschreitende Kapitalbewegung Anlage- bzw. Investitionszwecken dient oder ob mit ihr andere Ziele verfolgt werden. Zahlungen mit Vergütungscharakter im Rahmen von Transaktionen auf dem Gebiet der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit unterfallen daher nicht der Kapitalverkehrsfreiheit (EuGH verb. Rs. 286/‌82 und 26/‌83 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 21 f.; EuGH verb. Rs. C-163/‌94, C-165/‌94 und C-250/‌94 – Sanz de Lera, Slg. 1995, I-4821, Rn. 17). Überschneidungen mit anderen Grundfreiheiten sind aber denkbar, weil Investitionen nicht selten der Inanspruchnahme anderer, primärrechtlich garantierter Freiheiten dienen werden. Die Investition in Wertpapiere kann beispielsweise das durch die Niederlassungsfreiheit geschützte Ziel haben, eine ausländische Tochtergesellschaft zu erwerben oder dem durch die Dienstleistungsfreiheit garantierten Zweck entsprechen, als Wertpapierhändler aufzutreten.

Kommt es zu einer gleichzeitigen Betroffenheit von Kapitalverkehrs- und Niederlassungsfreiheit (wie z.B. bei Beschränkungen des grenzüberschreitenden Erwerbs von Betriebsgrundstücken oder maßgeblichen Unternehmensbeteiligungen im Gegensatz zu reinen Finanzbeteiligungen [Portfolioinvestitionen]) geht der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung ausdrücklich von einer kumulativen Anwendbarkeit der Art. 43, 48 EG/‌49, 54 AEUV und Art. 56(1) EG/‌63(1) AEUV aus (Rs. C-302/‌97 – Konle, Slg. 1999, I-3099, Rn. 22). Der Niederlassungsfreiheit kommt auch dann kein Vorrang zu, wenn die Direktinvestition in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt, um dort einer selbständigen wirtschaftlichen Betätigung nachzugehen. Der EuGH sieht sich lediglich durch die festgestellte Verletzung einer Grundfreiheit von der detaillierten Prüfung der anderen entbunden (Rs. C-483/‌99 – Kommission/‌‌Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rn. 56; Rs. C-98/‌01 – Kommission/‌Vereinigtes Königreich, Slg. 2003, I-4641, Rn. 52; Rs. C-463/‌00 – Kommission/‌‌Spanien, Slg. 2003, I-4581, Rn. 86). Allerdings kann eine zulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht wegen Verstoßes gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verworfen werden, Art. 58(2) EG/‌65(2) AEUV.

Sowohl die Definitionsnorm des Art. 50(1) EG/‌57(1) AEUV als auch das Abstimmungsgebot in Art. 51(2) EG/‌58(2) AEUV lassen sich dahin verstehen, dass die Kapitalverkehrsfreiheit für Finanzdienstleistungen ein Sonderregime begründet, hinter dem die Garantie der Dienstleistungsfreiheit zurücktritt. In der Tat hat der EuGH, sowohl vor als auch nach der vollständigen Liberalisierung, in einigen Entscheidungen einen solchen Vorrang der Regelungen zum Kapitalverkehr angenommen (Rs. 267/‌86 – ASPA, Slg. 1988, 4769, Rn. 22–25; Rs. C-222/‌99 – Parodi, Slg. 1997, I-3899, Rn. 9; Rs. C-222/‌97 – Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661). Seine Rechtsprechung folgt allerdings nicht einheitlich dieser Linie, sondern wendet in einzelnen Entscheidungen beide Grundfreiheiten parallel an (Rs. C-484/‌93 – Svensson und Gustavsson, Slg. 1995, I-3955, Rn. 10 f.; Rs. C-118/‌96 – Safir, Slg. 1998, I-1897, Rn. 35; Rs. C-410/‌96 – Ambry, Slg. 1998, I-7875, Rn. 40). Dabei ist freilich zu betonen, dass die praktische Relevanz der unterschiedlichen dogmatischen Ansätze begrenzt ist. In den Fällen der kumulativen Anwendung der Grundfreiheiten ging die Rechtsprechung nämlich stets – implizit oder ausdrücklich – von einem gleichzeitigen Verstoß der jeweiligen Hoheitsakte gegen Art. 49(1) EG/‌56(1) AEUV und Art. 56(1) EG/‌63 (1) AEUV aus. Die Sachentscheidungen hätten also auch bei Annahme eines Subsidiaritätsverhältnisses nicht anders gelautet.

d) Reichweite des Beschränkungsverbots

Der EuGH hat bisher abstrakt-generelle Aussagen zum Begriff der Beschränkung im Rahmen des Art. 56(1) EG/‌63(1) AEUV vermieden und die Frage im Wesentlichen einzelfallbezogen judiziert. Neben den die Rechtsprechung immer wieder beschäftigenden steuer- und devisenverkehrsrechtlichen Regelungen sind Beschränkungen mit privatrechtlicher Relevanz insbesondere angenommen worden bei Genehmigungs-, Anzeige- und Erklärungspflichten vor dem Kauf von Grundstücken durch Bürger anderer Mitgliedstaaten (z.B. EuGH Rs. C-423/‌98 – Albore, Slg. 2000, I-5965, Rn. 16) oder bei entsprechenden Pflichten im Fall des Erwerbs von Beteiligungen an Unternehmen (EuGH Rs. C-54/‌99 – Scientology, Slg. 2000, I-1335, Rn. 14 f.). Neben derartigen unmittelbaren Eingriffen in den Kapitalverkehr sind aber auch nur indirekt wirkende Maßnahmen, die einen grenzüberschreitenden Kapitaltransfer unattraktiver gestalten, als relevante Beschränkungen behandelt worden, z.B. im Fall von staatlichen Zinsvergünstigungen, die an den Sitz der kreditgebenden Bank im Inland anknüpften (EuGH Rs. 484/‌93 – Svensson und Gustavsson, Slg. 1995, I-3955, Rn. 10). Gleichsinnig wurden gesellschaftsrechtliche Regelungen als Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit beurteilt, die in bestimmten Wirtschaftsbereichen Sonderrechte zugunsten des Staates begründeten und durch die resultierende asymmetrische Verteilung der Anteilseignerrechte von grenzüberschreitenden Investitionen abzuhalten geeignet waren (vgl. ausführlich unten f)). In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der EuGH anerkannt hat, dass auch die Kapitalverkehrsfreiheit über die ausdrücklichen Ausnahmen des Primärrechts hinaus zum Schutz zwingender Gründe des Allgemeininteresses beschränkt werden kann (Rs. C-35/‌98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rn. 46 ff.; implizit bereits EuGH Rs. C-148/‌91 – Veronica, Slg. 1993, 487, Rn. 9, 13, 15). Diese Rechtsprechung lehnt sich erkennbar an die Cassis-de-Dijon-Formel an (EuGH, Rs. 120/‌78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649). Diese ist aber ihrerseits nur als Gegenstück zu dem weit interpretierten Beschränkungsbegriff unter der Dassonville-Formel zu verstehen (EuGH Rs. 8/‌74 – Dassonville, Slg. 1974, 837). Daraus kann geschlossen werden, dass sich auch die Kapitalverkehrsfreiheit in die sich verstärkt ausbildende, allgemeine Dogmatik der Grundfreiheiten einfügt und eine Beschränkung des Kapitalverkehrs vorliegt, wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen unmittelbar oder mittelbar, aktuell oder potentiell den grenzüberschreitenden Kapitalfluss behindern, begrenzen oder untersagen. Es liegt auf der Linie dieser Entwicklung, auch die Keck-Rechtsprechung (EuGH verb. Rs. C-267 und C-268/‌91 – Keck, Slg. 1993, I-6097) für die Kapitalverkehrsfreiheit fruchtbar zu machen und auf diese Weise unterschiedslose Maßnahmen, die lediglich die Modalitäten für Investitionen regeln, wie z.B. Beurkundungspflichten, Publizitätsvorschriften etc., aus dem Eingriffsbegriff von vornherein auszunehmen.

e) Rechtfertigung von Beschränkungen

Für bestimmte Aspekte des Kapitalverkehrs mit Drittländern erlaubt Art. 57 EG/‌64 AEUV weitergehende Beschränkungen als sie im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander gerechtfertigt sind. Abs. 1 legitimiert die Beibehaltung der Beschränkungen gegenüber Drittstaaten, die am 31.12.1993 in Kraft waren, und beinhaltet somit im Umkehrschluss ein Verschlechterungsverbot. Der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten soll so die Beibehaltung von Reziprozitätsvorschriften ermöglicht werden (z.B. Art. 41 Börsenzulassungs-RL [RL 2001/‌34]), um letztlich im Verhandlungsweg eine vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs zu erreichen. Art. 57(2) EG/‌64(2) AEUV erweitert die Handlungsoptionen gegenüber Drittstaaten und ermöglicht so eine flexible und robuste Verhandlungsführung. Die Bestimmung erlaubt der Gemeinschaft, aber nicht den Mitgliedstaaten, den Kapitalverkehr mit Drittstaaten auch durch neue Rechtsakte zu beschränken und dabei sogar hinter den erreichten Liberalisierungsstand zurückzugehen.

Im Übrigen sind Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten – aber auch gegenüber Drittstaaten – zulässig, wenn sie auf der Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften beruhen, die eine unterschiedliche Behandlung von Steuerpflichtigen an den Wohn- oder Kapitalanlageort knüpfen (Art. 58(1)(a) EG/‌ Art. 65(1)(a) AEUV. Entsprechende Regelungen müssen aber zum Rechtsbestand der Mitgliedstaaten Ende 1993 gehört haben (vgl. die verbindliche Erklärung zu Art. 73d EG des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen des Vertrags über die Europäische Union vom 7.2.1992) und tatsächlich miteinander objektiv nicht vergleichbare Konstellationen erfassen (EuGH Rs. C-35/‌98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rn. 43). Darüber hinaus können unerlässliche Kontrollmaßnahmen und Meldeverfahren sowie Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Kapitalverkehrsfreiheit rechtmäßig beschränken (Art. 58(1)(b) EG/‌65 Abs. (1)(b) AEUV. Bei letzterer Bestimmung handelt es sich um eine spezielle Ausprägung der Gemeinwohlerwägungen, die als „zwingende Erfordernisse“ im Sinne der Cassis-Rechtsprechung unterschiedslose Beschränkungen der anderen Grundfreiheiten rechtfertigen können. Der EuGH formuliert daher auch ganz allgemein, nicht diskriminierende Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit könnten rechtmäßig „aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ erfolgen (z.B. Rs. C-174/‌04 – Kommission/‌Italien, Slg. 2005, I-4933, Rn. 35). Als solche anerkannt wurden z.B. die Kohärenz der Steuergesetzgebung (EuGH Rs. C-319/‌02 – Manninen, Slg. 2004, I-7498, Rn. 28) oder der Schutz eines pluralistischen, nicht-kommerziellen Rundfunksystems (EuGH Rs. C-148/‌91 – Veronica, Slg. 1993, 487, Rn. 10). Verworfen wurde demgegenüber die Verfolgung allgemein wirtschaftspolitischer Ziele (EuGH Rs. C-35/‌98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Rn. 48).

Verboten sind jedenfalls willkürlich diskriminierende oder verschleiert beschränkende Maßnahmen. Im Licht der ihrerseits bereits anerkennenswerte sachliche Gründe und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme erfordernden Rechtfertigungstatbestände kommt der ausdrücklichen Untersagung des Art. 58(3) EG/‌65(3) AEUV allerdings wenig eigenständige Bedeutung zu.

f) Problematik der „Goldenen Aktien“ et al.

Die primärrechtliche Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit hat zuletzt besondere Brisanz im Hinblick auf das Verbandsrecht der Mitgliedstaaten erlangt, soweit dieses Sonderrechte zugunsten von Hoheitsträgern bei ehemaligen Staatsunternehmen in zwischenzeitlich privatisierten Wirtschaftssektoren vorsah („Goldene Aktien“). Die Kapitalverkehrsfreiheit kann hierdurch in verschiedenster Weise betroffen sein. Offensichtlich ist dies im Fall direkter Beschränkungen, etwa wenn der Erwerb von stimmberechtigten Anteilen ab dem Überschreiten bestimmter Schwellenwerte von einer Genehmigung abhängig gemacht, mit einem Vetorecht belastet oder gar vollständig untersagt wird (EuGH Rs. C-367/‌98 – Kommission/‌Portugal, Slg. 2002, I-4731, Rn. 13 f.; EuGH Rs. C-483/‌99 – Kommission/‌Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rn. 39 ff., 46 ff.). Darüber hinaus sind aber auch indirekte Beschränkungen des Anteilserwerbs an der primärrechtlichen Garantie der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen, da die grenzüberschreitende Investition in Wertpapiere potentiell auch dadurch behindert wird, dass der rechtlich unbeschränkt mögliche Erwerb der Anteile tatsächlich unattraktiv erscheint. Dies kann darauf beruhen, dass zugunsten einzelner Aktionäre bzw. staatlicher Stellen bei strategischen Leitungsmaßnahmen Alleinentscheidungs- oder Vetorechte vorgesehen sind (EuGH Rs. C-503/‌99 – Kommission/‌Belgien, Slg. 2002, I-4809, Rn. 40 f.; EuGH Rs. C-463/‌00 – Kommission/‌Spanien, Slg. 2003, I-4581, Rn. 9, 11) oder ihnen bei der Beschlussfassung überproportionales Stimmgewicht zukommt bzw. sie überproportional in den Aufsichtsgremien repräsentiert sind (EuGH Rs. C-174/‌04 – Kommission/‌Italien, Slg. 2005, I-4933, Rn. 34 ff., 40; EuGH Rs. C-112/‌05 – Kommission/‌Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rn. 59 ff.). Aus der Entscheidung zum VW-Gesetz kann aber nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass der EuGH Sonderregelungen (konkret: Höchststimmrecht kombiniert mit erhöhtem Quorum für Satzungsänderungen) stets als Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit ansieht, auch wenn sie jeden Anteilseigner gleichermaßen beträfen, also keine alleinige Begünstigung des Staates darstellten. Die historischen Bedingungen der VW-Privatisierung rechtfertigten nämlich aus Sicht des EuGH die Annahme einer de facto Privilegierung von Hoheitsträgern (EuGH Rs. C-112/‌05 – Kommission/‌Deutschland, Slg. 2007, I-8995, Rn. 48 f.). Auf dieser Linie liegt es auch, wenn die Kommission (IP/‌08/‌1797) nunmehr das verbliebene qualifizierte Mehrheitserfordernis für Satzungsänderungen im reformierten VW-Gesetz als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit angreift, weil es faktisch das Land Niedersachsen begünstigt. Demgegenüber ist die umstrittene Frage weiterhin offen, ob und inwieweit letztlich das gesamte mitgliedstaatliche Organisationsrecht potentiell auf dem Prüfstand steht, soweit es privaten Akteuren gestattet, den grenzüberschreitenden Anteilserwerb zu beschränken oder unattraktiver zu machen, z.B. durch die Zulassung statutarischer Höchststimmrechte, die Gestattung drastischer Verteidigungsmaßnahmen im Übernahmerecht etc.

Im Hinblick auf die Rechtfertigung von Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit durch Sonderrechte ist zum einen zu beachten, dass struktur- und sonstige wirtschaftspolitische Erwägungen keine hinreichenden Rechtfertigungsgründe liefern. Aber selbst wo solche eingreifen (z.B. Sicherung der Energieversorgung), ist zu gewährleisten, dass die Beschränkung verhältnismäßig ist, d.h. insbesondere an präzise formulierte und nachprüfbare, objektive Kriterien geknüpft ist (vgl. EuGH Rs. C-503/‌99 – Kommission/‌Belgien, Slg. 2002, I-4809, Rn. 48 ff. einerseits; EuGH Rs. C-483/‌99 – Kommission/‌Frankreich, Slg. 2002, I-4781, Rn. 50 ff. andererseits).

3. Zahlungsverkehrsfreiheit

Die in Art. 56(2) EG/‌63(2) AEUV garantierte Freiheit des Zahlungsverkehrs dient in erster Linie einer Absicherung der übrigen Marktfreiheiten („Annexfreiheit“). Von deren Wahrnehmung soll nicht dadurch abgeschreckt werden, dass dem grenzüberschreitend Waren, Dienstleistungen etc. Nachfragenden bzw. Anbietenden bei der Abwicklung im weitesten Sinne (z.B. der Erfüllung von Gegenleistungspflichten, der Befriedigung von Schadensersatzansprüchen, der Auszahlung von Versicherungsleistungen etc.) Hindernisse in den Weg gelegt werden, die bereits im Vorfeld von grenzüberschreitenden Aktivitäten abschrecken können (vgl. EuGH Rs. C-412/‌97 – ED Srl, Slg. 1999 I-3845, Rn. 17). Erfasst wird lediglich der grenzüberschreitende Transfer von Zahlungsmitteln. Hinsichtlich der Beschränkungsmöglichkeiten gilt das zur Kapitalverkehrsfreiheit Gesagte. Zu beachten ist, dass der EuGH Regelungen zur Erzwingung grenzüberschreitender Zahlungen (Mahnverfahren) als „Verfahrensmodalitäten“ betrachtet, deren Ausgestaltung die Zahlungsverkehrsfreiheit nicht berührt (Rs. C-412/‌97 – ED Srl, Slg. 1999, I-3845, Rn. 17).

Literatur

Sideek Mohamed, European Community Law on the Free Movement of Capital and EMU, 1999; Christoph Ohler, Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, 2002; Ute Haferkamp, Die Kapitalverkehrsfreiheit im System der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, 2003; Akos. G. Toth, Free Movement of Capital, in: idem (Hg.), The Oxford Encyclopedia of European Community Law, Bd. 2, 2005, 354 ff.; Mads Andenas, Tillmann Gütt, Matthias Pannier, Free Movement of Capital and National Company Law, European Business Law Review 16 (2005) 757 ff.; Peter von Wilmowsky, Freiheit des Kapital und Zahlungsverkehrs, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, 343 ff.; Catherine Barnard, The Substantive Law of the EU: The Four Freedoms, 2007, 537 ff.; Gert-Jan Vossestein, Volkswagen: the State of Affairs of Golden Shares, General Company Law and European Free Movement of Capital, European Company and Financial Law Review 5 (2008) 115 ff.; John A. Usher, The Evolution of the Free Movement of Capital, Fordham International Law Journal 31 (2008) 1533 ff.; Georg Ress, Jörg Uckrow, Art. 56–58, in: Eberhard Grabitz, Meinhard Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II (Loseblatt).

Abgerufen von Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit – HWB-EuP 2009 am 22. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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