Erwachsenenschutz: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 31. August 2021, 18:07 Uhr

von Kurt Siehr

1. Nationales Sachrecht

Erwachsene Personen, die aufgrund einer Beeinträchtigung oder der Unzulänglichkeit ihrer persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, ihre Interessen selbst wahrzunehmen, wurden und werden noch im nationalen Recht durch Vorschriften über die Vormundschaft (§§ 1773 ff. BGB a.F.; guardianship; tutelle des majeurs: Art. 488 ff. frz. Code civil; Sachwalterschaft oder Kuratel: §§ 268 ff. ABGB; Vormundschaft/tutelle/tutela: Art. 360 ff. schweiz. ZGB; curatela: Art. 286 ff. span. Código civil) geschützt. Diese Personen werden durch Gerichte oder andere staatliche Instanzen mittels Entmündigung (incapacitation) für geschäfts- oder handlungsunfähig erklärt, und es wird ihnen ein Vormund (tuteur, tutore) bestellt. Eine weniger eingreifende Schutzmaßnahme war die Pflegschaft (§§ 1909 ff. BGB a.F.; curatelle: Art. 392 ff. schweiz. ZGB), die hilflosen Personen auch ohne deren Entmündigung durch einen Pfleger (curateur, curatore) Hilfe leistete. In neuerer Zeit sind in vielen Staaten die alten Vorschriften der Vormundschaft und Pflegschaft durch Bestimmungen über die Betreuung (z.B. §§ 1896 ff. BGB; amministrazione di sostegno: Art. 404 et seq. Codice civile; onderbewindstelling ter bescherming van meerderjarigen: Art. 1:431 ff. BW) ersetzt worden. Auch die Schweiz bereitet eine Revision des Vormundschaftsrechts vor (Erwachsenenschutz: BBl. 2006, 7139). Diese neueren Vorschriften über die Betreuung gehen weniger weit als die alten Bestimmungen über die Vormundschaft. Insbesondere sehen sie keine Entmündigung vor, sie stellen nur fest, dass gewisse wichtige Rechtsgeschäfte der betreuten Person ohne Zustimmung des Betreuers unwirksam sind.

2. Internationales Einheitsrecht

Auf internationaler Ebene gibt es kein Einheitsrecht, und zwar weder auf EU-Ebene noch im Rahmen des Europarates (Europarat (Privatrechtsvereinheitlichung)). Jedoch hat der Europarat am 23.2.1999 die Empfehlung Nr. R(99)4 über Grundsätze zum rechtlichen Schutz schutzbedürftiger Erwachsener (Principles Concerning the Legal Protection of Incapable Adults) verabschiedet, die den Mitgliedstaaten des Europarates als Leitlinien für Gesetzgebung und Rechtspraxis dienen soll. Die wichtigsten der insgesamt 28 Grundsätze sind folgende Prinzipien: Im Vordergrund steht das Interesse und das Wohlergehen der jeweiligen Person (interests and welfare of the person concerned should be the paramount consideration) (Prinzip Nr. 8); daher ist dem Erwachsenen so viel Handlungsfähigkeit (capacity) wie möglich zu bewahren (Prinzip Nr. 3); die Schutzmaßnahmen sollen flexibel sein (Prinzip Nr. 2) und nur dann und insoweit eingreifen, als sie notwendig sind, um der betroffenen Person zu helfen (Prinzipien Nr. 5 und 6 der Subsidiarität und Proportionalität); dabei sind die Menschenrechte der betroffenen Person (Grund- und Menschenrechte: GRCh und EMRK)) zu achten (Prinzip Nr. 1), ihre Meinung einzuholen (Prinzip Nr. 10) sowie bei ärztlichen Eingriffen ihre Zustimmung (Prinzip Nr. 22). Die Schutzmaßnahmen unterliegen der gerichtlichen Kontrolle (Prinzipien Nr. 11 ff.), sind unter Berücksichtigung der Beteiligten zu veröffentlichen (Prinzip Nr. 4), und der Betreuer (representative) ist für sein Fehler verantwortlich (Prinzip Nr. 20). Diese Prinzipien haben die Gesetzgeber europäischer Staaten bei ihrer Reform des Vormundschaftsrechts inspiriert.

3. Nationales IPR

Das heute noch geltende IPR befasst sich noch weitgehend mit der Internationalen Vormundschaft (vgl. z.B. Art. 35 belg. Code de droit international privé; Art. 24 EGBGB, § 27 österr. IPR-Gesetz; Art. 30 portug. Código civil; Art. 85 Abs. 2 schweiz. IPRG; § 48 ung. IPR-VO). Diese Vorschriften unterstellen die Vormundschaft in aller Regel dem Personalstatut des Mündels, und zwar entweder seinem Heimatrecht (so z.B. Deutschland, Österreich, Portugal, Ungarn) oder seinem Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsrecht (so z.B. Belgien, die Schweiz).

4. Haager Übereinkommen

Eines der frühesten Haager Übereinkommen ist das Haager Übereinkommen vom 17.7.1905 über die Entmündigung und gleichartige Fürsorgemaßregeln (Convention Relating to Deprivation of Civil Rights and Similar Measures of Protection). Dieses Übereinkommen galt ursprünglich zwischen neun Staaten und war zuletzt nur noch zwischen Polen, Portugal und Rumänien anwendbar. Die anderen Vertragstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Schweden und Ungarn) hatten das Übereinkommen schon vorher gekündigt.

An die Stelle des alten Übereinkommens von 1905 tritt das Haager Übereinkommen vom 13.1.2000 über den internationalen Schutz von Erwachsenen (Convention on the international protection of adults), das nach dem Muster des Übereinkommens vom 19.10.1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (Kinderschutz) konzipiert worden ist. Nach dem Erwachsenenschutz-Übereinkommen sind primär die Gerichte und Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt des Erwachsenen zuständig (Art. 5), nach ihrer lex fori Schutzmaßnahmen zu treffen (Art. 13(1)), und diese Entscheidungen sind in allen Vertragsstaaten anzuerkennen und zu vollstrecken (Art. 22 ff.). Als Schutzmaßnahmen gelten alle Entscheidungen zum Schutze einer über 18 Jahre alten Person mit Ausnahme der in Art. 4 abschließend aufgezählten Maßnahmen, d.h. von Entscheidungen betreffend den Unterhalt, die Eheschließung und Ehescheidung (Ehe), den Güterstand, Trusts (Trust und Treuhand) und Erbschaften (Erbrecht; Erbnachweis), die soziale Sicherheit, allgemeine öffentliche Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge, Straftaten, Asylrecht und Einwanderung sowie Maßnahmen zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit.

a) Die allgemeine Zuständigkeit der Gerichte und Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt wird ergänzt durch eine subsidiäre Zuständigkeit der Staaten, denen der Erwachsene angehört (Heimatstaat; Art. 7), der Staaten, in denen sich Vermögen des Erwachsenen befindet (Lagestaat; Art. 9) sowie durch Not- oder Hilfszuständigkeiten der Gerichte und Behörden in einem Lage- oder Aufenthaltsstaat (Art. 10 und 11). Außerdem können die Gerichte am gewöhnlichen Aufenthalt des Erwachsenen die Instanzen anderer Staaten ersuchen, Schutzmaßnahmen zugunsten des Erwachsenen oder seines Vermögens zu treffen (Art. 8). Zu solchen ersuchten Instanzen gehören die Heimatstaaten; Lagestaaten; Staaten eines früheren gewöhnlichen Aufenthalts; vom Erwachsenen gewählte Instanzen; Staaten, in denen eine dem Erwachsenen nahestehende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat und bereit ist, den Schutz des Erwachsenen zu übernehmen; und der Aufenthaltsstaat des Erwachsenen (Art. 8(2)).

b) Die lex fori der zuständigen Gerichte und Behörden ist das allgemein anzuwendende Recht (Art. 13(1)). Diese Instanzen dürfen jedoch auch anderes Recht, das enge Verbindungen zum Sachverhalt hat (z.B. das Heimatrecht des Erwachsenen), anwenden oder berücksichtigen (Art. 13(2)). Eine Vorsorgevollmacht (Einräumung einer Vertretungsmacht für den Fall, dass man sich selbst nicht mehr schützen kann) untersteht grundsätzlich dem Recht, in dem der Erwachsene im Zeitpunkt der Bevollmächtigung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 10(1)), jedoch kann der Erwachsene auch eines seiner Heimatrechte, das Recht eines früheren gewöhnlichen Aufenthalts oder das Lagerecht als anwendbar bestimmen (Art. 10(2)).

c) Die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Vertragsstaaten grundsätzlich anerkannt (Art. 22(1)). Die Anerkennung kann jedoch nach Art. 22(2) versagt werden, wenn die Behörden des entscheidenden Staates nach diesem Übereinkommen unzuständig waren, wenn das rechtliche Gehör versagt wurde, die Entscheidung gegen den ordre public des Anerkennungsstaates verstößt, wenn die anzuerkennende Entscheidung mit einer späteren Entscheidung, die auf Grund des Übereinkommens getroffen wurde, unvereinbar ist, oder wenn in Unterbringungssachen das Verfahren des Art. 33 (Zustimmung des Anerkennungsstaates) nicht eingehalten wurde. Das anerkennende Gericht ist an die Tatsachenfeststellungen des entscheidenden Gerichts gebunden (Art. 24). Eine révision au fond findet nicht statt (Art. 26). Falls eine Entscheidung Vollstreckungsmaßnahmen in einem anderen Vertragsstaat erfordert, ist die Vollstreckung durch ein einfaches und schnelles Verfahren zu erledigen (Art. 25(2)) und kann nur abgelehnt werden, wenn ein Anerkennungshindernis des Art. 22(2) vorliegt (Art. 25(3)).

d) In einem Kapitel V wird die Zusammenarbeit in zehn Artikeln (Art. 28-37) geregelt. Die Vertragsstaaten haben Zentrale Behörden zu bestimmen, welche die in dem Übereinkommen übertragenen Aufgaben wahrnehmen (Art. 28 (1)), insbesondere die internationale Zusammenarbeit der Behörden gewährleisten und speziell Auskünfte über ihr Recht an anfragende ausländische Behörden erteilen (Art. 29). Die Zentralen Behörden werden in Art. 30 verpflichtet, die Mitteilungen zwischen den zuständigen Behörden bei Sachverhalten, auf welche dieses Übereinkommen anzuwenden ist, zu erleichtern, insbesondere auf Ersuchen der zuständigen Behörde eines Vertragsstaates bei der Ermittlung des Aufenthaltsorts eines gefährdeten Erwachsenen Hilfe zu leisten, wenn der Anschein besteht, dass der Erwachsene sich im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates befindet. Außerdem können die zuständigen Behörden eine Vermittlung oder Schlichtung vorsehen, um eine gütliche Einigung zum Schutz der Person oder des Vermögens eines Erwachsenen zu ermöglichen (Art. 31). Die Behörden der Vertragsstaaten haben bei Schutzmaßnahmen zu helfen und Mitteilungen zu geben (Art. 32). Ist jedoch eine Unterbringung in einem anderen Vertragsstaat vorgesehen, so haben sie die Behörden des ausländischen Vertragsstaates zu konsultieren und dürfen gegen den ausdrücklichen Willen dieses Vertragsstaates keine Unterbringung in dessen Territorium anordnen (Art. 33). Bei Gefahr im Verzuge haben die zuständigen Behörden Mitteilungen zu machen, müssen jedoch von solchen Mitteilungen absehen, die den Erwachsenen gefährden könnten (Art. 34, 35). Grundsätzlich werden die Zentralen Behörden kostenlos tätig (Art. 36), und die Zusammenarbeit, wie sie in Kapitel V umschrieben wird, ist nicht abschließend gemeint, sondern kann durch Zusatzvereinbarungen ausgebaut werden (Art. 37).

e) In den Allgemeinen Bestimmungen (Art. 38-52) des Übereinkommens wird bestimmt, dass die Behörden der Vertragsstaaten der Person eine Bescheinigung über seine Berechtigung ausstellen können, die von ihnen als Schutzperson eingesetzt worden ist (Art. 38). Außerdem wird der Datenschutz geregelt (Art. 39, 40) und das Übereinkommen für Mehrrechtsstaaten anwendbar gemacht (Art. 45, 46).

f) Das Haager Erwachsenenschutzübereinkommen ist am 1.1.2009 zwischen den Vertragsstaaten Deutschland, Frankreich und Vereinigtes Königreich in Kraft getreten, und zwar direkt (z.B. Deutschland mit dem Erwachsenenschutzübereinkommen-Ausführungsgesetz) oder indirekt in Form nationaler Umsetzungen (z.B. Vereinigtes Königreich mit Schedule 3 des Mental Capacity Act 2005 bzw. des Adults with Incapacity (Scotland) Act 2000). Es ist in seiner Konzeption (Zuständigkeit der Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt des Erwachsenen; grds. Anwendung des eigenen Rechts) einfach und wird dadurch den internationalen Erwachsenenschutz erleichtern. Es ist auf der Höhe der Zeit und dürfte auch unter dem Recht der EU Bestand behalten, zumal es von der EuEheVO (VO 2201/2003) nicht berührt wird.

5. Zukunft des Erwachsenen­schutzes

Mit dem Haager Erwachsenenschutzübereinkommen hat die neueste Entwicklung auf dem Gebiet des Personenrechts seinen vorläufigen Abschluss erreicht. Nun geht es darum, Erfahrung zu gewinnen und zu sehen, wo und inwieweit man durch Zusatzabkommen noch eine weitere Verbesserung des Erwachsenenschutzes erreichen kann.

Literatur

Andreas Bucher, La Convention de La Haye sur la protection internationale des adultes, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 10 (2000) 37 ff.; Alegría Borras, La protección internacional del niño y del adulto como expresión de la materialización del derecho internacional privado: Similitudes y contrastes, in: Pacis artes. Obra homenaje al profesor Julio D. Gonzáles Campos, Bd. 2, 2005, 1287 ff.; Eric Clive, The New Hague Convention on the Protection of Adults, in: Petar Šarčević, Paul Volken (Hg.), Yearbook of Private International Law 2 (2000) 1 ff.; Daniel Füllemann, Das internationale Privat- und Zivilprozessrecht des Erwachsenenschutzes, 2008; Till Guttenberger, Das Haager Übereinkommen über den internationalen Schutz von Erwachsenen, 2004; Paul Lagarde, La Convention de La Haye du 13 janvier 2000 sur la protection internationale des adultes, Revue critique du droit international privée 89 (2000) 159 ff.; Francesco Seatzu, L’interesse del magiorenne incapace nella nuova convenzione dell’Aja (13 gennaio 2000) sulla protezione internazionale degli adulti: Il diritto di famiglia e delle persone 30 (2001) 1223 ff.; Kurt Siehr, Das Haager Übereinkommen über den internationalen Schutz Erwachsener, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 64 (2000) 715 ff.; idem, Der internationale Schutz Erwachsener nach dem Haager Übereinkommen von 1999, in: Festschrift für Dieter Henrich, 2000, 567 ff.

Abgerufen von Erwachsenenschutz – HWB-EuP 2009 am 21. November 2024.

Nutzungshinweise

Das Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, als Printwerk im Jahr 2009 erschienen, ist unter <hwb-eup2009.mpipriv.de> als Online-Ausgabe frei zugänglich gemacht.

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