Geschäftsgrundlage und Geschäftspraktiken, aggressive: Unterschied zwischen den Seiten

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von ''[[Hannes Rösler]]''
von ''[[Ansgar Ohly]]''
== 1. Gegenstand und Dogmengeschichte ==
== 1. Gegenstand, Begriff und Regelungszweck ==


Vereinbarte Verpflichtungen können grundsätzlich nicht nachträglich angepasst werden oder wegfallen. Dies ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Vertrages als individuelles Planungsinstrument sowie weitergehend aus dem Sicherheitsbedürfnis des Rechtsverkehrs. Vom formalen Grundgebot des ''pacta sunt servanda'' ([[Vertrag]]) werden jedoch vielfältige Ausnahmen gemacht, nicht zuletzt, da die menschliche Planungskapazität rasch Grenzen findet und die Erfüllung abhängig ist von gegenwärtigen oder zukünftigen Entwicklungen im weiteren Vertragsumfeld. Schwerwiegende, unzumutbare Veränderungen dieses Vertragsrahmens kann der Auffangtatbestand „Störung der Geschäftsgrundlage“ berücksichtigen.  
Der Verbraucher kann seine Schiedsrichterfunktion im Wettbewerb nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn er auf der Grundlage zutreffender Information frei entscheiden kann. Ein Lauterkeitsrecht, das die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft sichert, ist damit aufgerufen, die Grundlagen und die Freiheit der rationalen Verbraucherentscheidung zu schützen. Dem Schutz der Entscheidungsgrundlage dient das Verbot irreführender Geschäftspraktiken, dem Schutz der Entscheidungsfreiheit dient das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken. Letzteres bildet zugleich den Flankenschutz für diejenigen Bestimmungen des Vertragsrechts, die einem Vertragspartner die Lösung vom Vertrag im Fall der Drohung oder der unzulässigen Beeinflussung (''undue influence'') erlauben oder ihm für bestimmte Geschäftssituationen wie Haustürgeschäfte oder Fernabsatzverträge ein [[Widerrufsrecht]] zubilligen.


Ansätze zur billigkeitsrechtlichen Korrektur finden sich bereits bei der gemeinrechtlichen (und teils sogar bis auf die Glossatoren zurückreichenden)'' clausula rebus sic stantibus''-Lehre, also dem Vorbehalt gleichbleibender Umstände. Die Spuren dieses Vorläufers der Geschäftsgrundlage weisen bis in die Gegenwart. Anerkannt ist der ''clausula''-Gedanke im Völkerrecht, und zwar durch Art. 62 WVK und darüber hinaus als Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts, der auch die EU-Organe bindet (EuGH Rs. C-162/‌96 – ''Racke'', Slg. 1998, I-3655).
<nowiki>Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers durch Belästigung, Nötigung oder unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich beeinträchtigt und den Verbraucher dadurch zu einer Entscheidung veranlasst, die er andernfalls nicht getroffen hätte (Art.&nbsp;8 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken [UGP-RL, RL&nbsp;2005/‌ 29]). Die aggressive Werbung wirkt also gerade auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers ein und unterscheidet sich so von der bloß belästigenden Werbung, etwa der unerwünschten Telefon- oder E-Mail-Werbung.</nowiki>


Im Herrschaftsbereich der Privatautonomie ist die Entwicklung schwieriger. Naturrechtliche Kodifikationen erkannten zwar die ''clausula'' an (IV 15, §&nbsp;12 ''Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis'' von 1756; §§&nbsp;377 I 5 ALR von 1794). Die ''clausula''-Einrede hat aber 1804 keinen Eingang in den ''[[Code civil]]'' gefunden. Das österreichische Recht verwirft sie im [[Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch|ABGB]] 1811 als allgemeinen Rechtsgedanken (vor allem mit §&nbsp;901 ABGB über die Unbeachtlichkeit des Motivirrtums; s. aber §&nbsp;936 ABGB für den Vorvertrag). Auch die Pandektenwissenschaftler, die bekanntlich das [[Bürgerliches Gesetzbuch|BGB]] besonders beeinflussten, lehnten sie unter Berufung auf das [[römisches Recht|römische Recht]] grundsätzlich ab.
== 2. Rechtsentwicklung ==


Dabei war den BGB-Redakteuren der ''clausula''-Gedanke ebenso geläufig wie ''Bernhard Windscheids'' 1850 erschienene „Lehre des römischen Rechts von der Voraussetzung“. Beides ist zu unterscheiden: Die ''clausula''-Doktrin erfasst allein Veränderungen objektiver Umstände zwischen Verpflichtungsbeginn und der Erfüllung. Damit grenzt sie sich einerseits vom [[Irrtum]] ab, der subjektiv ausfällt, und andererseits von der Unmöglichkeit, die direkt den Vertragsgegenstand betrifft. Unter Zurückweisung der ''clausula''-Lehre knüpft ''Windscheids'' Voraussetzung als eine „unentwickelte Bedingung“ subjektiv an. Sie berücksichtigt gewisse Motivirrtümer, die dem anderen Vertragspartner erkennbar waren. Das Motiv müsse aber „in die Willenserklärung mit hineingenommen, zu einem Bestandteil derselben gemacht worden“ sein. Mit ihrem psychologischen Ausgangspunkt geht die Voraussetzungslehre freilich recht häufig ins Leere, da später eingetretene Veränderungen im Zeitpunkt des [[Vertragsschluss]]es vielfach nicht vorhersehbar waren.
Vor Erlass der UGP-RL unterschied sich der Schutz gegen aggressive Werbung in den Mitgliedstaaten so deutlich wie das Lauterkeitsrecht insgesamt ([[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)]]; [[Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)]]). Das frühere deutsche Recht verbot die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit unter §&nbsp;1 UWG a.F. recht weitgehend durch die Fallgruppe des „Kundenfangs“, teils auch durch diejenige der belästigenden Werbung. Für das französische Recht war ein derartiges allgemeines Verbot nicht ersichtlich, doch waren potentiell die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigende Geschäftspraktiken wie Zugaben, Kopplungsangebote und Gewinnspiele restriktiven Regelungen unterworfen. Das englische Recht ermöglicht zwar einer Vertragspartei im Fall der ''[[undue influence]]'' die Lösung vom Vertrag, schützte Verbraucher hingegen nicht im Vorfeld des Vertragsschlusses gegen unangemessene Beeinflussung. Lediglich die Kodices der freiwilligen Selbstkontrolle enthielten entsprechende Verbote.


Das BGB mit seinem liberal-individualistischen Vertragsleitbild lehnte die ''clausula''- und die Voraussetzungslehre aus Gründen der „Sicherheit des Verkehrs“ ab. Doch das Wiederaufkeimen dieser Ideen war in der Weimarer Republik mit dem Beginn einer unabhängigeren Rechtsfindung unvermeidbar. Grundlegend ist das 1921 von ''Paul Oertmann'' publizierte Buch „Die Geschäftsgrundlage – Ein neuer Rechtsbegriff“. ''Oertmann'' überwindet die Orientierung an nur einseitigen Vorstellungen oder Erwartungen in der Lehre von ''Windscheid''<nowiki>. Er definiert: „Geschäftsgrundlage ist die beim Geschäftsschluß zutage tretende und vom etwaigen Gegner in ihrer Bedeutsamkeit erkannte und nicht beanstandete Vorstellung eines Beteiligten oder die gemeinsame Vorstellung der mehreren Beteiligten vom Sein oder vom Eintritt gewisser Umstände, auf deren Grundlage der [gemeinsame] Geschäftswille sich aufbaut“ (S.&nbsp;37). </nowiki>
Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zielt nunmehr auf eine vollständige Harmonisierung des Lauterkeitsrechts im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern (unlauterer Wettbewerb). Die Richtlinie führt im Rahmen der Generalklausel des Art.&nbsp;5 aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel unlauterer Geschäftspraktiken auf (Art.&nbsp;5(4) UGP-RL). Der Begriff der aggressiven Geschäftspraxis wird in Art.&nbsp;8, 9 UGP-RL definiert. Diese ihrerseits noch generalklauselartige Definition wird durch acht Beispielsfälle der „schwarzen Liste“ konkretisiert.


== 2. Anerkennung im deutschen Recht ==
Damit gilt für das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken nunmehr ein gemeinschaftsrechtlicher Standard, den die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Übergangsvorschrift des Art.&nbsp;3(5) UGP-RL weder über- noch unterschreiten dürfen. Allerdings ist die Harmonisierungswirkung der Richtlinie in dreifacher Hinsicht eingeschränkt. Erstens sind die normativen Vorgaben für aggressive Werbung wegen der generalklauselartigen Formulierung des Art.&nbsp;8 UGP-RL und wegen der begrenzten praktischen Relevanz einiger Tatbestände der „schwarzen Liste“ noch sehr unbestimmt. Erst die künftige Rechtsprechung des [[Europäischer Gerichtshof|EuGH]] wird den Begriff der „aggressiven“ <nowiki>Praxis konkretisieren. Zweitens bleiben die Mitgliedstaaten befugt, über die Richtlinie hinaus Geschäftspraktiken aus Gründen der „guten Sitten und des Anstandes“ zu verbieten (Erwägungsgrund&nbsp;7). Damit behalten die Mitgliedstaaten insbesondere die Möglichkeit, belästigende Praktiken wie das Ansprechen von Verbrauchern auf der Straße (ausdrücklich in Erwägungsgrund&nbsp;7 genannt), die Telefonwerbung (Regelung freigestellt durch Art.&nbsp;13 der E-Datenschutz-RL [RL&nbsp;2002/‌58]) oder Hausbesuche von Vertretern auch dann zu verbieten, wenn die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers nicht beeinträchtigt wird (so etwa §&nbsp;7 des dt. UWG). Drittens überlässt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken den Mitgliedstaaten die Wahl des Instrumentariums zur Durchsetzung der Bestimmungen über unlautere Geschäftspraktiken.</nowiki>


===a) Rechtsprechung ===
Dementsprechend unterschiedlich fällt die Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten aus ([[Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen)]]; [[Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)]]). Im deutschen Recht bestand mit §&nbsp;4 Nr.&nbsp;1 UWG bereits seit 2004 eine dem Art.&nbsp;8 UGP-RL vergleichbare Vorschrift, zusätzlich verbietet §&nbsp;4 Nr.&nbsp;2 UWG die Ausnutzung von Unerfahrenheit, Angst oder einer Zwangslage. Diese Bestimmungen werden weitgehend beibehalten. Damit besteht in Deutschland ein rein zivilrechtliches Umsetzungsmodell: Die aggressive Werbung kann von Mitbewerbern und Verbänden mit Abwehransprüchen bekämpft werden (§&nbsp;8 UWG), Mitbewerbern steht zudem ein Schadensersatzanspruch zu (§&nbsp;9 UWG) und Verbraucherverbände können Gewinnabschöpfung zugunsten der Staatskasse verlangen (§&nbsp;10 UWG). In Frankreich wurde Art.&nbsp;8 im ''Code de la consommation'' umgesetzt, ein Verstoß löst in erster Linie strafrechtliche Rechtfolgen aus. In mehreren Mitgliedstaaten, etwa in Italien, erhalten Wettbewerbsbehörden die Zuständigkeit, gegen aggressive Geschäftspraktiken vorzugehen. Ähnliches gilt für das britische Recht, wo aber zusätzlich der freiwilligen Werbeselbstkontrolle erhebliche Bedeutung zukommt.


Da das Rechtsinstitut vorbildgebend in Deutschland entwickelt wurde, bedarf das deutsche Recht der näheren Darstellung. Die Akzeptanz der Geschäftsgrundlage erfolgte in der Hochinflationsphase nach dem Ersten Weltkrieg. Nach anfänglicher Verweigerung einer Korrektur behalf sich das RG u.a. mit einer Gleichstellung der Unzumutbarkeit der Sachleistung mit der Unmöglichkeit (sog. „wirtschaftliche Unmöglichkeit“) sowie allgemein mit §§&nbsp;157, 242 BGB. Schließlich bezog sich das RG am 3.2.1922 in der ''Vigognespinnerei''-Entscheidung erstmals auf ''Oertmann''. Im Fall der „grundstürzenden Preisänderung“ sei – gestützt auf [[Treu und Glauben]] – mit Hilfe der Geschäftsgrundlage der Vertrag vorrangig anzupassen und in zweiter Linie aufzulösen (RG 3.2.1922, RGZ&nbsp;103,&nbsp;328,&nbsp;331&nbsp;ff.; RG 28.11.1923, RGZ 107, 78&nbsp;ff.).
== 3. Regelungsgehalt und &#8209;struktur ==


Die weitere Rechtsprechung verfestigt die Formel von ''Oertmann'' (BGH 23.10.1957, BGHZ 25,&nbsp;390,&nbsp;392; BGH 1.6.1979, BGHZ&nbsp;74,&nbsp;370,&nbsp;372&nbsp;f.). Sie hebt dabei die Gesichtspunkte der Zumutbarkeit und der sach- und interessengerechten Risikozuweisung hervor. Ausgangspunkt für die Analyse der Risikoverteilung ist der Vertragszweck: Der Umstand darf nicht erkennbar in den Lebens- oder Geschäftsbereich der Partei fallen, die sich auf die Störung beruft (BGH, 25.5.1977, NJW&nbsp;1977, 2262, 2263). So liegt das Verwendungs- und Finanzierungsrisiko generell beim Gläubiger. Umgekehrt ist dem Schuldner das Beschaffungsrisiko zugewiesen. Das Risiko für Abweichungen des Wertverhältnisses sowie Irrtümer über Kosten und Motivationen (vgl. aber die Ausnahme in §&nbsp;119 Abs.&nbsp;2 BGB) trägt grundsätzlich die belastete Vertragspartei.  
Der Schutz gegen aggressive Geschäftspraktiken in der UGP-RL ist dreistufig aufgebaut. Die Prüfung vollzieht sich in umgekehrter Reihenfolge, also vom Konkreten zum Allgemeinen.


Weiter betont die Rechtsprechung, nur krasse Abweichungen von der ermittelten Risikoaufteilung könnten die Annahme rechtfertigen, die Gegenseite hätte den Vertrag bei Kenntnis der wahren Entwicklung redlicherweise nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen. Ohnehin muss die Vertragskorrektur oder &#8209;beendigung zur Vermeidung eines unzumutbaren, mit Recht und Gerechtigkeit unvereinbarenden Ergebnisses unabweislich erscheinen (BGH 29.4.1982, BGHZ 84, 1, 9; BGH 26.9.1966, BGHZ 133, 316, 321). Damit wird die ''Oertmann''’sche Formel verobjektiviert, und die Geschäftsgrundlage rückt von der Nähe zum Irrtumsrecht etwas in Richtung Leistungsstörungsrecht.
Auf der ersten Stufe verbietet die Generalklausel des Art.&nbsp;5(1) UGP-RL unlautere Geschäftspraktiken im Allgemeinen und nennt aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel (Art.&nbsp;5(4) UGP-RL).


Eine überaus reichhaltige Kasuistik entsteht. Sie befasst sich mit Einzelfragen, aber auch im Großen mit den Problemen der Nachkriegszeit bis hin zu den Folgen der deutschen Einheit. Fallgruppen von §&nbsp;313 BGB bilden beispielsweise die schwere Äquivalenzstörung (etwa infolge einer Geldentwertung), sonstige Leistungserschwerung, Zweckstörung oder Zweckvereitelung (dass also die Vertragserfüllung für den Gläubiger keinen Sinn mehr macht), Rechtsänderungen von hoher Hand sowie der gemeinsame Irrtum über die subjektive Geschäftsgrundlage.
Die zweite Stufe bildet das generalklauselartig formulierte Verbot aggressiver Geschäftspraktiken in Art.&nbsp;8 UGP-RL, der drei Voraussetzungen enthält. (i) Es muss eine Geschäftspraxis im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern im Sinne des Art.&nbsp;2 (d)UGP-RL, also eine Handlung vorliegen, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts zusammenhängt. Aggressive Praktiken gegenüber Unternehmen werden durch die Richtlinie nicht erfasst, insoweit verbleibt den Mitgliedstaaten bisher eigener Regelungsspielraum. (ii) Als Mittel der Einwirkung nennt Art.&nbsp;8 UGP-RL die Belästigung, die Nötigung und die unzulässige Beeinflussung. Letztere wird in Art.&nbsp;2(j) UGP-RL definiert als „Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher zur Ausübung von Druck, auch ohne die Anwendung körperlicher Gewalt, in einer Weise, die die Fähigkeit des Verbrauchers zu einer informierten Entscheidung wesentlich einschränkt“. Der Unternehmer muss also aufgrund seiner Überlegenheit beim Verbraucher den Eindruck erwecken, dieser erleide einen empfindlichen Nachteil, wenn er sich auf den Willen des Unternehmers nicht einlässt. ''Helmut Köhler'' und ''Tobias Lettl'' unterscheiden zwischen einer strukturbedingten Machtposition, die sich aus einer familiären, sozialen, wirtschaftlichen, verbandsmäßigen oder intellektuellen Überlegenheit des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher ergibt, und einer situationsbedingten Machtposition, bei der sich der Unternehmer Besonderheiten der Situation (etwa die faktische Schwierigkeit, einen Vertreter aus der Wohnung zu weisen oder ein Ladengeschäft zu verlassen) zunutze macht. (iii) Die Belästigung oder Beeinflussung muss sich tatsächlich oder voraussichtlich auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers auswirken. Dabei ist das Verhalten eines Durchschnittsverbrauchers maßgeblich, sofern sich die Geschäftspraxis nicht an besonders schutzwürdige Personenkreise richtet (Art.&nbsp;5(2), (3) UGP-RL).


=== b) Kodifizierung ===
Auf der dritten Stufe konkretisiert die „schwarze Liste“ das Verbot aggressiver Praktiken und benennt Verhaltensweisen, die unter allen Umständen als unlauter gelten. Hierzu zählen das Erwecken des Eindrucks, der Verbraucher könne die Räumlichkeiten des Unternehmers ohne Vertragsschluss nicht verlassen (Nr&nbsp;24), die Weigerung eines Vertreters, die Wohnung des Verbrauchers zu verlassen (Nr.&nbsp;25), die hartnäckige und unerwünschte Telefon-, Fax- oder E-Mail-Werbung (Nr.&nbsp;26, schon die einmalige unerwünschte Werbung per Fax oder E-Mail ist nach Art.&nbsp;13 der E-Datenschutzrichtlinie verboten, zu den weitergehenden Möglichkeiten des nationalen Rechts s.o.), die Aufforderung des Verbrauchers zur Bezahlung unbestellt zugesandter Waren (Nr.&nbsp;29) und die falsche Gewinnmitteilung (Nr.&nbsp;31, die allerdings eher dem Irreführungsverbot zuzuordnen ist). Probleme bereitet die Auslegung der Nr.&nbsp;28, der zufolge direkte Aufforderungen an Kinder in der Werbung, die Produkte zu kaufen oder ihre Eltern zum Kauf zu überreden, als unlauter gelten. Umstritten ist vor allem, ob der Begriff „Kind“ auch Jugendliche ab dem 14.&nbsp;Lebensjahr umfasst und wann von einer „Aufforderung“ die Rede sein kann.


<nowiki>Die Schuldrechtsmodernisierung gießt die Rechtsprechungsgrundsätze 2002 merkzettelgleich in Gesetzesform. §&nbsp;313 Abs.&nbsp;1 BGB lautet mit den drei hier hervorgehobenen Beurteilungskriterien: „Haben sich [objektive] Umstände, die zur Grundlage [also nicht bereits zum Inhalt] des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert [erstes tatsächliches Kriterium] und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten [zweites hypothetisches Kriterium], so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag [als drittes und zentrales wertendes Kriterium] nicht zugemutet werden kann [und auch umgekehrt der anderen Partei eine Anpassung zumutbar ist].“ Damit ist die objektive Geschäftsgrundlage definiert. Gleichgestellt sind wesentliche Grundlagenvorstellungen, die sich später als falsch erweisen (§&nbsp;313 Abs.&nbsp;2 BGB).</nowiki>
Nicht ausdrücklich geregelt werden in der Richtlinie Maßnahmen der Verkaufsförderung wie Zugaben, Rabatte, Kopplungsangebote oder Gewinnspiele. Diese Praktiken waren früher in einigen europäischen Rechtsordnungen strikten Beschränkungen unterworfen und sind nach wie vor nicht uneingeschränkt erlaubt. Der Versuch der Kommission, diese Sachverhalte im Verordnungswege zu regeln, scheiterte; der Vorschlag für eine Verordnung über Verkaufsförderung'' ''im'' ''Binnenmarkt von 2001 wurde zurückgezogen. In der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken fehlen weitgehend spezielle Bestimmungen, so dass in erster Linie die allgemeinen Verbote irreführender und aggressiver Praktiken greifen. Irreführend ist etwa die fälschliche Bezeichnung eines Angebots als „gratis“ (Nr.&nbsp;20 der „schwarzen Liste“), das Angebot von Wettbewerben oder Preisausschreiben, ohne dass die Preise vergeben werden (dort Nr.&nbsp;19) oder die falsche Gewinnmitteilung (dort Nr.&nbsp;31). Nicht geklärt ist auf Gemeinschaftsebene aber die Reichweite des Transparenzgebots, also die Frage, welche Informationen der Anbieter von Rabatten, Kopplungsangeboten und ähnlichen Gelegenheiten dem Verbraucher zur Verfügung stellen muss ([[Geschäftspraktiken, irreführende]]). Das Verbot der aggressiven Werbung spielt in diesem Zusammenhang nur noch eine sekundäre Rolle, weil vom Durchschnittsverbraucher regelmäßig erwartet werden kann, dass er in der Lage ist, die Vorteile einer Zugabe, eines Rabatts oder einer ähnlichen Maßnahme rational zu beurteilen. Etwas anderes kann für besonders schutzbedürftige Verbraucherkreise wie Jugendliche gelten (vgl. Art.&nbsp;5(3) UGP-RL und §&nbsp;4 Nr.&nbsp;2 des dt. UWG). Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die bestimmte Maßnahmen der Verkaufsförderung generell, also unabhängig von ihrer Irreführungseignung oder ihrem Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit verbieten, sind mit der UGP-RL nur dann vereinbar, wenn die Verbote ausdrücklich in der „schwarzen Liste“ genannt werden. Das belgische generelle Verbot von Kopplungsgeschäften hat der EuGH daher als mit der Richtlinie unvereinbar erklärt (EuGH verb. Rs. C-261/‌07 und C-299/‌07 – ''VTB-VAB/‌Total'', Medien und Recht 2009, 103). Der BGH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob §&nbsp;4 Nr.&nbsp;6 UWG, der eine Kopplung der Teilnahme an Preisausschreiben und Gewinnspielen an den Erwerb der Ware verbietet, mit Art.&nbsp;5(2) UGP-RL vereinbar ist (BGH 5.6.2008, GRUR 2008, 807). Es steht zu erwarten, dass der EuGH diese Frage verneinen wird.


Sowohl für diese subjektive als auch die objektive Geschäftsgrundlage geht die Vertragsanpassung vor. Sollte der richterlich zu verwirklichende Anpassungsanspruch jedoch unmöglich oder einem Vertragsteil unzumutbar sein, so ist dem Benachteiligten der Rücktritt bzw. im Fall eines Dauerschuldverhältnisses (z.B. Miet-, Dienst- und Bezugsverträge) die Kündigung eröffnet (§ 313 Abs.&nbsp;3 BGB).
== 4. Bewertung und Ausblick ==


Systematisch hat die Reform die Geschäftsgrundlage hinter den neuen Bestimmungen zum Verbraucherschutz eingeordnet. Damit wird der eigentliche Zusammenhang mit §&nbsp;242 BGB verdeckt. Schließlich verschweigt die Vorschrift auch den strikten Vorrang der (ergänzenden) Vertragsauslegung und des Gesetzes. Dazu zählen das Irrtums- und Leistungsstörungsrecht, aber auch Spezialvorschriften wie etwa §&nbsp;779 BGB für den beiderseitigen Irrtum über die Vergleichsgrundlage sowie im Fall der Dauerschuldverhältnisse die ordentliche oder außerordentliche Kündigung. Doch vor allem die Bestimmung der Risikoverteilung anhand des Vertragstyps und der Besonderheiten des Einzelfalles lässt sich ohne die durch die Judikatur etablierten Fallgruppen kaum hinreichend sicher vornehmen.
Der Schutz der Verbraucher vor einer Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit gehört zum Kernbestand des Lauterkeitsrechts. Während sich in der Vergangenheit in Europa liberale Rechtsordnungen wie das englische Recht und hochregulierte Rechtsordnungen wie das deutsche Recht diametral entgegengesetzt gegenüberstanden, stellt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ein bedeutendes Zwischenergebnis in einem Konvergenzprozess dar, der schon in den späten 1990er Jahren begann. Allerdings ist auch in Zukunft damit zu rechnen, dass nationale Gerichte unterschiedlich darüber urteilen, wie aggressiv der Verbraucher umworben werden darf. Der Rechtsprechung des EuGH wird daher eine wesentliche Bedeutung bei der Konkretisierung des Begriffs „aggressive Geschäftspraxis“ zukommen. Außerdem werden sich die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wegen der divergierenden Durchsetzungs- und Sanktionssysteme auf absehbare Zeit unterscheiden.
 
== 3. Tendenzen der Rechts&shy;entwicklung im Vergleich ==
 
Die geschichtlich und dogmatisch reizvolle Geschäftsgrundlagenlehre hat auch im Ausland große wissenschaftliche Beachtung gefunden. Gleichwohl wird sie von Gerichten z.B. in England und Frankreich mit Verweis auf die Vertragstreue und die richterlichen Befugnisse verworfen. Weiter erklärt sich die Faszination mit der von den zwanziger Jahren bis zur Schaffung des §&nbsp;313 BGB zu verzeichnenden Kontinuität in einer umsichtig ausbalancierten Rechtsprechung. Im Rechtsvergleich wird die überzeugende Flexibilität bei hinreichender Rechtssicherheit deutlich: Mit der Geschäftsgrundlagenlehre werden wirtschaftlich sinnlos oder sonst untragbar gewordene Vertragsverhältnisse wieder auf einen vernünftigen Boden gestellt. Die dargestellte Dogmengeschichte mit objektiven und subjektiven Tendenzen verdeutlicht bereits die funktionale Verwandtschaft zu anderen Rechtsinstituten, insbesondere zum Unmöglichkeits- und Irrtumsrecht. Dies erklärt, warum sich hier außerhalb Deutschlands funktionale (Teil&#8209;) Äquivalente für eine richterliche Vertragsaufhebung oder &#8209;anpassung finden lassen.
 
=== a) England ===
 
So übernimmt im englischen Recht die ''frustration ''partiell Funktionen der Geschäftsgrundlage. Allerdings führt der Störungseintritt grundsätzlich zur Beendigung des Vertrags. Die Fragen der Ausgleichsansprüche regelt – als Teil der ''restitution'' – der ''Law Reform (Frustrated Contracts) Act 1943''. Hiernach kann das Gericht nach seinem Ermessen die Kosten und erlangten Vorteile teilen. Kennzeichnenderweise umfasst die ''frustration ''auch Zweckvereitelungen. Europaweite Berühmtheit hat ''Krell v. Henry''<nowiki> [1903] 2 KB 740 (CA) erlangt. Gegenstand war die Miete eines Raumes mit Aussicht auf einen später verschobenen Krönungszug. Dieser sei „foundation of the contract“ geworden, wodurch der ganze Vertrag gegenstandslos wurde. Das englische Recht vereint also Fälle der Unmöglichkeit und Zweckvereitelung („frustration of purpose“) in der </nowiki>''frustration-''Doktrin (vgl. ''Davis Contractors Ltd. v. Fareham U.D.C. ''<nowiki>[1956] AC 696 (HL)). Ansonsten werden Abhilfen bei nachträglichen Umstandsänderungen versagt.</nowiki>
 
Nach der Geschäftsgrundlagenlehre führen vorhersehbare und beherrschbare Entwicklungen nicht zur Anpassung. Auch in der besagten englischen Leitentscheidung ''Krell v. Henry'' formuliert der ''Court of Appeal'': „The test seems to be whether the event which causes the impossibility was or might have been anticip<nowiki>ated and guarded against“ ([1903] 2 KB 740, 752). </nowiki>Schließlich hätten die Parteien im Fall der Vorhersehbarkeit vertragliche Vorkehrungen treffen können. Deren Nichtvornahme verdeutlicht die intendierte Risikozuweisung. Die deutsche und die englische Rechtsordnung betonen den Gesichtspunkt der Gefahrenverteilung. Dies geht einher mit dem Wandel von der Hineininterpretation subjektiver „implied conditions“ zu einer stärker objektiven Argumentation.
 
Das deutsche Recht hat dagegen die Unmöglichkeit von der Geschäftsgrundlage abzugrenzen. Seit der Schuldrechtsmodernisierung führen die vorrangigen Einreden der sog. faktischen und persönlichen Unmöglichkeit nach §&nbsp;275 Abs.&nbsp;2 und 3 BGB zur Befreiung von der Leistungspflicht und dies, obwohl die Erfüllung prinzipiell möglich wäre. §&nbsp;275 Abs.&nbsp;2 BGB erfasst Fälle, in denen die Leistung des Schuldners einen Aufwand erfordert, der in einem groben, wirtschaftlich irrationalen Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht (z.B. ein geschuldeter Ring, der auf den Meeresgrund gefallen ist). Während somit das Unmöglichkeitsrecht das Gläubigerinteresse als Bezugspunkt einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nimmt, erfordert die Geschäftsgrundlage die Berücksichtigung aller Interessen und kann damit auch Fälle der „Unerschwinglichkeit“ erfassen.
 
=== b) Frankreich und Italien ===
 
Am stärksten hält das französische Recht an der Vertragsbindung fest. Die Berücksichtung unvorhergesehener Ereignisse (sog. ''imprévision'') wird im Bereich des Privatrechts abgelehnt (Cass. civ., 6.3.1876, D 1876 I, 93, wo die Anpassung eines 1576 vereinbarten Entgelts abgelehnt wurde). Die in Art.&nbsp;1134 ''Code civil'' enthaltende ''force obligatoire du contrat'' ist damit absolut. Ausnahmen machen davon die Fälle des ''cause étrangère'' in Art.&nbsp;1147 ''Code civil'' und ''force majeure ''oder ''cas fortuit ''nach Art.&nbsp;1148 ''Code civil''. Anders ist dies im französischen Verwaltungsrecht. Hier wurde die ''imprévision'' höchstrichterlich anerkannt, und zwar ausgehend von einem Fall, in dem eine Vertragsanpassung die öffentliche Grundversorgung rettete (''Conseil d’État'', 30.3.1916, ''Gaz de Bordeaux'', D. 1916. III. 25).
 
In der Rechtswissenschaft wird dagegen die sog. ''économie du contrat ''intensiv diskutiert. Danach ist die Wirtschaftlichkeit des Vertrags im Störungsfalle durch Abänderung oder Auflösung wieder herzustellen. Bislang sind die französischen Zivilgerichte zurückhaltend. In Einzelfällen wurde den Parteien allerdings eine ''bonne foi''-Verpflichtung zur Neuverhandlung von Verträgen auferlegt (Cass. com., 3.11.1992, Bull. civ. IV, no. 338; Cass. com., 24.11.1998, Bull. civ. IV, no.&nbsp;277). Dies berücksichtigt das ''Avant-projet de réforme du droit des obligations et du droit de la prescription'' von 2005. Gemäß dessen Art.&nbsp;1135-2 kann in Ermangelung einer vereinbarten Anpassungsklausel diejenige Partei, die ihr Interesse an dem Vertrag verloren hat, beim Tribunal de Grande Instance'' ''die Anordnung einer Neuverhandlung beantragen. Scheitern die Verhandlungen, vermag – von Fällen der Bösgläubigkeit abgesehen – jede Partei den Vertrag ohne Kosten und Schadensersatzpflicht aufzulösen. Eine gerichtliche Umgestaltung ist dem französischen System fremd.
 
Vom geltenden französischen Recht unterscheidet sich das italienische Recht: Es verknüpft im Fall „übermäßiger“, unvorhersehbarer Leistungserschwerung (''eccessiva onerosità'') mit Art. 1467 Abs.&nbsp;3 ''Codice civile'' von 1942 Neuverhandlung und Vertragskontrolle. Der Vertragspartner kann das Recht der benachteiligten Partei auf Aufhebung des Vertrages abwenden, indem er ein Angebot zur billigen Anpassung unterbreitet. Allerdings besteht insgesamt eine erhebliche Zurückhaltung gegenüber Eingriffen in die Vertragsgestaltung: Außerhalb von Art.&nbsp;1467 und auch 1468 ''Codice civile'' nehmen die italienischen Richter keine Anpassung, sondern nur eine Auflösung vor.
 
Nachverhandlungen und richterliche Anpassungen haben im Vergleich zur Auflösung einen klaren Vorzug, da sie möglichst lange an der Vertragstreue festhalten. Hingegen entlässt das englische Recht im – selten angenommenen – Eintritt des Störungsfalles die Vertragsparteien aus ihren Pflichten. Hierdurch entstehen die besagten Rückabwicklungsprobleme und eine Partei könnte insbesondere aus für sie positiven Marktentwicklungen einen einseitigen Vorteil ziehen. Die Regel „courts do not rewrite contracts“ zur Respektierung der Vertragsautonomie ist somit Ausdruck eines zu restriktiven Verständnisses von der Richterrolle. Festzuhalten ist demgegenüber: §&nbsp;313 BGB statuiert mit seinen weitgehenden richterlichen Umgestaltungsmöglichkeiten gerade keine Nachverhandlungspflicht.
 
=== c) Lösungen weiterer Rechtsordnungen===
 
Richterliche Vertragsanpassung oder &#8209;auflösung sieht, ähnlich wie das deutsche Recht, auch das griechische Zivilgesetzbuch von 1946 vor (Art.&nbsp;388 griech. ZGB). Gleiches eröffnet das niederländische Recht seit 1992 bei ''onvoorziene omstandigheden'', d.h. bei unvorhergesehenen Umständen (Art.&nbsp;6:258 BW). Ähnlich verhält es sich auch im portugiesischen Recht mit Art.&nbsp;437 ''Código civil''. §&nbsp;36 Nordisches Vertragsgesetz ermöglicht die Aufhebung und Abänderung wegen „Unfairness“. Weitere Rechtsordnungen haben diese Möglichkeiten gewohnheitsrechtlich anerkannt.
 
Nach schweizerischer Entscheidungspraxis verpflichtet das Rechtsmissbrauchsverbot in Art.&nbsp;2 Abs.&nbsp;2 schweiz. ZGB den Richter, einen „Vertrag dann zu ändern oder aufzuheben, wenn durch nachträgliche, nicht voraussehbare Umstände ein derart offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung eingetreten ist, dass das Beharren einer Partei auf ihrem Anspruch als missbräuchlich erscheint“ (BG 7.12.1971, BGE 97 II 390, 398). Ohnehin bedarf es keines Rückgriffs auf den ''clausula''-Gedanken, wenn bereits ein gemeinsamer Grundlagenirrtum nach Art.&nbsp;24 Abs.&nbsp;1 Nr.&nbsp;4 OR vorliegt.
 
== 4. ''Principles'' und Einheitsrecht ==
 
Ihre größte Strahlkraft hat die Geschäftsgrundlagenlehre bislang in den verschiedenen ''Principles'' erlangt. Art. 6:111 PECL nennt sie übermäßig belastende „veränderte Umstände“, „change of circumstances“ und „changement de circonstances“. Art. III.-1:110 DCFR folgt der Begriffswahl mit „change of circumstances“. Art. 6.2.1–6.2.3 UNIDROIT PICC bezeichnen das Institut zwar ebenfalls als „veränderte Umstände“, die das Gleichgewicht des Vertrages grundlegend ändern. Die englische und sogar französische Fassung verwenden aber den Begriff „hardship“. Fernab dieser terminologischen Schwierigkeiten haben die Gerichte entscheidenderweise nach den drei Prinzipienwerken Kriterien und weitreichende Befugnisse, die dem deutschen Vorbild ähneln. Allerdings müssen nach allen Prinzipienwerken die Parteien primär in Verhandlungen über eine Änderung oder Aufhebung des Vertrages eintreten. (Anders nach deutschem Recht.) Erst wenn es in angemessener Zeit zu keiner Einigung kommt, kann das Gericht den Vertrag aufheben oder in gerechter und billiger Weise anpassen. Mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Vorverständnisse der Richterrolle ist ein Vorrang der Anpassung leider nicht ausdrücklich niedergelegt. Allerdings lässt sich dieser allgemein aus dem Hauptzweck der Aufrechterhaltung des Vertrages herleiten (vgl. Art. 6:111 PECL, Kommentar D, 392). Diese Zweistufigkeit entspricht dem auch auf der Rechtsfolgenebene zu beachtenden Grundsatz der Vertragstreue.
 
Eine bislang nur angedeutete offene Flanke besteht zum Irrtumsrecht. Es erfasst prinzipiell Störungen bei der vorvertraglichen Willensbildung und grenzt sich hierdurch von der nachvertraglichen Geschäftsgrundlage ab. Durchbrochen wird dies im deutschen Recht durch §&nbsp;313 Abs.&nbsp;2 BGB, der das anfängliche Fehlen der subjektiven Geschäftsgrundlage erfasst. Andere Rechtsordnungen wählen hier vorrangig das Anfechtungsrecht wegen Irrtums. Dies spiegelt sich in [[Principles of European Contract Law|PECL]], [[UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts|UNIDROIT PICC]] und Draft [[Common Frame of Reference|DCFR]]. Innovativ kann aber nach Art.&nbsp;4:105(3) PECL und Art.&nbsp;II.-7:203(3) DCFR das Gericht im Fall von gemeinsamen Irrtümern eine Vertragsanpassung vornehmen.
 
Das UN-Kaufrecht ([[Warenkauf, internationaler (Einheitsrecht)]]) sieht keine Vorschrift zum Problem veränderter Umstände vor. Vom Schuldner unvorhersehbare und unvermeidbare Hinderungsgründe außerhalb seines Einflussbereichs schließen allerdings nach Art.&nbsp;79 CISG einen Schadensersatz aus. Diese sehr enge Ausnahme von der verschuldensunabhängigen Haftung erfasst nach richtiger Ansicht nicht „hardship“, sondern nur die eigentliche Leistungsunmöglichkeit. Damit eröffnet sich die Frage, ob die ''clausula rebus sic stantibus'' oder die Geschäftsgrundlage nach Art.&nbsp;6.2.1–6.2.3 UNIDROIT PICC als Grundsatz i.S.d. Art.&nbsp;9(2) CISG Beachtung finden können. Dem wird in der (schieds&#8209;) gerichtlichen Praxis mit Zurückhaltung begegnet. Eine richterliche Vertragsgestaltung ist – entsprechend der ''common law''-Tradition – im UN-Kaufrecht nicht vorgesehen. Angesichts dieser Unsicherheiten ist dem internationalen Handel die Vereinbarung von Klauseln wie z.B. die ''ICC Force Majeure'' oder ''Hardship Clause'' zu empfehlen.


==Literatur==
==Literatur==
''Karl Larenz'', Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, 3.&nbsp;Aufl. 1963; ''Reinhard Zimmermann'', „Heard melodies are sweet, but those unheard are sweeter ...“: Condicio tacita, implied condition und die Fortbildung des europäischen Vertragsrechts, Archiv für die civilistische Praxis 193 (1993) 121&nbsp;ff.; ''Ewan McKendrick ''(Hg.), Force Majeure and Frustration of Contract, 2.&nbsp;Aufl. 1995; ''Klaus Luig'', Die Kontinuität allgemeiner Rechtsgrundsätze: Das Beispiel der clausula rebus sic stantibus, in: Reinhard Zimmermann, Rolf Knütel, Jens Peter Meincke (Hg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 2000, 171&nbsp;ff.; ''Felix Christopher Hey'', Die Kodifizierung der Grundsätze über die Geschäftsgrundlage durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, in: Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung: Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag, 2002, 21&nbsp;ff.; ''Guenter H. Treitel'', Frustration and Force Majeure, 2.&nbsp;Aufl. 2004; ''Hannes Rösler'', Grundfälle zur Störung der Geschäftsgrundlage, Juristische Schulung 2004, 1058&nbsp;ff., 1062&nbsp;ff., Juristische Schulung 2005, 27&nbsp;ff.; ''Pascal Ancel'', ''Bénédicte Fauvarque-Cosson'', ''Robert Wintgen'', La théorie du „fondement contractuel“ (''Geschäftsgrundlage'') et son intérêt pour le droit français, Revue des Contrats 2006, 897&nbsp;ff.; ''James Gordley'', Foundations of Private Law: Property, Tort, Contract, Unjust Enrichment, Kap.&nbsp;15; ''Hannes Rösler'', Hardship in German Codified Private Law in Comparative Perspective to English, French and International Contract Law, European Review of Private Law 15 (2007) 483&nbsp;ff.
''Helmut'' ''Köhler'', ''Tobias'' ''Lettl'', Das geltende europäische Lauterkeitsrecht, der Vorschlag für eine EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die UWG-Reform, Wettbewerb in Recht und Praxis 2003, 1019; ''Winfried Veelken'', Kundenfang gegenüber dem Verbraucher, Wettbewerb in Recht und Praxis 2004, 1; ''Manfred Hecker'', Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2006, 640; ''Peter Mankowski'', Wer ist ein „Kind“? Zum Begriff des Kindes in der deutschen und der europäischen black list, Wettbewerb in Recht und Praxis 2007, 1398; ''Anja Steinbeck'', Die Zukunft der aggressiven Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 865; ''Sonja Fischer'', Schutz der Entscheidungsfreiheit im Rahmen der Verkaufsförderung, 2008; ''Helmut Köhler'', Werbung gegenüber Kindern: Welche Grenzen zieht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken?, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 700; ''idem'', Beispiele unlauterer geschäftlicher Handlungen, §&nbsp;4 Nr.&nbsp;1, 2 UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27.&nbsp;Aufl. 2009.


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Version vom 8. September 2021, 12:28 Uhr

von Ansgar Ohly

1. Gegenstand, Begriff und Regelungszweck

Der Verbraucher kann seine Schiedsrichterfunktion im Wettbewerb nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn er auf der Grundlage zutreffender Information frei entscheiden kann. Ein Lauterkeitsrecht, das die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft sichert, ist damit aufgerufen, die Grundlagen und die Freiheit der rationalen Verbraucherentscheidung zu schützen. Dem Schutz der Entscheidungsgrundlage dient das Verbot irreführender Geschäftspraktiken, dem Schutz der Entscheidungsfreiheit dient das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken. Letzteres bildet zugleich den Flankenschutz für diejenigen Bestimmungen des Vertragsrechts, die einem Vertragspartner die Lösung vom Vertrag im Fall der Drohung oder der unzulässigen Beeinflussung (undue influence) erlauben oder ihm für bestimmte Geschäftssituationen wie Haustürgeschäfte oder Fernabsatzverträge ein Widerrufsrecht zubilligen.

Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers durch Belästigung, Nötigung oder unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich beeinträchtigt und den Verbraucher dadurch zu einer Entscheidung veranlasst, die er andernfalls nicht getroffen hätte (Art. 8 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken [UGP-RL, RL 2005/‌ 29]). Die aggressive Werbung wirkt also gerade auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers ein und unterscheidet sich so von der bloß belästigenden Werbung, etwa der unerwünschten Telefon- oder E-Mail-Werbung.

2. Rechtsentwicklung

Vor Erlass der UGP-RL unterschied sich der Schutz gegen aggressive Werbung in den Mitgliedstaaten so deutlich wie das Lauterkeitsrecht insgesamt (Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen); Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)). Das frühere deutsche Recht verbot die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit unter § 1 UWG a.F. recht weitgehend durch die Fallgruppe des „Kundenfangs“, teils auch durch diejenige der belästigenden Werbung. Für das französische Recht war ein derartiges allgemeines Verbot nicht ersichtlich, doch waren potentiell die Entscheidungsfreiheit beeinträchtigende Geschäftspraktiken wie Zugaben, Kopplungsangebote und Gewinnspiele restriktiven Regelungen unterworfen. Das englische Recht ermöglicht zwar einer Vertragspartei im Fall der undue influence die Lösung vom Vertrag, schützte Verbraucher hingegen nicht im Vorfeld des Vertragsschlusses gegen unangemessene Beeinflussung. Lediglich die Kodices der freiwilligen Selbstkontrolle enthielten entsprechende Verbote.

Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken zielt nunmehr auf eine vollständige Harmonisierung des Lauterkeitsrechts im Verhältnis zwischen Unternehmern und Verbrauchern (unlauterer Wettbewerb). Die Richtlinie führt im Rahmen der Generalklausel des Art. 5 aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel unlauterer Geschäftspraktiken auf (Art. 5(4) UGP-RL). Der Begriff der aggressiven Geschäftspraxis wird in Art. 8, 9 UGP-RL definiert. Diese ihrerseits noch generalklauselartige Definition wird durch acht Beispielsfälle der „schwarzen Liste“ konkretisiert.

Damit gilt für das Verbot aggressiver Geschäftspraktiken nunmehr ein gemeinschaftsrechtlicher Standard, den die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Übergangsvorschrift des Art. 3(5) UGP-RL weder über- noch unterschreiten dürfen. Allerdings ist die Harmonisierungswirkung der Richtlinie in dreifacher Hinsicht eingeschränkt. Erstens sind die normativen Vorgaben für aggressive Werbung wegen der generalklauselartigen Formulierung des Art. 8 UGP-RL und wegen der begrenzten praktischen Relevanz einiger Tatbestände der „schwarzen Liste“ noch sehr unbestimmt. Erst die künftige Rechtsprechung des EuGH wird den Begriff der „aggressiven“ Praxis konkretisieren. Zweitens bleiben die Mitgliedstaaten befugt, über die Richtlinie hinaus Geschäftspraktiken aus Gründen der „guten Sitten und des Anstandes“ zu verbieten (Erwägungsgrund 7). Damit behalten die Mitgliedstaaten insbesondere die Möglichkeit, belästigende Praktiken wie das Ansprechen von Verbrauchern auf der Straße (ausdrücklich in Erwägungsgrund 7 genannt), die Telefonwerbung (Regelung freigestellt durch Art. 13 der E-Datenschutz-RL [RL 2002/‌58]) oder Hausbesuche von Vertretern auch dann zu verbieten, wenn die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers nicht beeinträchtigt wird (so etwa § 7 des dt. UWG). Drittens überlässt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken den Mitgliedstaaten die Wahl des Instrumentariums zur Durchsetzung der Bestimmungen über unlautere Geschäftspraktiken.

Dementsprechend unterschiedlich fällt die Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten aus (Unlauterer Wettbewerb (Grundlagen); Unlauterer Wettbewerb (Rechtsfolgen)). Im deutschen Recht bestand mit § 4 Nr. 1 UWG bereits seit 2004 eine dem Art. 8 UGP-RL vergleichbare Vorschrift, zusätzlich verbietet § 4 Nr. 2 UWG die Ausnutzung von Unerfahrenheit, Angst oder einer Zwangslage. Diese Bestimmungen werden weitgehend beibehalten. Damit besteht in Deutschland ein rein zivilrechtliches Umsetzungsmodell: Die aggressive Werbung kann von Mitbewerbern und Verbänden mit Abwehransprüchen bekämpft werden (§ 8 UWG), Mitbewerbern steht zudem ein Schadensersatzanspruch zu (§ 9 UWG) und Verbraucherverbände können Gewinnabschöpfung zugunsten der Staatskasse verlangen (§ 10 UWG). In Frankreich wurde Art. 8 im Code de la consommation umgesetzt, ein Verstoß löst in erster Linie strafrechtliche Rechtfolgen aus. In mehreren Mitgliedstaaten, etwa in Italien, erhalten Wettbewerbsbehörden die Zuständigkeit, gegen aggressive Geschäftspraktiken vorzugehen. Ähnliches gilt für das britische Recht, wo aber zusätzlich der freiwilligen Werbeselbstkontrolle erhebliche Bedeutung zukommt.

3. Regelungsgehalt und ‑struktur

Der Schutz gegen aggressive Geschäftspraktiken in der UGP-RL ist dreistufig aufgebaut. Die Prüfung vollzieht sich in umgekehrter Reihenfolge, also vom Konkreten zum Allgemeinen.

Auf der ersten Stufe verbietet die Generalklausel des Art. 5(1) UGP-RL unlautere Geschäftspraktiken im Allgemeinen und nennt aggressive Geschäftspraktiken als Beispiel (Art. 5(4) UGP-RL).

Die zweite Stufe bildet das generalklauselartig formulierte Verbot aggressiver Geschäftspraktiken in Art. 8 UGP-RL, der drei Voraussetzungen enthält. (i) Es muss eine Geschäftspraxis im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern im Sinne des Art. 2 (d)UGP-RL, also eine Handlung vorliegen, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts zusammenhängt. Aggressive Praktiken gegenüber Unternehmen werden durch die Richtlinie nicht erfasst, insoweit verbleibt den Mitgliedstaaten bisher eigener Regelungsspielraum. (ii) Als Mittel der Einwirkung nennt Art. 8 UGP-RL die Belästigung, die Nötigung und die unzulässige Beeinflussung. Letztere wird in Art. 2(j) UGP-RL definiert als „Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher zur Ausübung von Druck, auch ohne die Anwendung körperlicher Gewalt, in einer Weise, die die Fähigkeit des Verbrauchers zu einer informierten Entscheidung wesentlich einschränkt“. Der Unternehmer muss also aufgrund seiner Überlegenheit beim Verbraucher den Eindruck erwecken, dieser erleide einen empfindlichen Nachteil, wenn er sich auf den Willen des Unternehmers nicht einlässt. Helmut Köhler und Tobias Lettl unterscheiden zwischen einer strukturbedingten Machtposition, die sich aus einer familiären, sozialen, wirtschaftlichen, verbandsmäßigen oder intellektuellen Überlegenheit des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher ergibt, und einer situationsbedingten Machtposition, bei der sich der Unternehmer Besonderheiten der Situation (etwa die faktische Schwierigkeit, einen Vertreter aus der Wohnung zu weisen oder ein Ladengeschäft zu verlassen) zunutze macht. (iii) Die Belästigung oder Beeinflussung muss sich tatsächlich oder voraussichtlich auf die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers auswirken. Dabei ist das Verhalten eines Durchschnittsverbrauchers maßgeblich, sofern sich die Geschäftspraxis nicht an besonders schutzwürdige Personenkreise richtet (Art. 5(2), (3) UGP-RL).

Auf der dritten Stufe konkretisiert die „schwarze Liste“ das Verbot aggressiver Praktiken und benennt Verhaltensweisen, die unter allen Umständen als unlauter gelten. Hierzu zählen das Erwecken des Eindrucks, der Verbraucher könne die Räumlichkeiten des Unternehmers ohne Vertragsschluss nicht verlassen (Nr 24), die Weigerung eines Vertreters, die Wohnung des Verbrauchers zu verlassen (Nr. 25), die hartnäckige und unerwünschte Telefon-, Fax- oder E-Mail-Werbung (Nr. 26, schon die einmalige unerwünschte Werbung per Fax oder E-Mail ist nach Art. 13 der E-Datenschutzrichtlinie verboten, zu den weitergehenden Möglichkeiten des nationalen Rechts s.o.), die Aufforderung des Verbrauchers zur Bezahlung unbestellt zugesandter Waren (Nr. 29) und die falsche Gewinnmitteilung (Nr. 31, die allerdings eher dem Irreführungsverbot zuzuordnen ist). Probleme bereitet die Auslegung der Nr. 28, der zufolge direkte Aufforderungen an Kinder in der Werbung, die Produkte zu kaufen oder ihre Eltern zum Kauf zu überreden, als unlauter gelten. Umstritten ist vor allem, ob der Begriff „Kind“ auch Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr umfasst und wann von einer „Aufforderung“ die Rede sein kann.

Nicht ausdrücklich geregelt werden in der Richtlinie Maßnahmen der Verkaufsförderung wie Zugaben, Rabatte, Kopplungsangebote oder Gewinnspiele. Diese Praktiken waren früher in einigen europäischen Rechtsordnungen strikten Beschränkungen unterworfen und sind nach wie vor nicht uneingeschränkt erlaubt. Der Versuch der Kommission, diese Sachverhalte im Verordnungswege zu regeln, scheiterte; der Vorschlag für eine Verordnung über Verkaufsförderung im Binnenmarkt von 2001 wurde zurückgezogen. In der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken fehlen weitgehend spezielle Bestimmungen, so dass in erster Linie die allgemeinen Verbote irreführender und aggressiver Praktiken greifen. Irreführend ist etwa die fälschliche Bezeichnung eines Angebots als „gratis“ (Nr. 20 der „schwarzen Liste“), das Angebot von Wettbewerben oder Preisausschreiben, ohne dass die Preise vergeben werden (dort Nr. 19) oder die falsche Gewinnmitteilung (dort Nr. 31). Nicht geklärt ist auf Gemeinschaftsebene aber die Reichweite des Transparenzgebots, also die Frage, welche Informationen der Anbieter von Rabatten, Kopplungsangeboten und ähnlichen Gelegenheiten dem Verbraucher zur Verfügung stellen muss (Geschäftspraktiken, irreführende). Das Verbot der aggressiven Werbung spielt in diesem Zusammenhang nur noch eine sekundäre Rolle, weil vom Durchschnittsverbraucher regelmäßig erwartet werden kann, dass er in der Lage ist, die Vorteile einer Zugabe, eines Rabatts oder einer ähnlichen Maßnahme rational zu beurteilen. Etwas anderes kann für besonders schutzbedürftige Verbraucherkreise wie Jugendliche gelten (vgl. Art. 5(3) UGP-RL und § 4 Nr. 2 des dt. UWG). Bestimmungen der Mitgliedstaaten, die bestimmte Maßnahmen der Verkaufsförderung generell, also unabhängig von ihrer Irreführungseignung oder ihrem Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit verbieten, sind mit der UGP-RL nur dann vereinbar, wenn die Verbote ausdrücklich in der „schwarzen Liste“ genannt werden. Das belgische generelle Verbot von Kopplungsgeschäften hat der EuGH daher als mit der Richtlinie unvereinbar erklärt (EuGH verb. Rs. C-261/‌07 und C-299/‌07 – VTB-VAB/‌Total, Medien und Recht 2009, 103). Der BGH hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob § 4 Nr. 6 UWG, der eine Kopplung der Teilnahme an Preisausschreiben und Gewinnspielen an den Erwerb der Ware verbietet, mit Art. 5(2) UGP-RL vereinbar ist (BGH 5.6.2008, GRUR 2008, 807). Es steht zu erwarten, dass der EuGH diese Frage verneinen wird.

4. Bewertung und Ausblick

Der Schutz der Verbraucher vor einer Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit gehört zum Kernbestand des Lauterkeitsrechts. Während sich in der Vergangenheit in Europa liberale Rechtsordnungen wie das englische Recht und hochregulierte Rechtsordnungen wie das deutsche Recht diametral entgegengesetzt gegenüberstanden, stellt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ein bedeutendes Zwischenergebnis in einem Konvergenzprozess dar, der schon in den späten 1990er Jahren begann. Allerdings ist auch in Zukunft damit zu rechnen, dass nationale Gerichte unterschiedlich darüber urteilen, wie aggressiv der Verbraucher umworben werden darf. Der Rechtsprechung des EuGH wird daher eine wesentliche Bedeutung bei der Konkretisierung des Begriffs „aggressive Geschäftspraxis“ zukommen. Außerdem werden sich die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wegen der divergierenden Durchsetzungs- und Sanktionssysteme auf absehbare Zeit unterscheiden.

Literatur

Helmut Köhler, Tobias Lettl, Das geltende europäische Lauterkeitsrecht, der Vorschlag für eine EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die UWG-Reform, Wettbewerb in Recht und Praxis 2003, 1019; Winfried Veelken, Kundenfang gegenüber dem Verbraucher, Wettbewerb in Recht und Praxis 2004, 1; Manfred Hecker, Die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2006, 640; Peter Mankowski, Wer ist ein „Kind“? Zum Begriff des Kindes in der deutschen und der europäischen black list, Wettbewerb in Recht und Praxis 2007, 1398; Anja Steinbeck, Die Zukunft der aggressiven Geschäftspraktiken, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 865; Sonja Fischer, Schutz der Entscheidungsfreiheit im Rahmen der Verkaufsförderung, 2008; Helmut Köhler, Werbung gegenüber Kindern: Welche Grenzen zieht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken?, Wettbewerb in Recht und Praxis 2008, 700; idem, Beispiele unlauterer geschäftlicher Handlungen, § 4 Nr. 1, 2 UWG, in: Wolfgang Hefermehl, idem, Joachim Bornkamm, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27. Aufl. 2009.